Entwicklung der visuellen Strukturierungsfähigkeit

Der Mathematikunterricht der Grundschule ist aus heutiger Sicht nicht mehr ohne den Einsatz von Anschauungsmaterialien, Diagrammen und bildlichen Darstellungen vorstellbar. Anschauungsmittel sollen dem Kind helfen, mathematische Begriffe und Inhalte in fachlich adäquater Weise zu durchdringen und verstehend zu erfassen.
Die Mathematik, als eine Wissenschaft von Mustern und Beziehungen, bedarf symbolischer Visualisierungen und konkreter Anschauungsmittel, um ihre Inhalte und Begriffe darstellen zu können. Gleichzeitig sind die mathematischen Begriffe jedoch nicht mit dem Veranschaulichungsmittel gleich zu setzen oder gar zu verwechseln.
Der Umgang mit Anschauungsmitteln setzt folglich eine spezielle „Kultur“ ihres Gebrauchs voraus. Mathematische Anschauungsmittel repräsentieren Beziehungen und Strukturen, die von dem Kind nicht durch schlichte Kontemplation erfasst werden können. Das lernende Kind muss von der Konkretheit des darstellenden Mediums abstrahieren und in einem konstruktiven Akt selbstständig solche Beziehungen und Strukturen in das Anschauungsmittel  hineindeuten.
Eine grundlegende „Idee“ einer solchen Kultur der Nutzung und Deutung von Anschauungsmitteln ist im Rahmen meines Promotionsprojektes auf der Grundlage der theoretischen Erkenntnisse aus den Bezugsdisziplinen (Wahrnehmungspsychologie und Mathematikdidaktik) und eigener Fallstudien entwickelt und begründet worden (vgl. Söbbeke 2005). Mein Forschungsinteresse lag hierbei ganz speziell in der für Kinder anspruchsvollen Spanne einer wechselnden Deutung mathematischer Repräsentationen – zwischen einer empirischen Sicht auf konkrete Objekte und einer abstrakten Sicht auf Beziehungen und Strukturen. Diese Spanne wurde mit Hilfe des theoretischen Konstruktes „visuelle Strukturierungsfähigkeit“ untersucht. Es wurde eine Typisierung der kindlichen Deutungs- und Strukturierungsweisen vorgenommen, die die besagte Spanne in Form von vier Ebenen der visuellen Strukturie-rungsfähigkeit konkretisiert.
Sollen Anschauungsmittel ihrer epistemologischen Funktion gerecht werden, ist es notwendig, dass bereits Grundschulkinder mathematische Repräsentationen nicht nur als Bilder verstehen, die ihnen das Rechnen erleichtern. Die Kinder müssen vielmehr erkennen, dass Anschauungsmittel Beziehungen und Strukturen repräsentieren und damit als Symbole für abstrakte mathematische Begriffe genutzt werden können. Eine solche Sicht auf Strukturen und Beziehungen stellt sich im Unterricht nicht spontan oder „automatisch“ durch den bloßen Umgang mit Anschauungsmitteln ein, vielmehr muss sie gezielt gefördert werden. Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtung der aktuellen Foschungsergebnisse aus dem Projekt KORA (Eine epistemologische Kontext- und Rahmenanalyse zur Förderung der visuellen Strukturierungsfähigkeit“; Anke Steenpaß, Arbeitsgruppe EInmaL; gefördert durch das BMBF) werden in meinem aktuellen Forschungsprojekt valide Testitems ausgearbeitet und pilotmäßig evaluiert, die diese Anforderung auf einer Mikro-Ebene sehr fein und sorgsam untersuchen. In explorativen klinischen Interviews werden die Kinder zu den einzelnen Kontextelementen im Anschauungsmittel sowie zum Zusammenhang des Kontextsystems befragt (vgl. Söbbeke & Steenpaß 2012). Auf dieser Grundlage kann dann eine Testentwicklung erfolgen, die Effekte einer Intervention zur Förderung der visuellen Strukturierungsfähigkeit misst.