Ignaz Jeitteles

 

 

Aesthetisches Lexikon

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

[Lyrische Poesie]

 

Lyrische Poesie, diejenige Form der Dichtkunst, deren Hauptcharakter darauf beruht, das poetische Ausströmen eines bewegten, seine Empfindung rhythmisch schildernden Gemüthes zu seyn, d.h. wo die poetische Empfindung von der Außenwelt sich nach [33] dem Innern, von dem Ganzen nach dem Besonderen wendet, idealisirte Darstellung (Objectivisirung) in der Schilderung bestimmter persönlicher oder individueller (subjectiver) Zustände sich ergießt. Diese Darstellung heißt lyrisch, denn in der Fülle des Gefühls strömt das menschliche Gemüth in Gesang über; mit der Lyra (s.d.) begleiteten die feinfühlenden Griechen gewöhnlich ihren Gesang. Im Gegensatze der plastischen, wo Gegenstände des äußern Sinnes zur Anschauung gebracht werden, konnte daher die lyrische Poesie, wo die ganze Unermeßlichkeit des Gefühlsvermögens geschildert wird, die musikalische heißen; wie auch melisch (musikalisch) so viel wie lyrisch heißt. Im lyrischen Gedichte herrscht nicht die Ruhe wie bei der epischen, waltet nicht die Vernunft wie bei der didaktischen, nicht die Besonnenheit wie bei der dramatischen Form; sondern Empfindung, gehoben durch Phantasie, Phantasie, verschmolzen in Empfindung; daher die Lebendigkeit der Bilder, die in ihrer höchsten Steigerung lyrischer Schwung, so wie die durch die Stärke der Leidenschaft scheinbar hervorgebrachte Regellosigkeit im Ausdrucke, lyrische Unordnung genannt wird. Mehr Darstellung als Erregung des Gefühles ist allerdings der Zweck des lyrischen Dichters, doch ist es, sagt ein Kunstlehrer, sein Beruf, die der Menschheit würdigsten Gefühle jedes Zeitalters und jedes Volkes bei sich aufzubewahren, und dann von Land zu Land, von Zone zu Zone, von Pol zu Pol, von Jahrtausend zu Jahrtausend, in harmonischen Strophen zu verkünden, und so als Genius über der Menschheit zu walten, als Lehrer, Freund, Führer, Rather, Tröster. Es ist nicht genug, wie Deutschlands nationellster Dichter behauptet, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern, man muß auch erhöht empfinden; Begeisterung allein ist nicht genug, man fordert die Begeisterung eines gebildeten, den reinen vollendeten Abdruck einer interessanten Gemüthslage, eines vollendeten Geistes. Es ist gewiß, bemerkt Weber, daß die Durchführung einer poetischen Empfindung nach ihren intensiven Momenten (denn auch die Lyrik verlangt Einheit als Bedingung des Kunstwerkes), die Uebereinstimmung des Einzelnen zum Ganzen, die Gleichartigkeit der Entwicklung nach dem Ideengebiete, endlich das Entsprechende der Einkleidung in Bezug auf Form und Sprache, Rücksichten sind, deren sorgfältige Erwägung die Sache eines höchst geübten Gefühles, eines feinen Urtheiles, einer zarten Denk- und Empfindungsweise ist, wie sie sich am wenigsten im Gewühle der Alltäglichkeit, und in dem handwerksmäßigen Einerlei des Geschäftlebens gestaltet; dennoch hat gerade die scheinbare Leichtigkeit sich in den mannigfachen und beliebige Kürze zulassenden lyrischen Einkleidungsweisen zu bewegen, keine poetische Gattung mit so unübersehbarem Wuste dilettantischer Stümpereien überschwemmt. Ehe sich Jemand entschließt, ein Epos oder ein [34] Drama zu schreiben, pflegt er doch einen entschiedenen Ruf der Muse in sich verspürt zu haben, wenn schon auch in jenen Gattungen diese Tochter des Himmels nur gar zu häufig von schadenfrohen Waldweibchen und Wassernixen nachgeäfft wird, die manchen sonst gescheiten und verständigen Mann zu dem tollen Streiche bereden, sich auf ihr Risico mit poetischen Mißgeburten zu prostituiren. Allein in der Lyrik vollends pflegt Niemand auf einen Ruf der Muse zu warten; und es versteht sich von selbst, daß wer einmal Lesen und Schreiben gelernt hat, damit auch mehr als genug der vortrefflichen Gabe besitzt, von den Reizen seiner Schönen ein Protokoll in Versen aufzunehmen, oder einem großen Herrn zu seinem Geburtstage poetisch Glück zu wünschen, oder einige gereimte Sentiments über die schöne Natur auszuhauchen, oder aber in Sonetten, Madrigalen, Stanzen, Knittelversen und Leberreimen sich und Andern Verzweiflung, Tod und Hölle an den Hals zu schreiben. Dem Lyriker steht der Gebrauch jeder Versart frei, doch müssen die Strophen in einerlei Silbenmaß gehalten, und dieses dem Gegenstande angepaßt werden; so eignen sich z.B. die trochäischen Rhythmen mehr zum sanften Gesange des Liedes, die daktylischen oder choriambischen mehr dem feierlichen Aufschwung der Ode etc. Jedes Silbenmaß, sagt Herder, jede Hora desselben trägt ihr eigenes Saitenspiel in den Händen. Der Gott in ihnen ists, sagen die Dichter, der ihnen die Wege des Gesanges zeigt, und sie durch die verschlungenen Labyrinthe der Harmonien hindurch geleitet; d.i. Einheit des Gefühls, anhaltende, stille Aufmerksamkeit, Durchdrungenheit von dem Gegenstande selbst, und einige Kenntniß dessen, was zum Vortrage, zur Sprache gehört; sie sinds, die den Gesinnungen des Dichters den Adel, die Würde, die süße Anmuth, seinem Ausdrucke den Ton, den gehaltenen Takt, die reiche Modulation geben, bei deren fortwachsenden Wirkung die Seele sich zuletzt angenehm befriedigt fühlet. Da wird, wie durch eine Schöpfung von Innen heraus, der Gesang mit jedem Accente und Bilde lyrisches Ganzes, das den, der dafür einen Sinn hat, eben sowohl als ein schönes Gemälde, oder irgend ein anderes vollendetes Kunstwerk mit der süßen Empfindung beseligt: "es ist ganz, es ist vollendet." Tragen nun alle lyrischen Producte den gemeinschaftlichen Gefühlscharakter, so ist doch der Ton verschieden nach den verschiedenen Graden des Gefühles, und diese Schattirungen bestimmen den Charakter der einzelnen Untergattungen der lyrischen Form. Diese sind: Lied, Ode, Hymne, Dithyrambe, Cantate (lyrische Gedichte im engern Sinne); Elegie, Heroide (lyrisch-elegische Gedichte); das lyrische Lehrgedicht (lyrisch-didaktische Gedichte; s. Lehrgedicht). Nur prosodische Formen, die bald einen rein lyrischen, bald einen lyrisch-elegischen, bald einen lyrisch-didakti[35]schen, oft sogar einen epischen Charakter haben, und daher mit Unrecht, als selbständige lyrische Unterarten aufgeführt wurden, sind: Sonett, Bout-rimés, Madrigal, Rondeau, Triolett, Sestine, Stanze, Terzine etc.; s.d. Art.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Ig[naz] Jeitteles: Aesthetisches Lexikon.
Ein alphabetisches Handbuch zur Theorie der Philosophie des Schönen und der schönen Künste. Nebst Erklärung der Kunstausdrücke aller ästhetischen Zweige, als: Poesie, Poetik, Rhetorik, Musik, Plastik, Graphik, Architektur, Malerei, Theater etc.
Zweiter Band. L bis Z. Wien: Gerold 1837, S. 32-35.

URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/100964510
URL: https://books.google.fr/books?id=7VgoAAAAYAAJ

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

 

Kommentierte Ausgabe

 

 

 

Literatur

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Fischer, Cornelia: Art. Jeitteles. In: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann. Bd. 6. Berlin u.a. 2009, S. 125.

Goedeke, Karl: Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. 2. Aufl. Bd. 6. Leipzig u.a. 1898, S. 776-777: Ignaz Jeitteles.
URL: https://archive.org/details/grundriszzurges03goog

Jäger, Georg: Das Gattungsproblem in der Ästhetik und Poetik von 1780 bis 1850. In: Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815 – 1848. Forschungsreferate und Aufsätze. Hrsg. von Jost Hermand u.a. Stuttgart 1970, S. 371-404.

Lewald, August: Biographisches über Ignaz Jeitteles. In: Ignaz Jeitteles: Eine Reise nach Rom. Mit einer biographischen Skizze desselben von August Lewald. Siegen und Wiesbaden 1844, S. V-XXX.
URL: https://archive.org/details/einereisenachro00jeitgoog

Lexikon deutsch-jüdischer Autoren. Bd. 13. München 2005.
S. 48-49: Art. Jeitteles.

Pott, Sandra: Poetologische Reflexion. Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11), S. 31-59.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Stammen, Theo u.a. (Hrsg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Berlin 2004 (= Colloquia Augustana, 18).

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

Wurzbach, Constant von: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. 10. Teil. Wien 1863.
S. 122-124: Art. Ignaz Jeitteles.
URL: http://www.literature.at/alo?objid=11813

Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart u. Weimar 2010.

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer