Informationen zum Forschungsprojekt

Bewertung der SGB II-Umsetzung aus gleichstellungspolitischer Sicht



Ziel und Aufgabenstellung

Mit der Einführung des SGB II waren rechtliche Regelungen verbunden, die die Rahmenbedingungen für das Ziel der Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsmarkt verändert haben und diesbezüglich Chancen und Risiken beinhalten. So besteht einerseits die Gefahr, dass die ökonomische Abhängigkeit der Frau vom (Haupt-) Ernährer und ihre Zuverdienerrolle durch die veränderten Regelungen bezüglich des Zugangs zu SGB-II-Leistungen gestärkt werden. Andererseits erwächst die Chance, dass sich durch eine neu definierte Aktivierungspolitik, die für Hilfebeziehende faktisch keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Erwerbsbeteiligung mehr kennt, positive Wirkungen für die Unterstützung der Arbeitsmarktintegration von Frauen ergeben können. Die Orientierung an dem neuen ‚geschlechtsneutralen' Leitbild und die Forderung, gendergerecht und gleichstellungsorientiert zu handeln, stellt die Träger der Grundsicherung dabei vor große Herausforderungen. Sie müssen in einer durch geschlechtsspezifische Ungleichheiten geprägten Realität die gesetzlich vorgeschriebenen Dienstleistungen so entwickeln und anbieten, dass sie nicht zu erneuter Reproduktion oder gar Verstärkung traditioneller geschlechtstypischer Arbeitsteilung beitragen, sondern dazu beitragen, diese schrittweise zu überwinden. Das Projekt untersuchte, inwieweit dieses übergeordnete Ziel erreicht wird.

Vorgehen

Die Untersuchung stützte sich zum einen auf die Zusammenschau von Forschungsergebnissen anderer Studien, die im Rahmen des gesetzlichen Evaluationsauftrags nach § 55 und 6c SGB II vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert werden. Ergänzt wurden diese in begrenztem Umfang durch eigene Auswertungen von Befragungsdaten bzw. Prozessdaten der BA und der Grundsicherungsträger. Darüberhinaus wurden auch eigene empirische Erhebungen durchgeführt, um vertiefte Informationen in Bezug auf das Organisationshandeln im Aktivierungsprozess und in Bezug auf die Gründe für mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich Zugang, Selektivität und Auswirkungen von Eingliederungsleistungen zu gewinnen. Zu diesem Zweck wurden 10 Intensivfallstudien bei ausgewählten Grundsicherungsträgern durchgeführt. Diese umfassten die Beobachtung von Beratungsgesprächen, Gruppendiskussionen und Interviews mit Leitungskräften, Fallbearbeiter/innen, Bildungsträgern und ALG II-Beziehenden. Um die Verbreitung, Ausgestaltung und den Stand der Umsetzung gleichstellungspolitischer Strategien und Konzepte zu erfassen, wurde darüber hinaus eine E-Mail-Befragung der für Chancengleichheit/Gender Mainstreaming zuständigen Personen bei den Trägern der Grundsicherung durchgeführt.

Ausgewählte Ergebnisse

Das Ziel der Gleichstellung der Geschlechter prägt die Umsetzungspraxis nur begrenzt. Insbesondere Frauen in Westdeutschland und Frauen mit Kindern nehmen im Vergleich zu Männern seltener an Fördermaßnahmen teil. Wenn sie aus dem Hilfebezug ausscheiden, liegt das häufig nicht daran, dass sie eine existenzsichernde Beschäftigung annehmen, sondern dass der Partner einen Job findet und das Einkommen für die Bedarfsgemeinschaft erarbeitet. Jede zweite Beschäftigung, die von weiblichen Hilfebedürftigen aufgenommen wird, ist lediglich ein Minijob. Demgegenüber wechseln Männer häufig in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.

Diese unterschiedlichen Integrationswege wirken sich auch auf die materielle Situation aus: Weil Minijobs meist "aufgestockt" werden müssen, kombinieren Frauen über einen längeren Zeitraum Hilfebezug und Erwerbstätigkeit. Durch die Freibeträge aus dem Erwerbseinkommen und weitere (nicht-anrechenbare) Transfers wie Elterngeld liegt das verfügbare Einkommen von weiblichen Hilfebedürftigen im Durchschnitt über dem der männlichen. Dennoch gaben Frauen häufiger an, auf wichtige Güter des Lebens aus finanziellen Gründen verzichten zu müssen. Eine Erklärung hierfür ist darin zu suchen, dass deutlich mehr als die Hälfte der weiblichen Hilfebedürftigen in Haushalten mit Kindern lebt, während dies nur auf ein Drittel der Männer zutrifft. Damit sind Frauen auch stärker davon betroffen, wenn die Regelsätze für Kinder zu niedrig sind, wie mehrere fachliche Expertisen ausweisen. Auch die bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen überdurchschnittlichen Sanktionsquoten dürften sich stärker auf die finanzielle Situation von Frauen auswirken, weil davon auszugehen ist, dass Kürzungen die gesamte Bedarfsgemeinschaft zum Sparen zwingen.

Die Ursachen für die geschlechtsspezifischen Integrationswege und die geringe Nachhaltigkeit der Arbeitsaufnahmen beider Geschlechter sind vielfältig und liegen auch in Arbeitsmarktstrukturen und tradierten Rollenmustern der ALG II-Beziehenden begründet. Die Untersuchung identifiziert allerdings auch gesetzliche und administrative Mängel als Hintergründe. Eine insgesamt schwach ausgeprägte gleichstellungspolitische Steuerung steht Rahmenbedingungen gegenüber, die dem Nachteilsausgleich auf operativer Ebene enge Grenzen setzen. Weil eine entsprechende gesetzliche Vorgabe - anders als im SGB III - fehlt, gab es z.B. Ende 2007 nur in sehr wenigen Grundsicherungsstellen hauptamtliche Gleichstellungsbeauftragte. Mit Ausnahme von zielgruppenspezifischen Maßnahmeangeboten (z.B. für Alleinerziehende) war auch die konzeptioneller und prozedurale Verankerung des Gleichstellungsziels schwach ausgeprägt.

In hohem Maße blieb es daher den Fachkräften auf operativer Ebene überlassen, Strategien zur Umsetzung der gleichstellungspolitischen Ziele zu entwickeln. Dem standen allerdings nicht nur die knappen personellen Ressourcen gegenüber, sondern auch Zielkonflikte mit den prozedural stark verankerten Effektivitäts- und Effizienzzielen sowie zum Teil auch mangelnde Kompetenzen im Umgang mit geschlechtsspezifischen Problemlagen. Kinderbetreuungsaufgaben etwa wurden eher als zeitliche Einschränkungen für Frauen angesehen und akzeptiert, anstatt diese zum Anlass zu nehmen, gezielte Hilfestellungen bei der Suche nach einer externen Betreuungsmöglichkeit zu geben. Eine solche Beratung und Unterstützung erfolgte auch seltener, als von den ALG II-Beziehenden selber gewünscht. Minijobs wurden in diesem Kontext häufig als eine der Lebenssituation angemessene Form der Erwerbstätigkeit von Müttern angesehen. Die grundsätzliche Ausrichtung des Aktivierungsprozesses an Wirtschaftlichkeitskriterien beschränkte zudem den Einsatz von Qualifizierungsmaßnahmen, die gerade für Frauen mit längeren Erwerbsunterbrechungen ein wichtiges Element des Nachteilsausgleichs darstellen.

Dort, wo weitergehende Ansätze und Strategien entwickelt wurden, um diesen und weiteren Gleichstellungshindernissen entgegen zu wirken, ließen sich als förderliche Faktoren ein individuelles Engagement von Gleichstellungsbeauftragen oder einzelnen Fachkräften, Leitungsentscheidungen oder Anstöße von außen (kommunale Akteure, BA oder BMAS) identifizieren.

Projektbeteiligte

Neben dem IAQ warn an der Durchführung des Projektes noch zwei weitere Forschungsreinrichtungen beteiligt:

Die Forschungs- und Kooperationsstelle Arbeit, Demokratie und Geschlecht an der Philipps-Universität Marburg (GendA), und das Forschungsteam Internationaler Arbeitsmarkt GmbH (FIA) in Berlin.

Das Projekt ist Bestandteil eines größeren Verbundes an Forschungsprojekten, die im Rahmen des gesetzlichen Evaluationsauftrags nach § 55 und 6c SGB II vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert werden.

Publikationen zum Projekt

Worthmann, Georg, 2010: After labour market reform: welfare-to-work and personalisation in Germany. In: Dalia Ben-Galim und Alice Sachrajda: Now it’s personal: learning from welfare-to-work approaches around the world, pp. 16–20 | Lesen

Institut Arbeit und Qualifikation / Forschungsteam Internationaler Arbeitsmarkt / GendA – Forschungs- und Kooperationsstelle Arbeit, Demokratie, Geschlecht, 2009: Bewertung der SGB II-Umsetzung aus gleichstellungspolitischer Sicht: Evaluation der Wirkungen der Grundsicherung nach § 55 SGB II. Abschlussbericht. Claudia Weinkopf (Koordination), Projektteam IAQ, FIA, GendA. Berlin: Bundesministerium für Arbeit und Soziales. BMAS-Forschungsbericht 396 | Lesen

Jaehrling, Karen, 2009: Mindestlöhne, Kombilöhne, Grundsicherung – welche Lösungsvorschläge führen (Frauen) aus der Prekarität? In: Programmierte Frauenarmut? Armutsrisiken von Frauen im Lebensverlauf: Problemanalysen und Lösungsstrategien. Fachtagung in der Bremischen Bürgerschaft 17. Juni 2008. Forum 3: Arbeitslosigkeit und Beschäftigung, S. 68–75

Jaehrling, Karen, 2009: Aktivierung oder Exklusion? Genderrelevante Befunde zu Zugangschancen und Erwerbspflichten im SGB II. In: Sigrid Betzelt, Joachim Lange und Ursula Rust: Wer wird "aktiviert" – und warum (nicht)? Erste Erkenntnisse zur Realisierung der gleichstellungspolitischen Ziele des SGB II, S. 111–141

Jaehrling, Karen, 2009: Gleichstellung und Aktivierung – Wahlverwandtschaft oder Stiefschwestern? In: Silke Bothfeld, Werner Sesselmeier und Claudia Bogedan: Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft: vom Arbeitsförderungsgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III, S. 147–162

Hieming, Bettina, 2008: Mindestlohn statt Niedriglohn – Ausweg aus der Ungleichheit?! In: Arbeitest du noch oder verdienst du schon? Zur Einkommensungleichheit zwischen den Geschlechtern; Fachkonferenz des Frauenreferats, 11. Dezember 2007 in Frankfurt am Main ; Dokumentation, S. 28–33

Institut Arbeit und Qualifikation / Forschungsteam Internationaler Arbeitsmarkt / GendA – Forschungs- und Kooperationsstelle Arbeit, Demokratie, Geschlecht, 2007: Bewertung der SGB II-Umsetzung aus gleichstellungspolitischer Sicht: Evaluation der Wirkungen der Grundsicherung nach § 55 SGB II. Jahresbericht 2007 des Gender-Projekts, Kurzfassung 5. Oktober 2007. Gelsenkirchen: Inst. Arbeit und Qualifikation

Vorträge zum Projekt

Dr. Angelika Kümmerling: Arbeitszeiten von Männern und Frauen – alles wie gehabt? Daten und Fakten in Ost- und Westdeutschland“. Bezirksfrauenkonferenz der IG-Metall. Leipzig, IG-Metall, 22.06.2016

Dr. Karen Jaehrling: Grundsicherung und Geschlecht - Befunde und Denkanstöße aus der Evaluationsforschung. Veranstaltungsreihe "Menschenwürdiges Existenzminimum und soziale Teilhabe". Berlin, Diakonie Deutschland, 04.06.2014

Bettina Hieming: Fünf Jahre Hartz IV – Was hat's den Frauen gebracht? Die Umsetzung des SGB II aus gleichstellungspolitischer Sicht. Freiburg, Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt (KDA) Südbaden, 11.03.2010

Dr. Georg Worthmann: Die Umsetzung des SGB II aus gleichstellungspolitischer Sicht. Informationsnetzwerk Bildung und Beschäftigung Wuppertal, Wuppertal, 02.03.2010  Vortragsfolien

Dr. Claudia Weinkopf: Bewertung der SGB II-Umsetzung aus gleichstellungspolitischer Sicht. Workshop "Gleichstellungspolitik und der Umgang mit Personen mit Migrationshintergrund als Herausforderungen für die Umsetzung des SGB II“ . Berlin, Berlin, BMAS, 01.12.2009

Bettina Hieming: Bewertung des SGB II aus gleichstellungspolitischer Sicht. Mitgliederversammlung/Herbsttreffen der BAG "Berufliche Perspektiven für Frauen" . Berlin, GLS -Campus, Bundesarbeitsgemeinschaft Berufliche Perspektiven für Frauen e.V., 26.11.2009

Dr. Karen Jaehrling: Grundeinkommen - eine Lösung für alles? Entwicklungen in der Arbeitsgesellschaft und soziale Grundsicherung: Bewertungen und Forderungen aus der Perspektive von Frauen. Paderborn, INVIA, 11.11.2009

Dr. Claudia Weinkopf: Die Umsetzung des SGB II aus gleichstellungspolitischer Sicht. Chancen und Risiken im Rahmen der Umsetzung von SGB II: Fachtagung "Frauen steigen wieder ein". Kurhaus Bad Hamm, Kommunales JobCenter Hamm, 28.10.2009

Dr. Karen Jaehrling: Geschlechtergerechtigkeit in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik (gestern, heute und morgen ...). Geschlecht, Gerecht, Genial! - Gender Messe. Berlin, Ver.di-Bundesverwaltung, Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di), 19.10.2009

Dr. Karen Jaehrling: Niedriglohn hat ein Geschlecht. Frauen - Arbeit - Armut. Dritte Konferenz zu "Armut in einem reichen Land". Kiel, St. Nikolaikirche, Frauenreferat der Stadt Kiel, DGB, KDA, VAMV u.a., 10.09.2009

Dr. Georg Worthmann: Activation of unemployed and jobseekers. Impact of the labour market and benefit reform in Germany. Activation and Security. A conference organised by ASPEN, ETUI* and Masaryk University. Brno, Czech Republic, Faculty of Social Studies, Masaryk University, 21.03.2009

Dr. Karen Jaehrling: Aktivierung oder Exklusion? Wichtigste Gender-Befunde zu Zugangschancen und Erwerbspflichten. Wer wird "aktiviert" - und warum (nicht)? . Evangelische Akademie Loccum, Zentrum für Sozialpolitik (ZeS); Bremer Institut für deutsches, europäisches und internationales Gender-, Arbeits- und Sozialrecht (bigas), 29.09.2008

Dr. Claudia Weinkopf: Niedrig- und Mindestlöhne aus gleichstellungspolitischer Perspektive. Gleichstellungstagung 2008: Gute Arbeit aus der Gleichstellungsperspektive. Berlin, Düsseldorf, Hans-Böckler-Stiftung, 25.09.2008

Bettina Hieming: Arm(ut) beschäftigt: Frauen im Niedriglohnsektor. Gleichstellung – keine Frage! Die Eigenständige Existenzsicherung ist unser Ziel. Frauenkonferenz von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN. Nürnberg, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN, 21.09.2008

Bettina Hieming: Arm trotz Arbeit. Niedrig- und Mindestlöhne aus Frauenperspektive. Historisches Kaufhaus, Münsterplatz in Freiburg, DGB Region Südbaden Hochrhein, Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt und Kontaktstelle Frau und Beruf, 11.03.2008

Bettina Hieming: Mindestlohn statt Niedriglohn - Ausweg aus der Ungleichheit? Arbeitest Du noch oder verdienst Du schon?. Frankfurt/Main, Haus am Dom, Frauenreferat Stadt Frankfurt am Main, 11.12.2007

Dr. Karen Jaehrling: Genderspezifische Auswirkungen des SGB II. Drei Jahre SGB II - Was können wir wissen? Was sollen wir tun? Was dürfen wir hoffen?. Loccum, Evangelische Akademie Loccum in Kooperation mit dem Institut für Arbeitsmarkt - und Berufsforschung (IAB), Nürnberg, 10.12.2007

Bettina Hieming: Mindestlöhne aus Genderperspektive. Aschenputtels Portmonee - Frauen verdienen mehr. Düsseldorf, DGB-Haus, DGB Bezirk NRW, 10.11.2007

Dr. Georg Worthmann: Wer integriert am Besten? Organisationen für Arbeitssuchende und die Integration in Beschäftigung unter veränderten Rahmenbedingungen. Fachtagung "Arbeitsmarkt braucht Beratungskompetenz!". Essen, Zeche Zollverein, Deutsche Gesellschaft für Supervision, 12.10.2007  Vortragsfolien

Dr. Claudia Weinkopf: Wirkungsforschung im SGB II - Konzepte und erste Ergebnisse. Impulse geben - mehr bewegen: Bundeskongress SGB II. Berlin, Estrel Hotel, Bundesagentur für Arbeit, 02.10.2007

Projektdaten

Laufzeit des Projektes
01.11.2006 - 30.06.2009

Forschungsabteilung

Leitung:
Dr. Claudia Weinkopf,Dr. Karen Jaehrling

Bearbeitung:
Bettina Hieming,Dr. Georg Worthmann,Dr. Thorsten Kalina

Finanzierung:
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS)