Charakteristika des Werks

Business-Lyrik: Zwischen Karriere und Beziehung

Einführung: Aufbau, Form und Themenschwerpunkte der Anthologie

Business-Lyrik. Komische Poesie im Beifall des Absurden ist Roger Steins erster Lyrikband. Bereits im Vorwort zeigt sich eine ironische Grundhaltung, die sich durch die gesamte Anthologie zieht. Der Musiker und Liedermacher Stein bezeichnet seine Gedichte als „sprachliches Unkraut“ (Stein 2018: 4), das er in der Anthologie sammelt, damit seine „Liederpflanzen nicht zuwuchern“ (ebd.). Entstanden sind die Gedichte demnach im Kontext seiner musikalischen und textlichen Arbeit an Songs, die auf mittlerweile zwei Soloalben versammelt sind.

Die 96 Gedichte unterliegen wie die meisten Lyriktexte seit Mitte des 20. Jahrhunderts keiner normpoetischen Formstrenge. Das auffälligste Gattungsmerkmal ist die typografische Anordnung als linksbündiger Flattersatz, wodurch eine Versform entsteht. Die Verse sind häufig durch Enjambements verbunden. Diese evozieren das Gefühl der niemals endenden Aufgaben, das ‚Business‘ jedes Einzelnen. Dabei bezieht sich der titelgebende Begriff Business nicht nur auf den Bereich der Wirtschaft, sondern kann auch als ein lebensweltliches Beschäftigt-Sein verstanden werden. Dies zeigt sich ebenfalls in zahlreichen Ellipsen, die den Gedichten häufig eine Hektik verleihen und gleichzeitig Leerstellen erzeugen, die von den Leser*innen gefüllt werden müssen. Die im Untertitel genannten Aspekte Komik und Absurdität entstehen durch Kontrapunkte am Ende der Gedichte, die den Leseerwartungen widersprechen und somit neue Deutungsebenen eröffnen. Die Kontrapunkte sind durch Zeilenabstände, die beim Lesen die kommunikative Funktion einer Pause übernehmen, getrennt. Die Gedichte können als kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Gesellschaft und ihren neoliberalen Tendenzen gelesen werden. Sie sind dabei jedoch nicht nur als einzelne Texte zu betrachten, denn die Anthologie folgt einer eigenen thematischen und argumentativen Logik.

Viele der Gedichte stehen im Spannungsfeld von Realismus und Ökonomie auf der einen und Sehnsucht sowie Emotionalität auf der anderen Seite. Dies zeigt sich etwa in den letzten zwei Versen des Gedichts Realist werden: „und endlich Realist werden / sehnsuchtsfrei“ (ebd.: 35). Die Sehnsucht wird „auf dem Nachhauseweg / einfach vor die S-Bahn“ (ebd.) geschubst. Das Szenario des ‚Vor-den-Zug-Werfens‘ bewirkt die Assoziation mit einem Suizid. Konkret kann dieser Prozess als Akzeptanz der gesellschaftlichen Erwartungen verstanden werden. Das Spannungsverhältnis entsteht auch unter Rückgriff auf Reflexionswissen der Leser*innen, so erscheint Realismus durch die Anfangsverse „Du hast immer / einen Platz in meinem Herzen“ (ebd.: 22) zunächst als Liebeslyrik. Diese Genrezuordnung wird allerdings durch den Titel sowie den Kontrapunkt „in der EconomyClass“ (ebd.) im letzten Vers gebrochen, da Liebe und Emotionalität vor der Deutungsfolie der Ökonomie betrachtet werden.

Eine gesellschaftliche Abwertung der Sehnsucht findet sich auch in der ersten Strophe des Gedichts Alltagszuneigung, in dem das angesprochene Du dem lyrischen Ich zunächst als „Irritationspunkt“ (ebd.: 74) und „Störsender“ (ebd.) „[i]m Flutlicht des Funktionierens“ (ebd.) erscheint. Zwischenmenschliche Beziehungen werden als Hindernis für ein Funktionieren im Sinne der Gesellschaft verstanden. Das Flutlicht, das mit öffentlichen Orten und extremer Helligkeit verbunden ist, impliziert neben der Tatsache, dass man von außen beobachtet werden kann, perfekte Bedingungen für effizientes Funktionieren. Diese werden durch die Anwesenheit der zweiten Person geschmälert. In der zweiten Strophe wird dem öffentlichen Setting ein intimes Setting von Zweisamkeit „am Rande/ des Unspektakulären“ (ebd.) entgegengesetzt. Die Zweisamkeit wird durch die erstmalige Nutzung des Personalpronomens „wir“ (ebd.) verdeutlicht. In diesem Rahmen werden Liebe und Emotionalität zwar als „unnötig warm“ (ebd.) beschrieben, die Reaktionen der Liebenden, „[S]taunen“ und „Lächeln“ (ebd.), am Ende des Gedichts deuten allerdings ein Gefühl von Glücksseligkeit an. Dies weist auf ein romantisches Liebesideal hin, das zwar gesellschaftlich tradiert und von einzelnen Individuen erhofft wird, aber in der modernen Lebenswelt nicht realisierbar zu sein scheint.

Auch das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Reglementierung (in der vermeintlichen Freizeit) wird in den Gedichten thematisiert. Das zeigt sich beispielsweise in Frei: Stein stellt die Punkbewegung, eine Protestbewegung gegen das Klassensystem, die Freiheit und Anarchie als Grundpfeiler der Gesellschaft propagiert, dem Abweichen vom vorgegebenen „Pfad“ (ebd.: 86) auf dem Golfplatz gegenüber. Da der Golfplatz einen elitären, luxuriösen, streng reglementierten und großbürgerlichen Raum darstellt, wird durch den starken Kontrast Komik erzeugt. Sie kann als Ironisierung des zeitgenössischen Reglementierungsdiskurses gelesen werden. Dass diese starke Orientierung an Normen keiner bestimmten Person zugesprochen wird, zeigt sich daran, dass der*die Golfspielende lediglich durch das Reflexivpronomen „sich“ (ebd.) eingeführt wird, also anonym bleibt und damit verallgemeinerbar erscheint.

Anonymität findet sich in vielen Gedichten wieder. Durchbrochen wird sie allerdings immer wieder durch Sequenzen, in denen ein lyrisches Ich in Interaktion mit einer zweiten Person tritt. Durch diesen Perspektivwechsel zwischen einem Jemand beziehungsweise einem namenlosen Büroarbeiter und dem ‚Wir‘ entsteht der Eindruck zweier miteinanderverwobener Geschichten – einem Karriereaufstieg in einer anonymisierten, ökonomischen Welt und dem Scheitern einer Beziehung, die sich dieser ökonomisierten Welt nicht entziehen kann. Am Ende der Anthologie steht mit Abschied der Umzug des lyrischen Ichs in „eine andere Realität“ (ebd.: 110), wohin es nur „das Nötigste mit[nimmt]/ mich nicht“ (ebd.). Das lyrische Ich lässt demnach die eigene Persönlichkeit zurück und betreibt Wirklichkeitsflucht. Dies kann als Gesellschaftskritik gelesen werden. Stein zeigt, dass die Ökonomisierung der Gesellschaft und der Lebenswelt jedes*jeder Einzelnen in einer Entindividualisierung münden kann.

Intertextualität

Die Anthologie kann nicht nur als eine Sammlung einzelner Gedichte gelesen werden, sondern auch als intertextuelle Komposition, die eine eigene Logik und Aussagekraft besitzt, welche über die Summe der einzelnen Gedichte hinausgeht. Diese innere Logik entsteht durch intertextuelle Verweise zwischen den einzelnen Gedichten, beispielsweise durch ähnliche Metaphern und Formulierungen. Dies lässt sich exemplarisch anhand der zwei aufeinanderfolgenden Gedichte Struktur und Recht und Regeln zeigen: In beiden steht das Fußballspiel sinnbildlich für die Interaktionen in der Freizeit, die Regeln des impliziten Wissens folgen und durch die Übertragung auf die expliziten Regeln und beobachtbaren Mechanismen des Fußballspiels sichtbar gemacht werden. Die zweite Strophe aus Struktur „Von den Frauen zugespielte / Privatgesprächsbälle / möglichst rasch vom Grill wegspielen / Doppelpass“ (Stein 2018: 27) thematisiert die männliche Vermeidungsstrategie von Kommunikation. Mit der Verortung am Grill, die in der dritten Strophe durch die „Bratwurstverantwortung“ (ebd.), die den Männern „irgendeine Sachlichkeit in diese[m] vollkommen strukturlosen Nachmittag“ (ebd.) ermöglicht, wiederaufgenommen wird, nutzt Stein ein gesellschaftliches Stereotyp der Männlichkeit, das Grillen. Dass nun die Privatgesprächsbälle der Frauen durch Doppelpässe vom Grill fernzuhalten sind, kann als Reaktion auf ein ungewünschtes Eindringen der (als typisch weiblich angenommenen) Freizeit-Gespräche in den Raum der Männlichkeit angesehen werden. Dass diese Vermeidungsstrategie von Kommunikation und die damit einhergehende Nicht-Teilnahme an der Geselligkeit in der Freizeit als Widerspruch zu den impliziten Regeln beziehungsweise Gepflogenheiten des zwischenmenschlichen Umgangs zu lesen sind, wird durch die Wiederaufnahme der Fußballmetapher in Struktur und Regeln deutlich. Denn aufgrund des Werfens „mit Steinen aus Verstand“ (ebd.: 28) wird ein „Platzverweis“ (ebd.) ausgesprochen. Dieser wird in der letzten Strophe begründet mit dem Ausruf „Danke für Deine Mitarbeit / aber wir spielen etwas anderes!“ (ebd.). An dieser Stelle bieten sich zwei Lesarten an. Zum einen kann der Hinweis auf das falsche Spiel, in dem die angesprochene Person die Situation verortet hat, als genderspezifisches Missverstehen gedeutet werden, da auch Fußball gesellschaftlich mit Männlichkeit assoziiert wird. Des Weiteren kann die Phrase „Deine Mitarbeit“ (ebd.) als Ausgangspunkt der Interpretation dienen. Demnach wäre die angesprochene Person in einem arbeitsweltlichen Gesprächskontext verhaftet geblieben, obwohl das Gespräch in der Freizeit verortet werden müsste, worauf Grillen und Fußball als typische (deutsche) Freizeitaktivitäten hindeuten. Somit scheint es in der Freizeit für die angesprochene Person keine Möglichkeit der Vergemeinschaftung zu geben. Sie wirkt nicht nur fehl am Platz, sondern wird diesem sogar durch ihre Mitmenschen verweigert. In beiden Fällen – ob man den Kontext als Differenz zwischen den Geschlechtern oder zwischen Arbeit und Freizeit liest – wird die Orientierungslosigkeit und das fehlende Wissen über Interaktionsregeln deutlich. Dies steht einer gelingenden Vergemeinschaftung im Wege, deren Versuch die beiden Gedichte thematisch verbindet.

Neben solchen intertextuellen Verweisen aufeinanderfolgender Gedichte finden sich auch verwandte konzeptuelle Metaphern in mehreren Gedichten der Anthologie und setzen diese so zueinander in Beziehung. Ein Beispiel dafür stellen Metaphern aus dem Bereich der Seefahrt dar. Gerade noch beginnt mit den Versen: „Einen Vorwand im letzten Moment / herumreißen“ (ebd.: 72), „damit er nicht / in den Gegenverkehr kracht“ (ebd.), um schließlich den „Tag am Kentern“ (ebd.)  zu hindern. In diesem Gedicht wird das Bild eines Ausweichmanövers auf die menschliche Kommunikation und das soziale Agieren übertragen, denn nicht ein buchstäbliches Steuer wird herumgerissen, um eine Kollision zu vermeiden, sondern ein Vorwand. Welcher Vorwand für was, wird nicht erläutert; es geht hier also um die grundsätzliche Strategie, Vorwände vorzuschieben, statt die eigentlichen Dinge anzugehen. Das Kentern des Tages steht demnach für die negativen Konsequenzen eines drohenden zwischenmenschlichen Konflikts, der Kollision mit dem Gegenverkehr, der durch einen Vorwand verursacht wird. Eine Vermeidungsstrategiekann also zu größeren Problemen führen – sowohl in beruflichen als auch in privaten Beziehungen – als der direkte Weg einer offenen Kommunikation.

Ein weiteres Beispiel, bei dem das Metaphernfeld der Seefahrt zur Veranschaulichung von Kommunikationsproblemen genutzt wird, ist Moral. Neben paradoxen Handlungen, wie „[d]ie anderen zu Statisten stempeln / aber mehr Aktion fordern“ (ebd.: 75), werden auch „Ideen durch den Raum“ (ebd.) gerudert. Dieses Bild impliziert, dass eine Person, beispielsweise ein*e Chef*in, der*die seine*ihre Mitarbeiter*innen aufgrund der hierarchischen Vormachtstellung zu Statist*innen (ab)stempeln kann, grundsätzlich den Kurs vorgibt, in diesem Fall die Ideen aber lediglich ziellos durch den Raum rudert. Somit steht auch hier der Vorgang des Schiff-Lenkens für eine kommunikative Tätigkeit. Die Ziellosigkeit dieser Kommunikation steht im Widerspruch zu den Ansprüchen, die an eine Führungsposition gestellt werden und kritisiert somit die Effizienz ihrer Arbeit. In Nettigkeit dagegen ist die Fortbewegung und damit das Erreichen des Ziels nicht mehr möglich, da man „[i]m Schilfproblem / der eigenen Nettigkeiten“ (ebd.: 83), aus dem man sich „nicht freirudern kann“ (ebd.) stecken geblieben ist. Das Schilf verhindert in diesem Bild das Erreichen des Ufers, welches für das Ziel steht. Da nun im übertragenen Sinn die Nettigkeit als Schilf fungiert, wird hier eine grundsätzlich positiv konnotierte Umgangsform, die Nettigkeit, als Hindernis zum Erreichen des Ziels dargestellt. Zudem birgt Schilf aufgrund scharfer Kanten eine Verletzungsgefahr. Diese Eigenschaft steht übertragen auf die Nettigkeiten für die Gefahr, sich durch die Nettigkeiten sprichwörtlich ins eigene Fleisch zu schneiden, also einen Nachteil gegenüber anderen zu erhalten. Dies kann als Anspielung auf die Ellbogengesellschaft verstanden werden, in der Durchsetzungsvermögen und Eigensinn wichtiger sind als Nettigkeit und Verständnis.

In Start-up-Postromantik wird das Scheitern an den eigenen Wünschen aus der Jugend thematisiert. Dies wird mit der Metapher der „gestrandeten Euphorien“ (ebd.: 98) illustriert. Diese werden „stolzen Schiffbruchs umarm[t] / und zu Piraten romantisier[t]“ (ebd.). Es findet eine Idealisierung des Scheiterns statt: Die Euphorien, die gestrandet sind, sich also nicht realisieren konnten, werden mit Piraten gleichgesetzt. Übernimmt man eine weitverbreitete, romantische, vor allem kindliche Vorstellung von Piraten, werden Piraten so zu freien, selbstbestimmten Menschen, die sich bewusst von der Gesellschaft und deren Regeln abgewendet haben, um zu erlangen, was sie sich wünschen, stilisiert. Zu diesem Bild stehen die gestrandeten Euphorien in starkem Kontrast und besonders der Begriff romantisiert referiert auf den Prozess der reflexiven Idealisierung. Aufgrund des Titels ist der Interpretationsspielraum in Bezug auf die Euphorien groß, so kann es sich sowohl um eine Vision einer Liebesbeziehung als auch eine unternehmerische Idee handeln. Klar wird lediglich, dass sich auf Zukunftspläne aus der Jugend bezogen wird, wobei ein zweiter Versuch als lächerlich abgetan wird, da man „in Nostalgie / nochmal [...] kentern“ (ebd.: 98) würde. Es zeigt sich also wie auch in Nettigkeit eine ausweglose Situation, die anhand der Immobilität deutlich wird. Das Rudern oder Segeln stellt im Gegensatz dazu eine Dynamik dar, mit Hilfe derer es möglich ist, ein Ziel zu erreichen. All diese unterschiedlichen Verwendung des Metaphernfeldes haben damit eins gemein: Sie machen auf Probleme in der zwischenmenschlichen Interaktion aufmerksam und ziehen anhand dessen Parallelen zwischen der Arbeitswelt und dem Privatleben in einer modernen Gesellschaft.

Karriereaufstieg

Die Gedichte der Anthologie bilden parallel zu der Beziehungsgeschichte eines ‚Wir‘ auch einen Karriereaufstieg einer anonymen, männlichen Person ab. Die Besonderheit besteht darin, dass die meisten Gedichte, die die Karriere thematisieren, nicht von der Sprecherposition eines lyrischen Ichs aus geschrieben sind, sondern aus Infinitivkonstruktionen bestehen und dadurch eher an eine Anleitung oder Dienstanweisung erinnern als an eine Äußerung eines Individuums. Der Effekt einer solchen Darstellungsperspektive ist, dass eine gewisse normative Richtigkeit des Beschriebenen impliziert scheint, die wiederum durch den ironischen Unterton der meisten Gedichten aufgelöst wird und so als Kritik am Geschilderten gelesen werden kann. Der Schreibstil evoziert zusätzlich das Gefühl von Passivität, eines Über-sich-ergehen-Lassens des beschriebenen Mitarbeiters. Er erscheint nicht als aktiv Handelnder, sondern vielmehr als unbeteiligter Zuschauer seiner eigenen Karriere. Somit scheint sein Weg in gewisser Weise vorbestimmt zu sein und stellt zudem keine Abweichung von der Norm dar – etwa durch herausragende, individuelle Leistungen oder Talente, die betont würden.

Das Gedicht Einchecken stellt in eben diesem Stil den Eintritt in die neoliberale Arbeitswelt der Höhergestellten dar. Dazu werden Metaphern aus dem Feld des Flughafens genutzt: Der Eincheckende gleitet „[a]uf der Spannweite seiner Selbstgefälligkeit [...] am Bodenpersonal vorbei“ (Stein 2018: 18). Anhand dieser Beschreibung wird die Vormachtstellung des Eincheckenden gegenüber den anderen Mitarbeiter*innen, die als Bodenpersonal bezeichnet werden, markiert. Dies spiegelt sich auch in seiner Ausstrahlung, denn seine Selbstgefälligkeit lässt ihn analog zu Flügeln, auf die durch den Begriff Spannweite verwiesen wird, durch den Raum gleiten. Somit entsteht der Eindruck, dass sich die Hierarchie räumlich abbildet, indem der Eincheckende über dem Bodenpersonal schwebt. Dass er die Missgunst und Kritik des Bodenpersonals als Teil seines Berufs ansieht, der dadurch, dass sein Ziel, die Rezeption, mit der Ewigkeit gleichgesetzt wird, zu einer Berufung oder Bestimmung überhöht wird, wird durch die Verse „Reste von Arschloch-Denkern / wie Gischt der Landebahn / aus dem Gesicht wischend“ (ebd.) deutlich. Die Beleidigungen werden durch eine einfache, metaphorische Handbewegung des Wegwischens beseitigt und haben somit keine Auswirkungen auf die Verfassung des Beleidigten. Sie werden damit als ein unangenehmer, aber in keiner Weise bedrohlicher Nebeneffekt des Daseins – in dem Bild ein bloßes Stehen neben der Landebahn – dargestellt. Des Weiteren wird dieses Aushalten negativer Einstellungen als „Größe“ (ebd.) und „Aufopferung“ (ebd.) bezeichnet, sodass die vermeintliche Hierarchie dekonstruiert wird, indem sich der Höhergestellte für das Bodenpersonal vermeintlich aufopfert. Dass diese Wahrnehmung lediglich konstruiert ist, zeigt sich anhand des letzten Verses „Das versteht ihr nicht“ (ebd.), der durch die Adressierung durch das Personalpronomen ihr, als Gedanke oder Rede des elitären Eincheckenden gegenüber den übrigen Mitarbeiter*innen verstanden werden kann. Anhand dessen zeichnet sich eine Wissensasymmetrie ab, welche die Hierarchieebene des einen, der den restlichen Arbeiter*innen übergeordnet ist, wiederherstellt. Durch diese erneute Dekonstruktion wird die Einstellung des Eincheckenden ironisiert und erscheint den Leser*innen als unglaubwürdig.

Das Gedicht Burn-in-Burn-out beleuchtet die potenziellen Folgen einer Überlastung durch die Arbeit. Das Burnout wird in Deutschland medial zu einer Volkskrankheit stilisiert. Unabhängig davon, ob diese Beschreibung sachadäquat ist, zeigt sich eine steigende Tendenz an Burnout-Diagnosen, die – wenn nicht zwingend einen tatsächlichen Anstieg der Zahl der Erkrankten – zumindest eine steigende Zahl der Diagnosen belegt, womit das Problem an gesellschaftlicher Relevanz gewinnt. Der Titel des Gedichts wird in dem Vers „kurz Burn-in-Burn-out huschen“ (ebd.: 58) wiederaufgenommen. Durch die Begriffe kurz und huschen wird die Krankheit marginalisiert, indem eine schnelle, unproblematische Genesung impliziert wird. Diesen Eindruck unterstützt der Neologismus Burn-in-Burn-out, der ebenfalls eine dynamische Bewegung nahelegt, mit der durch die Rhythmik des Kompositums eine hohe Geschwindigkeit assoziiert wird. In der zweiten Strophe wird das Ausscheiden aus dem Berufsleben beschrieben, dabei wird ein straffer „Händedruck / als letzte Visitenkarte / fragmentierter Persönlichkeit / beim Empfang hinterlassen“ (ebd.). Die fragmentierte Persönlichkeit referiert darauf, dass Burnout eine psychische Krankheit ist, wie sich auch durch die aufgezählten Folgen „verlerntes Verlieren/ nicht mehr begreifen“ (ebd.) in der ersten Strophe zeigt. Eine mögliche Ursache für die Erkrankung lässt sich in der „[a]nerkennende[n] Austauschbarkeit“ (ebd.) finden, die dem Mitarbeiter zuteilwird. Gleichzeitig wird durch die Visitenkarte, die am Empfang hinterlassen wird, eine Rückkehr oder zumindest eine zeitnahe Erreichbarkeit impliziert. Die letzte Strophe „und sich dann mit den Pillen / entkoppeln“ (ebd.) bietet zynisch eine Lösung des Problems, bei der nicht die Ursachen des Burnouts, wie etwa „ein komplexes Aufgabengebiet, Zeitdruck sowie geringe Handlungsspielräume“ (FAZ 2004) oder „ein schlechtes Arbeitsklima und unklare Erfolgskriterien“ (ebd.), behoben, sondern lediglich die Symptome, wie etwa „Konzentrations- und Schlafstörungen, Magen-Darm-Beschwerden und gestörte Eßgewohnheiten“ (ebd.) unterdrückt werden. Dieser Umgang mit einer psychischen Krankheit wird durch die ironisierte Marginalisierung, die sich vor allem im titelgebenden Neologismus zeigt, kritisch betrachtet. Im Kontext der Darstellung eines Karriereaufstiegs wird in diesem Gedicht zum einen deutlich, dass der Mitarbeitende erfolgreich in die Arbeitswelt eingecheckt hat, gleichzeitig aber auch sein ganzes Leben – konkret seine Gesundheit – davon beeinflusst wird. Zudem kann aufgrund des schnellen Wiedereinstiegs ein gewisser Ehrgeiz beziehungsweise eine hohe Arbeitsmoral unterstellt werden, die wiederum aufgrund des sozialen Drucks durch die Sorge um den Verlust des Arbeitsplatzes als Neoliberalismuskritik verstanden werden kann.

Dass diese Zuschreibungen des Ehrgeizes und der hohen Arbeitsmoral durchaus berechtigt sind, wird in dem Gedicht Bitte deutlich, welches lediglich zwei Seiten nach Burn-in-Burn-out zu finden ist. Die beruflichen Aufstiegsambitionen des Mitarbeiters werden anhand einer Gaststättenszenerie, die durch die Begriffe „Ober“ (Stein 2018: 60), „Tresen“ (ebd.) und „gezapftes“ (ebd.) erzeugt wird, verdeutlicht: Der „Ober“ (ebd.: 60) trägt „[f]risch gezapftes Selbstvertrauen / [...] zu der Krawatte / am Ende des Konferenztisches“ (ebd.). Durch den Konferenztisch, der die Verortung in einer Gaststätte durchbricht, wird die metaphorische Bedeutungsverschiebung erkennbar, denn Selbstvertrauen ist kein materielles Gut, dass serviert oder gar gezapft werden kann. Dennoch gleicht das Bild dem Phraseologismus Selbstvertrauen tanken und impliziert einen Zugewinn an Selbstvertrauen aus einem allgemeinen ‚Vorrat‘, zu dem potenziell jeder Zugang hat. Die Metonymie der Krawatte am Ende des Konferenztisches verweist in diesem Fall auf eine Führungskraft, die in der Unternehmenshierarchie über den anderen Mitarbeitenden steht. Das Kleidungsstück Krawatte, das unter anderem ein Kennzeichen für Personen in einer hierarchisch höhergestellten beruflichen Position ist – vor allem in Kontext von Büroarbeitenden – steht in diesem Fall also stellvertretend für die Führungskraft. Auch die Position am Ende des Konferenztisches legt dies nahe, denn dort sitzt in der Regel die Leitung einer Besprechung, damit die Person von allen anderen Teilnehmenden zu sehen ist. Die letzte Strophe „Herr Ober / Für mich das Gleiche“ (ebd.), die als Bestellung inszeniert ist, offenbart die Ambitionen des betrachteten Mitarbeiters in der Unternehmenshierarchie aufzusteigen und die Führungsposition einzunehmen.

Dass dieser Karriereaufstieg gelungen ist, zeigt sich unter anderem an dem Gedicht Hierarchie: In der ersten Strophe wird der Prozess bis zur Beförderung beschrieben. Um „sich hoch[zu]ziehen“ (ebd.: 95), was für einen beruflichen Aufstieg steht, da die Hierarchie räumlich versinnbildlicht wird, werden „[m]it dem Steigeisen / die Fersen der [A]nderen“ (ebd.) getroffen. Dabei stehen die Fersen für die verwundbaren Stellen, also die Schwächen der anderen Mitarbeitenden. Der darauf verweisende Ausdruck Achillesferse geht auf eine Sage der griechischen Mythologie zurück, in der Achill lediglich an der Ferse verwundbar war, da ihn seine Mutter an dieser Stelle festhielt, während sie ihn in einen Fluss tauchte, dessen Wasser seine Haut bei Berührung unverwundbar machte. Das Steigeisen, das beispielsweise beim Eisklettern für einen besseren Halt verwendet wird, dient demnach dem Zweck, den Berg zu erklimmen, also dem Kletternden beim Aufstieg zu helfen. Auch hier wird die Bedeutung des hierarchischen Aufstiegs in den Bereich des räumlichen Aufstiegs, des Kletterns, verschoben. So steht das Steigeisen metaphorisch für die Stärken des betrachteten Mitarbeiters, die ihn befähigen, in der Hierarchie aufzusteigen. Er spielt also seine Stärken gegen die Schwächen der anderen potenziellen Aufstiegskandidat*innen aus; mit der Achill-Analogie wird die Asozialität eines Karrierewegs behauptet. Karriere zu machen bedeutet, gezielt die verwundbaren Stellen der Konkurrenten auszunutzen, diese also bewusst zu verletzen. Dass er damit Erfolg hat, wird in der zweiten Strophe sichtbar, denn nun werden „Mitarbeiter / mit Farben markier[t] / wie Bäume“ (ebd.). Dieser Vergleich zum Markieren von Bäumen, welches in der Regel dazu dient, alte, morsche oder von Schädlingen befallene Bäume zu fällen, um so einer Gefährdung, beispielsweise durch ihr Umstürzen, vorzubeugen, lässt auf eine hierarchische Asymmetrie schließen. Denn wer aufgrund einer Führungsposition seine Mitarbeitenden auf ihre potenzielle Gefahr für das Unternehmen, also auf mangelnde Leistungsfähigkeit oder Kompetenz hin bewertet, gilt gemäß der meisten Firmenlogiken  als dazu berechtigt, auch über Entlassungen entscheiden zu können. Ebenso kann die Führungskraft auch Mitarbeitende befördern, sprich „weiter nach oben loben“ (ebd.). Dass die Beförderungen für die „Ohrfeigenküßer“ (ebd.) vorgesehen sind, legt die Annahme zugrunde, dass Kritikfähigkeit ein entscheidender Faktor ist. Durch die Gleichsetzung von Kritik mit Ohrfeigen und die ironisierende Übersteigerung dessen Akzeptanz durch den Neologismus Ohrfeigenküsser wird gleichzeitig die Umgangsweise von Führungskräften mit ihren Mitarbeitenden kritisiert und ein gesellschaftliches Problem des Machtmissbrauchs und dessen Tabuisierung und Akzeptanz in der Arbeitswelt offengelegt.

Scheitern von zwischenmenschlichen Beziehung

Neben der Darstellung des Karriereaufstiegs ist auch die Darstellung von scheiternden (Liebes-)Beziehungen in der Anthologie zu finden. Das Liebesaus wird parallel zum Karriereaufstieg inszeniert, denn die thematischen Schwerpunkte der Gedichte wechseln kontinuierlich zwischen Beziehung und Karriere, teilweise verweben sich die Bereiche sogar innerhalb eines Gedichts. Im Gegensatz zu den passiven Infinitivkonstruktionen, mit denen Karriere und Berufssituationen vorwiegend dargestellt werden, werden die Beziehungsgeschichten aus der Sicht eines lyrischen Ichs, das meist mit der Person der Karriereskizzen zusammenfällt, fokussiert. Das lyrische Ich tritt häufig in Interaktion mit einer zweiten Person. Durch die Nutzung der Personalpronomen ich, du und wir werden die Individualität der Personen sowie ihre Beziehung stärker in den Fokus gerückt. Dadurch wirken die Gedichte weniger anonym oder beliebig und stechen durch ihren sprachlichen Stil in besonderer Weise hervor.

Dieser Stil zeigt sich beispielsweise in dem Gedicht Entfremdung. Bereits in der ersten Strophe wird deutlich, dass die Beziehung nicht dem Ideal eines glücklichen Paares entspricht. Die Verse „Wir spalten den Schlaf / Wir verdichten den Tag“ (Stein 2018: 17) machen deutlich, dass die gemeinsame Zeit zunehmend minimiert wird. Das Spalten des Schlafes kann als Hinweis auf getrennte Schlafzimmer und damit auf eine körperliche Distanz gelesen werden. Das Verdichten des Tages ist ein Indiz für zunehmend getrennt wahrgenommene Termine, die den Tag soweit verplanen, dass keine Zeit für Zweisamkeit bleibt. Durch den Aktivmodus, der gegenüber den vielen Infinitivkonstruktionen heraussticht, wirken diese Maßnahmen verstärkt wie getroffene Entscheidungen der beiden Menschen und nicht wie ein Effekt der äußeren Umstände. Der Vergleich „Entfremdung hüllt uns ein / wie ein wärmender Mantel“ (ebd.) beschreibt ein Paradox, da mit dem wärmenden Mantel ein Gefühl der Geborgenheit und eben nicht von emotionaler Distanz assoziiert wird. Der Neologismus „Heimat-to-go“ (ebd.), mit dem die Entfremdung im letzten Vers beschrieben wird, rekurriert auf das Narrativ, das Heimat kein fester, geografischer Ort ist, sondern ein Zuhause-Gefühl, das in der Regel mit dem Beisammensein mit der Familie beziehungsweise dem*der Partner*in verknüpft ist. Dass nun aber gerade die Entfremdung für dieses Zuhause-Gefühl sorgt, zeigt auf, dass die dargestellte Beziehung keinem konventionalisierten, romantischen Liebesideal entspricht. Dass dieses gesellschaftlich etablierte Liebesideal in der heutigen Zeit nicht eindeutig bestimmbar ist, formuliert Stefan Neuhaus, indem er festhält, „dass die heutige Codierung von Liebe einerseits nur plural zu beschreiben ist und andererseits die Norm der romantischen Liebe weiterwirkt“ (Neuhaus 2017: 120). Diese aus einer Romananalyse gewonnene These einer Pluralisierung der gesellschaftlichen Liebesvorstellungen, die sich jedoch zum Großteil auf das romantische Liebesideal beziehen, ist auch für die Interpretation von Steins Gedichten hilfreich. So kann Entfremdung vor dem Hintergrund eines romantischen Liebesideals als Inszenierung einer scheiternden Beziehung angesehen werden, da weder körperliche noch geistige Nähe vorherrschen, die für das Konzept der romantischen Liebe (vgl. Reinhardt-Becker 2005: 161) essenziell sind.

Ein Anzeichen für das Scheitern der Beziehung findet sich in dem Gedicht After-Business-Flirt. Zunächst wird auf die Jahreszeit „Sommer“ (ebd.: 99) Bezug genommen, die man in der Regel mit Wärme und Ausgelassenheit verbindet. Im Kontext der Liebesbeziehung verweist der Sommer auf eine leidenschaftliche Zeit voll körperlicher Nähe und Leidenschaft. Diese Assoziation wird jedoch durch die Beschreibung „mundartmüder Sommer“ (ebd.) dekonstruiert. Der Begriff mundartmüde kann zum einen auf das Fehlen einer sexuellen Beziehung hindeuten, da das Küssen auszubleiben scheint. Zum anderen kann es auch als Fehlen geistiger Nähe interpretiert werden, indem die Mundart auf die Kommunikation bezogen wird, derer das Paar müde ist. In beiden Fällen deutet sich also die anhaltende Entfremdung der Partner*innen an. Diese Schlussfolgerung wird durch die zweite Strophe unterstützt, indem die Romantik als Begriff sowie der Mond als ein typisches Motiv der romantischen Liebe (vgl. Spinner 1969: 99f.) aufgegriffen wird: „Die Gezeiten der Romantik / sind vom Mond gezeichnet“ (Stein 2018: 99). Die Verbindung zwischen Romantik und Mond, nämlich, dass der Mond die Gezeiten der Romantik gezeichnet hat, ihnen also zugesetzt hat, widerspricht jedoch dem romantischen Liebesideal. Denn die Gezeiten, die durch die Mondphasen, also eine natürliche Ordnung bestimmt sind, stehen symbolisch für glückliche und problematische Phasen der Romantik, also der Liebesbeziehung des Paares. Das Gezeichnet-Sein lässt darauf schließen, dass dieses Wechselspiel nicht mehr stattfindet. Die weiteren Verse „kahles Kamingeknister / verkörpert dem Kellner / die Leidenschaft zu dimmen“ (ebd.) deuten darauf hin, dass die Beziehung nicht in der Flut an Romantik, sondern eher der Ebbe stagniert. Denn das Kamingeknister, das eigentlich eine romantische Atmosphäre erzeugt und für Leidenschaft steht, ist kahl. Dies passt zu der Inszenierung der Bitte gegenüber einem Kellner, die Leidenschaft zu dimmen. All diese sprachlichen Bilder erwecken den Eindruck einer leidenschafts- sowie gänzlich emotionslosen Beziehung. Dies wird in der dritten Strophe auf die Spitze getrieben: „Am Nebentisch sitzen / einsame Paare / wie ich“ (ebd.). Der Vergleich zwischen dem lyrischen Ich und einem einsamen Paar deutet darauf hin, dass die zweite Person, die ein Paar per Definition beinhaltet, aus der Perspektive des lyrischen Ichs nicht mehr zu ihm gehört. Somit kann diese Szene sinnbildlich für eine Trennung des Paares stehen. In jedem Fall verdeutlicht sie, dass jegliche Zweisamkeit verflogen ist. Des Weiteren impliziert der Vergleich, dass das lyrische Ich nicht die einzige Person ist, dessen Liebesbeziehung gescheitert ist. Unabhängig davon, ob man die zum Vergleich herangezogenen Paare als tatsächliche Liebespaare oder als einzelne Menschen, denen das lyrische Ich eine gescheiterte Beziehung zuschreibt, versteht, wird somit das Ideal der ewigen Liebe und Partnerschaft dekonstruiert.

Das vorletzte Gedicht der Anthologie, Praktisch denken, kann auf zwei unterschiedliche Weisen gelesen werden. Zum einen kann es als Entsagung der leidenschaftlichen Liebe gedeutet werden. In diesem Fall ist das angesprochene „du“ (Stein 2018: 109) mit der Partnerin gleichzusetzen, der das lyrische Ich mitteilt, dass er die (emotionale und zeitliche) Investition in die Beziehung nicht mehr leisten wird und er daher „[d]ie eigene Leidenschaft / mit Kunstrasen“ bepflanzt, da dieser „pflegeleichter“ sei. Aufgrund der vorangegangenen Analysen erscheint diese Lesart jedoch nicht plausibel, da schon längst keine Leidenschaft mehr aufgekommen ist, die er, um in der Metapher zu bleiben, hätte bepflanzen können. Versteht man das „du“ (ebd.) allerdings nicht als ein angesprochenes Individuum, sondern vielmehr in Verbindung mit dem „weisst“ (ebd.) als eine allgemeine Gesprächsfloskel, die eine Rechtfertigung einleitet, so kann Praktisch denken als grundsätzliche Entsagung der Liebe aufgefasst werden. In diesem Fall wird also nicht die Leidenschaft in Bezug auf eine gewisse Person bepflanzt, also unterdrückt, sondern das Gefühl der Leidenschaft an sich.

Insgesamt kann festgehalten werden, dass in dem Maße, in dem die Karriere erfolgreich gestaltet wird, Beziehungen von Paaren scheitern. Diese Parallelen lassen sich aus soziliterarischer Perspektive als Kritik am neoliberalen Gesellschaftssystem lesen.

Gesellschaftskritik

Die Darstellung des Karriereaufstiegs in Verbindung mit dem Scheitern der Liebesbeziehung kann als Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft gelesen werden, die es nicht ermöglicht, eine berufliche Karriere und privates (Familien-)Glück zu vereinbaren. Eine solche kritische Einstellung spiegelt sich im zeitgenössischen Diskurs rund um die sogenannte Work-Life-Balance wider. Die neoliberale Ausrichtung der Gesellschaft, die weitestgehend internalisiert ist und damit den Zeitgeist bestimmt, wird in der Anthologie ironisch zugespitzt und so ad absurdum geführt. Gerade dies stößt eine kritische Reflexion des eigenen Lebens bei den Leser*innen an.

Bereits der Titel des ersten Gedichts, Weitermachen, kann als Anspielung auf den kontinuierlichen Leistungs- und Fortschrittsdruck gelesen werden, der zu einer gesellschaftlichen Mentalität eines ‚Höher-Schneller-Weiter‘ führt. Besonders die Bilder des Vorwärts-Lachens (vgl. Stein 2018: 8) und „in die Ferne [F]eiern[s]“ (ebd.) stellen den Fortschrittsgedanken in den Fokus. Der Vers „Unsere Träume sind an uns gescheitert“ (ebd.) zeigt die Folgen einer solch starken Zukunftsorientierung auf: Die Träume, die die Personen verfolgen, können nicht realisiert werden. Der Grund dafür liegt jedoch nicht in äußeren Einflüssen oder der Größe der Träume, sondern in den Träumenden, die die Träume zum Scheitern zwingen. Diese Perspektivumkehrung der Auffassung, dass Personen an ihren Träumen scheitern können, verdeutlicht, dass in dem Moment, in dem ein Traum realisiert werden kann, dieser schon längst die Emotionalität und Relevanz eines Traums verloren hat, da neue höhere Ziele in den Fokus gerückt sind. Diese Dynamik entkoppelt Träume von ihrer emotionalen Bedeutung, sodass sie ihren Traumstatus verlieren. Die Kritik betrifft somit die Lebenseinstellung der Menschen, die weniger auf emotionaler und intrinsischer Motivation beruht, als vielmehr auf rationaler Planung und ökonomischen Fortschrittsgedanken.

Dass diese Einstellung nicht nur Auswirkungen auf die Arbeitswelt als ökonomisches System, sondern auch Folgen für die in ihr arbeitenden Personen und deren Lebenswelt hat, wird in den folgenden Gedichten gezeigt, indem diese einen Zusammenhang zwischen dem Karriereaufstieg eines männlichen Mitarbeiters, des lyrischen Ichs, und seiner scheiternden Liebesbeziehung inszenieren (vgl. Karriereaufstieg und Scheitern der Beziehung).

Die Konsequenz, die das lyrische Ich aus dieser Erkenntnis zieht, ist zunächst ein Entsagen jeglicher Formen von zwischenmenschlicher Leidenschaft, wie sich in Praktisch Denken zeigt (vgl. Scheitern einer Beziehung). In Abschied, dem letzten Gedicht der Anthologie, wird mit Hilfe der Metapher eines Umzugs die vollständige Loslösung von der eigenen Persönlichkeit als Folge der neoliberalistischen Lebensführung dargestellt. Die erste Strophe „Ich ziehe in eine andere Realität um / und nehme nur / das Nötigste mit“ (ebd.: 110) lässt zunächst darauf schließen, dass dieses Gedicht an Praktisch Denken anschließt und die Entsagung der Liebe bzw. der Leidenschaft wiederaufgreift und in einer Wirklichkeitsflucht mündet. Durch den letzten Vers „mich nicht“ (ebd.) zeigt sich jedoch, dass Abschied diese Kritik weiterzuspitzt, indem aus der Entsagung jeglicher Leidenschaft und damit einer verstärkten Rationalisierung die Entindividualisierung folgt. Denn die eigene Person wird als unnötig zum Weiterleben in der neuen, rationalisierten, ökonomisierten Welt kategorisiert. Dies impliziert eine grundsätzliche Austauschbarkeit der Menschen, die durch die zunehmende Relevanz der Arbeitswelt und die damit einhergehenden Ökonomisierungstendenzen in der Lebenswelt zu entstehen scheint.

Setzt man dieses abschließende Gedicht in Beziehung zu der Behauptung aus Weitermachen, die Träume seien „an uns gescheitert“ (ebd.: 8), scheint die Lossagung von der eigenen Persönlichkeit als logischer Schritt, um Träume wieder erreichen zu können. Dies stellt jedoch einen Widerspruch in sich dar, da Träume eine Persönlichkeit voraussetzen, um Träume sein zu können und nicht bloße Zielvorgaben. Ebenso sind sie stark mit Emotionen verbunden. Diese paradoxe Lösung lässt die ironisch-kritische Grundhaltung erkennen, mit der Stein die zeitgenössische Gesellschaft und neoliberalistische Ausrichtung sowie zunehmende Ökonomisierung kritisiert.

Literaturverzeichnis

  • FAZ (2004): Karrieresprung. Burnout – Krankheit nicht nur der Führungskräfte. Online: https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/karrieresprung-burnout-krankheit-nicht-nur-der-fuehrungskraefte-1177612.html [zuletzt abgerufen am 11.03.2021].
  • Neuhaus, Stefan (2017): Was kommt nach der romantischen Liebe? Codierung von Intimität im Liebesroman der Gegenwart. In: Pokrywka, Rafal (Hrsg.): Der Liebesroman im 21. Jahrhundert. Würzburg: Könighausen & Neumann, S.119-138.
  • Reinhardt-Becker, Elke (2005): Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Lite­ratur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit. Frankfurt am Main: Campus.
  • Spinner, Kaspar Heinrich (1969): Der Mond in der deutschen Dichtung. Von der Aufklärung bis zur Spätromantik. Bonn: Bouvier.
  • Stein, Roger (2018): Business-Lyrik. Komische Poesie im Beifall des Absurden. Zürich: Freiflug Verlag.

 

 

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