Platon

 

 

Ion

 

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[Die dichterische Inspiration]

 

SOK. Hast du nun wol je einen gesehen, der stark darin ist zu zeigen, was Polygnotos gut malt und was nicht, von andern Malern aber es nicht kann? und wenn Jemand Werke von andern Malern vorzeigt, dann schlummert und verlegen ist, und seinerseits nichts beizubringen hat; wenn er aber über den Polygnotos, oder welchen andern einzelnen Maler du sonst willst, seine Meinung mittheilen soll, dann erwacht und seiner Gedanken mächtig ist und vieles zu sagen weiß?

ION. Beim Zeus nein, dergleichen nicht.

SOK. Oder wie, hast du wol in der Bildnerei einen gesehen, der von Dädalos, dem Sohne des Metion, oder Epeios, dem des Panops, oder Theodoros dem Samier oder irgend einem andern einzelnen Bildner stark wäre zu erklären, was er gut gebildet hat, bei anderer Bildner [273] Werken aber verlegen wäre und schlummerte, nicht habend was er sage?

ION. Nein, beim Zeus, auch einen solchen habe ich nicht gesehn.

SOK. Auch nicht glaube ich über das Flötenspielen oder über den Gesang zur Lyra oder über das Spiel darauf, noch auch über die Rhapsodenkunst glaube ich wirst du Einen gesehen haben, der über den Olympos stark ist sich zu erklären, oder über den Thamyras oder Orpheus oder Phemios den Ithakesischen Rhapsoden, über Ion den Ephesischen aber im bloßen wäre, und nichts darüber zu sagen wüßte, was der gut vorträgt und was schlecht!

ION. Dagegen weiß ich dir nicht zu widersprechen, Sokrates; jenes aber bin ich mir wol bewußt, daß ich über den Homeros am besten unter allen Menschen rede und sehr reichhaltig, so daß auch alle Andern sagen ich redete gut, über die andern aber nicht. Also sieh zu, was das wol sein mag.

SOK. Ich sehe es ja, o Ion, und komme dir es zu zeigen was mich dies zu sein dünkt. Nämlich dies wohnt dir nicht als Kunst bei, gut über den Homeros zu reden wie ich eben sagte, sondern als eine göttliche Kraft, welche dich bewegt, wie in dem Steine der vom Euripides der Magnet gewöhnlich aber der Herakleiische genannt wird. Denn auch dieser Stein zieht nicht nur selbst die eisernen Ringe, sondern er theilt auch den Ringen die Kraft mit, daß sie eben dieses thun können wie der Stein selbst, nämlich andere Ringe ziehn, so daß bisweilen eine ganze lange Reihe von Stäbchen und Ringen an einander hängt; allen diesen aber ist ihre Kraft von jenem Steine angehängt. Eben so auch macht zuerst die Muse selbst Begeisterte, [274] und an diesen hängt eine ganze Reihe Anderer durch sie sich begeisternder. Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte, und eben so die rechten Liederdichter, so wenig die welche vom tanzenden Wahnsinn befallen sind in vernünftigem Bewußtsein tanzen, so dichten auch die Liederdichter nicht bei vernünftigem Bewußtsein diese schönen Lieder, sondern wenn sie der Harmonie und des Rhythmos erfüllt sind, dann werden sie den Bakchen ähnlich, und begeistert, wie diese aus den Strömen Milch und Honig nur wenn sie begeistert sind schöpfen, wenn aber ihres Bewußtseins mächtig dann nicht, so bewirkt auch der Liederdichter Seele dieses, wie sie auch selbst sagen. Es sagen uns nämlich die Dichter, daß sie aus honigströmenden Quellen aus gewissen Gärten und Hainen der Musen pflükkend diese Gesänge uns bringen, wie Bienen so auch sie umherfliegend. Und wahr reden sie. Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt. Denn solange er diesen Besiz noch festhält ist kein Mensch im Stande irgend zu dichten oder Orakel zu sprechen. Nicht also durch Kunst dichtend sagen sie soviel schönes über die Gegenstände, wie du über den Homeros, sondern durch göttliche Schikkung ist Jeder nur dasjenige schön zu dichten vermögend, wozu die Muse ihn antreibt, der Dithyramben, der Lobgesänge, der Tänze, der Sagen, der Jamben, und im übrigen ist Jeder schlecht. Nämlich nicht durch Kunst bringen sie dieses hervor, sondern durch göttliche Kraft. Denn [275] wenn sie durch Kunst über Eins schön zu reden wüßten, würden sie es auch über alles Andere. Daher auch der Gott nur nachdem er ihnen die Vernunft genommen sie und die Orakelsänger und die göttlichen Wahrsager zu Dienern gebraucht, damit wir Hörer gewiß wissen mögen, daß nicht diese es sind, welche das sagen was soviel werth ist, denen ihre Vernunft ja nicht einwohnt; sondern daß der Gott selbst es ist, der es sagt, und daß er nur durch diese zu uns spricht. Ein großer Beweis für diese Rede ist Tynnichos der Chalkidier, der nie irgend ein anderes Gedicht gedichtet hat, dessen es nur lohnte zu erwähnen, doch aber diesen Päan, den Jedermann singt, fast unter allen Liedern das schönste, recht, wie er selbst sagt durch einen Fund der Musen. Denn an ihm scheint ganz vorzüglich der Gott uns dieses gezeigt zu haben, damit wir ja nicht zweifeln, daß diese schönen Gedichte nicht menschliches sind und von Menschen, sondern göttliches und von Göttern, die Dichter aber nichts sind als Sprecher der Götter, im Besiz dessen, der eben Jeden besizt. Um dies zu zeigen hat recht absichtlich der Gott durch den schlechtesten Dichter das schönste Lied gesungen. Oder dünkt dich nicht daß ich recht habe, Ion?

ION. Ja, beim Zeus, mich dünkt es gewiß. Denn du ergreifst mir recht die Seele mit deinen Worten, Sokrates; und ich glaube wohl, daß nur durch göttliche Schikkung die rechten Dichter uns dies von den Göttern überbringen.

SOK. Und nicht wahr ihr Rhapsoden überbringt wieder jenes von den Dichtern?

ION. Auch daran hast du Recht.

SOK. Ihr seid also Sprecher der Sprecher?

ION. Allerdings.

 

 

 

 

Druckvorlage

Platons Werke von F. Schleiermacher.
Ersten Theiles zweiter Band.
Berlin: Realschulbuchhandlung 1805, S. 272-275   (= Ion, 532e-535a).

PURL: https://opacplus.bsb-muenchen.de/title/1679394/ft/bsb10237329
URL: https://books.google.fr/books?id=Up0-AAAAcAAJ

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Literatur

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