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Prof. Dr. med. Dr. rer. nat.
Hans-Werner Denker
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Hans-Werner Denker – Universität Duisburg-Essen Deutsche Version English Version

Patentierung von Stammzellen (November 2011)

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Kommentar

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg hat am 18. Oktober 2011 eine Grundsatzentscheidung zur Patentierung von Stammzellen getroffen, die weitreichende Konsequenzen haben wird: Stammzellen, deren Erzeugung die Zerstörung von menschlichen Embryonen einschließt bzw. erfordert hat (Embryonale Stammzellen, ES-Zellen), sind nicht patentierbar. Betroffen sind auch abgeleitete Verfahrenspatente, die die Verwendung solcher Zellen zum Gegenstand haben. Durch parthenogenetische Entwicklungsanregung aus Oozyten erzeugte Embryonen werden endlich (in Übereinstimmung mit dem, was uns die Embryologie lehrt) in dieser Hinsicht gleich eingestuft wie solche, die aus einer Befruchtung hervorgegangen sind. Diese Entscheidung muss nun bei der Bearbeitung von Patentanträgen zumindest auf europäischer Ebene berücksichtigt werden. Auch wird sie die nationale Gesetzgebung in den Mitgliedstaaten der EU beeinflussen müssen. Zur Erinnerung: Hintergrund für diese Entscheidung war eine Klage von Greenpeace gegen ein Stammzell-Patent von Oliver Brüstle, die durch mehrere Instanzen gegangen war und schließlich vom Bundesgerichtshof (BGH) zur Entscheidung von Grundsatzfragen dem EuGH vorgelegt wurde.

Die jetzige Grundsatzentscheidung des EuGH hat in der Presse ein großes Echo hervorgerufen. Vonseiten etlicher Stammzellforscher (insbesondere verständlicherweise solcher, die selbst einschlägige Stammzellpatente besitzen) ist ein entsetzter Aufschrei zu hören. Sie wiederholen damit den Tenor eines Protests, der schon vor der Entscheidung des EuGH an sehr prominenter Stelle publiziert worden war, offenbar um den EuGH zu beeinflussen (A. Smith et al.: ‚No‘ to ban on stem-cell patents. Nature 472 (7344): 418, 2011), ein Vorgang, der nachdenklich machen muss, denn dadurch hat diese hoch angesehene Zeitschrift einseitig Stellung bezogen. Dieser Protest von Smith et al. richtete sich gegen die zuvor veröffentlichten Schlussanträge des Generalanwalts des EuGH, Yves Bot (EuGH-Pressemitteilung Nr. 18/11 vom 10. März 2011). Anstatt aber auf dieser Basis weiter zu denken und in die Zukunft zu blicken, wie z.B. von Søren Holm und mir angeregt wurde (H.-W. Denker and S. Holm: Patenting and stem cell pluripotency. Comment to the open letter by A. Smith et al.; Nature 472: 418, 2011; Online Comment #22079. PDF-Download (6,56 KB)   Nature Website), tun die meisten der Kommentatoren nun so, als käme die Entscheidung des EuGH ganz unerwartet und als sei sie unverständlich.

Wer die Publikationen, die ich seit vielen Jahren zur Ethik des Umgangs mit „pluripotenten“ Stammzellen herausgebracht habe, gelesen hat, muss sich über den Aufschrei dieser Autoren wundern und fragt sich, wie es dazu kommen konnte, dass ihr Denken so einseitig kanalisiert wurde. Die Entscheidung des EuGH kommt nämlich überhaupt nicht überraschend und unerwartet, wie etliche dieser Kommentatoren nun behaupten, und sie ist durchaus gut begründet. Die Stammzellforscher und die Unternehmen, die hier investieren und Patente anmelden wollen, wären gut beraten gewesen, schon beizeiten die sich abzeichnende Entwicklung zu berücksichtigen. Die Blauäugigkeit, die hier dominiert hat, muss wirklich erstaunen.

Ich habe schon seit einigen Jahren auf die ethische Problematik des Umgangs mit embryonalen Stammzellen hingewiesen und expressis verbis – seit 2004 – herausgestellt, dass dies auch die Patentierung betrifft. Dabei habe ich mich nicht nur auf die Zerstörung von Embryonen bei der Herstellung von ES-Zellen bezogen. Ich habe vorhergesagt und wiederhole das nun, dass die Entwicklung dahin gehen wird, dass über dieses unbestreitbare Problem hinaus die Potentialität der Zellen ins Visier genommen werden muss. Dies wird sich vor allem nicht mehr umgehen lassen, seit die Forschung sich auf die Induktion von Stammzelleigenschaften in somatischen Zellen konzentriert (induzierte Pluripotente Stammzellen, iPS-Zellen). Es ist sollte selbstverständlich sein, dass menschliche Zellen, die durch die Reprogrammierung eine „volle“ Pluripotenz erworben haben („fully pluripotent iPS cells“), als nicht patentierbar gelten müssen, weil solche Zellen die Möglichkeit zum direkten Klonen lebensfähiger Individün per tetraploider Komplementierung erworben haben. Dieses Argument habe ich in meinen Publikationen ausführlich entwickelt. Ich bin sicher, dass die Patentgesetzgebung sich in Zukunft nicht anders wird verhalten können, als dieses Argument sogar als zentral anzusehen und entsprechend zu berücksichtigen.

Die Forscher und die hier investierenden Unternehmen müssen aber durchaus nicht in Panik geraten, wie das einige der nach dem EuGH-Urteil erschienene Kommentare an die Wand malen: Wie ich auch schon mehrfach geschrieben habe, bieten sich durchaus Auswege aus dem Dilemma an, wenn man in intelligenter Weise den Kenntnisstand der modernen Säugetier-Entwicklungsbiologie einbringt und die Strategien zur Induktion von Stammzelleigenschaften in geeigneter Weise modifiziert. Pluripotenz zu induzieren, ist im patentrechtlichen Sinn falsch (weil in Konflikt mit der Ethik, s.o.). Wie eine zunehmende Zahl von Publikationen zeigt, ist es tatsächlich möglich, bei der Stammzellinduktion den Erwerb von („voller“) Pluripotenz zu vermeiden (Stichwort „circumventing pluripotency“). Warum also all die Aufregung? Wir sollten nicht nur/nicht in erster Linie auf diejenigen hören, die in der Vergangenheit traditionelle ES-Zell-Patente erworben haben und nun vordergründig besorgt sind, weil hier ihre pekuniären Interessen gefährdet sind. Wir sollten uns das, was die Entwicklungsbiologie an Erkenntnissen zu bieten hat, endlich zunutze machen und in ethisch verantwortlicher Weise voran denken statt zurück zu schauen.

Liste der Publikationen

PDFs meiner Arbeiten zum Thema Ethik des Umgangs mit menschlichen ES- und iPS-Zellen und zur Patentierungsproblematik finden sich auf dieser Website in der Liste der Publikationen zum Forschungsgebiet Stammzellen & Bioethik.
Besonders relevant für die Patentierungsproblematik sind die folgenden Arbeiten:

Hinweis: Zum Öffnen der PDF-Dokumente benötigen Sie einen geeigneten PDF-Betrachter (z.B. Adobe Reader).

DENKER, H.-W.:
iPS cells: Ethical problems solved?
(Lecture) 22nd European Students' Conference, Charité Berlin, 23 September 2011.
PDF-Download (924 KB)   Abstract (4,23 KB)

DENKER, H.-W., HOLM, S.:
Patenting and stem cell pluripotency.
(Kommentar zu: SMITH, A.: 'No' to ban on stem-cell patents. Nature 472, 418, 2011. DOI: 10.1038/472418a)
Nature 472: 418, 2011; Online Comment #22079.
PDF-Download (6,56 KB)   Nature Website

DENKER, H.-W.:
Induced pluripotent stem cells: How to deal with the developmental potential.
Reproductive BioMedicine Online 19 Suppl. 1: 34-37 (2009). PubMed   PDF-Download (287 KB)

DENKER, H.-W.:
Totipotency/pluripotency and patentability.
Stem Cells 26: 1656-1657 (2008). PubMed   Stem Cells   PDF-Download (14,4 KB)

DENKER, H.-W.:
Human embryonic stem cells:
The real challenge for research as well as for bioethics is still ahead of us.

Cells Tissues Organs 187: 250-256 (2008). PubMed   PDF-Download (155 KB)

DENKER, H.-W.:
Potentiality of embryonic stem cells: an ethical problem even with alternative stem cell sources.
Journal of Medical Ethics 32: 665-671 (2006). PubMed   PDF-Download (131 KB)

DENKER, H.-W.:
Die Potenz von menschlichen ES-Zellen als Argument gegen ihre Patentierbarkeit.
Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Bd. 9 (L. Honnefelder u. C. Streffer, Eds.). Walter de Gruyter, Berlin/New York, 2004, pp. 367-371. PDF-Download (8,75 MB)
English Abstract (0,99 MB): The developmental potential of human embryonic stem cells argues against their patentability

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