Frankfurt und SchUM-Städte

„… Ich aber komme nur, um den einfachen Wortsinn des Bibelverses anzuführen.“ (Raschi, Kommentar zu Gen 3,8)

Sogenannte Raschi-Kapelle der Synagoge in Worms

Exkursion nach Frankfurt und zu den SchUM-Städten: 19-22. Mai 2017 Auf den Spuren von Raschi

„Wie sehr gehören unsere Lehrer in Mainz, in Worms und in Speyer zu den gelehrtesten der Gelehrten, zu den Heiligen des Höchsten … von dort geht die Lehre aus für ganz Israel … Seit dem Tage ihrer Gründung richteten sich alle Gemeinden nach ihnen, am Rhein und im ganzen Land Aschkenas.“ (Rabbi Isaak ben Mose, genannt Isaak Or Sarua, gest. ca. 1250).

Im Mittelalter entwickeln sich die drei Städte Speyer (Schpira), Worms (Warmaisa) und Mainz (Magenza) zum Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. Zentrale Figur ist der um 1040 in Troyes geborene Rabbi Schlomo ben Jizchak (Raschi), der als Meister des Peschat, des einfachen Wortsinns gilt und dessen Kommentare bis heute in jeder Ausgabe des Babylonischen Talmud abgedruckt werden. Ab 1060 studierte er in Mainz und Worms. Zwar verloren die Städte nach Pogromen und Vertreibungen ihre überregionale Bedeutung, die dort entstandenen Kommentare und poetische Texte sind jedoch nachwievor relevant. Auch in Frankfurt leben seit 900 Jahren Juden und bestimmen die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Stadt. 1462 entsteht dort mit der Judengasse das erste Ghetto Europas. Frankfurt ist auch Ort der jüdischen Emanzipation im 19. Jh. und Wiege des Reformjudentums und der Neoorthodoxie. Heute gehört die Frankfurter Jüdische Gemeinde zu den vier größten deutschen Gemeinden.

Die Exkursion bewegt sich auf den Spuren der mittelalterlichen Gemeinden und folgt dem Emanzipationsprozess im 19. Jh. Mit Besuchen der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt und der Teilnahme am jüdischen Gebet will sie auch einen Einblick in gelebtes Judentum heute geben. Am Montagabend besteht die Möglichkeit, das interreligiöse Tehillim-Projekt kennenzulernen.

Bericht nach der Exkursion Auf den Spuren von Raschi Oder: 1000 Jahre deutsch-jüdische Geschichte in vier Tagen

Während sich viele Studierende den Freitag tatsächlich „unifrei“ halten – oder wenigstens keine Veranstaltungen vor 10:00 Uhr morgens belegen –, machte sich am Freitag, den 19. Mai 2017, in aller Frühe unsere Gruppe von gerade mal vierzehn Leuten auf, Frankfurt am Main und die SchUM-Städte Speyer, Worms und Mainz zu erkunden. Bereits nach dem arbeitsintensiven Vorbereitungswochenende war klar: Es wird spannend, aber auch anstrengend. „Es ist eine Exkursion und kein Urlaub!“ – diese Verkündung tat jedoch der Motivation, der Begeisterung und dem Wissensdurst aller Mitreisenden keinen Abbruch, ganz im Gegenteil.

 

Zur Erklärung: Das Wort SchUM (hebr. שום) ist ein Akronym aus den Anfangsbuchstaben der hebräischen Namen der mittelalterlichen Städte Schpira (Speyer), Warmaisia (Worms) und Magenza (Mainz). Das Waw (hebr. ו) kann auch als Trägerbuchstaben für Vokale, so auch für das <u> stehen, wodurch sich die Leseweise SchUM ergibt.

 

In Frankfurt führten uns unsere Wanderungen in einige geschichtsträchtige Gegenden der Stadt, so auch an das Ende der früheren Judengasse, wo sich der zweitälteste jüdische Friedhof Deutschlands, der Friedhof Battonstraße, und das 2016 neu eröffnete Museum Judengasse befinden. Dieser historische Friedhof war der erste von insgesamt fünf Friedhöfen, die wir uns im Laufe der Exkursion ansehen würden. Eine Besonderheit: Entlang der Außermauer befinden sich knapp 12.000 kleine Steindenkmäler, die an die Opfer der Shoah erinnern. Beim näheren Hinsehen erkennt man auf jedem der Steine Namen und wird sich so noch einmal eines jeden Einzelnen von den unmenschlich vielen Toten bewusst.

Nach einem kleinen Museumsrundgang verdunkelte sich der Himmel, was unsere Gruppe jedoch nicht daran hinderte, auch im strömenden Regen mit einer durchweichten Karte auf dem zweiten Friedhof der Reise nach den entlegensten Grabsteinen zu suchen. Sichtlich zufrieden, wenn auch nass bis auf die Knochen, erreichten wir unser letztes Tagesziel: Die Feier der Kabbalat Shabbat in der Frankfurter Westend-Synagoge, bei der wir einem sehr talentierten Kantor lauschen durften.

Im Regen am Grab von Simson Raphael Hirsch in Frankfurt

Gruppenfoto vor der Synagoge in Mainz

Unser zweiter Tag führte uns weiter nach Mainz, der ältesten der SchUM-Städte, direkt zur 2010 neu eröffneten Synagoge. Diese Synagoge ist das einzige Gebäude mit der Adresse Synagogenplatz, die extra angelegt wurde, damit die Synagoge nicht weiterhin zu der angrenzenden Hindenburgstraße zählt. Besonders die Architektur der Synagoge brachte uns zum Staunen. Von rechts nach links lassen sich fünf hebräische Buchstaben erkennen, die das Wort kedusha, auf Deutsch „Segensspruch“, ergeben.

Auch in Mainz sind wir es nicht müde geworden, uns noch mehr Steine und auch den ältesten jüdischen Grabstein im Landesmuseum von Mainz anzusehen. Weiter trugen uns unsere langsam müden Füße in die Stephanskirche. Das auffällige Kennzeichen dieser Kirche sind die blauen Fenster, die eigens von Marc Chagall ab 1978 gestaltet worden sind, obwohl sich dieser geschworen hatte, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen.

Spätnachmittags besichtigten wir eine Hinterhofsynagoge in Weisenau mit zwei dazugehörigen Mikwaot. Die Synagoge wurde im 18. Jahrhundert erbaut und ist die einzige, die die NS-Zeit überdauerte. Sie ist ein wahrer Geheimtipp!

Nur weil wir am Shabbat (Samstag) keine Friedhöfe besuchen durften, hieß das jedoch nicht, dass wir den Besuch der beiden jüdischen Friedhöfe in Mainz nicht auch noch am Sonntag nachholen konnten! Daher lief unser Weg zunächst zum Neuen jüdischen Friedhof, wo ein wunderschön renoviertes Waschhaus vor unseren Augen in der Sonne funkelte. Dahinter erstreckten sich die Grabreihen, die eine kontrastreiche Mischung aus orthodoxen, liberalen und russischen Grabsteinen boten. Dagegen glich Alte Friedhof in der Mombacher Straße dem Frankfurter Friedhof in der Battonstraße. Der Zahn der Zeit, aber auch die Auswirkungen des nationalsozialistischen Regimes hatten hier deutliche Spuren hinterlassen.

Alter Friedhof in der Mombacher Straße in Mainz

Die Raschi-Kapelle in Worms

Somit war die Hälfte der Reise geschafft, und wir saßen im Zug nach Worms. In der Wormser Innenstadt erwartete uns eine der ältesten Synagogen Deutschlands, die im 11. Jahrhundert den Kern des Judenviertels ausmachte. Ein besonderes Highlight ist die angebaute Raschi-Kapelle, die Juden und Jüdinnen aus der ganzen Welt anzieht. Einmal auf dem Stuhl von einem der, wenn nicht sogar dem wichtigsten Lehrer des Talmuds zu sitzen, ist ein unbedingtes Muss. Das kleine Detail, dass diese Kapelle erst knapp 500 Jahre nach Raschis Leben gebaut wurde, kann dabei getrost vernachlässigt werden.

Nach einem Besuch des Friedhofs Heiliger Sand, der als ältester jüdischer Friedhof in ganz Europa zählt, blieb noch Zeit, um einen kurzen Abstecher in den Dom zu machen, bevor wir den Abend entspannt ausklingen lassen konnten.

Schneller als gedacht brach mit dem Montagmorgen auch unser letzter Reisetag an. Mittlerweile doch ein wenig erschöpft standen wir kurz nach unserer Ankunft in Speyer vor einer Garage, mitten in einem Wohngebiet. Kein Schild, keine noch so kleine Inschrift deutete darauf hin, dass besagte Garage ursprünglich das Taharahaus, das Leichenwaschhaus des dort ansässigen jüdischen Friedhofs war, von dem heute nicht die geringste Spur mehr übrig ist.

Den Gegensatz dazu bildet die Synagoge Beith-Shalom, die erst knapp 70 Jahre nach der Reichspogromnacht, in der die vorige Synagoge zerstört wurde, im Jahr 2008 ihre Grundsteinlegung hatte. Sie glänzt mit den Zehn Geboten, eingelassen in goldene Platten auf schwarzem Grund und dem Davidsstern über dem Eingang und bietet von innen eine schöne Kombination aus modernen Elementen und Erinnerungen.

Unsere Tour verlief durch Speyers Innenstadt, zu den Ruinen der vergangenen Synagoge, einer noch immer intakten Mikwe, aber auch zum Kaiser- und Mariendom, der die größte noch erhaltene, romanische Kirche der Welt ist.

Den Anfang wie auch den Abschluss dieser geschichtsträchtigen Reise bildete die Stadt Frankfurt. Erschöpft, aber erfüllt von den vielen Eindrücken, besuchten wir das Konzert des Interreligiösen Chor Frankfurts (IRCF), unter der Leitung der evangelischen Kantorin Bettina Strübel und des jüdischen Chasan Daniel Kempin. Auf vielfältige Weise, sei es durch verschiedene Stimmen und Melodien oder unterschiedliche Sprachen, ließen wir uns den Psalm 139 näherbringen, der das neunte Projekt in der Reihe der Tehillim-Konzerte ausmachte. Beseelt von Musik traten wir nach vier anstrengenden und erlebnisreichenden Tagen montagnachts unsere Heimreise an.

Vier Städte in vier Tagen, vier Geschichten verknüpft zu einer – unserer! Um ein spannendes Abenteuer zu erleben, reicht es manchmal schon, wenn man sich im eigenen Land auf Spurensuche begibt. Knapp eintausend Jahre deutsch-jüdische Geschichte zeigten sich in Frankfurt, Speyer, Worms und Mainz in ihrer Größe!

(Isabel Werner)