Forschungsspiegel

Dea Lohers Werke, die im Verlag der Autoren (Dramen) und bei Wallstein (Prosa) erschienen sind, wurden vonseiten der literatur- und theaterwissenschaftlichen Forschung bislang nur sehr ungleich erschlossen. Während zu einigen Stücken eine ganze Reihe von Beiträgen erschienen ist, wurden wiederum andere Arbeiten noch selten bis gar nicht untersucht. Auffällig viel literaturwissenschaftliche Beachtung fanden erwartungsgemäß jene Stücke, in denen Loher Mythen und Märchen verarbeitet, die bereits unzählige Schriftsteller beschäftigt haben. Als Beispiele sind Manhattan Medea (1999) und Blaubart – Hoffnung der Frauen (1997) zu nennen. Die profundeste Untersuchung ihres damaligen Gesamtwerks hat zweifelsfrei Birgit Haas vorgelegt, die dem Dramenwerk Lohers unter dem Titel Das Theater von Dea Loher: Brecht und (k)ein Ende einen eigenen Band widmete. Grundsätzlich weist die wissenschaftliche Auseinandersetzung die Charakteristik auf, sehr stückbezogen zu sein, sodass die wenigsten Beiträge die Bühnenwerke Lohers im Allgemeinen oder als Ganzes betrachten. Vielmehr greifen sie einzelne thematische und formale Aspekte eines Dramentextes heraus und beleuchten diese zum Teil in Abgrenzung zu vergleichbaren Werken.
Zudem spiegelt sich die öffentliche Wahrnehmung Lohers als vornehmliche Bühnenautorin deutlich im Forschungsstand wider: Zu den beiden Prosaveröffentlichungen Dea Lohers, dem Erzählband Hundskopf (2005) sowie ihrem Debütroman Bugatti taucht auf (2012) liegen bislang noch keine Forschungsbeiträge vor.

Olgas Raum (1992)
Birgit Haas liest Olgas Raum insbesondere vor dem Hintergrund des epischen Theaters, in dessen Tradition Lohers Stück stehe. Darunter versteht sie jedoch keineswegs die bloße Adaption brechtscher Verfremdungstechniken und -effekte, sondern eine Annäherung und zugleich bewusste Abgrenzung gegenüber Brechts epischem Theater. Haas misst in ihrer Untersuchung vor allem dem Moment der Erinnerung eine essentielle Bedeutung in Olgas Raum bei: Die Bühne werde zum „Gedächtnisraum“ (Haas, 2006, 95). Protagonistin Olga erinnere in Form des dramatischen Erinnerns an ihre Geschichte, wodurch Loher eine Gegengeschichte zur offiziellen Geschichtsschreibung liefere und derjenigen eine Stimme verleihe, die eigentlich als Besiegte keine besitze (Vgl. Haas, 2006, 96-98). Dabei bewege Olga sich nicht nur in der Opferrolle, sondern stehe durch Reflexion und Kommentierung „zugleich über und ‚neben‘ dem Schicksal, das ihr widerfährt“ (Haas, 2006, 96). „In einer brechtschen Verdopplung tritt Olga zum einen als Olga, zum anderen als Olga-Figur auf, sie wechselt ständig zwischen beiden Spielebenen. Der drohende Bewusstseinsverlust Olgas wird vom Publikum als geistiger Tod miterlebt, zugleich aber durch die Selbstreflexivität in eine kritische Distanz gerückt.“ (Haas, 2006, 98 f.). Nach Brechts Verständnis der Historisierung seien somit die historischen Fakten sowohl als gegenwärtig als auch als vergangen dargestellt. „Trotzdem vermeidet Loher jeglichen Realismus: Die episodische Szenenfolge, die V-Effekte, die Monologe und Selbstbespiegelungen zerstören die Bühnenillusion und präsentieren das Geschehen aus einer ästhetischen Distanz.“ (Haas, 2006, 96). Die Entscheidung Lohers, den Ausgang bereits im ersten Monolog vorwegzunehmen, lenke die Aufmerksamkeit des Zuschauers ganz im Sinne von Brechts Dramatik ausschließlich auf das ‚wie‘, auf die bevorstehende Entwicklung (Vgl. Haas, 2006, 96).
Formal sieht Haas in der Szenenbenennung die Spiegelung der zunehmenden geistigen Verwirrung Olgas. Während die Szenen des Stücks zunächst konsequent Zusätze wie Inventio, Accusatio und Negatio tragen, werde die festgefügte Struktur im Fortgang absichtlich durchbrochen, womit „nicht der kunstvolle Aufbau einer rhetorisch durchgestalteten Rede, sondern ihr Zerfall, bedingt durch die mentale Desintegration durch die Folter“ (Haas, 2006, 97) gezeigt werde. Die Spannung des Stücks lebe letztlich vom „Offenlegen der Abweichungen zwischen persönlicher Erinnerung und kollektivem Gedächtnis“ (Haas, 2006, 102). Es stelle auf selbstreflexive Art und Weise die Frage nach der Entstehung und Vermittlung geschichtlicher Überlieferung (Vgl. Haas, 2006, 102).

Tätowierung (1992)
Die Forschungsbeiträge zu Lohers zweitem Bühnenstück wählen zunächst unterschiedliche Zugangsweisen. Haas (2006) und Kapusta (2011) weisen in ihren Auseinandersetzungen aber dennoch im Hinblick auf die Betrachtung des Volksstücks und des Epischen Theaters Schnittmengen auf.
Birgit Haas deutet Tätowierung vorwiegend vor dem Hintergrund einer kritischen Gender-Performanz, die auch Kapitalismuskritik impliziere, und zeigt sowohl Parallelen zum epischen Theater als auch zum Volksstück auf: „Im Anschluss an Fleißer und das neue Volksstück à la Kroetz betont Loher die Aggression, die aus der familiären Enge und Engstirnigkeit resultiert.“ (Haas, 2006, 238.) Vor allem in formaler Hinsicht stehe Tätowierung in der Tradition Brechts, was sich bspw. in den kurzen Szenentiteln, die jede eindeutige Aussage verweigern, manifestiere (Vgl. Haas, 2006, 238). Darüber hinaus verschränke die verfremdende Kombination aus Dialogen, Monologen und selbstreflexiven Passagen das brechtsche Theater mit einem materialistisch-feministischen Denkansatz: „Ausgestellt wird, auf welche Weise das Gender-System sich selbst unter sozial verqueren Bedingungen erhält.“ (Haas, 2006, 239). Am Beispiel der Figur der Mutter zeigt Haas auf, dass Loher die Frauen des Stücks keineswegs nur in still leidenden Opferrollen belässt, sondern den „Übergang vom Dahinvegetieren zur geistigen Menschwerdung“ (Haas, 2006, 241) vorführe. Zudem befreien die selbstreflexiven Monologe die Töchter zeitweise aus ihrer passiven Objektrolle und lassen sie – zumindest sprachlich – auch als Subjekte agieren (Vgl. Haas, 2006, 243 f.). Darüber hinaus deutet Haas die Gestaltung des inzestuösen Verhältnisses zwischen Vater und ältester Tochter auch als unterschwellige Kapitalismuskritik: Indem Ofen-Wolf Anita Geschenke mache, werde der Inzest zu einer Art Dienstleistung. Letztlich ermögliche damit auch Anitas Gier nach Geld dem Vater die Kontrolle über seine eigene Tochter (Vgl. Haas, 2006, 243 f.).
Milan Pišl widmet seinen Beitrag den sprachlichen Eigenheiten in Tätowierung und beleuchtet deren Potential zur Vermittlung von Emotionen. Anhand konkreter Textbeispiele, insbesondere der – im Verhältnis größten – Redeanteile Ofen-Wolfs und Anitas, stellt Pišl die zentralen Momente und deren Wirkungen heraus. Grundlegend dafür ist zunächst der Befund, dass Dea Loher auf Interpunktion innerhalb der Figurenrede verzichte, sodass „[d]em Leser […] formal ausgelöste syntaktische Zusammenhänge präsentiert“ (Pišl, 2010, 45-63, hier: 46) werden. So korrespondiert Pišl zufolge beispielweise der Verlust emotioneller Ausgewogenheit mit der Verwendung von kurzatmigen, abgehackten und unvollständigen Satzkonstruktionen der Figuren (Vgl. Pišl, 2010, 45-63, hier: 48). Im Einzelnen konstatiert er den Gebrauch von Ausklammerung, Ellipse, Parenthese und Anakoluth als charakteristisch für Tätowierung und diskutiert deren Wirkung und Funktion im Hinblick auf die jeweilige Figur und Situation (Vgl. Pišl, 2010, 45-63, hier: 49-61). Zusammenfassend weist Pišl auf den hohen Mehrwert der formalen sprachlichen Gestaltung, genauer der Loherschen gesprochensprachlichen Konstruktionen, für die Wirkung des Textes hin, die nicht nur „als fundamentale Mittel für die Verstärkung und Steigerung der Aussagen […] dienen, sondern [z]ugleich […] die Kraft [besitzen] [,] die Äußerungsperspektive des schon Gesagten grundsätzlich zu ändern.“ (Pišl, 2010, 45-63, hier: 62).
Danijela Kapusta ordnet Tätowierung in den ‚neuen Realismus‘ bzw. ‚Neorealismus‘ des deutschen Gegenwartsdramas ein und konstatiert ein für diese Richtung charakteristisches Interesse am Thema Familie, wie es sich auch bei Marius von Mayenburg und Thomas Jonigk zeige (Vgl. Kapusta, 2011, 39 f.). Als zentrale Merkmale von Lohers Dramatik stellt Kapusta den Bezug zur Gegenwartswirklichkeit sowie die besondere Bedeutung der Figur (Kapusta spricht von einer Renaissance der dramatischen Person) heraus, hinter der die Handlung zurücktrete. „Lohers Figuren werden wesentlich mehr durch Monologe und Dialoge als durch konkrete Taten konstruiert […].“ (Kapusta, 2011, 42). Da die Sprache zum essentiellen Zeichensystem für die Konstruktion der Figuren werde, komme ihr eine handlungstragende Rolle zu. Formal zeichne sie sich insbesondere durch die Spannung aus alltäglicher und stilisiert-literarischer Sprachverwendung sowie durch die besondere Rhythmik der Versanordnung aus. Des Weiteren sieht sie im Aufgreifen der Familienthematik eine Anknüpfung an das kritische Volksstück, von dem sich Loher allerdings im Hinblick auf Vertreter wie Fassbinder, Sperr oder Kroetz durch die spezifische Sprache ihrer Figuren abgrenze, denn ihre Figuren seien in der Lage, sprachliche Äquivalente für ihre Verfassung zu finden (Vgl. Kapusta, 2011, 50). Wesentlich für ihr Stück und die Behandlung der Thematik sei der Verzicht auf eine Schwarz-Weiß-Darstellung, die festgefügte Täter-Opfer-Schemata vorgibt, woraus ein fundamentaler Unterschied zu Brecht folge: „Anders als die dialektischen Stücke Bertolt Brechts verweigern Lohers Theatertexte die Möglichkeit jeglicher Bestandsaufnahme oder ideologischer Positionierung der Autoreninstanz.“ (Kapusta, 2011, 41).

Leviathan (1993)
Für Lohers Arbeit an Leviathan macht Julian Preece Der Baader-Meinhof-Komplex (1985) von Stefan Aust und Die bleierne Zeit (1981) von Margarethe von Trotta als die zwei zentralen Quellen aus (Vgl. Preece, 2007, 373-388, hier: 373). Loher folge diesen beiden Filmen nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in struktureller Hinsicht. Sehr augenfällig sei bspw. das Aufgreifen des Schwestern-Motives aus Die bleierne Zeit. „Lohers Grundeinfall besteht darin, eine Zeitlücke auszufüllen: Was machte Meinhof, als sie kurz nach der Befreiung Baaders plötzlich verschwand?“ (Preece, 2007, 373-388, hier: 374.) Eine wichtige Parallele zu von Trottas Film weise Leviathan auch darin auf, dass Maries endgültige Entscheidung vor allem als eine hochemotionale Reaktion auf eine konkrete Situation dargestellt werde: „Marie trifft ihre Entscheidung, um Wilhelm und ihren ehemaligen Mann zu ärgern und um Karl zu imponieren. Mit Argumenten und sachlichen Überlegungen hat dies nichts zu tun.“ (Preece, 2007, 373-388, hier: 377.) Die Alleinstellungsmerkmale des Textes sieht Preece zum einen in der Fokussierung der RAF-Akteure der ersten Stunde, insbesondere – wenn auch im Text verfremdet – Ulrike Meinhofs, der im Vergleich zu anderen RAF-Mitgliedern wie Baader und Ensslin wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden sei. Zum anderen bestehe die entscheidende strukturelle Differenz gegenüber anderen Verarbeitungen des Stoffes darin, dass das Stück gewissermaßen mit einer Aufbruchsstimmung, in der noch alles offen scheine, schließe (Vgl. Preece, 2007, 373-388, hier: 379). Aus diesem Grund könne Leviathan auch nie eine wirkliche Tragödie werden. Resümierend halt Preece fest, dass die Autorin einerseits die These stark mache, dass die führenden RAF-Mitglieder ihren persönlichen Krisen entflohen, indem sie in den ‚Untergrund‘ gingen. „Andererseits liefert sie eine entpolitisierte Figurenkonstellation für die postideologischen Neunzigerjahre.“ (Preece, 2007, 373-388, hier: 387).
Birgit Haas fokussiert in ihrem Beitrag über Leviathan vor allem die dramentechnische Konfrontation von Innen- und Außenperspektive, insbesondere der Protagonistin Marie, die durch den Wechsel von Dialogen und chorischen Passagen, die einen verfremdenden Effekt des Aus-der-Rolle-Tretens bewirken, erreicht werde. Gerade mittels dieser kommentarlosen Gegenüberstellung, die produktive Widersprüche erzeuge, entziehe sich Loher – auch in Abgrenzung zu Brecht – einer moralisierenden Stellungnahme (Vgl. Haas, 2006, 130-132). „Die Geburtsstunde der RAF wird nicht logisch-modellhaft aufgerollt. Vielmehr resultiert aus dem Aufeinandertreffen von Innen- und Außenperspektive eine Unvereinbarkeit von oral history und offizieller Geschichtsschreibung, […].“ (Haas, 2006, 130).
In sprachlicher Hinsicht konstatiert Haas, dass das Sprachmaterial von Loher nicht nur einfach aus den damaligen Debatten übernommen und montiert, sondern den Figuren ebenfalls verfremdet in den Mund gelegt worden sei (Vgl. Haas, 2006, 129 f.). Dadurch stelle es sich selbst in Frage und entlarve die Phrasendrescherei der damaligen Zeit: „Die parataktische Reihung, die Betonung der Konjunktion ‚und‘ sowie die Wiederholungen erzeugen einen stotternden Effekt, gleich einer fehlerhaften Platte mit Sprüngen und Rissen […].“ (Haas, 2006, 131). Darüber hinaus setze das Stück die Kritik der RAF an der ‚faschistischen‘ Informationsweise selbst auf sprachlicher Ebene um, indem es mitunter bewusst lückenhafte Informationen liefere (Vgl. Haas, 2006, 131 f.). Gleichzeitig beziehe der Text aber keineswegs Stellung für die terroristische Seite, da auch ein verzerrter Bezug auf die sprachlichen Eigenheiten der RAF, die von Misanthropie zeuge, Vorbehalte vermittle (Vgl. Haas, 2006, 137). Marie und ihre Schwester Christine seien buchstäblich als Sprachrohre der Gruppe zu betrachten, da sie „die Parolen nur wiedergeben, ohne sie zu reflektieren“ (Haas, 2006, 139). Die Frage nach der Legitimation des bewaffneten Kampfes bleibe aber letztlich absichtlich unbeantwortet (Vgl. Haas, 2006, 142).

Fremdes Haus (1995)
Fremdes Haus wird von Birgit Haas vor allem auf seine Thematik des „Aufeinandertreffen[s] von individueller und kollektiver Geschichte“ (Haas, 2006, 106) analysiert. Von zentraler Bedeutung sind für sie daher zum einen die Auseinandersetzungen über die Vergangenheit zwischen den mazedonischen Flüchtlingen Risto und Jane und zum anderen die Rahmung des Stücks durch Prolog und Epilog mit Anklängen von Mythen über die Entwicklung Mazedoniens, die sich laut Haas auf mehrere Punkte im Stück beziehen lassen. (Vgl. Haas 2006, 105-109).
Durch die Weigerung Ristos, der v.a. von Jane als heroischer Widerstandskämpfer gegen das kommunistische Regime verehrt wird, über die Vergangenheit zu sprechen, stelle Loher in ihrem Stück den „Widerstreit von Erinnern und Vergessen, die oral histoy und die Frage der Wahrheit, wobei sich persönliche und offizielle Erinnerung miteinander vermischen“ (Haas, 2006, 105 f.) aus. Jane, der schließlich erfährt, dass der vermeintliche Held Risto Janes Onkel Goce für die eigene Freiheit an die Kommunisten verraten hat, stößt zunächst auf ein „dichtes Netz an Lügen und Geschichten“ (Haas, 2006, 106). Damit unterstreiche „Fremdes Haus, den starken mazedonischen Bezug zur oral histoy“ (Haas, 2006, 106), welcher Mazedonien durch „das Fehlen einer offiziell-einheitlichen Version der mazedonischen Historie, die über viele Jahrhunderte lang nicht aufgeschrieben wurde“ (Haas, 2006, 106) zugesprochen wird. Schließlich offenbare sich anhand der Mythenbildung um Risto als Helden die Unzuverlässigkeit und subjektive Einfärbung der mündlichen Überlieferung (Vgl. Haas, 2006, 108). Darüber hinaus werde anhand des Schuldeingeständnisses Ristos, worin er zugibt, sein Leben gegen das Goces eingetauscht zu haben, deutlich, dass der Einzelne im Geschichtsverlauf keine passive Rolle einnimmt (Vgl. Haas, 2006, 110 f.). Haas sieht in dem analytisch angelegten Drama Lohers ein politisches Theater (Vgl. Haas, 2006, 11). Es gehe um das Verhältnis des Individuums zur Geschichte sowie um dessen Verantwortung gegenüber der Geschichte: „Überliefertes wird nicht einfach hingenommen.“ (Haas, 2006, 111).

Blaubart – Hoffnung der Frauen (1997)
Gebündelt betrachtet, setzte sich die Forschungsgemeinde mit Dea Lohers fünftem Theaterstück im Hinblick auf die Darstellung von Geschlechterrollen und -verhältnissen und den Genderaspekt auseinander. Birte Giesler hebt in ihrem Beitrag über Blaubart – Hoffnung der Frauen besonders die vielfältige Intertextualität des Textes hervor, weshalb sie auch von einem Pasticcio spricht, das aus widersprüchlichem Material zusammengefügt sei (Vgl. Giesler, 2005, 77-93, hier: 77). Das Verweben der intertextuellen Bezüge wie z.B. aus Perraults Blaubart-Märchen, Oskar Kokoschkas Drama Mörder, Hoffnung der Frauen sowie allgemeiner und spezifischer Elemente anderer Märchen (bspw. das Schuhmotiv aus Aschenputtel und die Zahl Sieben), lasse durch Verzerrung und Übertreibung eine groteske Komik entstehen, die stereotype Schemata unterlaufe. Giesler bezeichnet die Figuren als ein „Palimpsest aus ‚Vor-Bildern‘“, weshalb die Konstellation und auch die Handlung in eine ironische Distanz gerückt seien (Vgl. Giesler, 2005, 77-93, hier: 81). Sowohl auf Figuren- als auch auf Handlungsebene sieht Giesler des Weiteren Parallelen zu Bertolt Brecht und Ödön von Horváth.
Auch Brigitte E. Jirku unterstreicht das subversive Moment des Stücks hinsichtlich stereotyper Geschlechterdarstellungen: „Blaubart und die Frauen leben keine klar gezogenen Geschlechtergrenzen mehr. Loher löst die Geschlechterdifferenz in der Sexualität und Macht scheinbar auf; Frau und Mann übernehmen bei dem Thema Gewalt und Sexualität auswechselbare Positionen ein […].“ (Jirku, 2007, 69-81, hier: 78). Nichtsdestoweniger sei es die Frau, die sich zuletzt wieder freiwillig unterordne und diejenige, die unvollständig erscheine: „Die Frau scheint den Mann zu brauchen, da Weiblichkeit noch immer durch den Mangel definiert ist: Alle Frauen in Blaubart kennzeichnet physischer oder psychischer Mangel.“ (Jirku, 2007, 69-81, hier: 78). Jirku zufolge habe Blaubart die Gleichheit der Geschlechter zwar verinnerlicht, könne daraus aber keine Konsequenzen ziehen. Die von den Frauen heraufbeschworene, überholte Männlichkeit Blaubarts „führt […] zu einem Sich-leiten-Lassen, bei dem alte Handlungsmuster ohne wirkliche Tiefenbedeutung wieder an die Oberfläche dringen.“ (Jirku, 2007, 69-81, hier: 79). Rettung erwarte die Frau bei Loher nicht mehr durch männliche Hilfe, sondern durch ihr selbstbestimmtes Handeln: „Das Ende bei Loher demaskiert den Mann als Gott, als Hoffnungsschimmer. Offen bleibt, ob es eine Erlösung gibt.“ (Jirku, 2007, 69-81, hier: 80). Die Hoffnung der Frauen bestehe letztlich darin, Blaubarts nicht vorhandenes Geheimnis zu akzeptieren (Vgl. Jirku, 2007, 69-81, hier: 81).
Monika Szczepaniak stellt in ihrem Aufsatz Lohers Blaubart – Hoffnung der Frauen Oskar Kokoschkas Mörder, Hoffnung der Frauen kontrastierend gegenüber und legt den Fokus dabei vor allem auf die von anderen Blaubart-Versionen stark abweichenden Charakteristika des Protagonisten. Loher inszeniere die „männliche Oppressionslage, Schwäche und Erlösungsbedürftigkeit“ (Szczepaniak 2007, 103-112, hier: 107). „Der maskulinen Kraft des modernen Mannes bei Kokoschka steht Schwäche, emotionale Einöde, Einsamkeit und Bindungslosigkeit des postmodernen Blaubarts gegenüber. Dea Loher zeigt einen Blaubart-Mann ‚ohne Eigenschaften‘.“ (Szczepaniak 2007, 103-112, hier: 109). So ergebe sich die Spannung zwischen der Mittelmäßigkeit Blaubarts und seiner durch die Frauen imaginierten Rolle als Hoffnungsträger und Erlöser, in der er letztlich versage. Loher stelle die Gefahren dar, der sich Frauen preisgeben, die die Vorstellung einer vollkommenen Liebe verfolgen. Der weibliche Sieg sei gleichzusetzen mit dem Abschied weiblicher Träume von der absoluten Liebe (Vgl. Szczepaniak 2007, 103-112, hier: 108 f.).
Birgit Haas betrachtet Blaubart – Hoffnung der Frauen, das sie auch in der Nachfolge Perraults und Kokoschkas sieht, in ihrem Beitrag vorrangig hinsichtlich des Einsatzes von Verfahren des epischen Theaters Brechts. Der Rückgriff auf solche Verfremdungseffekte (z.B. das Aufbrechen der einseitigen Perspektiven durch Selbstreflexionen in Monologen, die Vorwegnahme des Endes, die inhaltsandeutende Benennung der Szenen, die Dekontextuierung des historischen bzw. märchenhaften Protagonisten) rücke das Bühnengeschehen nicht nur in eine gewisse Distanz, sondern mache aus dem Stück eine „Travestie, eine ‚traurige Komödie‘“ (Haas, 2006, 247). „Die hastige Unwahrscheinlichkeit, in der sich die Begegnungen entfalten, verleiht den Gewaltakten einen komödiantischen, fast slapstickartigen Zug.“ (Haas, 2006, 250). Haas zufolge bestehe die Funktion des Stücks in der Darstellung gesellschaftlich bedingter Machtstrukturen (Vgl. Haas, 2006, 248). „[…] Blaubart [stellt] zwar die Ideologie der Gender-Differenz aus, bietet diese aber durch die formalen Brüche – Monologe, Selbstkommentare, Komik etc. – zugleich als Objekt der Kritik an.“ (Haas, 2006, 251).

Adam Geist (1998)
In der Untersuchung des mehrfach ausgezeichneten (Mülheimer Dramatikerpreis, Jakob-Michael-Reinhold-Lenz-Preis, Gerrit-Engelke-Preis) Stücks Adam Geist widmete sich Birgit Haas vornehmlich dessen Intertextualität.
Denn „in der Figur Adam Geist überschneiden sich zahlreiche Außenseiter der Literatur: Jesus Christus, Parzival, Büchners Woyzeck, und Brechts Kragler aus Trommeln in der Nacht“ (Haas, 2006, 143), so Haas. Darüber hinaus ist für sie auch Horváths Sladek der schwarze Reichswehrmann für das Stück von Bedeutung und in Bezug auf die Figur des Indianers Karl sieht sie Anspielungen auf Frischs Biedermann und die Brandstifter in Lohers Text eingebunden (Vgl. Haas, 2006. 143 f.). Sowohl in der dramatischen Form als auch in der Figurengestaltung und Fabel stellt sie Bezüge zu den Figuren fest. So verweise das Stück in seiner Kürze und Skizzenhaftigkeit bspw. auf Büchners Fragment Woyzeck und in den Szenentiteln und Chören sieht Haas Anleihen an Brecht (Vgl. Haas, 2006, 143 f.). Vor dem Hintergrund von Woyzeck und Trommeln in der Nacht lasse sich außerdem der Name Adam Geist bezüglich der Religion lesen, die in den Dramen von Büchner und Brecht nur noch in Bezug auf Engstirnigkeit und Dummheit vorkomme (Vgl. Haas, 2006, 147). Denn er drücke „nochmals die Zerrissenheit des Individuums zwischen metphysischer und säkularer Geschichte aus: In der Hauptfigur ist dieser Widerstreit personifiziert“ (Haas, 2006, 147). Ebenso sieht Haas in der Szene der Vergewaltigung und Ermordung des Mädchens durch Adam Anklänge an Woyzeck, aber auch an Lenz von Büchner. So fließe darin „die Wut Woyzecks über Maries Untreue [...] mit der geistigen Verwirrtheit von Lenz zusammen“ (Haas, 2006, 148). Darüber hinaus sei Woyzeck und Adam gemein, dass ihr Wahnsinn auf den sozialen Umständen basiere: Woyzeck kann aufgrund von Überarbeitung nicht für Marie da sein und die Anstellung Adams verhindert dessen Besuch bei seiner totkranken Mutter (Vgl. Haas, 2006, 151). Die Verbindung zu Horváths Sladek sieht Haas darin, dass beide – Adam und Sladek – in eine ausweglose Situation geraten und versuchen, das Gute zu tun und für ihre Überzeugung einzustehen, aufgrund mangelnder Bildung dazu aber nicht in der Lage sind (Vgl. Haas, 2006, 150). In dem zynisch-abgeklärten Schlussmonolog Adams blitzt für sie außerdem etwas vom kühl-distanzierten Nicht-Revolutionär Kragler Brechts durch, der ebenfalls um das Leben betrogen wurde (Vgl. Haas, 2006, 150). In Adams Unverständnis gegenüber der Gesellschaft zieht Haas schließlich Parallelen zu Lohers eigenen unterdrückten Figuren, wie Olga, Fadoul oder Concha. Insgesamt sieht sie in den intertextuellen Bezügen aber keinen Hinweis auf eine postmoderne Collage, sondern attestiert Lohers Adam Geist einen individuellen und politischen Sinn (Vgl. Haas, 2006, 153).
Christine Künzel betrachtet Adam Geist unter dem Gesichtspunkt der Umsetzung des Themas Gewalt mit Blick auf Adams „Oszillieren zwischen Opfer- und Täterposition“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 361). In der ersten Szene werde Adam als „mustergültiges Opfer struktureller Gewalt präsentiert“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 361), dem nur der „Ausweg in die Gewalt, sprich in eine ‚Verbrecherkarriere‘ […] bleibe“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 362). Damit werde ihm auch die Verantwortung für sein weiteres Handeln weitestgehend entzogen (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 362). Auch die Friedhofsszene unterliege einer Mechanik, wonach diese mit der Vergewaltigung und Ermordung des Mädchens enden müsse (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 362). Daher sieht Künzel in Bezug auf das Thema Gewalt die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit bzw. Schuldfähigkeit Adams als zentral an. (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 362). Adam werde in der Friedhofsszene sowie in der Szene mit dem Kettensägenmassaker als Triebtäter dargestellt, der nicht in der Lage sei, sich anders zu verhalten, womit die Möglichkeit alternativer Verhaltensweisen nicht berücksichtigt werde (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 363). Jedoch inszeniere Loher die Gewalt nicht ausschließlich als „schicksalhafte Naturgewalt“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 363), sondern variiere ihre Konzeption von Gewalt, sodass diese „zuweilen zum Subjekt des Geschehens erhoben [wird], dass sich der verschiedenen Akteure – hier insbesondere Adams – nur bedient“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 363). Dies mache den Protagonisten zum Objekt der Handlung, wodurch ihm keine Schuld zuzuschreiben sei (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 364). Insgesamt lasse sich Künzel zufolge die Position Lohers zum Thema Gewalt jedoch innerhalb des Stücks kaum ausmachen. Einerseits suggeriere sie Adams Unzurechnungsfähigkeit und Schuldunfähigkeit, andererseits mache sie anhand der Szenen Madonna und Gnade deutlich, dass Adam sich seiner Verantwortung bewusst ist (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 364). Somit erscheine Adam Geist sowohl als Täter als auch als Opfer (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 367).
Für Andreas Gürtler und Angela M. C. Wendt liegt der Ansatzpunkt ihrer Untersuchung von Adam Geist in der Idee des frühen Schillers vom Theater als „moralische Anstalt“, mit welcher Gürtler und Wendt zufolge Loher sich selbst in Verbindung gebracht habe, die aber auch von Rezensionen und Interpretationen zu ihrem Werk aufgegriffen werde (Vgl. Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 349). Gürtler und Wendt sind der Auffassung, dass die Überlegungen Schillers auf „die Gegenwartsautorin Dea Loher nicht anwendbar sind“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 347). Dies zeige sich zunächst daran, dass die religiösen Bilder in Adam Geist keine sinnstiftende Wirkung mehr hervorbringen, während Schiller die Bühne als „wirkungsmächtigstes Medium der Moral“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 349) betrachte (Vgl. Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 348 f.). Das Stück nehme die Heilsgeschichte geradezu zurück. Gott sei hier eine Leerstelle (Vgl. Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 349 f.). Außerdem finde bei Loher keine Verurteilung des Täters statt, wie es Schiller in seinem Konzept zum moralischen Theater fordere (Vgl. Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 353). So stellen Gürtler und Wendt fest: „Sie [Loher] will für Adam Geist beim Zuschauer Verständnis erwecken und verurteilt ihn gerade deshalb nicht. Es geht ihr vielmehr darum, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erkennen und damit die Gründe für Adam Geists Gewalttaten zu klären.“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 353) Dies bedeute aber nicht, dass Loher „wie Brecht aus der Position des Wissenden schreiben“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 353) wolle.

Manhattan Medea (1999)
Resümierend betrachtet, legen die zu Manhattan Medea erschienen Beiträge den Fokus auf die Darstellung Medeas als einer im Mythos gefangenen Figur sowie auf die Bedeutung des doorman und des Transvestiten, den beiden von Loher hinzugefügten Figuren.
Stephanie Catani beschreibt Medea – in Kontrast zu Christa Wolfs Protagonistin – als eine Figur, die sich bereits mit ihrem mythologischen Schicksal abgefunden hat und sich ohne Widerworte darauf beruft. Daraus zieht sie den Rückschluss einer resignativen Aussage des Dramas, die die Möglichkeit einer Innovation des Stoffes leugne (Vgl. Catani, 2007, 316-332, hier: 326 f.). „Loher zeigt eine Medea, die der Möglichkeit, die Vergangenheit zu überwinden, eine klare Absage erteilt.“ (Catani, 2007, 316-332, hier: 327). Diese Unüberwindbarkeit beziehe sich entsprechend auch auf das Paar Medea Jason. Barry Murnane weist außerdem noch daraufhin, dass selbstreferentielle Bezüge zu dem Eindruck führen, Medea wisse selbst um ihre literarische Herkunft und ihre ‚lange Vergangenheit‘ mit Jason, wodurch sich Lohers Transformation im Stück selbst zum Inhalt mache (Vgl. Murnane 2010, 295-318, hier: 312-314). „Die Medea-Tradition insgesamt wird zur unentrinnbaren tragischen Schicksalsinstanz dieser spezifischen Medea.“ (Murnane 2010, 295-318, hier: 314). Darüber hinaus halten Birgit Haas und Barry Murnane aber auch die Bedeutung des kapitalistischen Systems für entscheidend. „Ursache des Unglücks ist die kapitalistische Denkart, verkörpert durch Jason und den Schwiegervater in spe, den Sweatshop-Bos […].“ (Haas 2006, 257). Murnane liest Manhattan Medea als eine Tragödie der Wirtschaft. Bei den aktualisierten Lebensumständen Medeas und Jasons sowie der Verwandlung Kreons in einen Sweatshop-Boss handele es sich um „eine bewusst reflektierte Übersetzung des außerdramatischen Tragödiendiskurses der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tragik auf die Bühne“ (Murnane 2010, 295-318, hier: 316).
Antje Roeben macht darüber hinaus noch den hohen Stellenwert von Erinnerung und Vergangenheitsbewältigung innerhalb des Stückes stark, da dieser Zusammenhang entscheidend für den endgültigen Bruch zwischen Medea und Jason und damit auch für den Kindsmord sei (Vgl. Roeben, 2008, 93-101, hier: 94 f.). Haas geht ebenfalls auf diesen Aspekt ein: Ihre gemeinsame Geschichte ist hier auch eine Frage der Wahrnehmung, des Sehens: „Durch die Widersprüche in den Erinnerungen des Ehepaars ergeben sich Brüche, die ein einheitliches Bild negieren.“ (Haas, 2006, 255). In diesem Kontext hebt Catani hervor, dass es „keineswegs Erinnerungen an eine ehemals große Liebe, sondern Erinnerungen, die auf gemeinsame Gewalt und Schuld rekurrieren“ (Catani, 2007, 316-332, hier: 327) seien.
Außerdem weist Roeben (wie auch Wogenstein) daraufhin, dass – im Unterschied zu anderen Bearbeitungen – Medea nicht allein als schuldbeladene Mörderin präsentiert werde, da Jason seine Mutter tötete und Medeas Bruder den Tod ihres ungeborenen Kindes forderte (Vgl. Roeben, 2008, 93-101, hier: 100).
Der Figur des doorman Velazquez, der die Malerei seines berühmten Vorbildes nachahmt, wird in Verbindung mit der auf der Bühne inszenierten Verwandlung des Gemäldes eine mythenreflexive- und -kritische Funktion zugeschrieben. Sebastian Wogenstein sieht dadurch „die Frage nach dem Kopieren, der Wiederholung und neuerschaffenden Variation“ (Wogenstein, 2007, S. 298-315, hier: 313) aufgeworfen. Für Haas „befindet sich nicht die Tragödie um Medea, sondern die Herstellung von Kunst im ‚goldenen Schnitt‘“ (Haas, 2006, 259). Catani bezeichnet den doorman als „poetologische Schlüsselfigur“. „Sein künstlerischer Selbstentwurf mündet in einer zentralen Reflexion über Kunst und ihre mythenpoietischen Möglichkeiten: […].“ (Catani, 2007, 316-332, hier: 328). Catani zufolge ist Velazquez die Gegenfigur zu Medea, da sie in ihrem besiegelt geglaubten Schicksal verharre, während er die Arbeit an einer vorhandenen Tradition als Neuschöpfung und letztlich Original behaupte. In diesem Punkt geht Inge Stephan mit Catani überein. Sie leitet daraus allerdings nicht nur eine kritische Sicht auf die Figur Medea, sondern auch einen kritischen Blick auf das Verständnis vom Mythos als etwas Unveränderliches ab (Vgl. Stephan 2005, 95-110, hier: 108). Haas sieht in der Maler-Figur noch stärkeres Potential: „Das Stück befreit sich dadurch von den Fesseln der Tradition, und zwar in jeder Hinsicht: Aus einem Abbild kann in der Nachdichtung nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich etwas völlig Neues hervorgehen.“ (Haas, 2006, 259 f.). Auch Barry Murnane hält die Verwandlung des Gemäldes für ein Zeichen der Verwandlungsfähigkeit des Medea-Mythos (Vgl. Murnane 2010, 295-318, hier: 310). Da die Familiengeschichte Stephan zufolge als Parabel auf eine auf Gewalt basierende Gesellschaft gelesen werden könne, lasse sich aus dieser Mythenkritik trotz des Kindsmords eine weitergehende Hoffnung ableiten: „Die Kunst – in diesem Fall die Malerei – kann aufgrund ihrer verändernden Kraft die Starre von Verhaltensmustern, Gesellschafts- und Geschlechterordnungen spielerisch aufbrechen.“ (Stephan 2005, 95-110, hier: 109).
Die Figur Deaf Daisy, ein Transvestit, wird als „Figur der Überschreitung“ wahrgenommen, die den kulturell-gesellschaftlichen Code wiederhole und zugleich unterlaufe (Vgl. Wogenstein, 2007, S. 298-315, hier: 307). Es handele sich um einen „neutralen Beobachter […], der die Gender-Differenz sozusagen in seiner eigenen Person destruiert.“ (Haas, 2006, 264). Haas weist außerdem daraufhin, dass die Wahrnehmung beider Figuren zu einer Art Verdopplung der Tragödie führe, die das Geschehen in eine gewisse Distanz rücke: „Dies ergibt sich erstens durch die Wahrnehmung der Velaquez-Figur [sic], die alles aus der Sicht des Malers kommentiert, zweitens durch den Transvestiten Deaf Daisy, der das Geschehen als Schauspiel wahrnimmt und sich daran ergötzt.“ (Haas, 2006, 258).

Klaras Verhältnisse (2000)
Im Mittelpunkt der Betrachtungen von Birgit Haas zu Klaras Verhältnisse stehen die in diesem Stück hervortretende Komik in Verbindung mit der Tragik sowie der Bezug zu Brechts epischen Theater, insbesondere durch die von Haas konstatierte Thematisierung der brechtschen Dramatik innerhalb des Stücks.
Haas zufolge werfe Loher mit ihrem Stück über die erfolglos arbeitsuchende Klara einen „verschmitzten, zugleich jedoch kritischen Blick auf die Gesellschaft.“ (Haas, 2006, 154). Denn trotz der in diesem Stück auffallend komischen Elemente entstehe kein banaler Klamauk, sondern hinter der komischen Fassade werde der Blick auf die menschliche Tragödie freigegeben (Vgl. Haas, 2006, 154). Haas stellt fest: „Das Stück ist also tragikomisch in dem Sinne, dass beide Elemente vertreten sind, ohne dass eines von beiden die Oberhand gewinnt.“ (Haas, 2006, 155). Dies versteht sie als eine brechtsche Sichtweise, da Brecht die Trennung der Genres für unproduktiv halte (Vgl. Haas, 2006, 155). Das Tragikomische des Stückes sieht Haas z.B. in der Art und Weise, in welcher es Klaras vergebliche Versuche Geld zu verdienen vorführt: Von der technischen Redakteurin, die falsche Gebrauchsanleitungen verfasst, um das Unternehmen zu sabotieren, gerät Klara zur schlecht bezahlten Babysitterin, die für zusätzliches Geld Blutspenden geht und ihren Körper für medizinische Versuchsreihen zur Verfügung stellen will, bis hin zur Prostituierten, als welche sie ungewollt schwanger wird und sich deshalb versucht umzubringen, wobei sie jedoch durch einen unwahrscheinlichen Zufall von einem chinesischen Essensverkäufer gerettet wird (Vgl. Haas, 2006, 157). Es handle sich bei Loher um keine oberflächliche Komik, die automatische Lacher hervorrufe, sondern sie resultiere aus den Widersprüchen und Brüchen im Stück (Vgl. Haas, 2006, 163 f.). Haas ist der Auffassung: „Mit Klaras Verhältnisse knüpft Loher an Brechts Versuchen an, die Komödie mit dem epischen Theater zu verbinden, damit sie nicht in pure Unterhaltung abgleitet. Sie schließt sich Brecht an, der nicht nur das ‚Allgemein-Menschliche‘ als ahistorisch ablehnt, sondern auch das ‚Ewig-Komische‘.“ (Haas, 2006, 163). Haas stellt darüber hinaus allerdings ebenfalls fest, dass Loher das epische Theater Brechts in ihrem Stück parodiert (Vgl. Haas, 2006, 161). Sie weißt in ihrer Abhandlung in Bezug zur der Szene, in der Elisabeth ihr „Herz“ in Form eines Gummiherzens Tomas vor die Füße wirft, daraufhin: „Die betont selbstreflexive Situation im Stück ironisiert das Modell der Straßenszene [von Brecht], in der es um die Verdopplung der Haltung des Akteurs geht.“ (Haas, 2006, 161). Durch die übertriebene Darstellung des Herzschmerzes von Elisabeth und den Streit um ein wertloses Gummiherz, woraus wiederum Komik resultiere, werde auf ironische Weise ein Grundelement der brechtschen Dramatik zur Schau gestellt (Vgl. Haas, 2006, 162-164). Somit überschreite Lohers Stück „die Grenzen der epischen Spielweise, indem es die Vermischung der Realitätsebenen im Stück um das Darstellen von Brechts Dramatik ergänzt“ (Haas, 2006, 164).

Der dritte Sektor (2001)
In ihren Ausführungen zu Der dritte Sektor legt Birgitt Haas ihr Augenmerk auf dessen sozialkritischen Inhalt in Kombination mit den intertextuellen Bezügen des Stücks. Sie untersucht es auf die Verwendung von Mitteln des epischen Theaters, entdeckt aber auch Verweise auf das absurde Theater und zeigt Anspielungen zu Büchner, Brecht, Becket, Genet, Bernhard und Heiner Müller auf (Vgl. Haas, 2006, 165).
Das Stück, welches die „Freiheit des Individuums bzw. seine Unterdrückung“ (Haas, 2006, 167) zur Debatte stelle, zeige Haas zufolge in Gestalt der Bediensteten Anna, Martha, Meier Ludwig und Xana „Unterdrückte im doppelten Sinne: Erstens: der SED-Diktatur, zweitens der Chefin Frau Bierbaum“ (Haas, 2006, 165). Im Mittelpunkt stehe jedoch „die Ausbeutung der Arbeitskraft durch die ‚Herrin‘ sowie der Warencharakter der Kommunikation“ (Haas, 2006, 165). Doch auch unter den Unterdrückten herrsche keine Gleichheit, sondern eine Hackordnung, angeführt von der Köchin Martha. Hierin sieht Haas eine Übereinstimmung mit Genets Zofen, erkennt im tyrannischen Verhalten der Bediensteten untereinander aber auch die Nähe zur Figurenkonstellation des absurden Theaters, bei welchem sich die gesellschaftlichen Randfiguren gegenseitig bekämpfen (Vgl. Haas, 2006, 166 f.). Des Weiteren sieht Haas in Lohers „Geschichtsdrama ohne Handlung“ (Haas, 2005, 167) durch das fast ausschließlich stattfindende Leiden und gegenseitige Zufügen von Schmerzen unter den Bediensteten einen Verweis auf Becket, in dessen Stücken die Unterprivilegierten ihre Frustration am jeweils Schwächeren ausleben, statt sich gegen die Gewaltstrukturen zu solidarisieren (Vgl. Haas, 2006, 167). Darüber hinaus zieht Haas, aufgrund des fast regungslosen Wartens der Figuren, den Bezug zu Beckets Warten auf Godot. So stellt sie fest: „Ähnlich wie bei Becket können sie nicht anders als reden und ausharren.“ (Haas, 2006, 168). Doch auch „Brechtsche Kunstgriffe sind im ganzen Drama präsent“ (Haas, 2006, 172). So zeige sich bspw. in Szene 18 – in der sowohl Anna als auch Martha Xanas Worte von den Lippen ablesen und jeweils laut aussprechen, da Xana nicht mehr reden kann – mithilfe des Verfremdungseffekts, der sich aus der Wiederholung der Worte ergibt, die Kritik an der Bevormundung der beiden gegenüber Xana (Vgl. Haas, 2006, 172). Eine farcehafte Übertreibung des V-Effekts finde außerdem innerhalb des Stücks statt, indem der Chauffeur, als „armer Hund“, laut Regieanweisung von seinem Hund verkörpert werden soll und dabei der Satz „dargestellt von seinem Hund“ bei jeder Nennung wiederholt wird (Vgl. Haas, 2006, 175). Insgesamt stelle Loher in ihrem Stück „das kapitalistische Wesen der Arbeit heraus, die Ausbeutung und ihre entmenschende Wirkung, welche schließlich in der Entzweiung der Unterprivilegierten unter sich endet.“ (Haas, 2006, 177). Sie zeige, dass selbst der Wegfall der Chefin als „Unterdrückerin“ keinen Umbruch mit sich bringt (Vgl. Haas, 2006, 177). Somit liest Haas Der dritte Sektor letztendlich als „leise resignierte Absage [Lohers an den] marxistischen Glauben, dass sich mit den materiellen Verhältnissen auch die Denkweisen verändern lassen“ (Haas, 2006, 177).

Unschuld (2003)
Birgitt Haas sieht in Unschuld „eine Reflexion der post-postmodernen Gesellschaft“ (Haas, 2006, 197). Sie untersucht das Stück sowohl auf Mittel des modernen, brechtschen Theaters als auch auf filmische Ausdrucksweisen und fokussiert in ihrer Analyse den Effekt der dadurch entstehenden Unschärfen.
Das Grundthema des Stücks liegt für Haas in der philosophischen Frage nach dem Sinn des Lebens in der heutigen Welt (Vgl. Haas, 2006, 201). In einzelnen Geschichten werde die Situation der Figuren Elisio, Fadoul, Absolut, Rosa, Franz, Frau Zucker, Frau Habersatt, Ella und Helmut „kurzzeitig erhellt“ (Haas, 2006, 208). Dies geschehe innerhalb einer filmischen Struktur mit Hilfe harter Schnitte. Inspiriert von der künstlich vereinfachenden Filmästhetik, wie sie von den Dogma 95-Regisseuren entwickelt wurde, betone Loher in Unschuld Brüche und Leerstellen (Vgl. Haas, 2006, 197 f.). So konstatiert Haas: „Brüche, Begrenzungen und Unsicherheiten ergeben sich durch die mit harten Szenenwechseln ineinander verwobenen Handlungsstränge, durch die unterschiedlichen und jeweils individuell begrenzten Blicke, die die einzelnen Figuren auf die politischen Gegebenheiten werfen.“ (Haas, 2006, 198). Durch die Schnitte zwischen den Szenen und die dramatisch präsentierte Sichtweise der Figuren werde die Positionierung des Zuschauers gelenkt, ohne dass dieser das Geschehen im Ganzen überblicken könne. Der Einsatz der Mittel des brechtschen Theaters breche die Führung des Zuschauerblicks jedoch auf (Vgl. Haas, 2006, 201). Denn Loher wolle ein nicht-illusionistisches Theater bieten, weshalb bspw. auch die Figuren durch das Schaffen von Distanz verkünstlicht werden (Vgl. Haas, 2006, 205). Auf sprachlicher Ebene erfolge dies vor allem in der häufigen Unterbrechung der Dialoge durch erzählende Kommentare. Dadurch erhalte der Zuschauer zusätzliche Informationen über die Figur, um sich in kritischer Auseinandersetzung ein Urteil bilden zu können. Die somit ausgestellte Künstlichkeit verhindere die Identifikation mit den Figuren (Vgl. Haas, 2006, 205-207). Während Haas in seiner Form dem Stück Anleihen des epischen Theaters zuspricht, sieht sie in seiner Aussage jedoch eher die Nähe zum absurden Theater, da „die Menschen immer wieder die Sinnfrage stellen, die das Universum jedoch mit Schweigen quittiert.“ (Haas, 2006, 2010). Loher vermeide in Unschuld eine klare geschichtsphilosophische Position. Mit Blick auf die Einzelschicksale der Figuren lasse sich keine eindeutige Aussage ableiten. Das Stück stelle lediglich die Gegenpole des Denkens vor und spiele sie gegeneinander aus (Vgl. Haas, 2006, 216). Haas zufolge entstehen durch die episodische Struktur und Verfremdungseffekte letztlich Unschärfen: „Die Übergänge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Schuld und Unschuld werden fließend.“ (Haas, 2006, 218).
Der Fokus Christine Künzels richtet sich in ihrer Betrachtung von Unschuld auf das Thema Gewalt. Zum einen bezieht sie sich dabei auf die Form des Selbstmords als Gewalt gegen sich selbst, und zum anderen auf die Gewalt als Mittel zur Erlangung gesellschaftlicher Aufmerksamkeit (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 366). So werde der Selbstmord „als eine unsichtbare Form der Gewalt, als Gewalt ‚von innen‘“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 366) innerhalb des Stückes dargestellt, ohne nach Ursachen zu fragen. Lediglich als innerer Trieb, als „Todestrieb“ werde der Selbstmord begriffen (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 366). In Künzels Untersuchung der Gewalt „als Mittel zum Einsatz im Kampf um gesellschaftliche Aufmerksamkeit“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 366) verweist sie ebenfalls auf einen Selbstmörder, der sich von einer Autobahnbrücke stürzen möchte. Denn in diesem Fall unterstelle der Chor der Autobahnfahrer dem Selbstmörder das „Motiv des Sich-zur-Schau-Stellen-Wollens“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 366). Darüber hinaus nennt Künzel aber auch Frau Habersatt als passendes Beispiel für diese Funktion von Gewalt, da sich diese aufgrund von Beachtung und soziale Nähe als Mutter von Verbrechern ausgebe (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 366).
Andreas Gürtler und Angela M. C. Wendt analysieren Unschuld unter der Prämisse aufzeigen zu wollen, dass Loher, die selbst den Bezug zu Schillers Idee des Theaters als „moralische Anstalt“ herstelle, dieses Konzept gerade nicht umsetze. Denn hier werde keine Moral vorgeführt oder verkündet (Vgl. Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 358). Gürtler und Wendt zufolge werde stattdessen dargestellt wie sich alle Figuren „mehr oder weniger schuldig an ihren Mitmenschen“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 356) machen und sie „unschuldig-schuldig in ihren höllischen Paradiesen“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 356) leben. Sie verdeutlichen dies am Beispiel der illegalen Flüchtlinge Elisio und Fadoul, die zunächst eine Frau beim Ertrinken beobachten und solang über ihre Rettung diskutieren, bis es zu spät ist und sie sich somit schuldig machen (Vgl. Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 356). Selbst in der „moralisch gute[n] Entscheidung“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 357) Fadouls, in der später folgenden Handlung des Stücks, der blinden Bartänzerin Absolut mit Hilfe gefundenen Geldes eine Augen-OP zu zahlen, sehen Gürtler und Wendt auch niedere Beweggründe. Sie konstatieren: „Der Impuls zu helfen ist jedoch nicht nur moralisch motiviert, sondern auch sexuell, so dass altruistisches und egoistisches Handeln zusammenfallen.“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 357). Fadoul wolle sich lediglich zum „heldenhaften Ritter“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 357) stilisieren, wodurch er wiederum am „Ideal schuldig“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 357) werde.  

Das Leben auf der Praça Roosevelt (2004)
Das Stück über „Arbeitslosigkeit und ihre Begleiterscheinungen“ (Haas, 2006, 219) analysiert Birgit Haas auf die Verwendung verschiedener, vor allem epischer Kunstmittel und hebt als zentralen Aspekt von Das Leben auf der Praça Roosevelt „Geschichten und das Erzählen von Geschichten“ (Haas, 2006, 226) hervor, wodurch es für sie zum Beispiel für eine oral history wird, die die „individuelle Ebene betont“ (Haas, 2006, 226).
Haas zufolge sei in diesem Stück im Vergleich zu Lohers früheren Werken „die Spannung zwischen der klaren brechtschen Form einerseits und den vielfach sich brechenden, überkreuzenden und keiner linearen Struktur folgenden Handlungslininen“ (Haas, 2006, 219) noch stärker erkennbar. Mittels eines Zoomeffekts hebe Loher die einzelnen Figuren aus der Menschenmenge heraus (Vgl. Haas, 2006, 220). Ansonsten bleiben sie „flüchtige, sich bewegende Punkte im dreidimensionalen Bühnenraum“ (Haas, 2006, 220). Den Haupthandlungen um Herr und Frau Mirador, ihren Sohn Raimundo, Vito, Bingo, Concha, und Aurora sind kurze Szenen mit Offenlegungen von Schicksalen weiterer Menschen zur Seite gestellt, die laut Haas die Funktion der thematischen Verdopplung der Schicksale der Protagonisten erfüllen (Vgl. Haas, 2006, 221 f.) Neben den Selbstkommentaren der Figuren (Vgl. Haas, 2006, 223) rufe außerdem v.a. die „Verdopplung der Perspektiven und de[r] Zerfall der Linearität, die sich in der Konstruktion der Fabel um Raimundo ergibt“ (Haas, 2006, 225), eine verfremdende Wirkung hervor. Besonders deutlich werde dies anhand der Darstellung seines Todes aus drei verschiedenen Blickwinkeln: die Beobachtungen des namenlosen Ehepaars, die Erzählung einer Stimme über den Fund seines Körpers und die Beschreibung der Zerstückelung seines Körpers durch den Chor der stummen Zeugen (Vgl. Haas, 2006, 225). Über die Geschichten der Figuren, welche nur in Ausschnitten präsentiert werden, soll Haas zufolge Geschichte als „individuell Erlebbares“ (Haas, 2006, 227) dargestellt werden. Sie konstatiert: „Das Stück demonstriert, dass Geschichte von Menschen gemacht und durchlebt, bzw. erlitten wird.“ (Haas, 2006, 227). Nach der Analyse von Haas präsentiere Loher somit „Gewaltstrukturen nicht als etwas Abstraktes und Unbegreifliches, das in den Alltag einbricht, sondern legt offen, dass Unrecht aus pervertierten Beziehungen resultiert.“ (Haas, 2006, 229).
Stefanie Hohmann fokussiert in ihrer Analyse das Thema Fremdsein in der Gesellschaft, welches nach ihrer Auffassung in besonderem Maße in Das Leben auf der Praça Roosevelt bestimmend ist (Vgl. Hohmann, 2006, 41-52, hier: 50). Denn neben der Arbeitslosigkeit sei das Leben der Figuren von Einsamkeit und Fremdsein geprägt. Deutlich werde dies v.a. an Maria, die sich mit einer selbst erschaffenen Figur in einem Computerspiel völlig identifiziert und darüber sich selbst verliert. Dies könne darin gedeutet werden, dass die Computerrealität Maria von sich selbst entfernt oder die gesellschaftliche Realität Maria entfremdet (Vgl. Hohmann 2006, 41-52, hier: 51 f.). Hohmann zufolge bieten aber auch die Beziehungen mit traditionellen Geschlechterrollen im Stück keinen Ausweg aus der Entfremdung und der Einsamkeit (Vgl. Hohmann, 2006, 41-52, hier 52). Die Kommunikation laufe beim Ehepaar Mirador nur über Monologe bzw. Erinnerungen ab und „Vito und Bingo finden nur in der Zerstörung des alten Lebens, in einer Utopie, zusammen.“ (Hohmann, 2006, 41-52, hier: 52). Aus der funktionierenden Kommunikation und gegenseitigen Unterstützung, welche Hohmann lediglich der Freundschaft von Concha und Aurora attestiert, zieht sie den Schluss: „Es müssen also zunächst alte Denkmuster und Geschlechterdifferenzen, die sich in Aurora auflösen, geschaffen werden, um das Fremde zu überwinden.“ (Hohmann, 2006, 41-52, hier: 52).
Christine Künzel untersucht Das Leben auf der Praça Roosevelt bezüglich des Themas Gewalt und findet hierbei „eine der explizitesten Gewaltszenen in Lohers Werk“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 367) vor: „die Schilderung der Ermordung und Zerstückelung des jungen Mirador“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 367). Die hier erfolgende Gewalt werde einem bestimmten Ort, der Praça Roosevelt, zugeschrieben. Allerdings konstatiert Künzel, dass die eigentlichen Täter anonym bleiben, da weder Anzahl noch Namen genannt werden, sondern lediglich das Pronomen „sie“ Verwendung finde. Das Messer erscheine aufgrund der Syntax zuweilen hingegen als Akteur der Handlung (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 367). Die aktive Rolle der Täter werde somit durch das Entpersönlichen der Täter als solche kaum wahrgenommen. (Künzel, 2007, 360-372, hier: 367 f.). Mit Blick auf das gesamte dramatische Werk Lohers spricht Künzel vom „allgemeinen Trend zur Viktimisierung“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 368), dem die Autorin in dieser Hinsicht folge (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 368).

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