Friedrich August Wolf

 

 

Prolegomena zu Homer

 

11. Die Wiederherstellung wäre also möglich, falls es überhaupt von Anfang an einen gesicherten Homer-Text (nach der Weise des Vergil-Textes) gegeben hätte; doch die Homerischen Gedichte sind nicht das Werk eines einzelnen Dichtergenies und nicht von Anfang an aufgeschrieben.
12. Die wichtige Frage nach dem Alter der Schreibkunst; Woods Schrift: "Das Originalgenie des Homer." Verkehrte Auslegung der Homer. Worte: "Zeichen", "einkratzen".
21. Der Mangel der Schreibkunst wird verständlich aus der Kunst der Rhapsoden.
22. Die alten Sänger (Phemios und Demodokos) gleichen den spätern Rhapsoden; Platos Dialog Ion.
23. Wert und Verdienste des "hochangesehenen" Standes der Rhapsoden: die entgegengesetzte Ansicht ("Bänkelsänger") ist falsch.
24. Die gedächtnismäßige Einübung der Epen durch die Rhapsoden ("Didaskalien") ähnelt der Ausbildung der Schauspieler in späterer Zeit.
25. Allmähliche Veränderung des Textes durch die vortragenden Rhapsoden; Interpolationen (Homer. Hymnen); besondere Namen der einzelnen Rhapsoden.
26. Weiterführung der Untersuchung durch Vermutungen und Vernunftschlüsse. Selbst der genialste Dichter konnte ein Epos in dieser umfangreichen Form ohne Schreibkunst nicht verfassen und verbreiten.
27. Trotz der zahlreichen Vorzüge der Homerischen Darstellung paßt das Proömium nicht auf die ganze Ilias, sondern nur auf die ersten 17 Rhapsodien.
28. Die kunstvolle Gestaltung der Odyssee, die von Aristoteles gelobt wird, ist das Werk eines spätern kunstverständigen Zeitalters.
29. Diese kunstgerechte Gestaltung, um derentwillen Aristoteles den Homer über alle Epiker stellt, wird von keinem Zykliker angewendet.
30. Einzelne Stellen (z.B. Il. XVIII, 356-368) sind (nach Angabe des Zenodorus in den Scholien) von dem ersten Ordner (Diaskeuasten) zur Verbindung zweier Rhapsodien eingefügt.
31. Die Echtheit der letzten Verse der Odyssee ist schon von Aristophanes v. B. und von Aristarch angezweifelt worden; auch die 6 letzten Rhapsodien der Ilias stammen wahrscheinlich von einem spätern Rhapsoden.
32. I. Zeitalter. Lykurgs Einführung des Homer in Sparta, Solons Neuerung für den Vortrag der Rhapsoden.
33. Verkehrte Auffassungen über die Sammlung des Pisistratus.
34. Die Tätigkeit der Ordner (Diaskeuasten).

 

Editionsbericht
Werkverzeichnis
Literatur

 

 

11. Die Wiederherstellung wäre also möglich, falls es überhaupt von Anfang an einen gesicherten Homer-Text (nach der Weise des Vergil-Textes) gegeben hätte; doch die Homerischen Gedichte sind nicht das Werk eines einzelnen Dichtergenies und nicht von Anfang an aufgeschrieben.

Diese aus einer großen Anzahl ohne besondere Auswahl herausgegriffenen Proben des verbesserten Vulgärtextes, welche sich nicht durch kritischen Scharfsinn, sondern durch Heranziehung besserer Handschriften herstellen ließen, möchten wohl in jedem die Überzeugung wachrufen, daß es auch jetzt noch möglich sei, durch Benutzung reinerer Quellen die wahre Gestalt des Homerischen Textes wiederherzustellen. Denn falsch ist die Meinung derjenigen, welche glauben, daß lediglich durch die Länge des Zeitraums die Zuverlässigkeit der geschichtlichen Überlieferung abgeschwächt und die unverfälschte Fassung der Schriftstellertexte beeinträchtigt werde, und daß in demselben Maße, je nachdem eine Tatsache erst spät vorgefallen oder aufgezeichnet ist, derselben Richtigkeit und Ursprünglichkeit zuzuerkennen sei. Über Geschichtsforschung will ich hier nicht sprechen: unsre eigne Zeit und die Tagesereignisse bringen die leichtgläubige Menge oft zu einer ganz andern Auffassung, sogar über diejenigen Tatsachen, welche sich sozusagen vor ihren eignen Augen abgespielt haben. Was aber die Schriftwerke anbetrifft, welche, wenn sie an einer vor Motten und Würmern geschützten Stelle in den Schränken aufbewahrt werden, keinerlei Schaden nehmen, – warum sollten sie nicht, falls sie sorgfältig und nicht allzu häufig abgeschrieben werden, selbst bei dem Verlust der eigenhändigen Originale, die weitesten Zeiträume überdauern, ohne daß sie eine merkliche Verschlechterung erleiden? Für diejenige Art der Fehler, welche infolge allzu häufigen und unsorgfältigen Abschreibens immer [91] wieder von neuem sich einzuschleichen pflegen, ist ein wirksames Heilmittel vorhanden, nämlich die Kritik, welche Handschriften von verschiedenen Abschreibern untereinander vergleicht. Aber darf man denn wohl auf dieses günstige Geschick, welches den allermeisten Schriftwerken zuteil geworden ist, auch bei den Homerischen Epen vertrauen?

Man wird es zweifellos dürfen, es müßten denn diese Dichtungen etwas von gewissen eigentümlichen Verderbnissen und viel zahlreicheren und schwereren Schicksalen heimgesucht sein. Wenn sich aber schon aus dem Umstande, daß die Textverbesserung der Homerischen Gedichte bereits sehr früh aufgekommen und eifrig betrieben worden ist, einsehen läßt, daß es den Griechen selbst schon in den ältesten Zeiten an hinreichend ungefälschten Exemplaren gebrach, von denen man neue Abschriften nehmen konnte, wenn ferner die ersten Rezensionen, die Vorübungen der noch nicht ausgebildeten kritischen Kunst, sogleich in auffälliger Weise in sehr vielen Beziehungen voneinander abwichen, und ein für das gebildete Griechenland allgemein gültiger Text erst nach Aristoteles durch einige Grammatiker eingeführt worden ist, wenn schließlich nicht einmal ein Exemplar von jener Textrezension des Aristarch, welche lange Zeit die meiste Anerkennung im Altertum gefunden hat, unversehrt in unsre Hände gekommen ist, sondern nur eine nach den Bemerkungen der verschiedensten Kritiker hergestellte Neubearbeitung aus den letzten vorchristlichen Jahrhunderten, welche schließlich beim Einbruch des Barbarenzeitalters noch durch neue Einstellungen verschlechtert worden ist, – muß man dann nicht aus diesen Umständen den Schluß ziehen, den ich schon an einer früheren Stelle (Hesiod, Theogon. p. 57) zuversichtlich ausgesprochen habe, daß die Unversehrtheit des Lucrez- oder Vergil-Textes etwas weitaus andres ist als die Unverdorbenheit der Homerischen Gedichte? Über die verschiedene Beschaffenheit jener ältesten und besonders der Alexandrinischen Ausgaben braucht jetzt nur diese eine Tatsache berührt zu werden, daß wir bei Hippokrates, Plato, [92] Aristoteles und andern Schriftstellern jenes Zeitalters nicht nur Verschiedenheiten in einzelnen Worten, sondern auch mehrere besondere Verse aufgezeichnet finden, auf welche weder in unserem Texte, noch im Eustathius und in den ältesten und gelehrtesten Scholien irgendeine Hindeutung vorhanden ist. Bis zu diesem Punkte glaube ich der rückhaltlosen Zustimmung aller derer sicher zu sein, welche mit ihren Augen sehen gelernt haben. Aber wenn nun die Vermutung einiger Gelehrten sich als annehmbar erweist, daß die Homerischen und die übrigen Epen jenes Zeitalters in keiner Weise schriftlich aufgezeichnet, sondern zuerst von den Dichtern im Gedächtnis ausgearbeitet und im Gesange vorgetragen sind, darauf aber durch Rhapsoden, welche sich mit der Erlernung derselben mit Hilfe einer besondern Kunst beschäftigten, durch den Vortrag unter das Volk gebracht wurden, wobei viele Stellen in diesen Gesängen, bevor sie durch schriftliche Aufzeichnung im Wortlaut festgelegt wurden, teils absichtlich, teils zufällig eine Änderung erfahren mußten; wenn infolgedessen die Homerischen Epen, sobald man mit der Niederschrift derselben begann, bereits viele Abweichungen voneinander aufwiesen, und bald darauf sich noch neue einstellten infolge des leichtsinnigen Vorgehens und der haltlosen Vermutungen derjenigen Abschreiber, welche den Text eifrigst zu vervollkommnen und entsprechend den besten Gesetzen der Dichtkunst und nach ihrem eignen Sprachgebrauch zu verbessern trachteten; wenn wir schließlich diesen ganzen zusammenhängenden Text und die Liederreihe zweier in sich geschlossener Gedichte nicht eigentlich dem Dichtergenie des Mannes, dem wir sie gewöhnlich zuschreiben, sondern vielmehr der Kunstfertigkeit eines gebildeteren Zeitalters und den vereinten Bemühungen vieler verdanken, und wenn es sich mit glaubhaften Vernunftgründen und Beweisen wahrscheinlich machen läßt, daß die einzelnen Gesänge, aus denen Ilias und Odyssee zusammengefügt sind, nicht alle ein und denselben Verfasser haben, wenn also, sage ich, man anders, als dies gewöhnlich geschieht, über alle diese Punkte [93] urteilen muß; – was wird es dann heißen, diese Dichtungen in dem alten Glanze und in ihrer ursprünglichen Form wiederherzustellen?

Mit wenigen Worten habe ich soeben die Punkte bezeichnet, über welche ich etwas später und genauer an einer andern Stelle mich verbreiten werde. Denn da ich nun einmal sehe, daß ich hierbei fast die ganze festbegründete Anschauung über das Altertum von Grund aus umreißen muß, damit meine Ansichten desto unbefangener erwogen werden können, werde ich jetzt lediglich die wesentlicheren Gesichtspunkte derselben summarisch und in zurückhaltender Weise behandeln. Wenn ich nun sehe, daß diese Gesichtspunkte bei den Gebildeten nicht den gewünschten Beifall finden, d.h. durch entgegengesetzte Beweisgründe und Vernunftschlüsse entkräftet werden, dann werde ich selbst der erste sein, der dieselben zurückzieht, "und die Götter mögen alles in die Winde verstreuen". Denn einerseits darf bei derartigen Literaturstudien nach meiner Meinung der, dem es um die Erforschung der Wahrheit zu tun ist, vor einer Auffassung, welche die allgemeine Meinung gegen sich hat, noch nicht feige zurückschrecken, andrerseits wird in den Fällen, wo die Geschichtsforschung uns keine oder nur eine ganz unklare Antwort gibt, jeder Forscher es sehr leicht ertragen, wenn er von andern Gelehrten widerlegt wird, welche die in Dunkelheit gehüllte Sage und die unsichern Spuren der Tradition mit gewandterem Scharfsinn zu deuten verstehen. Denn in diesem frühesten Zeitalter, in welchem wir den Ursprung des Homerischen Textes zu suchen haben, leuchtet uns kaum ein spärliches Licht; dies müssen wir dennoch mit Verständnis benutzen, sonst würden wir unumgänglich zu falschen Anschauungen über die meisten Vorgänge in den darauffolgenden Zeitabschnitten geführt werden.

 

 

12. Die wichtige Frage nach dem Alter der Schreibkunst; Woods Schrift: "Das Originalgenie des Homer." Verkehrte Auslegung der Homer. Worte: "Zeichen", "einkratzen".

Den Anfang zu unsrer Untersuchung erschwert uns sofort die vor kurzem aufgeworfene oder vielmehr wieder erneuerte, überaus schwierige Frage nach den ersten Anfängen der Schreibkunst bei den Griechen. Daß ich aber diese, ohne [94] allzu großen Verdruß zu erregen, wieder zur Untersuchung stellen und womöglich entscheiden kann, hat besonders Woods geniale Kühnheit zuwege gebracht. Denn wenn unsre Altvordern gehört hätten, daß jemand allen Ernstes daran zweifle, ob Homer, der erste aller Schriftsteller, die Schreibkunst angewendet hätte, so hätten sie geschrien, daß die Liebhaber von paradoxen (widersinnigen) Behauptungen gar keine Scham mehr hätten. Jetzt haben wir aber damit begonnen, den Charakter der ältesten Literaturdenkmäler von einem weitschauenderem Gesichtspunkte zu betrachten und, indem wir uns an das strenge Gesetz der Geschichtsforschung halten, daß wir wahre und durch unverdorbene Zeugnisse bestätigte Angaben nicht in Zweifel ziehen, ebensowenig aber auch jedwede unter irgendeinem Autornamen gehende Tradition für gesicherte Wahrheit ansehen sollen, haben wir uns jetzt gewöhnt, jede einzelne Tatsache aus ihren Beziehungen zu dem Zeitalter und der Örtlichkeit, sowie nach den herrschenden Sitten zu beurteilen. So zeigen auch die Homerischen Epen, wenn sie etwas sorgfältiger betrachtet werden, ein bewunderungswürdiges Maß von Naturwüchsigkeit und genialer Ursprünglichkeit; weniger tritt die Kunst hervor, nichts aber deutet auf eine tiefere und besondere Gelehrsamkeit. Denn obwohl man ganz stumpfe Sinne und taube Ohren haben müßte, wenn man keine Spur von Kunst in ihnen herausfühlen würde, da nicht einmal im Versmaß die gelehrtesten Nachahmer sie erreichen konnten, so steht doch augenscheinlich jene Kunst ganz und gar der Natur in gewissem Grade näher, da sie nicht aus einer in Büchern aufgezeichneten Formel einer gelehrten Wissenschaft, sondern aus dem natürlichen Gefühl für eine richtige und anmutige Darstellung geschöpft ist. In diesem und noch andern Punkten unterscheidet sich Homer ebensoweit von den Sängern der noch in den Wäldern hausenden Volksstämme, wie von den Dichtern der gebildeten Zeitalter (poeta = Verfertiger). Nachdem also Homer durch eine derartige richtigere Wertschätzung sozusagen wieder auf seinen ihm gebüh[95]renden Platz gestellt und von dem mannigfaltigen Ballast befreit worden war, welchen ihm ehedem zu besonderer Ehrung die Gelehrten aufgehalst hatten, die nicht anerkennen wollten, daß der hervorragende Begründer der schönsten aller Künste etwas nicht gewußt habe, was in ihrem Zeitalter zu der Pflege der Künste und zu weltmännischer Bildung gehörte, ist er in den Augen sachkundiger und einsichtiger Männer zu neuem Glanze und zu neuerm Ansehen erblüht.

"Keineswegs bei allen," sagen einige, und wir glauben es ihnen gern. Denn noch ist die Meinung derjenigen nicht völlig verworfen und ausgerottet, welche den Homer, Kallimachus, Vergil, Nonnus und Milton mit derselben Auffassung lesen und sich nicht damit abmühen, bei der Lektüre den Einfluß der verschiedenen Zeitalter auf die Dichtungen zu erwägen und zu berechnen. Zwar lachen sie über die Torheiten solcher Männer, wie Reimmann, aber auch sie sind darüber sehr ärgerlich, wenn jemand die Meinung hegt, Homer, der Gott unter den Dichtern, sei sogar in den Grundlagen der Wissenschaften gänzlich unbewandert gewesen, während doch diejenigen Gelehrten unsrer Zeit, welche ein fast universelles Wissen besitzen, sich nicht erkühnen, ein Gedicht wie die Ilias zu verfassen. Soll denn schließlich einem so großen Geiste zugleich mit den Elementen selbst das genommen werden, "Was jetzt tragen am Arm die Knaben, wenn zur Schule sie gehen" –? (Horaz, Satiren I, 6.) Aber ich will diejenigen nicht verlachen, welche ich an dieser Stelle nicht zu einer andern Ansicht bekehren kann, da es nicht hierher paßt und zu aufdringlich erscheinen möchte. Denn zu ihnen gehören auch Männer von bedeutender klassischer Bildung. Das eine Zugeständnis aber, glaube ich, werden mir die meisten machen, daß in der Kenntnis der griechischen Sprache noch nicht die volle Befähigung begründet ist, Dichtungen des grauen Altertums aus dem ureigensten Geiste ihrer Verfasser heraus zu verstehen. Wer dieses Verständnis nicht besitzt, dessen Richterspruch verwerfe ich mit vollem [96] Rechte, bei allen diesen Untersuchungen, wo ich über die eigentümlichen Verhältnisse jener Zeitepoche sprechen werde. Übrigens werden sie mir, wie ich hoffe, nicht so sehr zürnen, wenn ich dem Homer weniger ein Verständnis für wissenschaftliche Dinge als vielmehr nur die nötige Übung und Geschicklichkeit abspreche. Sicherlich liegt in diesem Mangel etwas, was man zu einem neuen Lobe des Dichters verwerten kann. Bewundern wir doch tatsächlich die alten Seefahrer gerade darum noch mehr, weil sie ohne Kompaß den Lauf ihrer Schiffe lenken konnten, und vielleicht ist es heutzutage nicht jedem Soldaten begreiflich, daß vor der Erfindung des Schießpulvers Alexander und Cäsar so große Kriegstaten ausführen und so viel starkbefestigte Städte haben erobern können. Aber jene Männer besaßen doch etwas, was den Mangel des Pulvers hinreichend ersetzen konnte. Wieviel wunderbarer wird da noch die Tatsache erscheinen, daß es einst einen Dichter gegeben hat, welcher diejenige Kunst, ohne die offenbar kein einigermaßen langes Epos gedichtet werden konnte, wenn sie ihm bekannt gewesen wäre, nicht einmal für lernenswert und notwendig gehalten haben würde!

Unter Woods Beweisgründen sind nämlich (ich will jetzt ernsthaft an die Frage herantreten) viele ohne rechte Kraft, ebenso viele sind auch gewaltsam herbeigezogen. Er behauptet, daß von den Philosophen sogar bis auf Sokrates bei den Alten nur wenige Schriftwerke vorhanden gewesen seien; im Homer selbst werde das "Gedächtnis" als einzige Hüterin alles Wissens gepriesen; Mnemosyne ("Gedächtnis") sei die Mutter der Musen, die Musen selbst seien die Sängerinnen. Gerade als wenn dem Sänger freigestanden hätte, die einmal in Aufnahme gekommenen und zum festen Besitz gewordenen Sagen wieder umzubilden, oder als ob später einer von denjenigen, welche schon Papyrus und Schreibstift benutzten, dann an Stelle der Mnemosyne eine neue papyrusspendende Göttin in das Epos eingeführt hätte. Es bleiben doch solche Namen, auch wenn die Dinge und Gebräuche sich ändern; gleichwie [97] die Worte in den Sprachen unverändert sich erhalten, während die Bedeutung derselben nach dem Wechsel der Zeiten und Verhältnisse sich ändern. Wenn Apollonius von Rhodus das Zeitwort "fünfern" (πεμπάζειν) anwendet, so wird deswegen doch gewiß niemand glauben, er habe an den fünf Fingern gezählt, ebensowenig Homer, welcher dieses Wort schon vorher gebraucht hat. Denn mit Anwendung der Dekadenzählung zählt er bis 10 000 und schätzt das Heer der Griechen auf ungefähr 100 000 Mann. Der entgegengesetzte, wenn auch engverwandte Fehler würde es sein, wenn jemand den Gebräuchen seines Zeitalters entsprechend den Ausdruck Homers "gute Ordnung" oder Hesiods Wort "Brauch" auf geschriebene Gesetze, oder die Bezeichnung ὥρη (Stunde) auf unsre Tageseinteilung beziehen wollte, oder aber, wovon wir jetzt hauptsächlich handeln, aus dem Verbum "einkratzen" und dem Nomen "Zeichen" (Ilias IV, 139; XI, 388; XIII, 553; XVII, 599; XXI, 166; Odyssee XXII, 280; XXIV, 228) den Schluß ziehen würde, daß die Schreibkunst schon damals, als jene Homerischen Worte in Gebrauch waren, verbreitet gewesen sei. Diese schwankende Ausdrucksweise darf man nicht in so ungehöriger Weise zur Erforschung der Wortbedeutungen verwenden, von welchen jede ihre eigene Geschichte hat, die nicht aus den Wortformen und Redensarten selbst, sondern aus den Verhältnissen der Zeiten und Gebräuche, die anderswoher erkundet werden müssen, sich ergibt. Jene wenigstens können uns nicht zu einem abschließenden Urteil führen.

 

 

21. Der Mangel der Schreibkunst wird verständlich aus der Kunst der Rhapsoden.

Müssen uns nun alle diese Beispiele des "Homerischen Schweigens", gedanklich miteinander verknüpft und in ein und denselben Gesichtskreis gerückt, als rein zufällig erscheinen oder führt nicht vielmehr der, welcher in dieser Weise schweigt, die Rolle des Sprechers, der laut und deutlich etwas bezeugt? Mich wenigstens würden, obwohl ich nicht gar so leichtgläubig bin, jene Beispiele schon an und für sich vollständig überzeugen, und die Verteidigung der landläufigen Auffassung würde mir als die unsinnigste Hartnäckigkeit erscheinen Aber nun könnten mir vielleicht einige Gegner einwerfen, aus diesen Beispielen ergebe sich zwar, daß die Buchstabenschrift zu den Zeiten des Trojanischen Krieges noch ganz im Dunkeln lag oder völlig unbekannt gewesen sei, nicht aber auch dies, daß der Sänger zwei Jahrhunderte später auch seinerseits von der Schreibkunst nichts gewußt habe. Wenn ich diesen letzten Unterschlupf ihnen auch noch verbauen wollte, müßte ich mich auf eine lange Auseinandersetzung einlassen über die ganze Art und Weise, wie Homer bei der Beschreibung des heroischen Lebens zu verfahren pflegt. Denn nur zwei- bis drei[126]mal finde ich bei ihm diejenige Art von verfeinerter Kunstrichtung vertreten, nach welcher die Dichter vorgeschrittener Zeitalter haschen, wenn sie bei der Bearbeitung sagenhafter Stoffe aus der Vorzeit für die Bühne sich sorgfältig hüten, die alte Urwüchsigkeit mit modernen Sitten und Bräuchen aufzuputzen, um desto leichter ihren in der Altertumskunde erfahrenen und deshalb ungläubigen Lesern und Zuschauern etwas aufbinden zu können und sie gewissermaßen zu zwingen, an den Vorgängen und Personen, wie jene (die Dichter) es wünschen, sich zu interessieren und sich gewissermaßen mit ganzer Seele in sie hineinzuleben. Aus diesem Umstande haben sich ja auch gewisse derartige althergebrachte Redensarten bei den Dichtern ergeben, welche einstmals aus der festen Überzeugung der alten Sänger hervorgegangen sind, jetzt aber nur durch die geheiligte Gewohnheit sich erhalten. So fabeln noch heute die Verfasser von längeren epischen Gedichten von demselben begeisternden Anhauch der Musen und des Apollo, an welchen jene alten Sänger glaubten, und reden uns vor, daß sie von jenen Gottheiten, an deren Existenz jetzt niemand mehr glaubt, belehrt ihren Gesang von sich gäben, und somit nicht nach Menschenweise redeten und schrieben; deshalb "singen" jetzt auch diejenigen Dichterlinge, welche nicht einmal einen richtigen Satz aussprechen können, und hoffen auf Zuhörer für ihre Verse, welche meistens nur für den Drucker geschrieben sind und von ihm wenigstens Silbe für Silbe gelesen werden. Aber diese Tatsachen und vieles andre, wodurch die Tendenz und Kunst unsrer Dichterwelt sich von der antiken Vornehmheit deutlich abhebt, muß man von andern Lehrern erfahren. Verachten mögen meinetwegen diese meine bis ins einzelne gehenden Untersuchungen alle diejenigen, welche den Homer nicht anders als aus unserm modernen Geiste beurteilen und verstehen können, wofern sie nur eingestehen, daß wir, die wir abweichenden Ansichten zugetan sind, nicht aus reinem Übermut zu der andern Beurteilung geführt sind.

[127] Und in der Tat wäre es für mich selbst nicht glaublich, daß die Epen von den Sängern rein gedächtnismäßig verfaßt und lediglich durch das Hilfsmittel des Gedächtnisses weiter verbreitet sein sollen (denn manche Vorgänge sind nicht glaublich, welche uns die Geschichte zu glauben zwingt), und ich würde mich auch gar nicht wundern, wenn jemand das Märchen aufbrächte, dem Homer habe irgendeine Art von Schreibkunst "geheimnisvollerweise" zu Gebote gestanden, wenn nicht die einstmals weitverbreitete Sitte des Hersagens und die ganze Geschichte der Rhapsoden meine Beweisgründe und Anschauungen aufs nachdrücklichste bestätigte. In jener beruht hauptsächlich der Punkt, welcher die Skrupel, die manchen an der Zustimmung hindern, ganz aus unsrer Seele beseitigt. Sie belehrt uns nämlich über den rätselhaften Vorgang, daß jenes "Zeitalter der Sänger" die Schreibkunst, bevor sie der griechischen Sprache angepaßt war, gar nicht vermißte, und dieselbe, als sie dann später mehr und mehr gepflegt wurde, der Holztafel und mühsam bearbeiteten Metallklumpen gleichmütig überließ.

 

 

22. Die alten Sänger (Phemios und Demodokos) gleichen den spätern Rhapsoden; Platos Dialog Ion

Indem wir jetzt einmal unsre Bücherschränke und Bibliotheken, auf denen jetzt die Unsterblichkeit der klassischen Studien beruht, ganz vergessen, wollen wir uns von hier hinüberschwingen in andre Zeiträume und in eine andersgeartete Welt, wo so viele Empfindungen, welche uns jetzt zum glücklichen Leben unumgänglich notwendig erscheinen, von allen – Gebildeten wie Ungebildeten – noch nicht gekannt wurden. Ja, nicht einmal die Unsterblichkeit des Namens war imstande, jemand dazu anzutreiben, sie durch Denkmäler, welche die Zeiten überdauern, zu erringen; und dies vom Homer anzunehmen, heißt Wünsche hegen, nicht Gewißheit haben. Denn wo zeigt er uns, daß er von einem solchen Streben befangen sei? Wo spricht er ein solches Bekenntnis, welches den übrigen Dichtern so geläufig ist, offen aus, oder wo verschleiert er seine Gedanken? Zwar rühmt er oft, daß durch die Gesänge die Frevel und Heldentaten dem Nachruhm überliefert, aber [128] ebenso gesteht er auch ein, daß das neueste Heldenlied von den Zuhörern am meisten gefeiert werde. Überhaupt aber ließ sich jenes Zeitalter, welches gewissermaßen auf dem Schoß der Mutter spielte und dem Antrieb des göttlichen Geistes folgte, daran genügen, die herrlichsten Dinge zu erforschen und zum Ergötzen andrer zu verbreiten; wenn es eine Belohnung dafür erstrebte, so war dies der Beifall und das Lob der zuhörenden Zeitgenossen, der reichste Lohn (wenn wir den Dichtern glauben wollen), und weit erfreulicher als die papierene Unsterblichkeit. Denn, mit wie unbegrenzter Bewunderung man damals die Sänger selbst sowie die Gesänge derselben aufnahm, das erkennen wir aus den Stellen des Homerischen Epos, wo Phemius und Demodokus singend eingeführt werden, zum Teil auch aus jenem interessanten Dialog Platos, in welchem der Rhapsode Ion sein Amt und seinen Zuhörerkreis beschreibt. Denn so wie dieser sich rühmt, daß seine Kunst ihn befähige, seine Zuhörerschaft zu jeder leidenschaftlichen Gemütsstimmung mit fortreißen zu können, so daß sie bald Tränen vergösse, bald mit grimmen Blicken um sich schaute, bald wieder Freude auf ihren Mienen sich widerspiegele ( S. 535 E, und anderswo in diesem Dialog), so ist diese Tätigkeit noch viel eindringlicher und mit einer weit naturgemäßeren Kunst von den Sängern selbst ausgeübt worden. Da nun aber fast alle Einzelheiten, welche uns von den Rhapsoden überliefert sind, für die Erforschung der Lebensweise der "Sänger" von größter Wichtigkeit sind, an deren Stelle jene ja getreten sind, so müssen wir einige Bemerkungen über den hochangesehenen Stand der Rhapsoden vorausschicken, besonders über diejenigen Punkte, über welche die Gelehrten bisher noch zu wenig einsichtsvoll geurteilt haben.

 

 

23. Wert und Verdienste des "hochangesehenen" Standes der Rhapsoden: die entgegengesetzte Ansicht ("Bänkelsänger") ist falsch.

Denn aus den Untersuchungen des Salmasius u.a. über die Rhapsoden geht nicht deutlich hervor, daß es hauptsächlich ihren Bemühungen zu danken ist, daß wir überhaupt jetzt Homerische Gedichte in Händen haben, und daß durch die Kunst der Rhapsoden jeder öffentlichen Vortragsweise der [129] Griechen der Bühnenkunst sowohl wie der Rednerkunst der Weg gebahnt worden ist: im Gegenteil, es haben viele Gelehrte aus Stellen des Plato und Xenophon die Behauptung aufgestellt, man müsse diese Rhapsoden, welche ich als einen "hochangesehenen Stand" bezeichne, für ganz geringwertige Leute halten. Aber darin besteht eben der erste von den drei Irrtümern, welche den wahren Sachverhalt auf den Kopf stellen, daß die Lebensverhältnisse jener uralten Zeit mit denen des Sokratischen Zeitalters verwechselt werden. Bereits widerlegt ist meines Erachtens der zweite Irrtum, der sich daraus ergab, daß auf Grund einer falschen Auslegung des Namens "Rhapsode" einige den Schluß gezogen, es habe sich ihre Tätigkeit bewegt in der regellosen Herauspflückung einzelner Verse und in der Zusammenflickung nach der Weise eines "Cento", wie solche aus dem Homer tatsächlich von frommen Seelen fabriziert worden sind: lächerliche Albernheiten bei einem so überaus würdigen Stoff. Und dieser abgeschmackte Gedanke ist noch häßlicher aufgeputzt worden von denjenigen, welche, in der Meinung, daß die herumziehenden Bänkelsänger ihres Zeitalters mit den Rhapsoden gleichzusetzen seien, davon faselten, daß jene die Heldentaten, welche sie besangen, auf einem Gemälde dargestellt mit ihrem Stabe gezeigt hätten. Der dritte Irrtum hat die weiteste Ausdehnung gewonnen; wir müssen ihn an dieser Stelle ganz besonders widerlegen. Denn einen Gebrauch, welcher vor der Einführung der Schreibkunst allen Epen gemeinsam gewesen ist, haben sie für eine eigentümliche Einrichtung Homers erklärt und die Meinung ausgesprochen, daß man den Sänger, der nach ihrer Auffassung die Erzeugnisse seines Dichtergeistes schriftlich aufgezeichnet hatte, im Zusammenhange oder in einzelnen Abschnitten gesungen und frei aus dem Gedächtnis vorgetragen und verbreitet habe. Diese Auffassung wird durch den Tatbestand und die Autorität der alten Schriftsteller in allen Stücken widerlegt. Denn nicht nur die Dichtungen Homers, sondern auch die des Hesiod u.a., die ganze epische Dichtung, bald [130] auch die lyrische und jambische hat die Kunst der Rhapsoden umfaßt; dieselbe ist überhaupt lange die einzige Art, Geisteserzeugnisse zu veröffentlichen, gewesen, so daß wir auch (bei Diogenes Laertius IX, 18) lesen, Xenophanes habe seine Dichtungen persönlich als Rhapsode vorgetragen. Mit den Homerischen Epen, den vorzüglichsten von allen, haben sich die meisten eifrig beschäftigt und es ist sozusagen eine "Familie der Homeriden" entstanden, welche zuerst auf Chios, dann auch andern Orten diese Kunst betrieb; diese Tatsachen werden durch die Zeugnisse vieler Schriftsteller bestätigt.

Obwohl nun aber der Name dieser Kunst erst nach Homer aufgekommen zu sein scheint, hat dennoch die Kunst selbst und ihre (gewerbsmäßige) Ausübung schon in den ältesten Zeiten in Blüte gestanden und viel größeres Ansehen als später besessen. Da nämlich nur wenige dazu befähigt waren, eine größere Anzahl von Dichtungen gedächtnismäßig festzuhalten, und es noch keine Schulen gab, wo die Knaben in jenen Dichtungen unterrichtet wurden, und da nur ein Gelehrtenstand vorhanden war, die priesterlichen Sänger, welche in ganz Griechenland verbreitet waren, so genossen selbstverständlich diejenigen, welche die Werke jener zur Kenntnis des Volkes brachten, eine ganz hervorragende Achtung. Gleichwohl hat zuerst wenigstens jeder Dichter fast nur seine eignen Dichtungen durch Vortrag verbreitet; dies läßt sich schon daraus schließen, daß als Erfinder der rhapsodischen Kunst Hesiod oder ein andrer aus dem gleichen Zeitalter namhaft gemacht wird. In der nun folgenden Zeit aber – von Terpander von Lesbos (Olympiade XXXIV, d.i. 644 v. Chr.) bis auf Cynäthus von Chios, dessen Kunst Olympiade LXIX (d.i. 524 v. Chr.) in höchster Blüte stand – haben die Rhapsoden nicht nur fremde Gesänge, sondern auch ihre eignen zum Vortrag gebracht, und fast jeder Rhapsode war zugleich in einer Person auch ein leidlicher Dichter; diese Tatsache ergibt sich zweifellos aus den geschichtlichen Überlieferungen. Hieraus hat sich schließlich – wie ich meine – der Tatbestand ergeben, daß [131] so viele Dichtungen jener Zeiten später, wenn die Namen der Rhapsoden, von denen sie verfaßt waren, in Vergessenheit gerieten und sie von andern und wieder andern wiederholentlich neu zum Vortrag gebracht wurden, schließlich mit falschen Autornamen und zuguterletzt als "herrenlos" im Volksmunde umgingen.

 

 

24. Die gedächtnismäßige Einübung der Epen durch die Rhapsoden ("Didaskalien") ähnelt der Ausbildung der Schauspieler in späterer Zeit.

Obwohl nun im Homerischen Zeitalter nur sehr wenige Künste und Gewerbe von bestimmten Personen getrieben wurden, war dennoch die Kunst der "Sänger" damals nicht weniger eine gesonderte Tätigkeit, als die des Schmiedes oder des Töpfers, des Arztes oder des Possenreißers, genoß aber unter allen diesen von Staats wegen wie im Privatleben das höchste Ansehen. Mochten sie nämlich in ihren Städten bleiben, oder mochten sie andre Orte, Volksversammlungen und Gastmähler der Fürsten, besuchen, immer galten sie als Lieblinge der Götter und waren ein Gegenstand der Verehrung für die Menschen. Solche Würdigung und solches Leben genossen die Rhapsoden eine lange Zeit, bis endlich ihre Kunst, bei dem allmählichen Wechsel der menschlichen Bestrebungen und moralischen Anschauungen und nach der Aussetzung von Geldprämien für die musischen Wettkämpfe, zu einem gewöhnlichen Broterwerb herabsank und so an Wert verlor. Doch hierüber an andrer Stelle! – jetzt wollen wir die Frage erörtern, ob die Rhapsoden aus einem Buche oder aus dem Gedächtnis ihre Gesänge vortrugen und welche Methode sie zur Erlernung derselben anwandten, wenn sie Bücher nicht besaßen. Was diese Frage betrifft, so kann nur jemand, der im alten Griechenland durch und durch ein Fremdling ist, bezweifeln, daß jene alles gedächtnismäßig vorgetragen haben: so hatten schon die allerältesten Sänger insgesamt ihre Kunst betrieben, die Verehrer der drei Musen "Erfindung", "Gedächtnis", "Gesang"; ja noch zur Zeit des Sokrates, als geschriebene Exemplare der Homerischen Gedichte von den Rhapsoden in großer Anzahl aufgesucht wurden, hat der Vortrag selbst nicht aus einem solchen Buche stattgefunden.

[132] Man möchte vielleicht über eine so große Lernfähigkeit des Gedächtnisses staunen, welche den ganzen Homer zu umfassen imstande war. Mir freilich erscheint dies noch sehr wenig zu sein und ich vermute, daß gute Rhapsoden bisweilen noch viel mehr Gesänge im Gedächtnis festgehalten haben. Denn auch noch später, als schon eine vielseitige Gelehrsamkeit, die sich aus dem Lesen von Büchern ergab, und die mannigfaltigen Geschäfte einer feingebildeten Lebensführung das Gedächtnis belasteten, hat es zu Athen künstlerisch gebildete Männer gegeben, welche die ganze Ilias und Odyssee auswendig wußten; darf man dann die Leistungsfähigkeit derjenigen Männer anzweifeln, welche nur auf diese Kunst Fleiß und Mühe aufwendeten, und zwar in einem Zeitalter, wo der beschränkte Kreis des Wissens dem Geiste gewissermaßen freien Spielraum gab und der Ruhm der Weisheit durch ganz andre Bestrebungen erworben wurde? Plato jedenfalls und andre griechische Philosophen haben ihr Urteil dahin abgegeben, daß diese Fähigkeit unsres Geistes nicht bemessen werden dürfe nach dem Maßstab des betreffenden Zeitalters, da die Beschaffung von Hilfsmitteln für den Geist der Entwicklung seiner Kräfte hinderlich gewesen sei, so daß die Erfindung der Buchstabenschrift, welche man ein Heilmittel für das Gedächtnis genannt hat, nicht mit Unrecht eine Schädigung und ein Verderb derselben hätte genannt werden müssen. Die unbestreitbare Richtigkeit dieses Urteils lehrt uns die Betrachtung von Leuten, welche nicht lesen und schreiben können, und von Völkern, welche unsre Schreibkunst noch nicht kennen. Wir brauchen zum Beweis hierfür auch gar nicht erst hervorragende Einzelfälle von stärkerer Gedächtniskraft heranzuholen, so z.B. den Redner Hortensius, der nach Ciceros Bericht die Gedanken, welche er sich im Geiste zurechtgelegt hatte, ohne schriftliche Aufzeichnung sämtlich mit denselben Worten, wie er sie erdacht, wiederzugeben imstande war, oder die Stegreifdichter (Autoschediazonten), welche in Italien Improvisatoren heißen, oder auch viele andre, welche, zumal wenn ihnen der Gebrauch [133] der Schrift verboten war, viele tausend Verse im Geiste verfaßt und nach der gedächtnismäßigen Einprägung öfter wiederholt haben. Wir brauchen diese Beispiele nicht, denn wir handeln nicht von vereinzelten Wunderleistungen der Natur, sondern von einem Stande von Männern, welche ihr ganzes Leben lang nur Zeit und Muße für diese Kunst hatten, um Gedichte zu verfassen, welche sie bald darauf im Gesang vortrugen, oder die von andern bereits vorgetragenen zu erlernen.

Sängergemeinschaften dieser Art finden wir nun auch bei andern Völkern, bei den Hebräern die sogenannten Prophetenschulen, dann die uns näherstehenden Barden, Skalden und Druiden. Von diesen letzten berichten Cäsar (Gall. Krieg VI, 14) und Pomponius Mela (De chorographia III, 2), daß es bei ihnen eine eigenartige Unterweisung gegeben habe, in welcher einige fast 20 Jahre verharrten, um eine große Anzahl von Versen auswendig zu lernen, welche nicht schriftlich aufgezeichnet waren. Wenn uns doch diese Methode der Unterweisung die Griechen von ihren Sängern und Rhapsoden mit ein paar Worten überliefert hätten! Denn daß auch für diese eine ganz eigenartige Unterweisung und ein besonderes Studium der Kunst bestanden habe, muß man meiner Überzeugung nach für ausgemacht halten. Wohlan denn! so wollen wir die Methode der rhapsodischen Didaskalie, welche in dem Dunkel des Altertums vergraben liegt, durch den Vergleich mit ähnlichen Vorgängen ergründen. Sie war, daran ist nicht zu zweifeln, dieselbe, welche lange Zeit bei der Schauspielkunst – bei der tragischen sowohl wie bei der komischen – bei den verschiedenen Arten der Chöre zur Anwendung gekommen ist, dann auch bei den höhern und niedern Schulen, bevor die Fähigkeit zum Schreiben und Lesen im Volke sich zu verbreiten anfing. Welcher Art aber diese Methode war, bezeugt das Wort "Didaskalie" selbst. Von den Dichtern nämlich wird der eigentümliche und sachgemäße Ausdruck "die Dramen lehren" gebraucht, von den Schauspielern: "die Rollen lernen", daher die Bezeichnungen "Lehrer", "Unterlehrer", [134] kontrollierender Lehrer, "Dithyrambenlehrer" u.a.m. Denn natürlich, wie die Schauspieler die kunstgerechten Armbewegungen (Chironomie), die übrigen Bewegungen des Körpers und die ganze Tanzkunst durch den Anblick der Lehrer, welche es ihnen vormachten, erlernten, so eigneten sie sich auch die Worte, welche der Dichter selbst ihnen vorsang, nur durch das Zuhören und nicht, wie heute, durch Textbücher an. Daher scheinen die Rhapsoden die Einrichtung gehabt zu haben, daß zunächst einer dem andern persönlich die Worte vorsagte, dann aber Einübung und häufige Wiederholung das künstlerische Gepräge verlieh. Wir haben keinen Grund, diese Art der Einübung für unbequem und im Vergleich mit unsrer für beschwerlicher für das Gedächtnis zu halten, vielmehr wird uns sicherlich jeder dies zugeben, daß sie viel wirkungsvoller sein mußte, wo es galt, den besten Vortrag und die richtige Betonung und Aussprache aller Worte und Sätze zu erzielen. Dazu kommt, daß die sehr eifrigen Studien der Hörer verbunden mit der so leidenschaftlichen Neigung für die Urgeschichte des griechischen Volkes, wie sie in den alten Epen enthalten ist, zweifellos jene Mühe leicht und angenehm machten. Alle diese Umstände, aus dem Geiste und Charakter jener Zeiten betrachtet, lassen uns nicht mehr im Zweifel darüber, wie sich jener Tatbestand hat herausbilden können, den die geschichtlichen Verhältnisse unumstößlich erwiesen haben.

 

 

25. Allmähliche Veränderung des Textes durch die vortragenden Rhapsoden; Interpolationen (Homer. Hymnen); besondere Namen der einzelnen Rhapsoden.

Bei der Betrachtung dieser Tatsachen scheinen mir diejenigen gewaltig zu irren, welche die Meinung aufstellen, Homers Gedichte hätten bei dem Mangel der Buchstabenschrift sofort ganz umgewandelt werden und ein ganz unähnliches Gepräge erhalten müssen. Diese Wirkung hätte ein nachlässiges Anhören zuwege gebracht, nicht die regelmäßige und gutgeschulte Didaskalie. Dessenungeachtet leiteten selbst die alten Kritiker den Ursprung der abweichenden Lesarten von der Behandlung der Rhapsoden her und sahen in dem häufig sich wiederholenden Vortrag derselben die hauptsächliche Quelle der Verderbnis und der Interpolation der Homerischen Gedichte. [135] Dieses Urteil, welches von den Alexandrinischen Kritikern herstammt (bei Josephus s. oben S. 118), ist nun in der Tat derart, daß es naturgemäß den Nachdenkenden leicht dahin führt. Denn selbst das allerzuverlässigste Gedächtnis, welches von der schriftlichen Aufzeichnung im Stich gelassen wird, kommt bisweilen ins Wanken und weicht allmählich weit vom wahrheitsgetreuen Wortlaut ab. Zunächst mußte der Vortrag selbst, wenn er mit lebhafter Leidenschaft und seelischer Begeisterung durchgeführt wurde, das Gedächtnis schwächen und zu vielen Veränderungen Anlaß geben, besonders in einer solchen Darstellung, welche gewissermaßen absichtlich den Vers abschließt und nicht die künstlerisch abgerundete Form besitzt, welche fremde Zutaten unmöglich macht, da alle Schilderungen aus Sätzen und Worten von so großer Einfachheit aneinandergereiht sind und in gleichmäßigen Abschnitten kurzgegliedert dahinfließen, so daß überall mit der größten Leichtigkeit etwas geändert, weggelassen und zugesetzt werden kann. Endlich wäre es wunderbar gewesen, wenn nicht die talentvollern Rhapsoden und die, welche selber Dichter waren, nicht hin und wieder auf den Gedanken gekommen wären, daß sie etwas aus sich heraus besser sagen könnten, andres auch den Zuhörern zuliebe mit deutlichern Worten ausdrücken und wieder andres dazwischen einweben müßten, um mehrere Gesänge durch einen gemeinsamen Grundgedanken miteinander zu verknüpfen.

Daß sie nämlich von allen verstanden und mit Wohlgefallen angehört würden, mußte ihre Hauptsorge sein, nicht die, daß sie die Gedichte in der ursprünglichen Form bewahrten, in welcher sie einstmals der Dichter geschaffen hatte. Und so wird namentlich die Sängerfamilie des Cynäthus beschuldigt, den Homer auf alle mögliche Weise verunstaltet zu haben, besonders durch Einschiebung selbstgemachter Verse. Wenn uns also jetzt ein aus dem Vortrage solcher Rhapsoden geschöpftes Exemplar des Homer vorläge, das von den Kritikern der folgenden Jahrhunderte nicht durchgearbeitet wäre, so würde [136] es meines Erachtens dieselbe Gestalt aufweisen, welche die uns erhaltenen größern "Homerischen Hymnen" haben.

Diese eben genannte Bezeichnung "Homerische Hymnen", die von Hemsterhus und andern Gelehrten eingeführt ist, legt es mir nahe, sogleich etwas über die Interpolation der Rhapsoden hinzuzufügen, woraus sich klar ergibt, wie jene durchaus nicht ungeeignet waren zu poetischer Schaffenskraft und wie sehr ihnen bei einer solchen Interpolation jeder Gedanke an Betrug fernlag. Die erstgenannte Tatsache dürfte jedenfalls auch ohne Heranziehung eines besondern Gewährsmannes ganz wahrscheinlich sein, man müßte denn geradezu diese Rhapsoden für so frostige Geister halten, daß sie trotz der fast täglichen Beschäftigung mit den allerbesten Dichtern sich nicht dazu hätten begeistern lassen, etwas Ähnliches zu erstreben. Aber trotz der so großen Lückenhaftigkeit der Geschichte jenes Zeitalters, überliefert doch Pindar und Plutarch ("Über die Musik" S. 1133) den deutlichen Bericht, daß von den Rhapsoden Hymnen verfaßt worden seien, welche sie dem feierlichen Vortrage der Epen Homers und andrer Dichter als Vorspiel vorausschickten. Daher habe ich, besonders auf dem Zeugnis des letztern fußend, schon vor einigen Jahren unter der Anleitung von Hemsterhus die Vermutung ausgesprochen, daß aus diesen Proömien und Bruchstücken von Proömien dieses uns überkommene Gemengsel von Hymnen zusammengerührt sei, wobei ich zugleich den vielleicht recht wahrscheinlichen Grund dafür hinzufügte, warum jene Proömien allmählich mit den Homerischen Gedichten verschmolzen seien. Nichts nämlich, so glaube ich, lag jener Zuhörerschaft daran, genau zu wissen, wer der Verfasser der Verse, die ihnen anhörenswert erschienen, sei; zur Zeit der Alexandriner aber, denen überaus viel daran lag, dies zu wissen, scheint nichts weiter übrig gewesen zu sein, als eine vielgestaltige und darum so unklare Überlieferung, wie es auch bei so viel andern herrenlosen Versen (ἀδέσποτα) der Fall ist, deren teilweise schon bei Herodot Erwähnung geschieht.

[137] Schließlich gibt es auch über die Art und Weise des feierlichen gesetzmäßigen Vortrags bei den öffentlichen Versammlungen und Wettkämpfen nur sehr wenige Angaben, welche wirklich auf Glaubwürdigkeit Anspruch machen dürfen. Eine Tatsache ist als sicher allgemein anerkannt, nämlich, daß die beiden Epen Homers nur stückweise und in ganz verschiedener Ordnung abgesungen worden sind und daß jeder einzelne Abschnitt im Volksmunde seinen eignen Namen gehabt habe. Derartige Namen sind überliefert zunächst bei Älianus und Eustathius am Anfang der Rhapsodien, dann auch bei sehr vielen andern Schriftstellern, welche hier und da Homerstellen nach jener Weise zitieren. Aber diese Abschnitte sind anfangs beinahe noch länger gewesen und stimmen nicht, wie man aus Eustathius ersehen kann, mit der Büchereinteilung Aristarchs überein. So umfaßten z.B. die Erzählungen bei Alkinoos vier bis fünf Bücher der Odyssee, ein Pensum, welches an einem festlichen Tage bequem absolviert werden konnte. In den andern Liedern, wie im "Schiffskatalog", in der "Abgebrochenen Schlacht", hat sich, wie ich glaube, die Kunst des Rhapsoden recht bewährt, vorzüglich in den regelrechten Wettkämpfen, so daß sie mit den übrigen Gesängen trefflich zusammenpaßten und ein künstlerisch schönes "Gewebe" geschaffen wurde: hierbei ist jedoch zweifellos mehrere Jahrhunderte hindurch nichts sicher und feststehend gewesen, da die Form der Rhapsodie bald von Ort und Zeit des Vortrags, bald von der Erfindungsgabe und der Urteilskraft des Rhapsoden abhing.

 

 

26. Weiterführung der Untersuchung durch Vermutungen und Vernunftschlüsse. Selbst der genialste Dichter konnte ein Epos in dieser umfangreichen Form ohne Schreibkunst nicht verfassen und verbreiten.

Alle diese bis ins einzelne durchgeführten Untersuchungen 1. über das erste Aufkommen der Buchstabenschrift in Griechenland, 2. über die älteste Art, Gedichte zu verfassen und zu veröffentlichen, 3. über die Rhapsoden, die einzigen Bewahrer derselben, sind gleichsam nur ein Vorspiel für eine davon noch verschiedene, noch tiefer gehende Untersuchung. Bei dieser verwandelt sich plötzlich das ganze Feld der Streitfrage, es entschwinden beinahe ganz die geschichtlichen Spuren [138] und an ihre Stelle tritt zaghaft die Vermutung (Konjektur) und der Vernunftsschluß, der nicht danach fragt, was Herodot, was Plato, was Aristoteles, der erste unter den Kritikern, anführt, sondern was sich mit zwingender Notwendigkeit aus klug ergründeten Prinzipien ergibt, und dies Ergebnis mit zäher Urteilskraft verfolgt und mit der Natur selbst in Einklang bringt. Konjekturen dieser Art pflegt heute die urteilslose Mehrzahl mit dem Namen "Hypothesen" zu brandmarken. Das ist eine wenig erfreuliche Lage für mich: dennoch will ich, nachdem ich lange gezaudert und gewartet, bis etwa ein andrer mutigerer dies Wagstück unternähme, nicht länger mehr für meinen wissenschaftlichen Ruf zittern und sofort rundheraus sagen, wie die Sache sich verhält.

Es folgt also augenscheinlich aus jenen oben ausgeführten Ergebnissen mit Notwendigkeit, daß die Gestalt so großer, in fortlaufender Reihe weitergeführter Dichtwerke von keinem Dichter hat im Umriß entworfen, noch auch im einzelnen ausgearbeitet werden können ohne ein kunstgerechtes Hilfsmittel für das Gedächtnis. Geben wir immerhin dem Homer ein vom Himmel verliehenes Dichtergenie, fähig der erhabensten Gedanken, mit denen er alles Wissen der Götter- und Menschenwelt erschöpfen konnte, er sei uns, wie Vellejus sagt, der größte Dichter ohne Beispiel und unerreicht von seinen Nachahmern (und tatsächlich wird nimmermehr der Glanz jenes Lichtes zum zweitenmal aufleuchten, es sei denn, daß der Erdkreis ein neues Hellas erstehen sähe); er gelte uns als derjenige, der mit seinem Genie alle andern überragt, und in einer fast übernatürlichen Weise durch Verfeinerung und allseitige künstlerische Vollendung auf der höchsten Höhe steht, – aber auch solch einem Menschen kann man nicht eine Leistung zuschreiben, welche die Fassungskraft des Menschengeschlechts übersteigt und zu deren geistiger Verarbeitung ihm Ort, Stoff und Grundlage fehlen. Denn wenn die früheren Epen samt und sonders weit kürzer gewesen sind und es zu ihrer Veröffentlichung zu Lebzeiten des betreffenden Sängers und noch [139] lange nachher nur den einen Weg des öffentlichen Vortrags gab, ich meine natürlich den, welchen die Rhapsoden bis auf Cynäthus angewendet haben; wenn es weiterhin keineswegs glaublich und durch keine Autorität gestützt ist, daß mehrere Sänger mehrere Tage oder gar Wochen lang jemals gezwungen worden seien, so umfangreiche Epen den Zuhörern vorzuführen (was doch der einzige Weg gewesen wäre, ihren gewaltigen Umfang und ihren Hauptinhalt denselben zum Bewußtsein, oder doch wenigstens bis zu Ende zum Gehör zu bringen, dann folgt, so betone ich, mit zwingender Notwendigkeit hieraus, daß jenem Entwurf des gesamten Dichtwerks (einem an sich vielleicht nicht allzu schweren Unternehmen) eine sehr schwer, vielleicht gar nicht zu überwältigende Naturgewalt im Wege gestanden hat. Mit allen diesen Behauptungen soll der Kunst des göttlichen Sängers kein Eintrag getan werden (denn daß auch eine ganz kleine Geisteskraft zur Füllung gewaltiger Volumina ausreicht, das lehren uns unzählige Bücherwerke), aber als unumgänglich notwendig muß, so behaupte ich ausdrücklich, für die Festhaltung so umfangreicher Dichtungen das Hilfsmittel der Handschrift und die Schreibwerkzeuge gelten, mit deren Hilfe jene irgendwie aufgezeichnet und sofort dem Volke oder wenigstens einzelnen Nahestehenden unverändert übermittelt wurden. Das hätte Homer nicht ausführen können "mit zehn Zungen, mit einer eisernen Stimme und mit ehernen Lungen (Ilias II, 489)" hierzu hätte er auch Griffel und Schreibtafeln haben müssen. Aber, wenn nun wirklich jemand, mit diesen ausgerüstet, als einzigster in seinem Jahrhundert Ilias und Odyssee in der uns vorliegenden Ausdehnng gedichtet hätte, so wären diese beiden Gedichte bei dem Mangel der übrigen günstigen Umstände einem ungeheuren Schiffe ähnlich gewesen, daß jemand in der ersten kunstlosen Zeit der Schiffbaukunst in einer binnenländischen Gegend geschaffen auf Maschinen und Walzen zum Fortschieben, und das nun so ganz und gar des Meeres entbehren müßte, auf dem es eine Probe seiner Kunst ablegen [140] könnte. Ich will hierbei ganz unerwähnt lassen, wie naturgemäß bei den Künsten der Griechen alle Stufen und Fortschritte untereinander verknüpft sind, und wie jede einzelne der andern vorausgeschickt ist, so daß man aus dem vorhergehenden Entwicklungsgang und den vorausgehenden Ursachen erkennen kann, warum gerade diese Kulturstufe der Reihe nach folgen mußte. So neigte beispielsweise der Geist der Griechen dazu, aus den epischen Gesängen durch Änderung der Dichtform ein Schauspiel für die Bühne zu schaffen und sozusagen aus Überdruß an ein und demselben Singsang das, was in ihnen berichtet wurde, die Personen selbst sagen zu lassen, als ob sich die Vorgänge vor ihren Augen abspielten: diesen Fortschritt hat keines andern Volkes Geist hervorgebracht, und es konnte sich auch dort gar nicht ereignen, daß jemand zu einem solchen Schauspiel vor die Öffentlichkeit trat ohne Zuschauer oder daß die Länge eines solchen über 15000 Verse hinausging. Wenn nun in ganz derselben Weise dem Homer die Leser fehlten, so kann ich überhaupt nicht begreifen, was in aller Welt ihn hätte antreiben können zu der Idee und der dichterischen Ausgestaltung so langausgesponnener und durch fortlaufende Verknüpfung der Einzelteile ineinandergefügter Epen. Ich wiederhole öfter dasselbe: aber immer aufs neue muß jenes Wort "können" wiederholt werden, dessen Bedeutung auf Grund der Menschennatur selbst so gewaltig ist und den Stützpunkt meines ganzen Beweises bildet, so daß – falls nicht etwa dieser beseitigt wird – niemand an den andern Schwierigkeiten, an denen mein Beweis vielleicht noch in hohem Maße krankt, Anstoß und Ärgernis zu nehmen braucht.

 

 

27. Trotz der zahlreichen Vorzüge der Homerischen Darstellung paßt das Proömium nicht auf die ganze Ilias, sondern nur auf die ersten 17 Rhapsodien.

Jene Schwierigkeiten, welche die wundervolle Gestalt und Darstellung beider Epen, sowie die künstlerische Anordnung der Einzelteile uns in den Weg legt, bis ins einzelne abzuwägen und mit allen Kräften und Mitteln noch zu vermehren, will ich andern überlassen. Erwogen habe auch ich dieselben, wie es sich für einen Mann geziemt, indem ich eifrig darauf [141] achtete, daß ich mir keine Schwierigkeit verhehlte oder leidenschaftlich zu Werke ginge; aber diese Untersuchung paßt mehr für die Studien zahlreicher Gelehrten, welche einen andern Weg beschreiten, besonders derjenigen, welche die Kraft des menschlichen Genies auf diesem Gebiet an ihrem eignen Geiste ermessen können und aus ihrer Bekanntschaft mit der antiken Literatur ein durchgebildetes künstlerisches Urteil gewonnen haben, wie Klopstock, Wieland und Voß. Denn mit den landläufigen Regeln der Franzosen und ihren Formeln über die Abfassung eines epischen Gedichts kommen wir dem Kernpunkt der Streitfrage um keinen Schritt näher. Denn es genügt nicht die künstlerischen Schönheiten beider Dichtungen, welche in der jetzigen Form vorhanden sind, zu bewundern, – eine vornehme, edle und doch so einfache Handlung, welche in dem überaus großen Wirrsal der Tatsachen und Ereignisse doch überall augenfällig zutage tritt, – ein Akt aus der umfangreichen Geschichte des Trojanischen Krieges, ein auserwählter Held, das übrige zur Ausschmückung klug dazwischen eingeschoben; hier alles auf den Zorn des Achilles bezogen, dort auf die Rückkehr des Odysseus; nichts, das nicht richtig weitergeführt, nichts verkehrt, nichts verwirrt, nirgends eine klaffende Lücke. Daß man noch viel mehr solcher Vorzüge lobend aufzählen kann, wer möchte es leugnen? Bei der Odyssee ganz besonders, deren wundervoller Plan und Organismus für das ausgezeichnetste Denkmal des griechischen Geistes angesehen werden muß. Denn in betreff der Ilias ist der Federkrieg der Gelehrten über den Hauptinhalt und das ursprüngliche Thema noch nicht zu Ende geführt. Mag man darüber denken, wie man will, und mag man auch dem Sinn des Proömiums einen sehr weiten Umfang unterlegen (es hätte ja die Beschreibung einiger Kämpfe in Abwesenheit des Achilleus dem Wortlaut des Themas vollauf Genüge geleistet), so wird doch nimmermehr mit stichhaltigen Beweisgründen sich dartun lassen, daß jene sieben Verse mehr Ereignisse in Aussicht stellten als die in den siebzehn ersten [142] Rhapsodien. Die übrigen enthalten nicht den Zorn des Achilleus gegen Agamemnon und die Griechen, sondern einen neuen, der von dem ersten weit verschieden ist und sich nicht im geringsten gegen jene richtet, das heißt sie enthalten zu dem "Zorn des Achilleus", <den> allein jene sieben Verse bezeichnen, ein fremdes Anhängsel. Wenn man nun aber alle Taten der Griechen vor Troja und alle vierundzwanzig Rhapsodien unter ein Thema zusammenfassen wollte, so zielt auf den "Ruhm des Achilleus" mehr als auf den eines andern Helden der Griechen oder Trojaner die ganze Ilias, auf seinen "unvorsichtigen Zorn" dagegen nur der größere Teil, so daß man sich sehr wundern muß, daß in keiner Handschrift bisher an Stelle jenes Proömiums ein besseres von etwa folgender Fassung gefunden ist:

"Singe den Ruhm, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,
Welcher, solang' er erzürnt auf den König fern bei den Schiffen
Saß, den Achäern und ihm unnennbaren Jammer erregte,
Als er sich aber erhob, dem troischen Volk und dem Hektor."

Ganz unsinnig wäre es zu behaupten, daß solche Sorgfalt im Ausdruck viel zu spitzfindig für das Homerische Zeitalter gewesen wäre: diese Behauptung würden nicht einmal diejenigen auszusprechen wagen, nach deren Meinung das Proömium der Odyssee von Homer selbst herrührt; nach ihrer Darstellung würde ja dann der Dichter eine derartige Unreife beweisen, daß er diejenige Kunst, welche er zuerst mit seinem Genie erfunden oder wenigstens mit Klugheit der Natur und der Sagenwelt abgelauscht hatte (Aristoteles, Poetik c. 8), nicht einmal richtig verstehen und mit klaren Worten zum Ausdruck bringen konnte.

Aber auch jener Punkt ist noch zweifelhaft, ob Homer die Person seines Achilleus nicht vielleicht in demselben Grade hochgeschätzt hat, wie fast alle Meister der Kunst es tun. Denn, wenn (erwiesenermaßen) Homer die Reihe gewaltiger Ereignisse nicht frei erfunden, sondern aus der Sage geschöpft [143] hat, – erscheinen dann etwa jene Erzählungen zu wenig wahrscheinlich, daß ein Held (der tapferste von allen, mit seinen Kriegern vom Heere abseits lagernd), eine Sehnsucht nach ihm selbst erregt, daß er – selbst der Muße frönend – dem Agamemnon und den Griechen unsägliche Not und Sorgen bereitet, daß er dann gar bald, wo die Troer kühner einbrechen, zurückgerufen wird, aber als rauher und unerbittlicher Kriegsmann sich weigert und Ausflüchte macht, dann der gemeinsamen Gefahr seinen Freund aufopfert, endlich aber – nach dessen Fall von Hektors Hand – selbst der Rache halber aufs Schlachtfeld zurückkehrt und dem Gelübde treu nach Kriegsrecht gegen Hektor wütet? Hätte Thukydides oder Xenophon, wenn er dies Kriegsjahr in seine Geschichtsbücher eingetragen hätte, den Achilleus, als er seine aufrührerische Absonderung vollzogen hatte, weniger ersehnt schildern können, oder als er zurückgerufen wurde, weniger geehrt und weniger hartnäckig oder schließlich, als den alten Zorn in ihm ein neuer abgelöst hatte, weniger heldenhaft und feurig tapfer und edelmütig? – Oder hältst du es für verwunderlich, für naturwidrig und für Künstelei, daß unter so vielen Sagen des Trojanischen Krieges sich nur eine einzige hat finden lassen, welche bei gehöriger Weiterführung ein harmonisches und in seinen Teilen kunstgerechtes Epos ergeben hat? Oder aber, das ebengesagte zugegeben – meinst du, daß das Dichtwerk viel anders ausgefallen wäre, auch wenn vier Dichter an der Herstellung des epischen Gewebes gearbeitet hätten? Glücklich möchte man wohl das Volk nennen, welches so überreich und ergiebig an Heldentaten war, daß ihm solche Heldengesänge beinahe von selbst erwuchsen, welche andern Völkern selbst bei den eindringlichsten Studien und Künsten nicht gelingen wollen! Lache nur immer: so sind noch mehr Herrlichkeiten aus dem Geiste der Griechen geboren, die wir jetzt sicherlich entbehren müßten, wenn jene nicht gelebt hätten.

 

 

28. Die kunstvolle Gestaltung der Odyssee, die von Aristoteles gelobt wird, ist das Werk eines spätern kunstverständigen Zeitalters.

Über die Odyssee walten noch größere Bedenken und besondre Fragen treten hinzu. Nicht deswegen, weil alle Vor[144]gänge in derselben auf die Rückkehr des Odysseus bezogen werden: – wer sollte das verwunderlich finden bei Heldengesängen, welche als Thema "den herumirrenden, sein Vaterland suchenden und zurückkehrenden Odysseus" voranstellen? sondern deshalb, weil das Unglück Penelopes und Telemachs und das häusliche Unglück des Helden in entsprechender Aufeinanderfolge der Zeiten und Tatsachen so mit den in fernen Landen erduldeten Leiden desselben verbunden werden, daß wir, sogleich beim Anfang mitten in die Ereignisse hineingestellt, immerfort mit unsern Gedanken dem Ende zueilen und große seelische Unruhe uns begierig macht, ihn heimkehren zu sehen und nach so vielen durchgekosteten Mühsalen im wiederberuhigten Reiche die Ruhe genießen. So kommt es ja auch, daß die Odyssee niemand, der überhaupt an dem Sänger der Vorzeit gefallen findet, eher, als bis er sie zu Ende gelesen, aus der Hand legen mag. Aber gerade diese Kunst der Darstellung bildet denjenigen Punkt, der kaum, richtiger gesagt, gar nicht zu passen scheint auf einen Sänger, der nur einzelne Rhapsodien zum Vortrag bringt, da es dieser, gesetzt, er hätte sich angeschickt, ein solches Kunstwerk zu erdenken, selbst vor den auserlesensten Zuhörern des Zitherspielers Aspendius nur im Hause vorgesungen haben würde. Daher können die Rhapsodien: Telemachs "Reise zu Nestor und Menelaus", Odysseus' "Verweilen auf der Insel Ogygia", desgleichen das überaus schöne Lied, wo er selbst, seine Irrfahrten den Phäaken erzählend, eingeführt wird, usw. auch die übrigen nur einzeln für sich und ohne jede Beziehung auf die Gesamtform des Epos von Homer komponiert worden sein und sind jedenfalls noch lange Zeit so vorgetragen worden, bis später irgend jemand in einem gebildeteren und an Künsten reichern Zeitalter die Bemerkung machte, daß sich aus diesen Rhapsodien durch Zufügung, Weglassung und Umänderung weniger Verse, nachdem man sie zu einer einzigen großen fortlaufenden Dichtung verschmolzen, ein gewissermaßen neues und viel vollendeteres und ausgezeichneteres Werk schaffen ließe.

[145] Einen gleichen Versuch haben die Griechen vielleicht vergebens bei den andern "Heimkehrliedern" gemacht, unter welchem Namen mehrere alte Epen vorhanden waren, von denen uns aber nicht einmal die Verfasser hinreichend bekannt sind. Aber keines Helden Irrfahrt war so lang und berührte so viele weitentfernte Gegenden, wie die des Odysseus, keine Heimkehrsage konnte so wundersame Abenteuer zu Lande und zur See und solchen Schicksalswechsel aufweisen, so daß man mit Recht vermuten darf, daß eine solche Fülle von keinem derartigen Epos geboten worden sei. Hier also wie bei der Ilias dreht sich der Streit um die Frage, ob man nach Ausscheidung von vier bis fünf größern Rhapsodien aus dem Epos (jede einzelne zu drei oder mehr Büchern gerechnet) in diesen einzeln abgesonderten Liedern die Merkmale derjenigen Grundidee, welche uns jetzt allgemein mit Bewunderung erfüllt, oder nur die Bindeglieder einer umfangreichen Aneinanderfügung entdecken kann. Ich weiß, wie schwer es ist, über Aristoteles und die übrigen Geschichtschreiber der antiken Kunstgeschichte hinwegzugehen, welche erst viele Jahrhunderte nach der festen Verschmelzung der Teile des Epos daraus ihre Kunstgesetze für die epische Dichtung abgeleitet haben, und warum sollte es nicht anregend sein, einmal und noch einmal aus der Betrachtung jener Kunstgesetze ein Musterbild der allerältesten Poesie zu gewinnen, welche – wie alle anerkennen – bis auf Homer kein längeres und derartig gestaltetes Dichtwerk hervorgebracht hat? – Mir allerdings, das gestehe ich, mißfällt, so oft ich mich mit aller Kraft meines Geistes in jene vorgeschichtliche Epoche der Dichtkunst versenke, die Lektüre dieser Epen nach alter einfacher Art nicht im geringsten, und ich frage bei dem genialen Dichterjüngling nichts nach greisenhafter Weisheit. Allerdings ist nicht eigentlich Weisheit und künstlerische Vollendung, als vielmehr der Entwurf einer so umfangreichen und so mannigfach mit Episoden durchflochtenen epischen Dichtung dem Standpunkte Homers und seiner dichterischen Anlage – wie ich behaupte – unangemessen. Denn [146] einerseits ist die besprochene künstlerische Verknüpfung des Epos, wenn sie auch das höchste Lob verdient und gefunden hat, doch nicht gerade so subtil und fein ausgetiftelt, daß ein Dichtergenie ersten Ranges, mit den nötigen Hilfsmitteln ausgestattet, sie (selbst ohne Vorbild) nicht hätte schaffen können; andrerseits war eine solche nach meiner Empfindung bei der ehemals so bedeutenden Zahl der vorhandenen Rhapsodien, nicht so schwer aufzufinden, daß man nicht auf den Gedanken kommen sollte, sie den Studien und der verfeinerten Kunstauffassung einer spätern Epoche zuzuschreiben. Und diese von mir vertretene Anschauung wird um so glaublicher und annehmbarer erscheinen, wenn sich die Tatsache ergeben wird, daß schon der erste Verfasser der Dichtung den Faden des epischen Grundgedankens bis zu einem gewissen Grade ausgesponnen hat.

 

 

29. Diese kunstgerechte Gestaltung, um derentwillen Aristoteles den Homer über alle Epiker stellt, wird von keinem Zykliker angewendet.

Aber vielleicht ist dies nur ein Spiel mit Worten, nicht klare Vernunftschlüsse, besonders bei der so wuchtigen Beweiskraft der allgemein verbreiteten Überzeugung. Wie nun, wenn wir des Aristoteles Gesetze der epischen Dichtkunst, soweit sie sich auf jene Überzeugung stützen, übertönen durch die Stimmen aller alten Gramatiker, von denen keiner (soweit sie erhalten sind) mit neuen Beweisgründen der Ansicht von einer besondern "Haupthandlung" der Ilias das Wort redet. Alle stimmen nämlich darin überein, daß in der Ilias die Kriegstaten der Griechen und Trojaner vor Ilion enthalten seien und (wenn sie noch etwas hinzufügen) die Heldentaten des Achilles. So urteilt vor allem klar der Verfasser des Buches über "die Poesie des Homers", welches unter dem Namen des Plutarch herausgegeben wird, so auch überall Eustathius. Dieser hat jedoch das zuerst genannte Thema ausschließlich als "Grundidee des Epos" hingestellt, indem er obendrein töricht die Lehre aufstellt, Achilleus sei deswegen in demselben vor allen Heroen so augenfällig ausgezeichnet worden, weil Homer diesen vor allem geliebt habe. Töricht, sage ich, ist diese Behauptung; sie stützt sich auf den alten Irrtum, der den Dichter [147] auch zu dem Erfinder fast des ganzen Stoffes seiner Dichtung machte. Aber welcher Gelehrte, der die Quellenschriften der Grammatiker studiert hat, möchte sich nicht höchlichst darüber verwundern, daß nicht einmal die Alexandrinischen Kritiker die wahre Bedeutung des Homerischen Proömiums klar erkannt haben, welche unser Zeitalter – allerdings nicht in gleichem Maße – schon längst erfaßt hat? Albern sind jene Alexandriner, sagt er, verbort in die Deutung von Vokabeln und Silben, natürlich! – sie sind ja auf die Welt gekommen vor der Erfindung der "philosophischen Betrachtung der Künste", wie wir zu sagen pflegen. Aber auch ihr Sänger selbst ist kein Philosoph gewesen, von dem sie erzählen, er habe seine so vortreffliche Kunst, die Grundidee der Handlung durch das Wirrsal von Episoden hindurchzuführen, sorgsam versteckt. Denn versteckt muß sie doch wohl sein, da außer Aristoteles und vor ihm nur sehr wenige alte Kritiker etwas davon gemerkt haben.

Für ausschlaggebend muß in dieser Farge besonders das Urteil der zyklischen Dichter und andrer gelten, welche unmittelbar nach dem Zeitalter Homers gelebt haben. Nur wenige gesicherte Angaben sind über dieselben vorhanden, wenn auch Nonnus mit andern Altertumsforschern dieselben zum großen Teil sorgfältig behandelt hat. Bei dem wenigen, was wir von ihnen sicher wissen, ist aber der Umstand überaus merkwürdig, daß die Zykliker alle diese (obengenannten) Kunstgriffe Homers entweder nicht bemerkt haben, oder, falls sie von den Zeitgenossen bemerkt worden sind, nicht haben nachahmen wollen oder können. Es lese doch einmal einer die kürzlich herausgegebenen Auszüge aus dem Gedicht "Cypria" oder aus den andern fünf Epen und mache den Versuch, ob er in einem von diesen einen Haupthelden, eine Haupthandlung oder eine in der Mitte der Ereignisse beginnende Erzählung, wie sie in der Odyssee vorliegt, herausfinden kann. Man durchmustere ebenso die übrigen Epen jenes Zeitalters oder die überlieferten Auszüge: "Die Genea[148]logie der Götter und Heroen", die "Dionysiaka", die "Thebaides", die "Epigonen", die "Naupaktika" u.a., – einen Helden wird man zwar in einigen nur finden (denn mehrere sind sehr kurz), aber in keinem eine einzige Handlung oder ein Hauptereignis, das nach der Weise der Ilias mit Episoden durchsetzt ist. Auf ein bedeutungsvolles Zeugnis gestützt, spreche ich diese Behauptung aus, nicht von einer Vermutung geleitet. Deswegen rühmt nämlich Aristoteles überall den Homer, gerade wegen dieser Kunstgriffe stellt er ihn über alle übrigen Epiker, weil keiner von ihnen – wie sich in ihren Werken zeigt – ihm, dem Bahnbrecher und Wortführer in dieser Kunst nachgeahmt hat, nicht einmal Pisander, nicht Panyasis, nicht Antimachus, welche nach Homer als die besten aufgeführt sind, geschweige denn die noch älteren und die Zykliker. Über diese letzteren müssen wir noch einen neuen Beweisgrund aus dem Begriffe des "Zyklus" selbst herleiten, wie wir ihn aus einer Stelle des Lycius Proclus bei Photius kennen gelernt haben. Denn bekanntlich war jener "Zyklus" eine Sammlung vieler Epen, vom Uranfang beginnend bis zum Tode des Odysseus, welche beinahe die gesamte Sagengeschichte in fortlaufender und naturgemäßer Reihenfolge umfaßte. Aus diesem Begriff allein folgt mit genügender Klarheit, daß die Zykliker ihre Ereignisse in derselben Ordnung, wie sie der Reihe nach einander gefolgt sind, nicht nach der Form der Odyssee, wie sie uns vorliegt, erzählt haben.

Wer möchte nun in Anbetracht dieses Ergebnisses noch die Meinung verfechten, daß die Zykliker insgesamt diese Kunst, welche den Grund für die so eigenartige Vollendung der Homerischen Gedichte bildet, wenn sie sie von Homer angewendet sahen, nicht verstanden haben oder absichtlich nicht haben nachahmen wollen? Denn daß sie es nicht gekonnt hätten, daß sie allesamt gegenüber solcher Vollendung eine unzureichende Begabung aufzuweisen gehabt hätten, diese Befürchtung kann niemand mit Fug und Recht aussprechen. Auch nicht einmal Hesiod, dem doch die Kritiker einen Platz an hervorragender [149] Stelle zuweisen, hat etwas nach jenem Vorbilde gedichtet. Dies bezeugen seine "Werke und Tage", eine Dichtung, die weder mit den Alexandrinern noch mit Lukrez oder Vergil verglichen werden darf, und ebensowenig abgerundet und vollendet ist wie die Sprüche des Theognis; es bezeugen dies auch noch andre Dichtungen, die man ihm im Altertum nach einer unsichern Überlieferung zuschrieb. Schließlich lassen auch die Dichter der spätesten Zeitalter in gewisser Weise erkennen, daß sie über die künstliche Zusammenfügung der Ilias von der Auffassung der Grammatiker nicht abweichen. Hätte sonst wohl Quintus Calaber in einer so törichten Weise seine Rhapsodien als Ergänzung an die seiner Meinung nach zu früh abgebrochene Ilias angeflickt, wenn er nicht Beispiele aus frühern Zeiten vor Augen gehabt hätte? Wir tadeln ihn freilich, wie einen, der nichts von den Kunstgesetzen versteht, welche die Schulknaben jetzt aus dem Batteux (Les beaux arts réduits à un même principe 1746) lernen: würden wir weniger schelten, wenn wir zufällig die Ilias bei des Achilles Rückkehr beendet und dann bis zu Hektors Bestattung von ihm ergänzt vor uns hätten? Sich anzupassen und unterzuordnen den Umständen, das versteht die Philosophie der Kunst ausgezeichnet, nicht selten sogar den Zufälligkeiten. Wenn wir den Katalog der Heervölker im zweiten Buch der Ilias nicht läsen, würde sie sich wohl, wie ich glaube, nicht beklagen, daß etwas ausgelassen sei, vielleicht hätte sie geradezu diesen Abschnitt für ein Machwerk eines Geschichtschreibers, nicht eines Dichters, erklärt, und sich über den lustig gemacht, dem die Kenntnis der Heroen ohne einen solchen Katalog lückenhaft erscheint.

 

 

30. Einzelne Stellen (z.B. Il. XVIII, 356-368) sind (nach Angabe des Zenodorus in den Scholien) von dem ersten Ordner (Diaskeuasten) zur Verbindung zweier Rhapsodien eingefügt.

Aber mögen auch die meisten der alten Forscher dieses Kunstmittel im Aufbau und in der Zusammenfügung der Homerischen Epen nicht erfaßt oder weniger eingehend, als wir es heute gewohnt sind, gewürdigt haben, dennoch darf an dem Vorhandensein eines solchen auf keinen Fall gezweifelt werden. Wenn wir aber die Frage aufwerfen, ob dies von [150] Homer selbst stamme oder von andern hervorragenden Geistern hinzugefügt sei (diesen Gedanken legt uns das Proömium der Epen selbst und die Anordnung des Stoffes nahe), so ist diese Frage derart, daß wir nicht darauf achten müssen, was nach unserm Gefühl den Gesetzen der Poesie entspricht und dem Dichter Ehre einbringt, sondern was sich aus den geschichtlichen Angaben und den Grundsätzen der Kritik als wahrscheinlich ergibt. Auch diese Frage stelle ich nur auf, ohne sie ausführlich zu behandeln: sie umfaßt nämlich einen ungeheuren Stoff und ist für unser Thema nicht unumgänglich notwendig. Inzwischen müssen hier kurz zwei Punkte berührt werden, welche schon allein den Verdacht einer von fremden Händen vollzogenen Zusammenfügung bei beiden Homerischen Epen erregen.

Zur ersten Art gehört eine Anzahl von deutlich hervortretenden, in die Lücken eingesetzten Bindegliedern, welche ich abwechselnd in sehr oft wiederholter Lesart gefunden zu haben glaube, mit gleichem Wortlaut und an gleichen Stellen, und welche derart sind, daß sie – wie jeder sofort zugeben oder vielmehr selbst herausfühlen wird – nicht bei der ersten Abfassung des Werkes gedichtet, sondern erst bei einer spätern Überarbeitung eingefügt sein können; ich werde dies an dem einen oder andern Beispiel nachweisen. Wenn an diesem Umstande seit so vielen Jahrhunderten kein Gelehrter Anstoß genommen hat, obwohl meines Erachtens jeder bei einigermaßen sorgfältiger Betrachtung Anstoß hätte nehmen müssen, so liegt der Grund hierfür wahrscheinlich allein darin, daß die ununterbrochene Versreihe beider Epen, welche durch ihre Verherrlichung von seiten so vieler Schriftsteller, sowie durch ihr glänzendes Äußeres die Leser täuschte, eine Betrachtung dieses Umstandes niemandem nahelegte, und daß wir fast alle von Natur so angelegt sind, daß wir lieber uns bemühen, Getrenntes zu verbinden als Verbundenes zu trennen.

Als ich nun diese meine Beobachtungen einigen meiner Freunde mitteilte, bezeigten sie, wie ich mich deutlich erinnere [151] meinen Vermutungen gegenüber Mißtrauen und hielten mir die Einreden aus so vielen Jahrhunderten und das Schweigen der Gewährsmänner entgegen. Bald darauf kam bei einer von jenen Stellen, bei welcher ich eine Zusammenflickung eines "fremden Künstlers" vermutet habe, unverhofft die Autorität eines alten Grammatikers meiner Vermutung zu Hilfe. Es ist die Stelle Ilias XVIII, 356-368, welche, gelinde gesagt, recht frostig und ohne rechten Sinn zwischen den Kampf der Trojaner und Griechen und die Ankunft der Thetis im Olymp gestellt ist. Über diese Verse ist in den ausführlicheren Scholien eine lange Untersuchung eines gewissen Zenodorus mit aufgeführt, aus welcher ich als Hauptsache folgendes hervorhebe: "diese Verse stammen nicht aus der gewöhnlichen Interpolation, noch von irgendeinem Grammatiker, sondern sind von den ersten Diaskeuasten (Ordnern) behufs Zusammenfügung zweier Rhapsodien eingeschoben worden." Und so scheinen mir derartige Einschiebsel noch mehr in der Odyssee vorhanden zu sein und zwar ist eins so augenfällig, daß mir aus meinen Lesern, deren Urteil ich diese Probe als Beispiel unterbreite, nur eine geringe Gegnerschaft, wie ich hoffe, erwachsen wird.

Auf Odyssee IV, 620, wo wir schneller, als man wünscht und erwartet, von dem lieblichen Zwiegespräch zwischen Menelaus und Telemach abgezogen werden, um erst im XV. Buche dahin zurückzukehren, welches die Rückkehr des Telemach beschreibt, folgen vier Verse, welche eine ganz ungewöhnliche Ausdrucksweise und eine harte, unklare Sprache aufweisen, von Homerischem Kolorit aber gar nichts an sich haben. Spuren dieses Fehlgriffs habe ich wenigstens in dem ganzen übrigen Teil des IV. Buches in nennenswerter Anzahl angemerkt, welche durch jene vier Verse, die jetzt zur Probe kurz besprochen werden sollen, ihre Erklärung finden. Denn über die Anstößigkeit jener Stelle, die nicht im geringsten dem Homer selbst zur Last fällt, besonders da es sich um ganz geläufige Dinge handelt, wird kein Gelehrter im Zweifel sein, [152] und schon in alter Zeit haben sich die Ausleger, deren reiche Kenntnisse uns jetzt leider so oft bei der Odyssee fehlen, mit ihr abgequält und über sie gestritten. Eustathius wenigstens, der allzusehr gekürzte Scholien in derselben verwendete, faßt die δαιτυμόνες nicht, wie es der Sprachgebrauch Homers und aller Schriftsteller überhaupt fordert, als "Gäste", sondern als "Gastmahlbereiter" auf (dies mußte unumgänglich geschehen, wenn – was der Verfasser zweifellos beabsichtigte – das folgende "die" auf δαιτυμόνες sich bezieht); ferner deutet er "Gemahlinnen" in einem nicht minder ungewöhnlichen Ausdruck als "Mägde" (= die Buhldirnen der Freier); überhaupt bezieht er die ganze Stelle ohne jedes Bedenken auf den Königshof des Odysseus, nicht auf den des Menelaus. Dagegen lassen sich die meisten neuern Ausleger nicht so leicht vom Menelaus abdrängen. Unter diesen verzeiht Barnes "menschlich", wie er sagt, dem Eustathius seine Irrung, der nach meiner Auffassung bei seiner Tätigkeit als Kompilator wohl kaum in so grober Weise sich versehen konnte; er bezieht seinerseits die "Gemahlinnen" auf die Gattinnen irgendwelcher Söhne des Menelaus und ihrer Freunde, über das andre Wort ("Gäste") schweigt er. Anna Dacier, welche in beiden Punkten dem Eustathius folgt, verweilt ebenfalls an dieser Stelle noch am Königshof in Sparta. Und vielleicht sind diese Kritiker sowie noch mehrere andre zu ihrer Auffassung mit einem gewissen Recht dadurch gebracht worden, daß der Begriff "der göttliche König" in diesem Zusammenhange scheinbar in dem Sinne aufgefaßt werden muß, daß ein andrer von dem namentlich genannten Odysseus unterschieden werden soll. Aber das Wort "Schafe treiben" ruft uns wiederum die Freier ins Gedächtnis, welche bei allen Gelegenheiten "dichtgedrängte" Schafe schlachten; und mit den Sklaven oder Dienern, die das Mahl bereiten, könnten die Freier gerade (V. 625) passend verbunden erscheinen. Welche von diesen Annahmen nun aber auch die richtige sein mag, und wo nur immer der Übergang auf die Vorgänge in Ithaka [153] stattfindet, jedenfalls tritt derselbe unverständlich und unwillkommen ein, und wir haben nicht die Empfindung, Homers Dichterworte zu hören. Wenn ich daher nicht wüßte, wie leicht man in einer so gewaltigen Dichtung, geblendet von dem Glanz umfangreicher Abschnitte, kleinere Anstöße übersehen kann, so würde ich mich darüber wundern, daß bisher kein Kritiker bei dem Versuch, einen lesbaren Text dieser alten Epen herzustellen, auf den Gedanken gekommen ist, durch Tilgung dieser vier anstößigen Verse die Stelle so zu gestalten, wie dies Odyssee XVII, 166 der Fall ist, und sich dem Verfahren der ältesten Textverbesserer anzuschließen. Wenn jene dies schon im Altertum getan hätten, so wie sie oft ohne Zweifel an andern Stellen mit solchen Anstößen verfuhren, und obendrein V. 625 den Anfang eines neuen Buches gesetzt hätten, so würde sicherlich ein so geringes Maß von Scharfsinn die geistvollen Forscher aller Zeiten genarrt haben. Jetzt hat die Sache einen unerwarteten Verlauf genommen. Denn wenn auch das Zeitalter der ältesten griechischen Textverbesserer auf die Zustutzung, Ausschmückung und Ausstaffierung dieses Dichters allen nur denkbaren Eifer verwendet hat, hat es dennoch den Pylämenes, der allzu schnell sein Schicksal vergißt (Ilias XIII, 658 geht er hinter seines Sohnes Leiche einher, während er schon V, 578 getötet ist), sowie noch vieles derartige unverändert gelassen, was später die Kritiker, die ausschließlich danach fragten, was dem kunstgemäßen Verlauf der epischen Dichtung angemessen sei, mit ihren Tilgungszeichen (Obelus) und Verbesserungen in eine harmonische Ordnung zu bringen versuchten.

 

 

31. Die Echtheit der letzten Verse der Odyssee ist schon von Aristophanes v. B. und von Aristarch angezweifelt worden; auch die 6 letzten Rhapsodien der Ilias stammen wahrscheinlich von einem spätern Rhapsoden.

Einige Philosophen haben in alter Zeit den Lehrsatz aufgestellt, diese Vereinigung aller Dinge und Lebewesen im Weltall sei nicht aus dem göttlichen Geist und Walten hervorgegangen, sondern durch reinen Zufall sei sie entstanden und ausgestaltet. Hoffentlich wird mich niemand einer ähnlichen Verwegenheit beschuldigen, wenn ich, durch die Spuren einer kunstvollen Zusammenfügung und durch andre gewichtige [154] Gründe dazu veranlaßt, behaupte, daß Homer nicht der Schöpfer der sämtlichen Bestandteile seiner Dichtung, sondern daß dieser kunstvolle Aufbau erst das Werk späterer Jahrhunderte sei. Denn nicht plötzlich und zufällig ist die Herstellung vor sich gegangen, sondern es haben sich zur Lösung dieser Aufgabe die Studien vieler Gelehrten und vieler Zeiten vereinigt. Wie es aber einerseits recht töricht ist, an die Entstehung von Dingen und Vorgängen zu glauben, die nicht entstehen können, so müssen wir uns auch auf der andern Seite hüten, nur von unserm Gesichtspunkte aus und mit unsrer Sehschärfe die Grenzen der Natur und der geistigen Vorgänge zu betrachten und abzumessen und die Meinung zu vertreten, daß das, was wir nicht unter unsern Augen entstehen sehen, überhaupt nicht vor sich gehen könne. Doch wir müssen noch zu einer zweiten Gattung von Beweisgründen kommen, aus der sich – selbst wenn man alles übrige beseitigen könne – eine unentwirrbare Unklarheit ergiebt über die Gesamtform dieser beiden Epen. Diese Gesamtform ist jetzt derartig, so heißt es, daß man, wenn wir den Gesetzen der künstlerischen Schönheit nicht Gewalt antun wollen, weder etwas hinzufügen, noch etwas wegnehmen kann. Ich höre diese Behauptung, sehe sie teilweise auch ein und – sage jenen "Ordnern" Dank. Aber wird sich nicht dann für alle die Erkenntnis ergeben, daß diese "Ordner" ihre eigne Kunst bei der Umformung dieser Dichtwerke angewendet haben, wenn erst der Beweis geliefert sein wird, daß in beiden Epen nicht nur (wie ich oben gezeigt habe) einige Teilchen, sondern ganze Rhapsodien enthalten sind, die nicht von Homer stammen, d.h. von demjenigen Dichter, von welchem der größere Teil und die Reihe der ursprünglichen Rhapsodien geschaffen ist?

Bekanntlich haben schon im Altertum Aristophanes von Byzanz und Aristarch, zwei in dieser Streitfrage nicht allzu verwegene Kritiker, ihren Zweifel an der Echtheit der letzten Verse der Odyssee (von XXIII, 297 an gerechnet) ausgesprochen. Derselbe Zweifel ist auch geäußert worden in bezug [155] auf das letzte Buch der Ilias (XXIV). Zwar sind die Gründe für diesen doppelten Zweifel bisher nach keiner Seite von irgendeinem Forscher erörtert worden, die Untersuchungen jener alten Gelehrten aber sind uns zu wenig treu überliefert; denn, daß diese historische Gesichtspunkte und alte Überlieferungen zur Unterstützung ihrer Behauptung herangezogen haben, ist wohl wahrscheinlich; doch haben nur diejenigen das Wort ergriffen, welche die Zweifel zur Sprache brachten, nicht diejenigen, welche Lust hatten, über diese wissenschaftlich zu streiten. Jene versicherten, in diesen beiden Büchern viel Unhomerisches und dem Geiste des Dichters Unwürdiges getroffen zu haben, diese betonten besonders das hohe Alter dieser Verse und ihre Schönheit dem maßgebenden Urteil Vergils und seiner Zeitgenossen folgend (als wenn nicht schon viel ältere Literaturfreunde, Plato und Aristoteles, sie als "Homerisch" zitierten) oder auch ihre Notwendigkeit zur Gewinnung eines abgerundeten Dichtwerks und eines passenden Abschlusses. Welch dürftiger Art dieser Beweis ist, sieht man leicht ein, und ich schäme mich, ihn erst noch widerlegen zu müssen. Denn hiermit stellen jene keinen andern Lehrsatz auf als den, daß sie selbst dazu bereit wären, diese Abschlußverse anzufügen, falls sie noch nicht existierten; allerdings können sie in betreff der Ilias nach den Kunstgesetzen Homers den Beweis nicht führen, warum diese am besten mit der aufregenden Beschreibung der Bestattung Hektors schließen müsse. Bei der Odyssee erreichen sie ihren Zweck, den sie im Auge haben, vollständig. In diesem Epos lehrt jeden die eigne Empfindung, daß wir, wenn jenes letzte Buch fehlte, voll Sorge von Odysseus, dem Besieger so vieler Widerwärtigkeiten, scheiden würden, da wir ja dann für ihn Unheil von seiten der Eltern und Verwandten der 108 getöteten vornehmen Jünglinge fürchten müßten, falls nicht durch das Eingreifen der Götter und Athenes plötzliches Erscheinen eine Amnestie und ein dauernder Friede geschlossen worden wäre.

Was ergibt sich also daraus, wenn man mit allen hier[156]her gehörigen Beweisgründen darzulegen imstande ist, daß dieser ganze Schlußteil mit einigen andern Abschnitten, die für eine kunstgerechte Anordnung des Epos unerläßlich sind, nicht von Homer stammt, sondern von einem talentvollen Rhapsoden des nächstfolgenden Zeitalters nachgedichtet ist? Wie, wenn sich auch von den sechs letzten Rhapsodien der Ilias dieser Beweis führen läßt? So oft ich wenigstens bei fortlaufender Lektüre des Epos an diese Teile gekommen bin, sind mir in ihnen manche Anstöße aufgefallen, die (darauf möchte ich jede Wette eingehen) gewiß schon längst von den Gelehrten entdeckt und bemerkt worden wären, wenn sich nicht jene Partien schon früh mit den übrigen Bestandteilen zu einem Ganzen vereinigt hätten, und besonders habe ich vieles derartige darin wahrgenommen, das (wenn man es auch jetzt für gut Homerisch hält) schon an und für sich, wenn es in den Homerischen "Hymnen" zu lesen wäre, diese in den Verdacht der Unechtheit bringen würde. Doch will ich diese meine persönliche Empfindung niemand für einen Lehrsatz verkaufen, da kürzlich mich ein warnendes Beispiel eines bessern belehrt hat. Der Hymnus nämlich, über welchen die meisten in ihrer Freude über den neuen Fund urteilten, er gleiche dem Homer, wie ein Ei dem andern, hielten andre für unwürdig des Göttlichen Sängers, aber doch für sehr alt und für ein Erzeugnis eines Homeriden, Pindemont setzte ihn nicht früher als die Alexandriner, Ignarra erklärte ihn gar für einen Moskovitischen Cento, der aus dem Pausanias und aus antiken irgendwoher zusammengekratzten Versen erst in einem sehr späten Zeitalter zusammengeflickt worden sei. Ruhnken spricht sich in einem geistvollen Wort folgendermaßen darüber aus: "Die Sache kann von den Verständigen herausgefühlt werden, den Unverständigen kann man den Sinn derselben nicht auseinandersetzen." Aber dieses beides ist noch weit schwieriger bei den Homerischen Epen, welche, obwohl ein bis zwei Jahrhunderte voneinander getrennt, doch durch ihre im allgemeinen gleichmäßige und im übrigen überaus ähnliche Gestalt den [157] Leser täuschen. Ist doch – im allgemeinen betrachtet – derselbe Ton in allen Büchern, dieselbe Fassung der Gedanken, der Redeweise, der Versmaße. Darum wird einmal später eine ganz genaue Untersuchung darüber angestellt werden müssen, was jenen vereinzelten Forscher beim Lesen der letzten Bücher mit dem Gefühl erfüllt hat, Fremdes vor sich zu haben, welche ungewöhnliche Vokabeln und Redewendungen vorkommen und welcher Art diese sind (denn auch das I. Buch der Ilias enthält einige nur einmal vorkommende Worte), was fremdartig und von abweichendem Kolorit in den Sätzen und Satzperioden ist, welche Spuren fremder Nachahmung in den Stellen verborgen liegen, die aus den echten Partien des Homer herausgepreßt sind, wo die echte Homerische Kraft, der echte Homerische Geist fehlt, was nüchtern und frostig ist an vielen Stellen, z.B. Ilias XXI, 273 ff. und in einem großen Teil der Tetralogie dieses Buches, ebenso im XXII. Buche, wo doch so vieles durch Schönheit sich empfiehlt (so finden sich auch viele schöne Stellen in der Theogonie und im Schild des Herkules), ebenso XXIII, 88, XXIV, 247 ff.; 602 ff.; Odyssee XXIII, 310 ff.; XXIV, 24 ff. Hierüber und über manches andre wird anderswo zu sprechen sein, gesondert und mit größter Sorgfalt, welche der Gegenstand verdient. Ich will dies hier nur kurz angemerkt haben, ohne weiter danach zu fragen, wie viel neue Beweise sich daraus für meine Darstellung ergeben.

 

 

32. I. Zeitalter. Lykurgs Einführung des Homer in Sparta, Solons Neuerung für den Vortrag der Rhapsoden.

Wir kommen jetzt zu den allgemein anerkannten Überlieferungen der Griechen über die älteste Entwicklungsgeschichte der Homerischen Epen, die zwar nur dürftig und an sich recht unklar sind, und von den Griechen selbst nicht hinreichend verstanden wurden, aber doch für uns jetzt nicht ganz im Dunkeln liegen. Zuerst soll die Poesie Homers von dem Lakedämonier Lykurg aus Jonien in den Peloponnes eingeführt worden sein. Wir haben hierfür vier Zeugnisse, unter denen als erstes dem Alter und Anschein nach das des Heraklides von Pontus zu nennen ist, welcher berichtet, daß die [158] Homerischen Epen von den Nachkommen des Kreophylus übernommen worden seien. Da dieser Kreophylus (allerdings eine nur in der Überlieferung vorkommende Persönlichkeit) zu den ältesten Epikern und Freunden des Homer gerechnet wird, so waren vermutlich seine Nachkommen eine Sänger- oder Rhapsodenfamilie, welche die Homerischen Gedichte auf Anweisung des Lykurg den Lakedämoniern gelehrt oder ihm bei seiner Rückreise nach Sparta einen Begleiter mitgegeben haben, der dieselben im Gedächtnis behielt und dort zum Vortrag brachte. Denn die Bemerkung des Plutarch, daß die Epen von jener Sängerfamilie schriftlich aufgezeichnet und von Lykurg niedergeschrieben seien, gehört ebensowenig zur Sache als das von ihm angefügte Urteil, warum der Gesetzgeber für die Einführung derselben in seinen Staat Sorge getragen habe. Derartige Bemerkungen fügen nämlich die Historiker aus eignem Geiste hinzu, damit ihre Darstellung nicht zu nackt und dürftig erscheine. Auch jene Behauptung des Älian glaube ich nicht (wie hätte er dies auch sicher wissen können?), daß schon Lykurg alle die Gesänge gekannt habe, aus denen später Ilias und Odyssee bestanden. Wenn man also alle an die eigentliche Überlieferung angehängten Zusätze verwirft, bleibt nur die nackte Tatsache übrig, daß vor Lykurg den Spartanern nur wenige Rhapsodien bekannt gewesen, dann aber zur Zeit des Lykurg oder vielleicht auf seine eigne Veranlassung noch mehrere hinzugefügt worden sind, und der Dichter von da ab dort immer in höchster Ehre gestanden habe.

Während der drei nächstfolgenden Jahrhunderte nach Lykurg ist über die Epen nichts überliefert, abgesehen von der Bemerkung, daß sie von den Rhapsoden einzeln verbreitet worden seien, worüber wir schon oben gesprochen haben. Daher würde man es auch ohne das Zeugnis eines alten Schriftstellers glauben, daß der Vortrag der Epen auch schon vor Solon Sitte gewesen ist. Aus der Angabe, Solon habe als Neuerung den Vortrag der Rhapsoden nach einem geschriebenen Exemplar eingeführt, geht deutlich hervor, daß er [159] nicht erst die Rhapsoden nach Athen eingeladen, sondern an ihrer Sangesweise irgendeine Änderung getroffen habe. Welcher Art nun diese Änderung und Neuerung gewesen sei, können wir nur durch Vermutung ergründen infolge des allzu kurzen Berichts des Diogenes Laertius. Denn wenn vielleicht vorher bei den öffentlichen Festen nur ein Rhapsode zu singen pflegte, könnte Solon – wie es mir scheint – durch Zusammenrufung mehrerer, welche sich abwechselnd einander ablösten und so eine größere Anzahl von <Rhapsodien> zum Vortrag brachten, dem Vortrag einen neuen Glanz verliehen haben. Aber auf diese Auffassung lege ich weniger Wert. Denn nicht durch diese Äußerlichkeit wird das denkwürdige Verdienst der neuen Einrichtung klar, auch können die Worte des Diogenes, obwohl er gar of Unverständliches zusammenredet, auf keinen Fall darauf hinausgehen. Wenn ich daher den Sinn jener Worte genauer verfolge und die althergebrachte Sitte der Rhapsoden, die ich oben (S. 128) beschrieben habe, zur Vergleichung heranziehe, scheint mir Solon folgende neue Einrichtung getroffen zu haben: Während früher einzelne Rhapsodien ohne jede Anordnung nach Inhalt und Zeit zum Vortrag gebracht wurden, so daß die Sänger bei einer Festlichkeit zuerst die Waschung des Odysseus (Odyssee XIX) oder den Freiermord (XXII), dann die Fahrt in die Unterwelt (XI), weiterhin die Vorgänge in Pylos oder Lakedämon (III, IV) und in gleicher Weise aus dem Kreise der Ilias den Wettkampf bei der Leichenfeier (XXIII), darauf die Waffenverfertigung (XVIII), dann die Bitten (IX) und schließlich die Pest (I) sangen, wurden jetzt die Vorträge so an mehrere Rhapsoden verteilt, daß der eine den andern der Reihe nach ablöste und dadurch ein fortlaufendes und kunstvolles Gewebe von Gesängen hergestellt wurde. In der Tat eine denkwürdige Einrichtung eines Gesetzgebers, der zugleich auch Dichter war! Ohne dieselbe würde ich vielleicht diese ganze Untersuchung nicht angestellt haben. Nirgends aber finden wir einen Bericht, daß Solon hierbei von einem geschriebenen Exemplar [160] unterstützt worden sei; wenn damals ein solches vorhanden gewesen wäre, hätte der regellose Vortrag sicherlich nicht erst von Solon den Rhapsoden abgewöhnt zu werden brauchen. Übrigens hat diese Einrichtung ausschließlich auf Attika Bezug, nicht auf das gesamte Griechenland. Denn es ist auf keine Weise glaublich, daß Solon der allererste gewesen sei, der durch solche Maßnahmen zu einer künstlerischen Anordnung und Sammlung der Homerischen Werke Veranlassung gab, und daß die Gesänge in Jonien und anderswo so abgerissen (wie dies kürzlich einige behaupteten), so ungeordnet und durcheinandergemischt vorgetragen worden seien, daß ihr ganzer Zusammenhang verloren ging.

Im Gegenteil: wenn wir ausschließlich die Vermutung zu Hilfe nehmen müßten, wo anders als im Vaterlande Homers würden wir die erste Einrichtung jener kunstgemäßern Anordnung suchen? Ich füge auch hinzu: der schriftlichen Aufzeichnung, deren erste Versuche von einem hochgebildeten Volke augenscheinlich in der Zeit gemacht worden sind, wo man mit der Herstellung von Bücherrollen begann, d.h. (wie wir oben Kap. 17 bemerkt haben) im Zeitalter des Pittakus und Solon. Denn wenn auch der uralte und weitverbreitete Gebrauch, Gesänge vorzutragen deswegen, weil er den Hörern solchen Hochgenuß bereitete und er ganz und gar zu einer Kunst geworden war, die schriftliche Aufzeichnung weniger wünschenswert erscheinen ließ und so vielleicht dieser Tätigkeit sogar Verzögerung bereitete, ist doch wohl, sobald man einmal damit den Anfang gemacht hatte, kaum irgendein Epos aus älterer Zeit vorhanden gewesen, welches die Griechen in gleicher Weise zur Niederschrift angereizt hätte.

 

 

33. Verkehrte Auffassungen über die Sammlung des Pisistratus.

Nun aber ist es ja gar nicht notwendig, zu Vermutungen unsre Zuflucht zu nehmen. Die Geschichte redet. Denn die Stimme des ganzen Altertums und, wenn man auf den Grund geht, auch die übereinstimmende Überlieferung bezeugt, daß Pisistratus die Gesänge Homers zuerst schriftlich aufgezeichnet und in diejenige Ordnung gebracht habe, in [161] welcher wir sie jetzt lesen. Dies berichten in späterer Zeit Cicero, Pausanias und alle übrigen, welche die Sache erwähnen, fast mit ein und denselben Worten und zwar als einen allbekannten Vorgang. Aber wie dieser Bericht durch Auslegung von einigen neuern Erklärern verdreht worden ist, das ist eine lange und wunderliche Erzählung. Jene Homerforscher geben sozusagen dem Pisistratus die Schriftrollen der einzelnen Rhapsodien in die Hand, die vom Dichter durch Zufall (wie Suidas lehrt) in verschiedenen Städten, welche er bereist hatte, zurückgelassen oder – soll ich sagen – verpfändet worden sind. Ausgerüstet mit diesen Kodizes, habe er (so scheinen sie zu glauben, obwohl sie es nicht geradezu auszusprechen wagen) die allmählich von den "Zusammenflickern der Gesänge" angerichtete Unordnung beseitigt und also nicht eine ganz neue Anordnung geschaffen, sondern die ursprüngliche und echte wiederhergestellt. Hierauf also beziehen jene Forscher die Ausdrücke: "die in Verwirrung geratenen (auseinandergerissenen, getrennten, vereinzelt vorgetragenen) Gesänge," als ob sie nur durch das Verschulden der Rhapsoden zerstückt und in Unordnung gebracht worden seien; im ganzen weisen sie also dem Manne, der aus sich selbst den höchsten Ruhm gelehrter Bildung sich erworben hat, keine andre vornehmere Tätigkeit zu als diejenige, welche heute bisweilen nachlässige Schriftstellter der Sorgfalt der Buchdrucker zu tun übrig lassen.

Die Sache würde ihre Richtigkeit haben, wenn es sich um ein Schriftwerk unsrer Zeit handelte oder wenn in jener alten Zeit geschriebene Bücher vor Pisistratus vorhanden gewesen wären und solche Rhapsoden, wie sie in der Einbildung jener existieren, kurz, wenn irgendein alter Gewährsmann für diese Auslegung aufzufinden wäre. Denn überaus einfältig würde es sein, darauf einen Schluß zu bauen, daß von den alten Autoren, wenn sie die künstlerische Komposition dieser Epen preisen, nicht ganz offen Pisistratus an Stelle des Homer gelobt wird. Gar oft ereignet sich dies im Laufe der Geschichte, [162] daß hergebrachte Redensarten durch die Tatsachen Lügen gestraft werden und daß einigen Vorgängen, die jeder (fälschlich) für volle Wahrheit gehalten hat, ganz andre Tatsachen entsprechen, als diejenigen wahrnahmen, welche sie zur Unterstützung ihrer Auffassung angeführt haben. Aber die Unklarheit, welche nach der Meinung einzelner dieser Erwähnung der "in Unordnung geratenen Epen" anhaftet, verschwindet sofort bei einer Vergleichung derjenigen Schriftsteller, welche den Vorgang etwas anders erzählt haben, nämlich des Josephus und des Älian, oder vielmehr bei einer Vergleichung aller jener. Gesammelte Gesänge, nicht wieder gesammelte und eine neu angewendete, nicht durch kritisches Studium wiederhergestellte Kunst der Komposition wird in ihnen allen, ebenso wie ich, ein jeder finden, der nur aufmerksam gelesen hat und nicht, durch Leidenschaft und unbesonnen gefaßte Vorurteile geblendet, auf das Licht der Wahrheit gern verzichtet. Nun hat aber die Beständigkeit dieser Überlieferung, für welche man jene so zahlreichen Angaben mit ziemlichem Erstaunen betrachten muß, da sie aus denjenigen Zeiten stammen, in welchen schon längst die neue Gestalt dieser Epen Festigkeit gewonnen hatte (dies konnte damals bei den Griechen im Verlauf von zwei bis drei Menschenaltern vor sich gehen ) – die Beständigkeit dieser Überlieferung hat nicht einmal das späteste Zeitalter verdunkeln können. Bemerkenswert in dieser Art ist eine Anmerkung in den Scholien des C. Lipsiensis und bei Eustathius, daß die Dolonie, d.h. die 10. Rhapsodie der Ilias von Homer, als gesonderte Dichtung geschaffen, von Pisistratus aber in die Sammlung seines Gesamtwerkes aufgenommen sei. Zunächst beziehen sich auf diesen Bericht einige sinnlose Bemerkungen der Grammatiker, welche, in der Absicht, die wissenschaftliche Tätigkeit des Pisistratus zu schildern, infolge ihrer Unkenntnis der Gebräuche jener alten Zeit zu entstellten Überlieferungen und zu ihrer eignen Phantasie ihre Zuflucht nahmen. Zur Erheiterung werde ich am Fuße dieser Seite eine Stelle eines gewissen Diomedes anführen, [163] wie sie zuerst Allatius und kürzlich Villoison aus den Handschriften herausgegeben hat. Dort fabeln die Grammatiker des allerspätesten Zeitalters: Nachdem Homers Werke durch Feuer, Erdbeben oder Wasser vernichtet worden waren, habe Pisistratus die Verordnung erlassen, man solle aus ganz Griechenland alle sich irgendwo vorfindenden Reste der Homerischen Dichtungen zu ihm bringen. So habe sich denn hier und da jemand gefunden, der hundert, ein andrer, der tausend Verse, noch wieder ein andrer, der eine größere Anzahl ihm überlieferte. Nach Entgegennahme und Sammlung aller dieser Verse habe er sofort 72 Grammatiker (man hört hier die Fabel des Aristeas von den 72 Bibelübersetzern) zusammengerufen und dieselben beauftragt, diesen Mischmasch in die richtige Ordnung zu bringen. In dieser Vereinigung von Grammatikern hat vor allen andern Zenodot und Aristarch einen Platz erhalten, – welch ein schändlicher Irrtum, von dem sich jedoch weder Eustathius noch einige neuere Gelehrte haben abbringen lassen. Nun! mit der Autorität dieser einen Fabel mögen sich diejenigen verteidigen, welche immer noch behaupten, Pisistratus habe nicht in erster Niederschrift die Epen gesammelt und geordnet, sondern nur die zerstückten, zerstreuten und auseinandergeratenen Gesänge wiederhergestellt. Wir, die wir uns die Fähigkeit zutrauen, zwischen Fabel und Geschichte richtig zu unterscheiden, erkennen an, daß hier hinter der Fabel ein Stück geschichtlicher Überlieferung verborgen ist, die man in ähnlicher Weise ans Tageslicht bringen muß, wie die Gelehrten bei der jüdischen Überlieferung von den 70 Übersetzern (Septuaginta) verfahren sind (vgl. die Abhandlung Eichhorns).

 

 

34. Die Tätigkeit der Ordner (Diaskeuasten).

Wenn nun nach dem Urteil der Alten niemand vor Pisistratus über eine derartige Aufhäufung Homerischer Dichtungen ernstlich nachgedacht hat, so wird niemand sich zu der Behauptung versteigen, daß dieselbe, obwohl sie vorher überlegt und wissenschaftlich angelegt war, damals sofort in allen Teilen tadellos hervorgegangen sei und ganz dasselbe Gepräge [164] gehabt habe, wie wir Ilias und Odyssee jetzt vor uns sehen. Pisistratus mußte sich jedenfalls daran genügen lassen, eine größere Anzahl von Rhapsodien in eine passende Ordnung zu bringen, unter Beiseitestellung derjenigen Stücke, welche zur Entwicklung des Grundgedankens nicht paßten, mochte auch immerhin hier und da etwas nicht übereinstimmen und eine Lücke entstehen, oder von der ältern Fassung noch ein Fetzen hängen bleiben. Zur Aufsuchung jener "Entwicklung des Grundgedankens" konnte ihn – von andern Gründen abgesehen – die Sorge um einen fortlaufenden Text veranlassen, in welchem jedem Gesange seine eigne Stelle angewiesen werden mußte: aber das Ganze zu überarbeiten und bis auf die letzte Unebenheit zu glätten, erschien ihm vielleicht zu mühevoll, als daß er es beim ersten Versuch hätte erreichen können. Auf keinen Fall möchte ich diese künstlerische Tätigkeit dem Pisistratus ausschließlich zuweisen, für diese meine Auffassung habe ich zwei Beweisgründe, welche jedem Forscher, dessen geistiges Auge an das Dunkel jener alten Zeiten gewöhnt ist, hinreichend klar und deutlich sein werden. Erstens haben die Griechen bis zum Zeitalter der Ptolemäer eine feststehende Gestalt des Textes nicht gehabt; wir haben dies oben an denjenigen Stellen gesehen, welche von Plato und seinen Zeitgenossen zitiert werden, heute jedoch nicht in unserm Homer vorkommen. Daher kann aus dem Texte, den wir heute in den Händen haben, niemand sich ein klares Urteil bilden, wie er zuerst niedergeschrieben worden sei; im Gegenteil, wenn nach Pisistratus andre und immer wieder andre Rhapsoden zur Niederschrift herangezogen wurden, mußte sich notwendig die Form desselben ändern und verschieben, bis er dann endlich in die Hände des Zenodot und Aristarchus gelangte. Darüber hatten die Kommentare dieser beiden Männer zweifellos mehrere Anmerkungen aufbewahrt, bei deren Verlust sich nun die "landläufige Meinung" gar prächtig verteidigen kann. Was soll das aber? Vor der Arbeit Villoisons kannte man nur eine Belegstelle in den Scholien, welche eine Ordner[165]tätigkeit (διασκεύασις) erwähnt aus der Zeit vor jenen Alexandrinern; niemand wußte, soweit mir bekannt ist, mit diesem Begriff etwas anzufangen; jetzt hat uns diesen, sowie den Namen „Diaskeuasten" (Ordner) der Scholiast des Cod. Venetus nahegebracht durch einige Stellen, in welchen bemerkt wird, es sei von den Diaskeuasten manches eingesetzt worden, was die spätern Kritiker für unwürdig des göttlichen Sängers und deshalb tilgenswert erklärt haben. Da dieser Umstand vorher nur durch jene überaus dürftige Spur bekannt geworden war und auch jetzt noch die Bedeutung jenes Begriffes nirgendwo ganz sorgfältig erklärt wird, ist es schwierig, hierüber ein sicheres Urteil zu gewinnen. Stellt man jedoch jene Hinweise zur Vergleichung nebeneinander, so zeigen sie deutlich, daß man die Diaskeuasten nicht für irgendwelche unbekannte Herausgeber kritischer Rezensionen zu halten hat (für welche andre Bezeichnungen gebräuchlich sind), sondern für die Vollender oder Überarbeiter, welche entweder zusammen mit Pisistratus oder bald nach ihm mit demselben Werke sich beschäftigen.

Aber ich halte es für durchaus zweifelhaft, ob die alten Autoren selbst dem Pisistratus allein die besagte Tätigkeit zugeschrieben haben oder ob sie nur – wie es öfter geschieht – ihn den Urheber dessen nennen, was auf seine Anordnung und sein maßgebendes Beispiel geschehen ist. Dem Hipparchus wenigstens, dem jüngern Sohne desselben und seinem Nachfolger in der für Athen so segensreichen Tyrannis (im Verein mit Hippias), wird von dem Verfasser des gleichnamigen Platonischen Dialogs eine so hervorragende Rolle bei der Verherrlichung Homers zugeteilt, daß es durchaus den Anschein gewinnt, Hipparch habe seinen Vater bei der Tätigkeit des Sammelns und Ordnens in hervorragendem Maße unterstützt oder doch wenigstens des Vaters Idee weiter ausgeführt und für dieses Unternehmen noch andre Literaturfreunde gewonnen. Denn die Tatsache, daß Pisistratus vorzüglich den Homer in neuer Ordnung an den fünfjährigen Panathenäen [166] von den Rhapsoden vorzutragen befahl, konnte nicht allein ihm diese Fülle von Ruhm verschaffen, daß er als erster Einführer der Homerischen Poesie gepriesen wurde. Nun fällt ja auch in die Regierungszeit leider die schönste Blüte der lyrischen, sowie der Spruchpoesie, ebenso die neuen Fortschritte der Tragödie und Komödie: unter so vielen Dichtern sind gewiß mehrere gewesen, welche dem Pisistratus und dem Hipparch bei ihrer Tätigkeit ihre Hilfe leisteten, besonders da beide nicht nur Liebhaber der Künste, sondern auch Freunde der Gelehrten waren. Dem Namen nach werden nämlich folgende erwähnt, die mit ihnen in engster Freundschaft gelebt haben: Orpheus von Kroton, der Verfasser der Argonautika, Onomakritus von Athen (später vom Hipparch aus Athen verbannt), Simonides von Kos und Anakreon von Theos. Von diesen also hat nach meiner Vermutung irgendeiner den beiden bei der Ordnung der Epen geholfen. Pisistratus selbst hatte doch wohl sicherlich mit seinen eignen Angelegenheiten genug zu tun, diese aber hatten Muße und besaßen eine große Vertrautheit mit den alten Dichtungen; wie z.B. Onomakritus, dessen berühmte Interpolationen des Orpheus und Musäus bis in die ersten Anfänge der schriftlichen Aufzeichnung zurückreichen.

Tollkühn erscheint es mir, aus jedem Winkel der sagenhaften Überlieferungen Spuren geschichtlicher Tatsachen herausholen zu wollen: Sonst würde ich meinen Konjekturen Anstrich und Glaubwürdigkeit durch den Hinweis auf die Tatsache geben, daß in jenen Anmerkungen der Grammatiker und bei Suidas dem Pisistratus mehrere Genossen seiner Tätigkeit zugeschrieben werden. Aber durchaus erwähnenswert ist jene oben angeführte Stelle des Pausanias, wo dieser, von der verschiedenen Form eines Namens (Ilias II, 573) handelnd, mit beredten Worten die Freunde des Pisistratus und seine Helfer bei der Niederschrift der Ilias erwähnt, woraus sich klar ergibt, daß der von uns wieder ans Tageslicht gezogene Tatbestand im Zeitalter des Pisistratus noch nicht völlig verdunkelt gewesen ist.

 

 

 

 

Druckvorlage

Friedrich August Wolf: Prolegomena zu Homer.
Ins Deutsche übertragen von Hermann Muchau.
Leipzig: Reclam o.J. [Vorwort datiert: Anfang 1908] (= Universal-Bibliothek, 4984/86).

Unsere Auswahl
S. 90-97 (= Kap. 11-12) [PDF]
S. 125-166 (= Kap. 21-34). [PDF]

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien). Die Anmerkungen Wolfs werden nicht wiedergegeben; die Inhaltsangaben der Kapitel stammen vom Übersetzer.

Die lateinische Erstausgabe:
Frid. Aug. Wolfius: Prolegomena ad Homerum sive de operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi.
Bd. I [mehr nicht erschienen]. Halis Saxonum: Libraria Orphanotrophei 1795.
PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10912217-0
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/002619036

Das Werk umfaßt insgesamt 51 Kapitel. Unsere Auswahl konzentriert sich auf die Abschnitte, in denen Wolf, ausgehend von der Annahme der Schriftlosigkeit der frühen Jahrhunderte und der mündlichen Überlieferung der Epen, die alleinige Verfasserschaft Homers zu widerlegen sucht.

 

Kommentierte Ausgabe

 

 

 

Werkverzeichnis

Wolfius, Frid. Aug.: Prolegomena ad Homerum
sive de operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi.
Bd. I [mehr nicht erschienen]. Halis Saxonum: Libraria Orphanotrophei 1795.
PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10912217-0
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/002619036

Wolf, Friedrich August: Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert.
Mit einem Nachwort von Johannes Irmscher
Berlin: Akademie Verlag 1985.
Reprint der 1. Aufl. Berlin 1807.

Bernays, Michael (Hrsg.): Goethes Briefe an Friedrich August Wolf.
Berlin: Reimer 1868.
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/009015874
URL: https://opacplus.bsb-muenchen.de/title/8068759/ft/bsb10402931

Wolf, Friedrich August: Prolegomena zu Homer.
Ins Deutsche übertragen von Hermann Muchau.
Leipzig: Reclam o.J. [Vorwort datiert: Anfang 1908] (= Universal-Bibliothek, 4984/86).
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/003151635

Reiter, Siegfried (Hrsg.): Friedrich August Wolf.
Ein Leben in Briefen.
3 Bde. u. 2 Erg.-Bde.
Stuttgart: Metzler 1935-1990.

Wolf, F. A.: Prolegomena to Homer 1795.
Translated with Introduction and Notes by Anthony Grafton, Glenn W. Most, and James E. G. Zetzel.
Princeton, NJ: Princeton University Press 1985.

Humboldt, Wilhelm von: Briefe an Friedrich August Wolf,
textkritisch herausgegeben und kommentiert von Philip Mattson
(Im Anhang: Humboldts Mitschrift der Ilias-Vorlesung Christian Gottlob Heynes aus dem Sommersemester 1789).
Berlin u.a.: de Gruyter 1990.

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Stuttgart: Steiner 1999 (= Palingenesia, 67).

Wolf, Friedrich August: Prolegomena zu Homer.
Hrsg. von Roland Reuß.
Hamburg: Meiner 2015 (= Philosophische Bibliothek 676).

 

 

 

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Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer