Georg Wilhelm Friedrich Hegel

 

 

Vorlesungen über die Aesthetik

 

Die lyrische Poesie.

 

0. Vorbemerkungen        S. 419

1. Allgemeiner Charakter der Lyrik        S. 421
a. Der Inhalt         S. 422
b. Die Form         S. 424
c. Die Stufe des Bewusstseins und der Bildung         S. 434

2. Besondere Seiten der lyrischen Poesie        S. 441
a. Der lyrische Dichter         S. 442
b. Das lyrische Kunstwerk         S. 446
c. Die Arten der eigentlichen Lyrik         S. 454

3. Geschichtliche Entwicklung der Lyrik        S. 466
a. Die orientalische Lyrik         S. 467
b. Die Lyrik der Griechen und Römer         S. 469
c. Die romantische Lyrik         S. 473

Editionsbericht
Mitschriften
Literatur

 

Die poetische Phantasie als dichterische Thätigkeit stellt uns nicht, wie die Plastik, die Sache selbst in ihrer, wenn auch durch die Kunst hervorgebrachten, äußeren Realität vor Augen sondern giebt nur eine innerliche Anschauung und Empfindung derselben. Schon nach Seiten dieser allgemeinen Produktionsweise ist es die Subjektivität des geistigen Schaffens und Bildens, welche sich selbst in der veranschaulichendsten Darstellung, den bildenden Künsten gegenüber, als das hervorstechende Element erweist. Wenn nun die epische Poesie ihren Gegenstand entweder in seiner substantiellen Allgemeinheit, oder in skulpturmäßiger und malerischer Art als lebendige Erscheinung an unser anschauendes Vorstellen bringt, so verschwindet, auf der Höhe dieser Kunst wenigstens, das vorstellende und empfindende Subjekt in seiner dichtenden Thätigkeit gegen die Objektivität dessen, was es aus sich heraussetzt. Dieser Entäußerung seiner kann sich jenes Element der Subjektivität vollständig nur dadurch entheben, daß es nun einer Seits die gesammte Welt der Gegenstände und Verhältnisse in sich hineinnimmt, und vom Innern des einzelnen Bewußtseyns durchdringen läßt; anderer Seits das in sich koncentrirte Gemüth aufschließt, Ohr und Auge öffnet, die bloße dumpfe Empfindung zur Anschauung und Vorstellung erhebt, und diesem erfüllten Innern, um sich als Innerlichkeit auszudrücken, Worte und Sprache leiht. Jemehr nun diese Weise der Mittheilung aus der Sachlichkeit der epischen Kunst ausgeschlossen bleibt, um desto mehr, und gerade dieses Ausschließens wegen, hat sich die subjektive Form der Poesie, unabhängig vom Epos, in einem eigenen Kreise für sich auszugestalten. Aus der Objektivität des Gegenstandes steigt der Geist in sich selber nieder, schaut in das eigene Bewußtseyn, und giebt dem Bedürfnisse Befriedigung, statt der äußeren Realität der Sache, die Gegenwart und Wirklichkeit derselben [420] im subjektiven Gemüth, in der Erfahrung des Herzens und Reflexion der Vorstellung, und damit den Gehalt und die Thätigkeit des innerlichen Lebens selber darstellig zu machen. Indem nun aber dieß Aussprechen, um nicht der zufällige Ausdruck des Subjektes als solchen seinem unmittelbaren Empfinden und Vorstellen nach zu bleiben, zur Sprache des poetischen Inneren wird, so müssen die Anschauungen und Empfindungen, wie sehr sie auch dem Dichter als einzelnem Individuum eigenthümlich angehören, und er sie als die Seinigen schildert, dennoch eine allgemeine Gültigkeit enthalten, d.h. sie müssen in sich selbst wahrhafte Empfindungen und Betrachtungen seyn, für welche die Poesie nun auch den gemäßen Ausdruck lebendig erfindet und trifft. Wenn daher sonst schon Schmerz und Lust, in Worte gefaßt, beschrieben, ausgesprochen, das Herz erleichtern können, so vermag zwar der poetische Erguß den gleichen Dienst zu leisten, doch er beschränkt sich nicht auf den Gebrauch dieses Hausmittels; ja er hat im Gegentheil einen höheren Beruf: die Aufgabe nämlich, den Geist nicht von der Empfindung, sondern in derselben zu befreien. Das blinde Walten der Leidenschaft liegt in der bewußtseynslosen dumpfen Einheit derselben mit dem ganzen Gemüth, das nicht aus sich heraus zur Vorstellung und zum Aussprechen seiner gelangen kann. Die Poesie erlöst nun das Herz zwar von dieser Befangenheit, insofern sie dasselbe sich gegenständlich werden läßt, aber sie bleibt nicht bei dem bloßen Hinauswerfen des Inhalts aus seiner unmittelbaren Einigung mit dem Subjekte stehen, sondern macht daraus ein von jeder Zufälligkeit der Stimmungen gereinigtes Objekt, in welchem das befreite Innere zugleich in befriedigtem Selbstbewußtseyn frei zu sich zurückkehrt, und bei sich selber ist. Umgekehrt jedoch darf dieß erste Objektiviren nicht soweit fortschreiten, daß es die Subjektivität des Gemüths und der Leidenschaft als in praktischer Thätigkeit und Handlung, d.h. in der Rückkehr des Subjekts zu sich in seiner wirklichen That darstellt. Denn die nächste [421] Realität des Innern ist noch die Innerlichkeit selber, so daß jenes Herausgehn aus sich nur den Sinn der Befreiung von der unmittelbaren ebenso stummen als vorstellungslosen Koncentration des Herzens hat, das sich zum Aussprechen seiner selber aufschließt, und deshalb das vorher nur Empfundene in Form selbstbewußter Anschauungen und Vorstellungen faßt und äußert. – Hiermit ist im Wesentlichen die Sphäre und Aufgabe der lyrischen Poesie in ihrem Unterschiede von der epischen und dramatischen festgestellt.

Was nun, um sogleich an die nähere Betrachtung heranzutreten, die Eintheilung dieses neuen Gebiets betrifft, so können wir hier demselben Gange folgen, den ich für die epische Dichtkunst vorgezeichnet hatte.

Erstens also fragt es sich nach dem allgemeinen Charakter der Lyrik.

Zweitens müssen wir uns nach den besonderen Bestimmungen umsehn, welche in Rücksicht auf den lyrischen Dichter, das lyrische Kunstwerk und die Arten desselben in Betracht zu ziehn sind; und

drittens mit einigen Bemerkungen über die historische Entwickelung dieser Gattung der Poesie schließen.

Im Ganzen jedoch will ich mich hier aus einem doppelten Grunde kurz fassen; einer Seits, weil wir uns noch für die Erörterung des dramatischen Feldes den nöthigen Raum aufzubewahren haben, anderer Seits, weil ich mich ganz auf die allgemeinen Gesichtspunkte beschränken muß, indem das Detail mehr als beim Epos in die Partikularität und deren unberechenbare Mannigfaltigkeit hineinspielt, und in größerer Ausdehnung und Vollständigkeit vornehmlich nur auf historischem Wege könnte abgehandelt werden, was hier nicht unseres Amtes ist.

 

 

1. Allgemeiner Charakter der Lyrik.

Zur epischen Poesie führt das Bedürfniß, die Sache zu hören, die sich für sich als eine objektiv in sich abgeschlossene To[422]talität dem Subjekt gegenüber entfaltet; in der Lyrik dagegen befriedigt sich das umgekehrte Bedürfniß, sich auszusprechen und das Gemüth in der Aeußerung seiner selbst zu vernehmen. In Ansehung dieses Ergusses nun sind die wichtigsten Punkte, auf die es ankommt,

erstens der Inhalt, in welchem das Innere sich empfindet und zur Vorstellung bringt;

zweitens die Form, durch welche der Ausdruck dieses Inhalts zur lyrischen Poesie wird;

drittens die Stufe des Bewußtseyns und der Bildung, von welcher aus das lyrische Subjekt seine Empfindungen und Vorstellungen kund giebt.

a) Der Inhalt des lyrischen Kunstwerks kann nicht die Entwickelung einer objektiven Handlung in ihrem zu einem Weltreichthum sich ausbreitenden Zusammenhange seyn, sondern das einzelne Subjekt, und eben damit das Vereinzelte der Situation und der Gegenstände, sowie der Art und Weise, wie das Gemüth mit seinem subjektiven Urtheil, seiner Freude, Bewundrung, seinem Schmerz und Empfinden überhaupt sich in solchem Gehalte zum Bewußtseyn bringt. Durch dieß Princip der Besonderung, Partikularität und Einzelnheit, welches im Lyrischen liegt, kann der Inhalt von der höchsten Mannigfaltigkeit seyn und alle Richtungen des nationalen Lebens betreffen, doch mit dem wesentlichen Unterschiede, daß wenn das Epos in ein und demselben Werke die Totalität des Volksgeistes in seiner wirklichen That und Zuständigkeit auseinanderlegt, der bestimmtere Gehalt des lyrischen Gedichts sich auf irgend eine besondere Seite beschränkt, oder doch wenigstens nicht zu der explicirten Vollständigkeit und Entfaltung gelangen kann, welche das Epos, um seine Aufgabe zu erfüllen, haben muß. Die gesammte Lyrik eines Volkes darf deshalb wohl die Gesammtheit der nationalen Interessen, Vorstellungen und Zwecke durchlaufen, nicht aber das einzelne lyrische Gedicht. Poetische [423] Bibeln, wie wir sie in der epischen Poesie fanden, hat die Lyrik nicht aufzuzeigen. Dagegen genießt sie den Vorzug, fast zu allen Zeiten der nationalen Entwickelung entstehen zu können, während das eigentliche Epos an bestimmte ursprüngliche Epochen gebunden bleibt, und in späteren Tagen prosaischer Ausbildung nur dürftiger gelingt.

α) Innerhalb dieser Vereinzelung nun steht auf der einen Seite das Allgemeine als solches, das Höchste und Tiefste des menschlichen Glaubens, Vorstellens und Erkennens; der wesentliche Gehalt der Religion, Kunst, ja selbst der wissenschaftlichen Gedanken, insofern dieselben sich noch der Form der Vorstellung und der Anschauung fügen und in die Empfindung eingehn. Allgemeine Ansichten, das Substantielle einer Weltanschauung, die tieferen Auffassungen durchgreifender Lebensverhältnisse sind deshalb aus der Lyrik nicht ausgeschlossen, und ein großer Theil des Inhalts, den ich bei Gelegenheit der unvollkommneren Arten des Epos berührt habe, (Abth. III. p. 327-29) fällt somit auch dieser neuen Gattung gleichmäßig anheim.

β) Zu der Sphäre des in sich Allgemeinen tritt sodann zweitens die Seite der Besonderheit, welche sich nun mit dem Substantiellen eines Theils so verweben kann, daß irgend eine einzelne Situation, Empfindung, Vorstellung u.s.f. in ihrer tieferen Wesentlichkeit erfaßt und somit selber in substantieller Weise ausgesprochen wird. Dieß ist z.B. durchweg beinahe bei Schiller der Fall, sowohl in den eigentlich lyrischen Gedichten als auch in den Balladen, in Betreff auf welche ich nur an die grandiose Beschreibung des Eumenidenchors in den Kranichen des Ibikus erinnern will, die weder dramatisch noch episch, sondern lyrisch ist. Anderen Theils kann die Verbindung so zu Stande kommen, daß eine Mannigfaltigkeit besonderer Züge, Zustände, Stimmungen, Vorfälle u.s.f. sich als wirklicher Beleg für weitumfassende Ansichten und Aussprüche einreiht, und durch das Allgemeine lebendig hindurchwindet. In der [424] Elegie und Epistel z.B., überhaupt bei reflektirender Weltbetrachtung wird diese Art der Verknüpfung häufig benutzt.

γ) Indem es endlich im Lyrischen das Subjekt ist, das sich ausdrückt, so kann demselben hiefür zunächst der an sich geringfügigste Inhalt genügen. Dann nämlich wird das Gemüth selbst, die Subjektivität als solche, der eigentliche Gehalt, so daß es nur auf die Seele der Empfindung, und nicht auf den näheren Gegenstand ankommt. Die flüchtigste Stimmung des Augenblicks, das Aufjauchzen des Herzens, die schnell vorüberfahrenden Blitze sorgloser Heiterkeiten und Scherze, Trübsinn und Schwermuth, Klage, genug die ganze Stufenleiter der Empfindung wird hier in ihren momentanen Bewegungen oder einzelnen Einfällen über die verschiedenartigsten Gegenstände festgehalten, und durch das Aussprechen dauernd gemacht. Hier tritt im Felde der Poesie das Aehnliche ein, was ich früher bereits in Bezug auf die Genremalerei berührt habe. (Aesth. Abth. II. p. 224-25.). Der Inhalt, die Gegenstände sind das ganz Zufällige, und es handelt sich nur noch um die subjektive Auffassung und Darstellung, deren Reiz in der lyrische Poesie Theils in dem zarten Hauche des Gemüths, Theils in der Neuheit frappanter Anschauungsweisen und in dem Witz überraschender Wendungen und Pointen liegen kann.

b) Was nun zweitens im Allgemeinen die Form betrifft, durch welche solch ein Inhalt zum lyrischen Kunstwerk wird, so bildet hier das Individuum in seinem inneren Vorstellen und Empfinden den Mittelpunkt. Das Ganze nimmt deshalb vom Herzen und Gemüth, und näher von der besonderen Stimmung und Situation des Dichters seinen Anfang, so daß der Gehalt und Zusammenhang der besonderen Zeiten, zu welchen der Inhalt sich entwickelt, nicht objektiv von sich selbst als substantieller Inhalt, oder von seiner äußeren Erscheinung als in sich beschlossene individuelle Begebenheit, sondern vom Subjekte getragen bleibt. Deshalb muß nun aber das Individuum in sich [425] selber poetisch, phantasierreich, empfindungsvoll oder großartig und tief in Betrachtungen und Gedanken, und vor allem selbstständig in sich, als eine für sich abgeschlossene innere Welt erscheinen, von welcher die Abhängigkeit und bloße Willkür der Prosa abgestreift ist. – Das lyrische Gedicht erhält dadurch eine vom Epos ganz unterschiedene Einheit, die Innerlichkeit nämlich der Stimmung oder Reflexion, die sich in sich selber ergeht, sich in der Außenwelt wiederspiegelt, sich schildert, beschreibt, oder sich sonst mit irgend einem Gegenstande beschäftigt, und in diesem subjektiven Interesse das Recht behält, beinahe wo es will anzufangen und abzubrechen. Horaz z.B. ist häufig da schon zu Ende, wo man der gewöhnlichen Vorstellungsweise und Art der Aeußerung gemäß meinen sollte, die Sache müßte nun erst recht ihren Anfang nehmen, d.h. er beschreibt z.B. nur seine Empfindungen, Befehle, Anstalten zu einem Feste, ohne daß wir von dem weiteren Hergang und Gelingen desselben irgend etwas erfahren. Ebenso giebt auch die Art der Stimmung, der individuelle Zustand des Gemüths, der Grad der Leidenschaft, die Heftigkeit, das Sprudeln und springende Herüber und Hinüber oder die Ruhe der Seele und Stille der sich langsam fortbewegenden Betrachtung die allerverschiedenartigsten Normen für den innern Fortgang und Zusammenhang ab. Im Allgemeinen läßt sich deshalb in Rücksicht auf alle diese Punkte, der vielfach bestimmbaren Wandelbarkeit des Innern wegen, nur wenig Festes und Durchgreifendes aufstellen. Als nähere Unterschiede will ich nur folgende Seiten herausheben.

α) Wie wir im Epos mehrere Arten fanden, welche sich gegen den lyrischen Ton des Ausdrucks hinneigten, so kann nun auch die Lyrik zu ihrem Gegenstande und zu ihrer Form eine dem Gehalt und der äußeren Erscheinung nach epische Begebenheit nehmen und insofern an das Epische heranstreifen. Heldenlieder, Romanzen, Balladen z.B. gehören hieher. Die Form für das Ganze ist in diesen Arten einer Seits erzählend, indem [426] der Hergang und Verlauf einer Situation und Begebenheit, eine Wendung im Schicksal der Nation u.s.w. berichtet wird. Anderer Seits aber bleibt der Grundton ganz lyrisch, denn nicht die subjektivitätslose Schilderung und Ausmalung des realen Geschehens, sondern umgekehrt die Auffassungsweise und Empfindung des Subjekts, die freudige oder klagende, muthige oder gedrückte Stimmung, die durch das Ganze hindurch klingt, ist die Hauptsache, und ebenso gehört auch die Wirkung, zu welcher solch ein Werk gedichtet wird, ganz der lyrischen Sphäre an. Was nämlich der Dichter im Hörer hervorzubringen beabsichtigt, ist die gleiche Gemüthsstimmung, in die ihn das erzählte Begebniß versetzt, und welche er deshalb ganz in die Darstellung hineingelegt hat. Er drückt seine Schwermuth, Trauer, Heiterkeit, seine Gluth des Patriotismus u.s.f. in einem analogen Begebniß in der Weise aus, daß nicht der Vorfall selbst, sondern die sich darin wiederspiegelnde Gemüthslage den Mittelpunkt ausmacht, weshalb er denn auch vorzugsweise nur diejenigen Züge heraushebt, und empfindungsvoll schildert, welche mit seiner innern Bewegung zusammenklingen, und insofern sie dieselbe am lebendigsten aussprechen, das gleiche Gefühl auch im Hörer anzuregen am meisten befähigt sind. So ist der Inhalt zwar episch, die Behandlung aber lyrisch.

Was das Nähere angeht, so fallen hieherein:

αα) Erstens das Epigramm, wenn es nämlich nicht als Aufschrift ganz kurz und objektiv nur aussagt, was die Sache sey, sondern wenn sich an diesen Ausspruch irgend eine Empfindung knüpft, und der Inhalt dadurch aus seiner sachlichen Realität heraus ins Innere hineinverlegt ist. Dann nämlich giebt sich das Subjekt nicht mehr gegen den Gegenstand auf; sondern macht umgekehrt gerade sich in demselben, seine Wünsche in Betreff auf ihn, seine subjektiven Scherze, scharfsinnigen Verknüpfungen und unvermutheten Einfälle geltend. Schon die griechische Anthologie enthält viele solcher witzigen Epigramme, welche den [427] epischen Ton nicht mehr festhalten, und auch in neuerer Zeit finden wir bei den Franzosen in den pikanten Couplets, wie sie z.B. in ihren Vaudevilles so häufig vorkommen, und bei uns Deutschen in den Sinngedichten, Xenien u.s.f. etwas Aehnliches, das hieher zu rechnen ist. Auch Grabschriften selbst können in Rücksicht auf die vorwaltende Empfindung diesen lyrischen Charakter annehmen.

ββ) In derselben Weise zweitens breitet sich die Lyrik auch zur schildernden Erzählung aus. Als nächste und einfachste Form will ich in diesem Kreise nur die Romanze nennen, insofern sie die verschiedenen Scenen einer Begebenheit vereinzelt, und dann jede für sich, in vollem Mitgefühle der Schildrung, rasch in gedrungenen Hauptzügen fortgehend darstellt. Diese feste und bestimmte Auffassung des eigentlich Charakteristischen einer Situation und scharfe Heraushebung bei der vollen subjektiven Theilnahme tritt besonders bei den Spaniern in nobler Weise hervor, und verleiht ihren erzählenden Romanzen eine große Wirkung. Es ist über diesen lyrischen Gemälden eine gewisse Helligkeit verbreitet, welche mehr der klarsondernden Genauigkeit der Anschauung als der Innigkeit des Gemüths zugehört.

γγ) Die Balladen dagegen umfassen, wenn auch in kleinerem Maaßstabe als in der eigentlich epischen Poesie, meist die Totalität eines in sich beschlossenen Begebnisses, dessen Bild sie freilich auch nur in den hervorstechendsten Momenten entwerfen, zugleich aber die Tiefe des Herzens, das sich ganz damit verwebt, und den Gemüthston der Klage, Schwermuth, Trauer, Freudigkeit u.s.f. voller, und doch koncentrirter und inniger hervordringen lassen. Die Engländer besitzen vornehmlich aus der früheren ursprünglichen Epoche ihrer Poesie viele solcher Gedichte, überhaupt liebt die Volkspoesie dergleichen meist unglückliche Geschichten und Kollisionen im Tone der schauerlichen, die Brust mit Angst beengenden, die Stimme erstickenden [428] Empfindung zu erzählen. Doch auch in neuerer Zeit haben sich bei uns Bürger und dann vor allem Goethe und Schiller eine Meisterschaft in diesem Felde erworben; Bürger durch seine trauliche Naivetät; Goethe bei aller anschaulichen Klarheit durch die innigere Seele, welche sich durch das Ganze lyrisch hindurchzieht, und Schiller wieder durch die großartige Erhebung und Empfindung für den Grundgedanken, den er in Form einer Begebenheit dennoch durchweg lyrisch aussprechen will, um das Herz des Zuhörers dadurch in eine ebenso lyrische Bewegung des Gemüths und der Betrachtung zu versetzen.

β) Explicirter nun zweitens tritt schon das subjektive Element der lyrischen Poesie dann heraus, wenn irgend ein Vorfall, als wirkliche Situation zu bloßen Veranlassung für den Dichter wird, sich darin oder darüber zu äußern. Dieß ist in dem sogenannten Gelegenheitsgedichte der Fall. So sangen z.B. bereits Kallinus und Tyrtaeus ihre Kriegselegieen für wirkliche Zustände, von denen sie ihren Ausgangspunkt nahmen, und für die sie begeistern wollten, obschon ihre subjektive Individualität, ihr eigenes Herz und Gemüth noch wenig zum Vorschein kommt. Auch die pindarischen Preisgesänge haben in bestimmten Wettkämpfern und Siegern und in den besondern Verhältnissen derselben ihren nähern Anlaß gefunden, und mehr noch sieht man vielen horazischen Oden eine specielle Veranlassung, ja die Intention und den Gedanken an: ich will doch auch als dieser gebildete und berühmte Mann ein Gedicht darauf machen. Am meisten jedoch hat Goethe in neuerer Zeit eine Vorliebe für diese Gattung gehabt, weil ihm in der That jeder Lebensvorfall sogleich zum Gedicht wurde.

αα) Soll nun aber das lyrische Kunstwerk nicht in Abhängigkeit von der äußeren Gelegenheit und den Zwecken gerathen, welche in derselben liegen, sondern als ein selbstständiges Ganze für sich dastehn, so gehört dazu wesentlich, daß der Dichter die Veranlassung auch nur als Gelegenheit benutze, um [429] sich selbst, seine Stimmung, Freudigkeit, Wehmuth, oder Denkweise und Lebensansicht überhaupt auszusprechen. Die vornehmlichste Bedingung für die lyrische Subjektivität besteht deshalb darin, den realen Inhalt ganz in sich hineinzunehmen, und zu dem Ihrigen zu machen. Denn der eigentlich lyrische Dichter lebt in sich, faßt die Verhältnisse nach seiner poetischen Individualität auf, und giebt nun, wie mannigfaltig er auch sein Inneres mit der vorhandenen Welt und ihren Zuständen, Verwickelungen und Schicksalen verschmelzt, dennoch in der Darstellung dieses Stoffs nur die eigene selbstständige Lebendigkeit seiner Empfindungen und Betrachtungen kund. Wenn z.B. Pindar eingeladen wurde, einen Sieger in den Wettspielen zu besingen, oder es aus eigenem Antriebe that, so bemächtigte er sich doch dermaaßen seines Gegenstandes, daß sein Werk nicht etwa ein Gedicht auf den Sieger wurde, sondern ein Erguß, den er aus sich selbst heraussang.

ββ) Was nun die nähere Darstellungsart eines solchen Gelegenheitsgedichtes angeht, so kann dieselbe allerdings einer Seits ihren bestimmteren Stoff und Charakter, sowie die innere Organisation des Kunstwerks aus der realen Wirklichkeit des als Inhalt ergriffenen Vorfalls oder Subjekts entnehmen. Denn gerade dieser Inhalt ist es ja, von dem sich das dichterische Gemüth bewegt zeigen will. Als deutlichstes wenn auch extremes Beispiel brauche ich nur an Schillers's Lied von der Glocke zu erinnern, welches die äußeren Stufenfolgen im Geschäft des Glockengießens als die wesentlichen Haltpunkte für den Entwickelungsgang des ganzen Gedichts hinstellt, und sich dann hieran erst die entsprechenden Ergüsse der Empfindung, so wie die verschiedenartigen Lebensbetrachtungen und sonstigen Schilderungen menschlicher Zustände schließen läßt. In einer anderen Art entlehnt auch Pindar aus dem Geburtsorte des Siegers, aus den Thaten des Stamms, dem derselbe angehört, oder aus anderweitigen Lebensverhältnissen die nähere Gelegenheit, gerade diese und keine anderen Göt[430]ter zu preisen, nur dieser Thaten und Schicksale Erwähnung zu thun, nur diese bestimmten Betrachtungen anzustellen, diese Weisheitssprüche einzuflechten u.s.f. Andrer Seits aber ist der lyrische Dichter auch hierin wieder vollständig frei, indem nicht die äußere Gelegenheit als solche, sondern er selbst mit seinem Innern sich zum Gegenstande wird, und es deshalb von der besondern subjektiven Ansicht und poetischen Gemüthsstimmung allein abhängig macht, welche Seiten des Gegenstandes und in welcher Folge und Verwebung sie zur Darstellung gelangen sollen. Der Grad nun, in welchem die objektive Gelegenheit mit ihrem fachlichen Inhalt, oder die eigene Subjektivität des Dichters überwiegen, oder beide Seiten sich durchdringen dürfen, läßt sich nicht a priori nach einem festen Maaßstabe angeben.

γγ) Die eigentlich lyrische Einheit aber giebt nicht der Anlaß und dessen Realität, sondern die subjektive innere Bewegung und Auffassungsweise. Denn die einzelne Stimmung oder allgemeine Betrachtung, zu welcher die Gelegenheit poetisch erregt, bildet den Mittelpunkt, von dem aus nicht nur die Färbung des Ganzen, sondern auch der Umkreis der besonderen Seiten, die sich entfalten können, die Art der Ausführung und Verknüpfung, und somit der Halt und Zusammenhang des Gedichts als Kunstwerkes bestimmt wird. So hat Pindar z.B. an den genannten objektiven Lebensverhältnissen seiner Sieger, die er besingt, einen realen Kern für die Gliederung und Entfaltung, bei den einzelnen Gedichten aber sind es immer andere Gesichtspunkte, eine andere Stimmung – der Warnung, des Trostes, der Erhebung z.B. – die er hindurchwalten läßt, und welche, obschon sie allein dem Dichter als poetischen Subjekt angehören, ihm dennoch gerade dem Umfang dessen, was er von jenen Verhältnissen berühren, ausführen oder übergehen will, sowie die Art der Beleuchtung und Verbindung eingeben, deren er sich zu der beabsichtigten lyrischen Wirkung bedienen muß.

[431] γ) Drittens jedoch braucht der echt lyrische Dichter nicht von äußeren Begebenheiten auszugehn, die er empfindungsreich erzählt, oder von sonstigen realen Umständen und Veranlassungen, die ihm zum Anstoß seines Ergusses werden, sondern er ist für sich eine subjektiv abgeschlossene Welt, so daß er die Anregung wie den Inhalt in sich selber suchen, und deshalb bei den inneren Situationen, Zuständen, Begebnissen und Leidenschaften seines eigenen Herzens und Geistes stehn bleiben kann. Hier wird sich der Mensch in seiner subjektiven Innerlichkeit selber zum Kunstwerk, während dem epischen Dichter der fremde Heros und dessen Thaten und Ereignisse zum Inhalt dienen.

αα) Doch auch in diesem Felde kann noch ein erzählendes Element eintreten, wie z.B. bei vielen der sogenannten anakreontischen Lieder, welche heitre Bildchen von Vorfällen mit Eros u.s.f., in lieblicher Rundung aufstellen. Solches Begegniß muß dann aber mehr nur gleichsam die Erklärung einer innern Situation des Gemüthes seyn. So benutzt auch Horaz wieder auf andere Weise in seinem Integer vitae den Vorfall, daß ihm ein Wolf begegnet, nicht so, daß wir das Ganze dürften ein Gelegenheitsgedicht nennen, sondern als Beleg des Satzes, mit dem er beginnt, und der Unstörbarkeit der Liebesempfindung, mit der er endet.

ββ) Ueberhaupt braucht die Situation, in welcher der Dichter sich darstellt, sich nicht bloß auf das Innere als solches zu beschränken, sondern darf sich als konkrete und damit auch äußerliche Totalität erweisen, indem der Dichter sich in ebenso subjektivem als realem Daseyn giebt. In den eben angeführten anakreontischen Liedern z.B. schildert sich der Dichter unter Rosen, schönen Mädchen und Knaben, bei Wein und Tanz in dem heitern Genuß, ohne Verlangen und Sehnsucht, ohne Pflicht und Verabsäumung höherer Zwecke, die hier gar nicht vorhanden sind, wie einen Heros, der unbefangen und frei, und daher ohne Beschränktheit oder Mangel, nur dieses Eine ist, was er ist, ein Mensch seiner eigenen Art als subjektives Kunstwerk.

[432] Auch in den Liedesliedern des Hafis sieht man die ganze lebendige Individualität des Dichters, wechselnd an Inhalt, Stellung, Ausdruck, so daß es beinah zum Humor fortgeht. Doch hat er kein besonderes Thema bei seinen Gedichten, kein objektives Bild, keinen Gott, keine Mythologie, – ja wenn man diese freien Ergüsse liest, fühlt man, daß die Orientalen überhaupt keine Gemälde und bildende Kunst haben konnten, – er geht von einem Gegenstande zum andern, er läßt sich überall herumgehen, aber es ist eine Scene, worin immer der ganze Mann mit seinem Wein, Schenken, Mädchen, Hof u.s.f. in schöner Offenheit, ohne Begierde und Selbstsucht in reinem Genuß Aug in Auge, Seele in Seele vor uns gebracht ist. – Proben dieser Art der Darstellung einer nicht nur innern, sondern auch äußeren Situation lassen sich aufs mannigfaltigste angeben. Führt sich jedoch der Dichter so in seinen subjektiven Zuständen aus, so sind wir nicht geneigt, etwa die partikulären Einbildungen, Liebschaften, häuslichen Angelegenheiten, Vetter- und Basengeschichten kennen zu lernen, wie dieß selbst bei Klopstock's Cidly und Fanny der Fall ist, sondern wir wollen etwas allgemein Menschliches, um es poetisch mitempfinden zu können, vor Augen haben. Von dieser Seite her kann deshalb die Lyrik leicht zu der falschen Prätension fortgehn, daß an und für sich schon das Subjektive und Partikuläre von Interesse seyn müsse. Dagegen kann man viele der goetheschen Lieder, obschon Goethe sie nicht unter dieser Rubrik aufgeführt hat, gesellige Lieder nennen. In Gesellschaft nämlich giebt man nicht sich selbst; im Gegentheil, man stellt seine Partikularität zurück, und unterhält durch ein Drittes, eine Geschichte, Anekdote, durch Züge von Anderen, die man dann in besonderer Laune auffaßt und dem eigenen Tone gemäß durchführt. In diesem Falle ist der Dichter er selbst und auch nicht; er giebt nicht sich, sondern etwas zum Besten, und ist gleichsam ein Schauspieler, der unendlich viele Rollen durch[433]spielt, jetzt hier, dann dort verweilt, hier eine Scene, dort eine Gruppirung einen Augenblick festhält, doch was er auch darstellen mag, immer zugleich sein eigenes künstlerisches Innere, das Selbstempfundene und Durchlebte lebendig darein verwebt.

γγ) Ist nun aber die innere Subjektivität der eigentliche Quell der Lyrik, so muß ihr auch das Recht bleiben, sich auf den Ausdruck rein innerlicher Stimmungen, Reflexionen u.s.f. zu beschränken, ohne sich zu einer konkreten auch in ihrer Aeußerlichkeit dargestellten Situation auseinanderzulegen. In dieser Rücksicht erweist sich selbst das ganz leere Lirum-larum, das Singen und Trällern rein um des Singens willen als echt lyrische Befriedigung des Gemüths, dem die Worte mehr oder weniger bloße gleichgültige Vehikel für die Aeußerung der Heiterkeiten und Schmerzen werden, doch als Ersatz nun auch sogleich die Hülfe der Musik herbeirufen. Besonders Volkslieder gehen häufig über diese Ausdrucksweise nicht hinaus. Auch in goetheschen Liedern, bei denen es dann aber schon zu einem bestimmteren reichhaltigeren Ausdruck kommt, ist es oft nur irgend ein einzelner momentaner Scherz, der Ton einer flüchtigen Stimmung, aus dem der Dichter nicht heraus geht, und daraus ein Liedchen macht, einen Augenblick zu pfeifen. In anderen behandelt er dagegen ähnliche Stimmungen weitläufiger, selbst methodisch, wie z.B. in dem Liede: "Ich hab mein Sach' auf nichts gestellt", wo erst Geld und Gut, dann die Weiber, Reisen, Ruhm und Ehre, und endlich Kampf und Krieg als vergänglich erscheinen, und die freie sorglose Heiterkeit allein der immer wiederkehrende Refrain bleibt. – Umgekehrt aber kann sich auf diesem Standpunkte das subjektive Innere gleichsam zu Gemüthssituationen der großartigsten Anschauung und der über alles hinblickenden Ideen erweitern und vertiefen. Von dieser Art ist z.B. ein großer Theil der schillerschen Gedichte. Das Vernünftige, Große ist Angelegenheit seines Herzens; doch besingt er weder hymnenartig einen religiösen oder substantiellen Gegen[434]stand, noch tritt er bei äußeren Gelegenheiten auf fremden Anstoß als Sänger auf, sondern fängt im Gemüthe an, dessen höchste Interessen bei ihm die Ideale des Lebens, der Schönheit, die unvergänglichen Rechte und Gedanken der Menschheit sind.

c) Ein dritter Punkt endlich, worüber wir noch in Rücksicht auf den allgemeinen Charakter der lyrischen Poesie zu sprechen haben, betrifft die allgemeine Stufe des Bewußtseyns und der Bildung, aus welcher das einzelne Gedicht hervorgeht.

Auch in dieser Beziehung nimmt die Lyrik einen der epischen Poesie entgegengesetzten Standpunkt ein. Wenn wir nämlich für die Blüthezeit des eigentlichen Epos einen im Ganzen noch unentwickelten, zur Prosa der Wirklichkeit noch nicht herangereiften nationalen Zustand forderten, so sind umgekehrt der Lyrik vornehmlich solche Zeiten günstig, die schon eine mehr oder weniger fertig gewordene Ordnung der Lebensverhältnisse herausgestellt haben, indem erst in solchen Tagen der einzelne Mensch sich dieser Außenwelt gegenüber in sich selbst reflektirt, und sich aus ihr heraus in seinem Innern zu einer selbstständigen Totalität des Empfindens und Vorstellens abschließt. Denn in der Lyrik ist es eben nicht die objektive Gesammtheit und individuelle Handlung, sondern das Subjekt als Subjekt, was die Form und den Inhalt abgiebt. Dieß darf jedoch nicht etwa so verstanden werden, als ob das Individuum, um sich lyrisch äußern zu können, sich von allem und jedem Zusammenhange mit nationalen Interessen und Anschauungen losmachen, und formell nur auf seine eigenen Füße stellen müsse. Im Gegentheil in dieser abstrakten Selbstständigkeit würde als Inhalt nur die ganz zufällige und partikuläre Leidenschaft, die Willkür der Begierde und des Beliebens übrig bleiben, und die schlechte Querköpfigkeit der Einfälle und bizarre Originalität der Empfindung ihren unbegrenzten Spielraum gewinnen. Die echte Lyrik hat, wie jede wahre Poesie, den wahren Gehalt der menschlichen Brust auszusprechen. Als lyrischer Inhalt jedoch [435] muß auch das Sachlichste und Substantiellste als subjektiv empfunden, angeschaut, vorgestellt oder gedacht erscheinen. Zweitens ferner handelt es sich hier nicht um das bloße sich Aeußern des individuellen Inneren, um das erste unmittelbare Wort, welches episch sagt, was die Sache sey, sondern um den kunstreichen, von der zufälligen, gewöhnlichen Aeußerung verschiedenen Ausdruck des poetischen Gemüths. Die Lyrik erheischt deshalb, jemehr gerade die bloße Koncentration des Herzens sich zu vielseitigen Empfindungen und umfassenderen Betrachtungen aufschließt, und das Subjekt sich in einer schon prosaisch ausgeprägteren Welt seines poetischen Innern bewußt wird, nun auch eine erworbene Bildung zur Kunst, welche gleichfalls als der Vorzug und das selbstständige Werk der zur Vollendung ausgearbeiteten subjektiven Naturgabe hervortreten muß. Dieß sind die Gründe, aus denen die Lyrik nicht auf bestimmte Zeitepochen in der geistigen Entwickelung eines Volks beschränkt bleibt, sondern in den verschiedensten Epochen reichhaltig blühen kann, und hauptsächlich der neuern Zeit, in der jedes Individuum sich das Recht ertheilt, für sich selbst seine eigenthümliche Ansicht und Empfindungsweise zu haben, günstig ist.

Als durchgreifende Unterschiede lassen sich jedoch folgende allgemeinere Standpunkte angeben:

α) Erstens die lyrische Aeußerungsart der Volkspoesie.

αα) In ihr vornehmlich kommt die mannigfaltige Besonderheit der Nationalitäten zum Vorschein, weshalb man auch in dem universellen Interesse unserer Gegenwart nicht müde wird, Volkslieder jeder Art zu sammeln, um die Eigenthümlichkeit aller Völker kennen zu lernen, nachzuempfinden und nachzuleben. Schon Herder that viel hiefür, und auch Goethe hat in selbstständigeren Nachbildungen höchst verschiedenartige Produkte dieser Gattung unserer Empfindung anzunähern verstanden. Vollständig aber mitempfinden kann man nur die Lieder seiner eigenen Nation, und wie sehr wir Deutsche uns auch in's [436] Ausland hineinzumachen im Stande sind, so ist doch immer die letzte Musik eines nationalen Inneren anderen Völkern etwas Fremdes, das um in ihnen auch den heimischen Ton der eigenen Empfindung anklingen zu lassen, erst einer umarbeitenden Nachhülfe bedarf. Diese hat Goethe jedoch den ausländischen Volksliedern, die er uns zugebracht, auf die sinnvollste und schönste Weise nur insoweit angedeihen lassen, als dadurch, wie z.B. in dem Klaggesang der edlen Frauen des Asan Aga aus dem Morlackischen, die Eigenthümlichkeit solcher Gedichte noch durchaus ungefährdet aufbewahrt bleibt.

ββ) Der allgemeine Charakter nun der lyrischen Volkspoesie ist dem des ursprünglichen Epos nach der Seite hin zu vergleichen, daß sich der Dichter als Subjekt nicht heraushebt, sondern sich in seinen Gegenstand hineinverliert. Obschon sich deshalb im Volksliede die koncentrirteste Innigkeit des Gemüths aussprechen kann, so ist es dennoch nicht ein einzelnes Individuum, welches sich darin auch mit seiner subjektiven Eigenthümlichkeit künstlerischer Darstellung kenntlich macht; sondern nur eine Volksempfindung, die das Individuum ganz und voll in sich trägt, insofern es für sich selbst noch kein von der Nation und deren Daseyn und Interessen abgelöstes inneres Vorstellen und Empfinden hat. Als Voraussetzung für solche ungetrennte Einheit ist ein Zustand nothwendig, in welchem die selbstständige Reflexion und Bildung noch nicht erwacht ist, so daß nun also der Dichter ein als Subjekt zurücktretendes bloßes Organ wird, vermittelst dessen sich das nationale Leben in seiner lyrischen Empfindung und Anschauungsweise äußert. Diese unmittelbare Ursprünglichkeit giebt dem Volksliede allerdings eine reflexionslose Frische kerniger Gedrungenheit und schlagender Wahrheit, die oft von der größten Wirkung ist, aber es erhält dadurch zugleich auch leicht etwas Fragmentarisches, Abgerissenes und einen Mangel an Explikation, der bis zur Unklarheit fortgehn kann. Die Empfindung versteckt sich tief, und kann [437] und will nicht zum vollständigen Aussprechen kommen. Außerdem fehlt dem ganzen Standpunkte gemäß, obschon die Form im allgemeinen vollständig lyrischer d.h. subjektiver Art ist, dennoch, wie gesagt, das Subjekt, das diese Form und deren Inhalt als Eigenthum gerade seines Herzens und Geistes, und als Produkt seiner Kunstbildung ausspricht.

γγ) Völker, welche es nur zu dergleichen Gedichten, und es weder zu einer weiteren Stufe der Lyrik, noch zu Epopöen und dramatischen Werken bringen, sind deshalb meist halbrohe barbarische Nationen von unausgebildeter Wirklichkeit, und vorübergehenden Fehden und Schicksalen. Denn machten sie selbst in diesen heroischen Zeiten ein in sich reichhaltiges Ganzes aus, dessen besondere Seiten bereits zu selbstständiger und doch zusammenstimmender Realität herausgearbeitet wären, und den Boden für in sich konkrete und individuell abgeschlossene Thaten abgeben könnten, so würden unter ihnen bei ursprünglicher Poesie auch epische Dichter erstehen. Der Zustand, aus welchem wir solche Lieder als einzige und letzte poetische Ausdrucksweise des nationalen Geistes hervorgehn sehn, beschränkt sich deshalb mehr auf Familienleben, Zusammenhalten in Stämmen, ohne weitere Organisation eines schon zu Heroenstaaten herangereiften Daseyns. Kommen Erinnerungen an nationale Thaten vor, so sind dieß meist Kämpfe gegen fremde Unterdrücker, Raubzüge, Reaktionen der Wildheit gegen Wildheit, oder Thaten Einzelner gegen Einzelne ein und desselben Volkes, in deren Erzählung sich dann Klage und Wehmuth oder ein heller Jubel über vorübergehende Siege freien Lauf läßt. Das zu entwickelter Selbstständigkeit nicht entfaltete wirkliche Volksleben ist auf die innere Welt der Empfindung zurückgewiesen, die dann aber ebenso im Ganzen unentwickelt bleibt, und wenn sie dadurch auch an Koncentration gewinnt, dennoch nun auch ihrem Inhalte nach häufig roh und barbarisch ist. Ob daher Volkslieder für uns ein poetisches Interesse oder im Gegentheil etwas Zurückschreckendes ha[438]ben sollen, das hängt von der Art der Situation und Empfindung ab, welche sie darstellen: denn was der Phantasie des einen Volkes vortrefflich erscheint, kann einem anderen abgeschmackt, grauenhaft und widrig seyn. So giebt es z.B. ein Volkslied, das die Geschichte von einer Frau erzählt, die auf Befehl ihres Mannes eingemauert wurde, und es durch ihre Bitten nur dahin bringt, daß ihr Löcher für ihre Brüste offen gelassen werden, um ihr Kind zu säugen, und die nun auch noch so lange lebt, bis das Kind die Muttermilch entbehren konnte. Dieß ist eine barbarische gräuliche Situation. Ebenso haben Räubereien, Thaten der Bravour und bloßen Wildheit Einzelner für sich nichts in sich, womit fremde Völker einer anderweitigen Bildung sympathisiren müßten. Volkslieder sind daher auch häufig das Partikulärste, für dessen Vortrefflichkeit es keinen festen Maaßstab mehr giebt, weil sie vom allgemein Menschlichen zu weit abliegen. Wenn wir deshalb in neuerer Zeit mit Liedern der Irokesen, Eskimo's und anderer wilder Völkerschaften sind bekannt geworden, so ist dadurch für poetischen Genuß der Kreis nicht eben jedesmal erweitert.

β) Indem nun aber die Lyrik das totale Aussprechen des innern Geistes ist, so kann sie weder bei der Ausdrucksweise, noch bei dem Inhalt der wirklichen Volkslieder oder der in dem ähnlichen Tone nachgesungenen späteren Gedichte stehn bleiben.

αα) Einer Seits nämlich kommt es, wie wir so eben sahen, wesentlich darauf an, daß sich das in sich zusammengedrängte Gemüth dieser bloßen Koncentration und deren unmittelbaren Anschauung enthebe, und zum freien Vorstellen seiner selbst hindurchdringe, was in jenen so eben geschilderten Zuständen nur in unvollkommener Weise der Fall ist; anderer Seits hat es sich zu einer reichhaltigen Welt der Vorstellungen, Leidenschaften, Zustände, Konflikte auszubreiten, um alles, was die Menschenbrust in sich zu fassen im Stande ist, innerlich zu verarbeiten und als Erzeugniß des eigenen Geistes mitzutheilen. Denn die [439] Gesammtheit der lyrischen Poesie muß die Totalität des innern Lebens, soweit dasselbe in die Poesie einzugehen vermag, poetisch aussprechen, und gehört deshalb allen Bildungsstufen des Geistes gemeinsam an.

ββ) Mit dem freien Selbstbewußtseyn hängt nun auch zweitens die Freiheit der ihrer selbst gewissen Kunst zusammen. Das Volkslied singt sich gleichsam unmittelbar wie ein Naturlaut aus dem Herzen heraus; die freie Kunst aber ist sich ihrer selbst bewußt, sie verlangt ein Wissen und Wollen dessen, was sie producirt, und bedarf einer Bildung zu diesem Wissen, so wie einer zur Vollendung durchgeübten Virtuosität des Hervorbringens. Wenn daher die eigentlich epische Poesie das eigene Bilden und Machen des Dichters verbergen muß, oder es dem ganzen Charakter ihrer Entstehungszeit nach noch nicht kann sichtbar werden lassen, so geschieht dieß nur deshalb, weil das Epos es mit dem objektiven, nicht aus dem dichtenden Subjekt hervorgegangenen Daseyn der Nation zu thun hat, das daher auch in der Poesie nicht als subjektives, sondern als für sich selbstständig sich entwickelndes Produkt erscheinen muß. In der Lyrik dagegen ist das Schaffen wie der Inhalt das Subjektive, und hat sich deshalb auch als das, was es ist, kundzugeben.

γγ) In dieser Rücksicht scheidet sich die spätere lyrische Kunstpoesie ausdrücklich von dem Volksliede ab. Es giebt zwar auch Volkslieder, welche gleichzeitig mit den Werken eigentlich künstlerischer Lyrik entstehen, sie gehören sodann aber solchen Kreisen und Individuen an, die, statt jener Kunstbildung theilhaftig zu werden, sich in ihrer ganzen Anschauungsweise von dem unmittelbaren Volkssinne noch nicht losgelöst haben. Dieser Unterschied zwischen lyrischer Volks- und Kunstpoesie ist jedoch nicht so zu nehmen, als gewinne die Lyrik erst dann ihren Gipfelpunkt, wenn die Reflexion und der Kunstverstand im Verein mit selbstbewußter Geschicklichkeit in blendender Eleganz an ihr als die wesentlichsten Elemente zum Vorschein kämen. Dieß [440] würde nichts Anderes heißen, als daß wir Horaz z.B. und die römischen Lyriker überhaupt zu den vorzüglichsten Dichtern dieser Gattung rechnen müßten, oder auch in ihrem Kreise die Meistersänger etwa der vorangehenden Epoche des eigentlichen Minnegesangs vorzuziehn hätten. In diesem Extreme aber darf jener Satz nicht aufgefaßt werden, sondern er ist nur in dem Sinne richtig, daß die subjektive Phantasie und Kunst eben um der selbstständigen Subjektivität willen, die ihr Princip ausmacht, für ihre wahre Vollendung auch das freie ausgebildete Selbstbewußtseyn des Vorstellens wie der künstlerischen Thätigkeit zur Voraussetzung und Grundlage haben müsse.

γ) Eine letzte Stufe endlich können wir von den bisher angedeuteten in folgender Weise unterscheiden. Das Volkslied liegt noch vor der eigentlichen Ausbildung einer auch prosaischen Gegenwart und Wirklichkeit des Bewußtseyns; die lyrische echte Kunstpoesie dagegen entreißt sich dieser bereits vorhandenen Prosa, und schafft aus der subjektiv selbstständig gewordenen Phantasie eine neue poetische Welt der inneren Betrachtung und Empfindung, durch welche sie sich erst den wahren Inhalt und die wahre Ausdrucksweise des menschlichen Innern lebendig erzeugt. Drittens aber giebt es auch eine Form des Geistes, die wiederum nach einer Seite hin höher steht als die Phantasie des Gemüths und der Anschauung, insofern sie ihren Inhalt in durchgreifenderer Allgemeinheit und nothwendigerem Zusammenhange zum freien Selbstbewußtseyn zu bringen vermag, als dieß der Kunst überhaupt möglich wird. Ich meine das philosophische Denken. Umgekehrt jedoch ist diese Form anderer Seits mit der Abstraktion behaftet, sich nur in dem Elemente des Denkens als der bloß ideellen Allgemeinheit zu entwickeln, so daß der konkrete Mensch sich nun auch gedrungen finden kann, den Inhalt und die Resultate seines philosophischen Bewußtseyns in konkreter Weise, als durchdrungen von Gemüth und Anschauung, Phantasie und Empfindung auszusprechen, um [441] darin einen totalen Ausdruck des ganzen Innern zu haben und zu geben.

Auf diesem Standpunkte lassen sich vornehmlich zwei verschiedene Auffassungsweisen geltend machen. Eines Theils nämlich kann es die Phantasie seyn, welche über sich selbst hinaus den Bewegungen des Denkens entgegenstrebt, ohne doch zur Klarheit und festen Gemessenheit philosophischer Expositionen hindurchzudringen. Dann wird die Lyrik meist der Erguß einer in sich kämpfenden und ringenden Seele, die in ihrem Gähren sowohl der Kunst als dem Denken Gewalt anthut, indem sie das eine Gebiet überschreitet, ohne in dem anderen zu Hause zu seyn oder heimisch werden zu können. Anderen Theils aber ist auch das in sich als Denken beruhigte Philosophiren im Stande, seine klar gefaßten und systematisch durchgeführten Gedanken mit Empfindung zu beseelen, durch Anschauung zu versinnlichen, und den wissenschaftlich in seiner Nothwendigkeit offenbaren Gang und Zusammenhang, wie dieß z.B. Schiller in manchen Gedichten thut, gegen jenes freie Spiel der besonderen Seiten einzutauschen, unter dessen Scheine der Ungebundenheit die Kunst hier ihre innere Einigungen um so mehr zu verbergen suchen muß, je weniger sie in den nüchternen Ton didaktischer Auseinandersetzung verfallen will.

 

 

2. Besondere Seiten der lyrischen Poesie.

Nachdem wir nun bisher den allgemeinen Charakter des Inhalts, den die lyrische Poesie sich geben, und der Form, in der sie denselben aussprechen kann, sowie die verschiedenen Standpunkte der Bildung betrachtet haben, welche sich mehr oder weniger dem Princip der Lyrik gemäß erweisen, besteht unser nächstes Geschäft darin, diese allgemeinen Punkte nun auch ihren besonderen Hauptseiten und Beziehungen nach auszuführen.

Auch in dieser Rücksicht will ich von vorn herein den Unterschied andeuten, der zwischen der epischen und lyrischen Poesie [442] besteht. Bei Betrachtung der ersteren wendeten wir unsere vornehmlichste Aufmerksamkeit dem ursprünglichen nationalen Epos zu, und ließen dagegen die unzulänglichen Nebenarten, so wie das dichtende Subjekt, bei Seite liegen. Dieß dürfen wir in unserem jetzigen Gebiete nicht thun. Im Gegentheil stellen sich hier als die wichtigsten Gegenstände der Erörterung auf die eine Seite die dichtende Subjektivität, auf die andere, die Verzweigung der verschiedenen Arten, zu denen die Lyrik, welche überhaupt die Besonderheit und Vereinzelung des Inhalts und seiner Formen zum Princip hat, sich auszubreiten vermag. Wir können uns deshalb den nachfolgenden Gang für unsere näheren Besprechungen feststellen:

erstens haben wir unseren Blick auf den lyrischen Dichter zu richten;

zweitens müssen wir das lyrische Kunstwerk als Produkt der subjektiven Phantasie betrachten, und

drittens die Arten angeben, welche aus dem allgemeinen Begriff der lyrischen Darstellung hervorgehn.

 

a) Der lyrische Dichter.

α) Den Inhalt der Lyrik machen, wie wir sahen, einer Seits Betrachtungen aus, welche das Allgemeine des Daseyns und seiner Zustände zusammenfassen, anderer Seits die Mannigfaltigkeit des Besonderen. Als bloße Allgemeinheiten und besondere Anschauungen und Empfindungen aber sind beide Elemente bloße Abstraktionen, welche, um lebendige lyrische Individualität zu erlangen, einer Verknüpfung bedürfen, die innerlicher und deshalb subjektiver Art seyn muß. Als der Mittelpunkt und eigentliche Inhalt der lyrischen Poesie hat sich daher das poetische konkrete Subjekt, der Dichter, hinzustellen, ohne jedoch zur wirklichen That und Handlung fortzugehn, und sich in die Bewegung dramatischer Konflikte zu verwickeln. Seine einzige Aeußerung und That beschränkt sich im Gegentheil dar[443]auf, daß er seinem Inneren Worte leiht, die, was auch immer ihr Gegenstand seyn mag, den geistigen Sinn des sich aussprechenden Subjekts darlegen, und den gleichen Sinn und Geist, denselben Zustand des Gemüths, die ähnliche Richtung der Reflexion im Zuhörer zu erregen und wach zu erhalten bemüht sind.

β) Hierbei kann nun die Aeußerung, obschon sie für Andere ist, ein freier Ueberfluß der Heiterkeit, oder des zum Gesang sich lösenden und im Lied sich versöhnenden Schmerzes seyn, oder der tiefere Trieb, die wichtigsten Empfindungen des Gemüths und weitreichendsten Betrachtungen nicht für sich zu behalten, – denn wer singen und dichten kann, hat den Beruf dazu, und soll dichten. Doch sind äußere Veranlassungen, ausdrückliche Einladung und dergleichen mehr in keiner Weise ausgeschlossen. Der große lyrische Dichter aber schweift in solchem Falle bald von dem eigentlichen Gegenstande ab, und stellt sich selber dar. So wurde Pindar, um bei diesem schon mehrfach erwähnten Beispiele zu bleiben, häufig aufgefordert, diesen oder jenen sieggekrönten Wettkämpfer zu feiern, ja er erhielt selbst hin und wieder Geld dafür, und dennoch tritt Er, als Sänger, an die Stelle seines Helden, und preist nun in selbstständiger Verknüpfung seiner eigenen Phantasie die Thaten etwa der Voreltern, erinnert an alte Mythen, oder spricht seine tiefe Ansicht über das Leben, über Reichthum, Herrschaft, über das, was groß und ehrenwerth, über die Hoheit und Lieblichkeit der Musen, vor allem aber über die Würde des Sängers aus. So ehrt er auch in seinen Gedichten nicht sowohl den Helden durch den Ruhm, den er über ihn verbreitet, sondern er läßt sich, den Dichter, hören. Nicht er hat die Ehre gehabt, jene Sieger zu besingen, sondern die Ehre, die sie erhalten, ist, daß Pindar sie besungen hat. Diese hervorragende innere Größe macht den Adel des lyrischen Dichters aus. Homer ist in seinem Epos als Individuum so sehr aufgeopfert, daß man ihm jetzt nicht einmal eine Existenz überhaupt mehr zugestehn will, doch [444] seine Heroen leben unsterblich fort; Pindar's Helden dagegen sind uns leere Namen geblieben, Er selbst aber, der sich gesungen und seine Ehre gegeben hat, steht unvergeßlich als Dichter da; der Ruhm, den die Helden in Anspruch nehmen dürfen, ist nur ein Anhängsel an dem Ruhme des lyrischen Sängers. – Auch bei den Römern erhält sich der lyrische Dichter zum Theil noch in dieser selbstständigen Stellung. So erzählt z.B. Sueton (T. III. p. 51. ed. Wolfii), daß Augustus dem Horaz die Worte geschrieben habe: an vereris, ne apud posteros tibi infame sit, quod videaris familiaris nobis esse; Horaz aber, da ausgenommen, wo er ex officio, wie man leicht herausfühlen kann, von Augustus spricht, kommt größtentheils bald genug auf sich selber zurück. Die 14te Ode des dritten Buchs z.B. hebt mit der Rückkehr des Augustus aus Hispanien nach dem Siege über die Cantabrer an; doch weiterhin rühmt Horaz nur, daß durch die Ruhe, welche Augustus der Welt wiedergegeben, nun auch er selbst als Dichter ruhig seines Nichtsthuns und seiner Muße genießen könne; dann befiehlt er, Kränze, Salben und alten Wein zur Feier zu bringen, und schnell die Neära herbeizuladen, – genug er hat es nur mit den Vorbereitungen zu seinem Feste zu thun. Doch auf Liebeskämpfe kommt es ihm jetzt weniger an als in seiner Jugend, zur Zeit des Konsul Plancus, denn dem Boten, den er schickt, sagt er ausdrücklich:

Si per invisum mora ianitorem
Fiet, abito
.

Mehr noch kann man es als einen ehrenwerthen Zug Klopstock's rühmen, daß er zu seiner Zeit wieder die selbstständige Würde des Sängers fühlte, und indem er sie aussprach und ihr gemäß sich hielt und betrug, den Dichter aus dem Verhältniß des Hofpoeten und Jedermannspoeten, sowie aus einer müßigen nichtsnutzigen Spielerei herausriß, womit ein Mensch sich nur ruinirt. Dennoch geschah es, daß nun gerade ihn zuerst der Buchhändler als seinen Poeten ansah. Klopstock's Ver[445]leger in Halle bezahlte ihm für den Bogen der Messiade, einen oder zwei Thaler, glaub' ich, darüber hinaus aber ließ er ihm eine Weste und Hose machen, und führte ihn so ausstaffirt in Gesellschaften umher, und ließ ihn in der Weste und Hose sehn, um bemerkbar zu machen, daß er sie ihm angeschafft habe. Dem Pindar dagegen, (so erzählen wenigstens spätere, wenn auch nicht durchweg verbürgte Berichte), setzten die Athenienser ein Standbild (Pausanias I. c. 8.), weil er sie in einem seiner Gesänge gerühmt hatte, und sandten ihm außerdem (Aeschines ep. 4.) das Doppelte der Strafe, mit welcher ihn die Thebaner um des übermäßigen Lobes willen, das er der fremden Stadt gespendet, nicht verschonen wollten; ja es heißt sogar, Apollo selber habe durch den Mund der Pythia erklärt, Pindar sollte die Hälfte der Gaben erhalten, welche die gesammte Hellas zu den pythischen Spielen zu bringen pflegte.

γ) In dem ganzen Umkreis lyrischer Gedichte stellt sich drittens nun auch die Totalität eines Individuums seiner poetischen innern Bewegung noch dar. Denn der lyrische Dichter ist gedrungen, alles, was sich in seinem Gemüth und Bewußtseyn poetisch gestaltet, im Liede auszusprechen. In dieser Rücksicht ist besonders Goethe zu erwähnen, der in der Mannigfaltigkeit seines reichen Lebens sich immer dichtend verhielt. Auch hierin gehört er zu den ausgezeichnetesten Menschen. Selten läßt sich ein Individuum finden, dessen Interesse so nach allen und jeden Seiten hin thätig war, und doch lebte er dieser unendlichen Ausbreitung ohngeachtet durchweg in sich, und was ihn berührte, verwandelte er in poetische Anschauung. Sein Leben nach Außen, die Eigenthümlichkeit seines im Täglichen eher verschlossenen als offenen Herzens, seine wissenschaftlichen Richtungen und Ergebnisse andauernder Forschung, die Erfahrungssätze seines durchgebildeten praktischen Sinns, seine ethischen Maximen, die Eindrücke, welche die mannichfach sich durchkreuzenden Erscheinungen der Zeit auf ihn machten, die Resultate, [446] die er sich daraus zog, die sprudelnde Lust und der Muth der Jugend, die gebildete Kraft und innere Schönheit seiner Mannesjahre, die umfassende frohe Weisheit seines Alters, – alles ward bei ihm zum lyrischen Erguß, in welchem er ebenso das leichteste Anspielen an die Empfindung, als die härtesten schmerzlichen Konflikte des Geistes aussprach, und sich durch dieses Aussprechen davon befreite.

 

b) Das lyrische Kunstwerk.

Was zweitens das lyrische Gedicht als poetisches Kunstwerk angeht, so läßt sich wegen des zufälligen Reichthums an den verschiedenartigsten Auffassungsweisen und Formen des seiner Seits ebenso unberechenbar mannigfaltigen Inhalts im Allgemeinen wenig darüber sagen. Denn der subjektive Charakter dieses ganzen Gebiets, obschon dasselbe sich den allgemeinen Gesetzen der Schönheit und Kunst auch hier nicht darf entziehen wollen, bringt es dennoch der Natur der Sache nach mit sich, daß der Umfang von Wendungen und Tönen der Darstellung ganz uneingeschränkt bleiben muß. Es handelt sich deshalb für unseren Zweck nur um die Frage, in welcher Weise der Typus des lyrischen Kunstwerks sich von dem des epischen unterscheidet.

In dieser Rücksicht will ich nur folgende Seiten kurz bemerklich machen:

erstens die Einheit des lyrischen Kunstwerks;

zweitens die Art seiner Entfaltung;

drittens die Außenseite des Versmaaßes und Vortrags.

α) Die Wichtigkeit, welche das Epos für die Kunst hat, liegt, wie ich schon sagte, besonders bei ursprünglichen Epopoeen weniger in der totalen Ausbildung der vollendet künstlerischen Form, als in der Totalität des nationalen Geistes, welche ein und dasselbe Werk in reichhaltigster Entfaltung an uns vorüberführt.

[447] αα) Solche eine Gesammtheit uns zu vergegenwärtigen muß das eigentlich lyrische Kunstwerk nicht unternehmen. Denn die Subjektivität kann zwar auch zu einem universellen Zusammenfassen fortgehn, will sie sich aber wahrhaft als in sich beschlossenes Subjekt geltend machen, so liegt in ihr sogleich das Princip der Besonderung und Vereinzlung. Doch ist auch hiermit eine Mannigfaltigkeit von Anschauungen aus der <Naturumgebung>, von Erinnerungen an eigne und fremde Erlebnisse, mythische und historische Begebenheiten und dergleichen nicht von vorn herein ausgeschlossen, diese Breite des Inhalts aber darf hier nicht wie in dem Epos aus dem Grunde auftreten, weil sie zur Totalität einer bestimmten Wirklichkeit gehört, sondern hat nur darin ihr Recht zu suchen, daß sie in der subjektiven Erinnerung und beweglichen Kombinationsgabe lebendig wird.

ββ) Als den eigentlichen Einheitspunkt des lyrischen Gedichts müssen wir deshalb das subjektive Innere ansehn. Die Innerlichkeit als solche jedoch ist Theils die ganz formelle Einheit des Subjekts mit sich, Theils zersplittert und zerstreut sie sich zur buntesten Besonderung und verschiedenartigsten Mannigfaltigkeit der Vorstellungen, Gefühle, Eindrücke, Anschauungen u.s.f., deren Verknüpfung nur darin besteht, daß ein und dasselbe Ich sie als bloßes Gefäß gleichsam in sich trägt. Um den zusammenhaltenden Mittelpunkt des lyrischen Kunstwerks abgeben zu können, muß deshalb das Subjekt einer Seits zur konkreten Bestimmtheit der Stimmung oder Situation fortgeschritten seyn, anderer Seits sich mit dieser Besondrung seiner als mit sich selber zusammenschließen, so daß es sich in derselben empfindet und vorstellt. Dadurch allein wird es dann zu einer in sich begrenzten subjektiven Totalität, und spricht nur das aus, was aus dieser Bestimmtheit hervorgeht und mit ihr in Zusammenhang steht.

[448] γγ) Am vollständigsten lyrisch ist in dieser Rücksicht die in einem konkreten Zustande koncentrirte Stimmung des Gemüths, indem das empfindende Herz das Innerste und Eigenste der Subjektivität ist, die Reflexion und aufs Allgemeine gerichtete Betrachtung aber leicht in das Didaktische hineingerathen, oder das Substantielle und Sachliche des Inhalts in epischer Weise hervorheben kann.

β) Ueber die Entfaltung zweitens des lyrischen Gedichts läßt sich im Allgemeinen ebensowenig Bestimmtes feststellen, und ich muß mich daher auch hier auf einige durchgreifendere Bemerkungen einschränken.

αα) Die Fortentwickelung des Epos ist verweilender Art, und breitet sich überhaupt zur Darstellung einer weitverzweigten Wirklichkeit aus. Denn im Epos legt das Subjekt sich in das Objektive hinein, das sich nun seiner selbstständigen Realität nach für sich ausgestaltet und fortbewegt. Im Lyrischen dagegen ist es die Empfindung und Reflexion, welche umgekehrt die vorhandene Welt in sich hineinzieht, dieselbe in diesem inneren Elemente durchlebt, und erst, nachdem sie zu etwas selber Innerlichem geworden ist, in Worte faßt und ausspricht. Im Gegensatze epischer Ausbreitung hat daher die Lyrik die Zusammengezogenheit zu ihrem Principe, und muß vornehmlich durch die innere Tiefe des Ausdrucks, nicht aber durch die Weitläufigkeit der Schilderung oder Explikation überhaupt wirken wollen. Doch bleibt dem lyrischen Dichter zwischen der fast verstummenden Gedrungenheit, und der zu beredter Klarheit vollständig herausgearbeiteten Vorstellung der größte Reichthum von Nüancen und Stufen offen. Ebensowenig darf die Veranschaulichung äußerer Gegenstände verbannt seyn. Im Gegentheil, die recht konkreten lyrischen Werke stellen das Subjekt auch in seiner äußeren Situation dar, und nehmen deshalb die Naturumgebung, Lokalität u.s.f. gleichfalls in sich hinein; ja es giebt Gedichte, welche sich ganz auf dergleichen Schilderungen beschränken. [449] Dann aber macht nicht die reale Objektivität und deren plastische Ausmalung, sondern das Anklingen des Aeußern an das Gemüth, die dadurch erregte Stimmung, das in solcher Umgebung sich empfindende Herz das eigentlich Lyrische aus, so daß uns durch die vor's Auge gebrachten Züge nicht dieser oder jener Gegenstand zur äußeren Anschauung, sondern das Gemüth, das sich in denselben hineingelegt hat, zum inneren Bewußtseyn kommen, und uns zu derselben Empfindungsweise oder Betrachtung bewegen soll. Das deutlichste Beispiel liefern hiefür die Romanze und Ballade, welche, wie ich schon oben andeutete, um so lyrischer sind, jemehr sie von der berichteten Begebenheit nur gerade das herausheben, was dem inneren Seelenzustande entspricht, in welchem der Dichter erzählt, und uns den ganzen Hergang in solcher Weise darbieten, daß uns daraus diese Stimmung selber lebendig zurückklingt. Deshalb bleibt alles eigentliche, wenn auch empfindungsvolle Ausmalen äußerer Gegenstände, ja selbst die weitläufige Charakteristik innerer Situationen in der Lyrik immer von geringerer Wirksamkeit, als das engere Zusammenziehn und der bezeichnungsreich koncentrirte Ausdruck.

ββ) Episoden zweitens sind dem lyrischen Dichter gleichfalls unverwehrt, doch darf er sich ihrer aus einem ganz anderen Grunde als der epische bedienen. Für das Epos liegen sie im Begriffe der objektiv ihre Seiten verselbstständigenden Totalität. Und erhalten in Rücksicht auf den Fortgang der epischen Handlung zugleich den Sinn von Verzögerungen und Hemmnissen. Ihre lyrische Berechtigung dagegen ist subjektiver Art. Das lebendige Individuum nämlich durchläuft seine innere Welt schneller, erinnert sich bei den verschiedensten Gelegenheiten der verschiedensten Dinge, verknüpft das Allermannigfaltigste, und läßt sich, ohne dadurch von seiner eigentlichen Grundempfindung oder dem Gegenstande seiner Reflexion abzukommen, von seiner Vorstellung und Anschauung herüber und hinüberführen. Die gleiche Lebendigkeit steht nun auch dem poetischen Innern zu, ob[450]schon es sich meistens schwer sagen läßt, ob dieses und jenes in einem lyrischen Gedichte episodisch zu nehmen sey oder nicht. Ueberhaupt aber gehören Abschweifungen, wenn sie nur die Einheit nicht zerreißen, vor allem aber überraschende Wendungen, witzige Kombinationen und plötzliche, fast gewaltsame Uebergänge gerade der Lyrik eigens zu.

γγ) Deshalb kann die Art des Fortgangs und Zusammenhanges in diesem Gebiete der Dichtkunst gleichfalls Theils unterschiedener, Theils ganz entgegengesetzter Natur seyn. Im Allgemeinen verträgt die Lyrik, ebensowenig als das Epos, weder die Willkür des gewöhnlichen Bewußtseyns, noch die bloß verständige Konsequenz oder den spekulativ in seiner Nothwendigkeit dargelegten Fortschritt des wissenschaftlichen Denkens, sondern verlangt eine Freiheit und Selbstständigkeit auch der einzelnen Theile. Wenn sich aber für das Epos diese relative Isolirung aus der Form des realen Erscheinens herschreibt, in dessen Typus die epische Poesie veranschaulicht, so giebt umgekehrt wieder der lyrische Dichter den besonderen Empfindungen und Vorstellungen, in denen er sich ausspricht, den Charakter freier Vereinzlung, weil jede derselben, obschon alle von der ähnlichen Stimmung und Betrachtungsweise getragen sind, dennoch ihrer Besonderheit nach sein Gemüth erfüllt, und dasselbe so lange auf diesen einen Punkt koncentrirt, bis es sich zu anderen Anschauungen und Seiten der Empfindung herüber wendet. Hiebei nun kann der fortleitende Zusammenhang ein wenig unterbrochener ruhiger Verlauf seyn, ebensosehr aber auch in lyrischen Sprüngen von einer Vorstellung vermittlungslos zu einer andern weitabliegenden übergehn, so daß der Dichter sich scheinbar fessellos umherwirft. Und dem besonnen folgernden Verstande gegenüber in diesem Fluge trunkener Begeisterung sich von einer Macht besessen zeigt, deren Pathos ihn selbst wider seinen Willen regiert und mit sich fortreißt. Der Schwung und Kampf solcher Leidenschaft ist einigen Arten der Lyrik so [451] sehr eigen, daß z.B. Horaz in vielen Gedichten dergleichen den Zusammenhang anscheinend auflösende Sprünge mit seiner Berechnung künstlich zu machen bemüht war. – Die mannigfaltigen Mittelstufen der Behandlung endlich, welche zwischen diesen Endpunkten des klarsten Zusammenhangs und ruhigen Verlaufs einer Seits, und des ungebundenen Ungestüms der Leidenschaft und Begeisterung anderer Seits liegen, muß ich übergehn.

γ) Das Letzte nun, was uns in dieser Sphäre noch zu besprechen übrig bleibt, betrifft die äußere Form und Realität des lyrischen Kunstwerks. Hier herein fallen vornehmlich das Metrum und die Musikbegleitung.

αα) Daß der Hexameter in seinem gleichmäßigen, gehaltenen und doch auch wieder lebendigen Fortströmen das Vortrefflichste der epischen Sylbenmaaße sey, läßt sich leicht einsehen. Für die Lyrik nun aber haben wir sogleich die größte Mannigfaltigkeit verschiedener Metra und die vielseitigere innere Struktur derselben zu fordern. Der Stoff des lyrischen Gedichts nämlich ist nicht der Gegenstand in seiner ihm selbst angehörigen realen Entfaltung, sondern die subjektive innere Bewegung des Dichters, deren Gleichmäßigkeit oder Wechsel, Unruhe oder Ruhe, stilles Hinfließen oder strudelnderes Fluthen und Springen sich nun auch als zeitliche Bewegung der Wortklänge, in denen sich das Innere kundgiebt, äußern muß. Die Art der Stimmung und ganzen Auffassungsweise hat sich schon im Versmaaß anzukündigen. Denn der lyrische Erguß steht zu der Zeit, als äußerem Elemente der Mittheilung, in einem viel näheren Verhältniß als das epische Erzählen, das die realen Erscheinungen in die Vergangenheit verlegt, und in einer mehr räumlichen Ausbreitung nebeneinander stellt oder verwebt, wogegen die Lyrik das augenblickliche Auftauchen der Empfindungen und Vorstellungen in dem zeitlichen Nacheinander ihres Entstehens und ihrer Ausbildung darstellt und deshalb die verschiedenartige zeitliche Bewegung selbst künstlerisch zu gestalten hat. – Zu dieser Un[452]terschiedenheit nun gehört erstens das buntere Aneinanderreihen von Längen und Kürzen in einer abgebrochneren Ungleichheit der rhythmischen Füße, zweitens die verschiedenartigeren Einschnitte, und drittens die Abrundung zu Strophen, welche sowohl in Rücksicht auf Länge und Kürze der einzelnen Zeilen als auch in Betreff auf die rythmische Figuration derselben in sich selbst und in ihrer Aufeinanderfolge von reichhaltiger Abwechslung seyn können.

ββ) Lyrischer nun zweitens als diese kunstgemäße Behandlung der zeitlichen Dauer und ihrer rhythmischen Bewegung ist der Klang als solcher der Wörter und Sylben. Hieher gehört vornehmlich die Alliteration, der Reim und die Assonanz. Bei diesem Systeme der Versifikation nämlich überwiegt, wie ich dieß früher schon auseinander gesetzt habe, einer Seits die geistige Bedeutsamkeit der Sylben, der Accent des Sinns, der sich von dem bloßen Naturelement für sich fester Längen und Kürzen loslößt, und nun vom Geist her die Dauer, Hervorhebung und Senkung bestimmt; anderer Seits thut sich der auf bestimmte Buchstaben, Sylben und Wörter ausdrücklich koncentrirte Klang isolirt hervor. Sowohl dieß Vergeistigen durch die innere Bedeutung, als auch dieß Herausheben des Klangs ist der Lyrik schlechthin gemäß, insofern sie Theils das, was da ist und erscheint, nur in dem Sinne aufnimmt und ausspricht, welchen dasselbe für das Innere hat, Theils als Material ihrer eigenen Mittheilung vornehmlich den Klang und Ton ergreift. Zwar kann sich auch in diesem Gebiete das rhythmische Element mit dem Reime verschwistern, doch geschieht dieß dann in einer selbst wieder dem musikalischen Takt sich annähernden Weise. Streng genommen ließe sich deshalb die poetische Anwendung der Assonanz, der Alliteration und des Reims auf das Gebiet der Lyrik beschränken, denn obschon sich das mittelaltrige Epos nicht von jenen Formen, der Natur der neueren Sprachen zufolge, fernhalten kann, so ist dieß jedoch hauptsächlich nur deswegen [453] zulässig, weil hier von Hause aus das lyrische Element innerhalb der epischen Poesie selber von größerer Wirksamkeit wird, und sich stärker noch in Heldenliedern, romanzen- und balladenartigen Erzählungen u.s.w. Bahn bricht. Das Aehnliche findet in der dramatischen Dichtkunst statt. Was nun aber der Lyrik eigenthümlicher angehört, ist die verzweigtere Figuration des Reims, die sich in Betreff auf die Wiederkehr der gleichen oder die Abwechselung verschiedener Buchstaben-, Sylben- und Wortklänge zu mannigfach gegliederten und verschränkten Reimstrophen ausbildet und abrundet. Dieser Abtheilungen bedienen sich freilich die epische und die dramatische Poesie gleichfalls, doch nur aus demselben Grunde, aus welchem sie auch den Reim nicht verbannen. So geben z.B. die Spanier in der ausgebildetesten Epoche ihrer dramatischen Entwicklung dem spitzfündigen Spiele der in ihrem Ausdruck alsdann wenig dramatischen Leidenschaft einen durchaus freien Raum, und verleiben Oktavreime, Sonette u.s.f. ihren sonstigen dramatischen Versmaaßen ein, oder zeigen wenigstens in fortlaufenden Assonanzen und Reimen ihre Vorliebe für das tönende Element der Sprache.

γγ) Drittens endlich wendet sich die lyrische Poesie noch in verstärkterem Grade, als dieß durch den bloßen Reim möglich ist, der Musik dadurch zu, daß das Wort zur wirklichen Melodie und zum Gesang wird. Auch diese Hinneigung läßt sich vollständig rechtfertigen. Je weniger nämlich der lyrische Stoff und Inhalt für sich Selbstständigkeit und Objektivität hat, sondern vorzugsweise innerlicher Art ist, und nur in dem Subjekte als solchen wurzelt, während er dennoch zu seiner Mittheilung einen äußeren Haltpunkt nöthig macht, um so mehr fordert er für den Vortrag eine entschiedene Aeußerlichkeit. Weil er innerlicher bleibt, muß er äußerlich erregender werden. Diese sinnliche Erregung aber des Gemüths vermag nur die Musik hervorzubringen.

[454] So finden wir denn auch in Rücksicht auf äußere Exekution die lyrische Poesie durchgängig fast in der Begleitung der Musik. Doch ist hier ein wesentlicher Stufengang in dieser Vereinigung nicht zu übersehn. Denn mit eigentlichen Melodieen verschmelzt sich wohl erst die romantische, und vornehmlich die moderne Lyrik, und zwar in solchen Liedern besonders, in welchen die Stimmung, das Gemüth das vorwaltende bleibt, und die Musik nun diesen innern Klang der Seele zur Melodie zu verstärken und auszubilden hat; wie das Volkslied z.B. eine musikalische Begleitung liebt und hervorruft. Kanzonen dagegen, Elegieen, Episteln u.s.f. ja selbst Sonette werden in neuerer Zeit nicht leicht einen Komponisten finden. Wo nämlich die Vorstellung und Reflexion oder auch die Empfindung in der Poesie selbst zu vollständiger Explikation kommt, und sich schon dadurch Theils der bloßen Koncentration des Gemüths, Theils dem sinnlichen Elemente der Kunst mehr und mehr enthebt, da gewinnt die Lyrik bereits als sprachliche Mittheilung eine größere Selbstständigkeit und giebt sich dem engen Anschließen an die Musik nicht so gefügig hin. Je unexplicirter umgekehrt das Innere ist, das sich ausdrücken will, desto mehr bedarf es der Hülfe der Melodie. Weshalb nun aber die Alten der durchsichtigen Klarheit ihrer Diktion zum Trotz, dennoch beim Vortrag die Unterstützung der Musik, und in welchem Maaße sie dieselbe forderten, werden wir noch später zu berühren Gelegenheit haben.

 

c) Die Arten der eigentlichen Lyrik.

Was nun drittens die besonderen Arten angeht, zu denen die lyrische Poesie auseinandertritt, so habe ich einiger, welche den Uebergang aus der erzählenden Form des Epos in die subjektive Darstellungsweise bilden, bereits nähere Erwähnung gethan. Auf der entgegengesetzten Seite könnte man nun ebenso das Hervorkommen des Dramatischen aufzeigen wollen; dieses [455] Herüberneigen aber zur Lebendigkeit des Drama beschränkt sich hier im Wesentlichen nur darauf, daß auch das lyrische Gedicht als Zwiegespräch, ohne jedoch zu einer sich konfliktvoll weiter bewegenden Handlung fortzugehn, die äußere Form des Dialogs in sich aufzunehmen vermag. Diese Uebergangsstufen und Zwitterarten wollen wir jedoch bei Seite liegen lassen, und nur kurz diejenigen Formen betrachten, in welchen sich das eigentliche Princip der Lyrik unvermischt geltend macht. Der Unterschied derselben findet seinen Grund in der Stellung, welche das dichtende Bewußtseyn zu seinem Gegenstande einnimmt.

α) Auf der einen Seite nämlich hebt das Subjekt die Partikularität seiner Empfindung und Vorstellung auf, und versenkt sich in die allgemeine Anschauung Gottes oder der Götter, deren Größe und Macht das ganze Innere durchdringt, und den Dichter als Individuum verschwinden läßt. Hymnen, Dithyramben, Päane, Psalmen gehören in diese Klasse, welche sich dann wieder bei den verschiedenen Völkern verschiedenartig ausbildet. Im Allgemeinsten will ich nur auf folgenden Unterschied aufmerksam machen.

αα) Der Dichter, der sich über die Beschränktheit seiner eigenen inneren und äußeren Zustände, Situationen und der damit verknüpften Vorstellungen erhebt, und sich dafür dasjenige zum Gegenstande macht, was ihn und seiner Nation als absolut und göttlich erscheint, kann sich das Göttliche erstens zu einem objektiven Bilde abrunden, und das für die innere Anschauung entworfene und ausgeführte Bild zum Preise der Macht und Herrlichkeit des besungenen Gottes für Andere hinstellen. Von dieser Art sind z.B. die Hymnen, welche dem Homer zugeschrieben werden. Sie enthalten vornehmlich mythologische, nicht etwa nur symbolisch aufgefaßte, sondern in episch gediegener Anschaulichkeit ausgestaltete Situationen und Geschichten des Gottes, zu dessen Ruhm sie gedichtet sind.

[456] ββ) Umgekehrt zweitens und lyrischer ist der dithyrambenmäßige Aufschwung als subjektiv gottesdienstliche Erhebung, die fortgerissen von der Gewalt ihres Gegenstandes, wie im Innersten durchgerüttelt und betäubt, in ganz allgemeiner Stimmung es nicht zu einem objektiven Bilden und Gestalten bringen kann, sondern beim Aufjauchzen der Seele stehn bleibt. Das Subjekt geht aus sich heraus, hebt sich unmittelbar in das Absolute hinein, von dessen Wesen und Macht erfüllt es nun jubelnd einen Preis über die Unendlichkeit anstimmt, in welche es sich versenkt, und über die Erscheinungen, in deren Pracht sich die Tiefen der Gottheit verkündigen.

Die Griechen haben es innerhalb ihrer gottesdienstlichen Feierlichkeiten nicht lange bei solchen bloßen Ausrufungen und Anrufungen bewenden lassen, sondern sind dazu fortgegangen, dergleichen Ergüsse durch Erzählung bestimmter mythischer Situationen und Handlungen zu unterbrechen. Diese zwischen die lyrischen Ausbrüche hineingestellten Darstellugen machten sich dann nach und nach zur Hauptsache, und bildeten, indem sie als lebendig abgeschlossene Handlung für sich in Form der Handlung hervortraten, das Drama aus, das nun seiner Seits wieder die Lyrik der Chöre als integrirenden Theil in sich hineinnahm.

Durchgreifender dagegen finden wir diesen Schwung der Erhebung, dieß Aufblicken, Jauchzen und Aufschreien der Seele zu dem Einen, worin das Subjekt das Endziel seines Bewußtseyns und den eigentlichen Gegenstand aller Macht und Wahrheit, als Ruhmes und Preises findet, in vielen der erhabeneren Psalmen des alten Testamentes. Wie es z.B. im 33sten Psalm heißt: "Freuet euch des Herrn, ihr Gerechten; die Frommen sollen ihn schön preisen. Danket dem Herrn mit Harfen, und lobsinget ihm auf dem Psalter von zehn Saiten; singet ihm ein neues Lied, und machet's gut auf Saitenspielen mit Schalle. Denn des Herren Wort ist wahrfaftig, und was er zusaget, das hält er gewiß. Er liebet Gerechtigkeit und Gericht. Die Erde ist [457] voll der Güte des Herrn, der Himmel ist durchs Wort des Herrn gemacht, und alle sein Heer durch den Geist seines Mundes." etc. Ebenso im 29sten Psalm: "Bringet her dem Herrn, ihr Gewaltigen, bringet her dem Herrn Ehre und Stärke. Bringet dem Herrn Ehre seines Namens, betet an den Herrn in heiligem Schmuck. Die Stimme des Herrn gehet auf den Wassern, der Gott der Ehren donnert, der Herr auf großen Wassern, die Stimme des Herrn gehet mit Macht, die Stimme des Herrn gehet herrlich. Die Stimme des Herrn zerbricht die Cedern, der Herr zerbricht die Cedern des Libanon. Und machet sie läcken wie ein Kalb, Libanon und Sirion wie ein junges Einhorn. Die Stimme des Herrn häuet wie Feuerflammen. Die Stimme des Herrn erreget die Wüsten u.s.f."

Solch eine Erhebung und lyrische Erhabenheit enthält ein Außersichseyn, und wird deshalb weniger zu einem sich Vertiefen in den konkreten Inhalt, so daß die Phantasie in ruhiger Befriedigung die Sache gewähren ließe, als sie sich vielmehr nur zu einem unbestimmten Enthusiasmus steigert, der das dem Bewußtseyn Unaussprechliche zur Empfindung und Anschauung zu bringen ringt. In dieser Unbestimmtheit kann sich das subjektive Innere seinen unerreichbaren Gegenstand nicht in beruhigter Schönheit vorstellen, und seines Ausdrucks im Kunstwerke genießen; statt eines ruhigen Bildes stellt die Phantasie die äußerlichen Erscheinungen, die sie ergreift, ungeregelter, abgerissen zusammen, und da sie im Innern zu keiner festen Gliederung der besonderen Vorstellungen gelangt, bedient sie sich auch im Aeußeren nur eines willkührlicher herausstoßenden Rhythmus.

Die Propheten, welche der Gemeinde gegenüberstehn, gehn dann mehr schon, großen Theils im Grundtone des Schmerzes und der Wehklage über den Zustand ihres Volks, in diesem Gefühl der Entfremdung und des Abfalls, in der erhabenen [458] Gluth ihrer Gesinnung und ihres politischen Zornes zur paränetischen Lyrik fort.

Aus übergroßer Wärme nun aber wird in späteren nachbildenden Zeiten diese dann künstlichere Hitze leicht kalt und abstrakt. So sind z.B. viele Hymnen- und Psalmenartige Gedichte Klopstock's weder von Tiefe der Gedanken noch von ruhiger Entwickelung irgend eines religiösen Inhalts, sondern was sich darin ausdrückt, ist vornehmlich der Versuch dieser Erhebung zum Unendlichen, das der modernen aufgeklärten Vorstellung gemäß nur zur leeren Unermeßlichkeit und unbegreiflichen Macht, Größe und Herrlichkeit Gottes, gegenüber der dadurch ganz begreiflichen Ohnmacht und erliegenden Endlichkeit des Dichters, auseinandergeht.

β) Auf einem zweiten Standpunkte stehn diejenigen Arten der lyrischen Poesie, welche sich durch den allgemeinen Namen Ode, im neueren Sinne des Worts, bezeichnen lassen. Hier tritt im Unterschiede der vorigen Stufe sogleich die für sich herausgehobene Subjektivität des Dichters als eine Hauptseite an die Spitze, und kann sich gleichfalls in zwiefacher Beziehung geltend machen.

αα) Einer Seits nämlich erwählt sich der Dichter auch innerhalb dieser neuen Form und Aeußerungsweise, wie bisher, einen in sich selbst gewichtigen Inhalt, den Ruhm und Preis der Götter, Helden, Fürsten, Liebe, Schönheit, Kunst, Freundschaft u.s.f., und zeigt sein Inneres von diesem Gehalt und dessen konkreter Wirklichkeit so durchdrungen erfüllt und hingerissen, daß es scheint, als habe der Gegenstand sich in diesem Schwunge der Begeisterung der ganzen Seele bemächtigt, und walte in ihr als die einzig bestimmende Macht. Wäre dieß nun vollständig der Fall, so könnte die Sache sich für sich objektiv zu einem epischen Skulpturbilde plastisch ausgestalten, bewegen und abschließen. Umgekehrt aber ist es gerade seine eigene Subjektivität und deren Größe, welche der Dichter für sich [459] auszusprechen und objektiv zu machen hat, so daß er sich nun seiner Seits des Gegenstandes bemächtigt, ihn innerlich verarbeitet, sich selbst in ihm zur Aeußerung bringt und deshalb in freier Selbstständigkeit den objektiven Entwickelungsgang durch seine eigene Empfindung oder Reflexion unterbricht, subjektiv beleuchtet, verändert, und somit nicht die Sache, sondern die von ihr erfüllte subjektive Begeisterung zum Meister werden läßt. Hiermit haben wir jedoch zwei verschiedene ja entgegengesetzte Seiten; die hinreißende Macht des Inhalts, und die subjektive poetische Freiheit, welche im Kampf mit dem Gegenstande, der sie bewältigen will, hervorbricht. Der Drang nun dieses Gegensatzes vornehmlich ist es, welcher den Schwung und die Kühnheit der Sprache und Bilder, das scheinbar Regellose des inneren Baues und Verlaufs, die Abschweifungen, Lücken, plötzlichen Uebergänge u.s.f. nothwendig macht, und die innere poetische Höhe des Dichters durch die Meisterschaft bewährt, mit welcher er in künstlerischer Vollendung diesen Zwiespalt zu lösen, und ein in sich selber einheitsvolles Ganzes zu produciren mächtig bleibt, das ihn, als sein Werk, über die Größe seines Gegenstandes hinaushebt.

Aus dieser Art lyrischer Begeisterung sind viele der pindarischen Oden hervorgegangen, deren siegende innere Herrlichkeit sich dann ebenso in dem vielfach bewegten und doch zu festem Maaß geregelten Rhythmus kund giebt. Horaz dagegen ist besonders da, wo er sich am meisten erheben will, sehr kühl und nüchtern, und von einer nachahmenden Künstlichkeit, welche die mehr nur verständige Feinheit der Komposition vergebens zu verdecken sucht. Auch Klopstock's Begeisterung bleibt nicht jedesmal echt, sondern wird häufig zu etwas Gemachtem, obschon manche seiner Oden voll wahrer und wirklicher Empfindung und von einer hinreißenden männlichen Würde und Kraft des Ausdrucks sind.

ββ) Anderer Seits aber braucht der Inhalt nicht schlechthin gehaltvoll und wichtig zu seyn, sondern der Dichter zwei[460]tens wird sich selbst in seiner Individualität von solcher Wichtigkeit, daß er nun auch unbedeutenderen Gegenständen, weil er sie zum Inhalte seines Dichtens macht, Würde, Adel oder doch wenigstens überhaupt ein höheres Interesse verleiht. Von dieser Art ist Vieles in Horazen's Oden, und auch Klopstock und Andere haben sich auf diesen Standpunkt gestellt. Hier ist es dann nicht das Bedeutende des Gehalts, womit der Dichter kämpft, sondern er hebt im Gegentheil das für sich Bedeutungslose in äußeren Anlässen, kleinen Vorfällen, u.s.f. zu der Höhe hinauf, auf welcher er selbst sich empfindet und vorstellt.

γ) Die ganze unendliche Mannigfaltigkeit der lyrischen Stimmung und Reflexion breitet sich endlich auf der Stufe des Liedes auseinander, in welchem deshalb auch die Besonderheit der Nationalität und dichterischen Eigenthümlichkeit am vollständigsten zum Vorschein kommt. Das Allerverschiedenartigste kann hierunter begriffen werden, und eine genaue Klassifikation wird höchst schwierig. Im Allgemeinsten lassen sich etwa folgende Unterschiede sondern.

αα) Erstens das eigentliche Lied, das zum Singen oder auch nur zum Trällern für sich und in Gesellschaft bestimmt ist. Da braucht's nicht viel Inhalt, innere Größe und Hoheit; im Gegentheil, Würde, Adel, Gedankenschwere würden der Lust, sich unmittelbar zu <äußern>, nur hinderlich werden. Großartige Reflexionen, tiefe Gedanken, erhabene Empfindungen nöthigen das Subjekt, aus seiner unmittelbaren Individualität und deren Interesse und Seelenstimmung schlechthin herauszutreten. Diese Unmittelbarkeit der Freude und des Schmerzes, das Partikuläre in ungehemmter Innigkeit soll aber gerade im Liede seinen Ausdruck finden. In seinen Liedern ist sich jedes Volk daher auch am meisten heimisch und behaglich.

Wie grenzenlos sich nun dieß Gebiet in seinem Umfange des Inhalts und seiner Verschiedenheit des Tones ausdehnt, so unterscheidet sich doch jedes Lied von den bisherigen Arten so[461]gleich durch seine Einfachheit in Ansehung des Stoffs, Ganges, Metrums, der Sprache, Bilder u.s.f. Es fängt von sich im Gemüthe an, und geht nun nicht etwa in begeisterndem Fluge von einem Gegenstande zum andern fort, sondern haftet überhaupt beschlossener in ein und demselben Inhalte fest, sey derselbe nun eine einzelne Situation oder irgend eine bestimmte Aeußerung der Lust oder Traurigkeit, deren Stimmung und Anschauungen uns durchs Herz ziehn. In dieser Empfindung oder Situation bleibt das Lied ohne Ungleichheit des Fluges und Affekts, ohne Kühnheit der Wendungen und Uebergänge ruhig und einfach stehn, und bildet nur dieses Eine in leichtem Flusse der Vorstellung bald abgebrochener und koncentrirter, bald ausgebreiteter und folgerechter, sowie in sangbaren Rhythmen und leicht faßlichen ohne mannigfaltige Verschlingung wiederkehrenden Reimen zu einem Ganzen aus. Weil es nun aber meist das An und für sich Flüchtigere zu seinem Inhalte hat, muß man nicht etwa meinen, daß eine Nation hundert und tausend Jahre hindurch die nämlichen Lieder singen müßte. Ein irgend sich weiter entwickelndes Volk ist nicht so arm und dürftig, daß es nur einmal Liederdichter unter sich hätte; gerade die Liederpoesie stirbt, im Unterschiede der Epopoee, nicht aus, sondern erweckt sich immer von Frischem. Dieß Blumenfeld erneuert sich in jeder Jahreszeit, und nur bei gedrückten, von jedem Vorschreiten abgeschnittenen Völkern, die nicht zu der immer neubelebten Freudigkeit des Dichtens kommen, erhalten sich die alten und ältesten Lieder. Das einzelne Lied wie die einzelne Stimmung entsteht und vergeht, regt an, erfreut, und wird vergessen. Wer kennt und singt z.B. noch die Lieder, welche vor funfzig Jahren allgemein bekannt und beliebt waren. Jede Zeit schlägt ihren neuen Liederton an, und der frühere klingt ab, bis er gänzlich verstummt. Dennoch aber muß jedes Lied, nicht sowohl eine Darstellung der Persönlichkeit des Sängers als solchen, als eine Gemeingültigkeit haben, welche vielfach anspricht, gefällt, die [462] gleiche Empfindung anregt, und so nun auch von Munde zu Munde geht. Lieder die nicht allgemein in ihrer Zeit gesungen werden, sind selten echter Art.

Als den wesentlichen Unterschied nun in der Ausdrucksweise des Liedes will ich nur zwei Hauptseiten herausheben, welche ich schon früher berührt habe. Eines Theils nämlich kann der Dichter sein Inneres und dessen Bewegungen ganz offen und ausgelassen aussprechen, besonders die freudigen Empfindungen und Zustände, so daß er alles, was in ihm vorgeht, vollständig mittheilt; anderen Theils aber kann er im entgegengesetzten Extrem gleichsam nur durch sein Verstummen ahnen lassen, was in seinem unaufgeschlossenen Gemüthe sich zusammendrängt. Die erste Art des Ausdrucks gehört hauptsächlich dem Orient und besonders der sorglosen Heiterkeit und begierdefreien Expansion der muhamedanischen Poesie an, deren glänzende Anschauung sich in sinniger Breite und witzigen Verknüpfungen herüber und hinüber zu wenden liebt. Die zweite dagegen sagt mehr der nordisch in sich koncentrirten Innerlichkeit des Gemüths zu, das in gedrungener Stille oft nur nach ganz äußerlichen Gegenständen zu greifen und in ihnen anzudeuten vermag, daß das in sich gepreßte Herz sich nicht aussprechen und Luft machen könne, sondern wie das Kind, mit dem der Vater im Erlkönig durch Nacht und Wind reitet, in sich verglimmt und erstickt. Dieser Unterschied, der auch sonst schon im Lyrischen sich in allgemeinerer Weise als Volks- und Kunstpoesie, Gemüth und umfassendere Reflexion geltend macht, kehrt auch hier innerhalb des Liedes mit vielfachen Nüancen und Mittelstufen wieder.

Was nun endlich einzelne Arten betrifft, die sich hieher zählen lassen, so will ich nur folgende erwähnen.

Erstlich Volkslieder, welche ihrer Unmittelbarkeit wegen hauptsächlich auf dem Standpunkte des Liedes stehn bleiben und meist sangbar sind, ja des begleitenden Gesanges bedürfen. Sie erhalten Theils die nationalen Thaten und Begebnisse, in wel[463]chen das Volk sein eigenstes Leben empfindet, in der Erinnerung wach, Theils sprechen sie die Empfindungen und Situationen der verschiedenen Stände, das Mitleben mit der Natur und den nächsten menschlichen Verhältnissen unmittelbar aus, und stimmen die verschiedenartigsten Töne der Lustigkeit oder Trauer und Wehmuth an. – Ihnen gegenüber zweitens stehn die Lieder einer schon in sich vielfach bereicherten Bildung, welche sich zu geselliger Erheiterung an den mannigfaltigsten Scherzen, anmuthigen Wendungen, kleinen Vorfällen und sonstigen galanten Einkleidungen ergötzt, oder empfindsamer sich an die Natur und an Situationen des engeren menschlichen Lebens wendet, und diese Gegenstände so wie die Gefühle dabei und darüber beschreibt, indem der Dichter in sich zurückgeht, und sich an seiner eigenen Subjektivität und deren Herzensregungen weidet. Bleiben dergleichen Lieder bei der bloßen Beschreibung, besonders von Naturgegenständen stehn, so werden sie leicht trivial und zeugen von keiner schöpferischen Phantasie. Auch mit dem Beschreiben der Empfindungen über etwas geht es häufig nicht besser. Vor allem muß der Dichter bei solcher Schilderung der Gegenstände und Empfindungen nicht mehr in der Befangenheit der unmittelbaren Wünsche und Begierden stehen, sondern in theoretischer Freiheit sich schon eben so sehr darüber erhoben haben, so daß es ihm nur auf die Befriedigung ankommt, welche die Phantasie als solche giebt. Diese unbekümmerte Freiheit, diese Ausweitung des Herzens und Befriedigung im Elemente der Vorstellung giebt z.B. vielen der anakreontischen Lieder, sowie den Gedichten des Hafis und dem goetheschen westöstlichen Divan den schönsten Reiz geistiger Freiheit und Poesie. – Drittens nun aber ist auch auf dieser Stufe ein höherer allgemeiner Inhalt nicht etwa ausgeschlossen. Die meisten protestantischen Gesänge für kirchliche Erbauung z.B. gehören zur Klasse der Lieder. Sie drücken die Sehnsucht nach Gott, die Bitte um seine Gnade, die Reue, Hoffnung, Zuversicht, den Zweifel, [464] Glauben u.s.f. des protestantischen Herzens zwar als Angelegenheit und Situation des einzelnen Gemüths aus, aber auf allgemeine Weise, in welcher diese Empfindungen und Zustände zugleich mehr oder weniger Angelegenheit eines Jeden seyn können oder sollen.

ββ) Zu einer zweiten Gruppe dieser umfassenden Stufe lassen sich die Sonette, Sestinen, Elegieen, Episteln u.s.f. rechnen. Diese Arten treten aus dem bisher betrachteten Kreise des Liedes schon heraus. Die Unmittelbarkeit des Empfindens und <Aeußerns> nämlich hebt sich hier zur Vermittlung der Reflexion und vielseitig umherblickenden, das Einzelne der Anschauung und Herzenserfahrung unter allgemeinere Gesichtspunkte zusammenfassenden Betrachtung auf; Kenntniß, Gelehrsamkeit, Bildung überhaupt darf sich geltend machen, und wenn auch in allen diesen Beziehungen die Subjektivität, welche das Besondere und Allgemeine in sich verknüpft und vermittelt, das Herrschende und Hervorstechende bleibt, so ist doch der Standpunkt, auf den sie sich stellt, allgemeiner und erweiterter als im eigentlichen Liede. Besonders die Italiener z.B. haben in ihren Sonetten und Sestinen ein glänzendes Beispiel einer feinsinnig reflektirenden Empfindung gegeben, die in einer Situation nicht bloß die Stimmungen der Sehnsucht, des Schmerzes, Verlangens u.s.f. oder die Anschauungen von äußeren Gegenständen mit inniger Koncentration unmittelbar ausdrückt, sondern sich vielfach herumwindet, mit Besonnenheit weit in Mythologie, Geschichte, Vergangenheit und Gegenwart umherblickt, und doch immer in sich wiederkehrt und sich beschränkt und zusammenhält. Dieser Art der Bildung ist weder die Einfachheit des Liedes vergönnt, noch die Erhebung der Ode gestattet, wodurch denn einer Seits die Sangbarkeit fortfällt, anderer Seits aber, als Gegentheil des begleitenden Singens, die Sprache selbst in ihrem Klingen und künstlichen Reimen zu einer tönenden Melodie des Wortes wird. Die Elegie dagegen kann in Sylbenmaaß, Reflexionen, Aus[465]sprüchen und beschreibender Darstellung der Empfindungen epischer gehalten seyn.

γγ) Die dritte Stufe in dieser Sphäre wird durch eine Behandlungsweise ausgefüllt, deren Charakter neuerdings unter uns Deutschen am schärfsten in Schiller hervorgetreten ist. Die meisten seiner lyrischen Gedichte, wie die Resignation, die Ideale, das Reich der Schatten, die Künstler, das Ideal und das Leben, sind ebensowenig eigentliche Lieder als Oden oder Hymnen, Episteln, Sonette oder Elegieen im antiken Sinne; sie nehmen im Gegentheil einen von allen diesen Arten verschiedenen Standpunkt ein. Was sie auszeichnet, ist besonders der großartige Grundgedanke ihres Inhalts, von welchem der Dichter jedoch weder dithyrambisch fortgerissen erscheint, noch im Drange der Begeisterung mit der Größe seines Gegenstandes kämpft, sondern desselben vollkommen Meister bleibt, und ihn mit eigener poetischer Reflexion, in ebenso schwungreicher Empfindung als umfassender Weite der Betrachtung mit hinreißender Gewalt in den prächtigsten volltönendsten Worten und Bildern, doch meist ganz einfachen aber schlagenden Rhythmen und Reimen, nach allen Seiten hin vollständig explicirt. Diese großen Gedanken und gründlichen Interessen, denen sein ganzes Leben geweiht war, erscheinen deshalb als das innerste Eigenthum seines Geistes, aber er singt nicht still in sich oder in geselligem Kreise, wie Goethe's liederreicher Mund, sondern wie ein Sänger, der einen für sich selbst würdigen Gehalt einer Versammlung der Hervorragendsten und Besten vorträgt. So tönen seine Lieder, wie er selbst von seiner Glocke sagt:

Hoch über'm niedern Erdenleben
Soll sie im blauen Himmelszelt,
Die Nachbarin des Donners, schweben
Und grenzen an die Sternenwelt,
Soll eine Stimme seyn von oben,
Wie der Gestirne helle Schaar,
[466] Die ihren Schöpfer wandelnd leben
Und führen das bekränzte Jahr.
Nur ewigen und ernsten Dingen
Sey ihr metall'ner Mund geweiht,
Und stündlich mit den schnellen Schwingen
Berühr' im Fluge sie die Zeit.

 

 

3. Geschichtliche Entwickelung der Lyrik.

Aus dem, was ich Theils über den allgemeinen Charakter, Theils über die näheren Bestimmungen angedeutet habe, welche in Rücksicht auf den Dichter, das lyrische Kunstwerk und die Arten der Lyrik in Betracht kommen, erhellt schon zur Genüge, daß besonders in diesem Gebiete der Poesie eine konkrete Behandlung nur in zugleich historischer Weise möglich ist. Denn das Allgemeine, das für sich kann festgestellt werden, bleibt nicht nur seinem Umfange nach beschränkt, sondern auch in seinem Werthe abstrakt, weil fast in keiner anderen Kunst in gleichem Maaße die Besonderheit der Zeit und Nationalität, sowie die Einzelnheit des subjektiven Genius das Bestimmende für den Inhalt und die Form der Kunstwerke abgiebt. Jemehr nun aber hieraus für uns die Forderung erwächst, eine solche geschichtliche Darstellung nicht zu umgehn, um so mehr muß ich mich eben um dieser Mannigfaltigkeit willen, zu welcher die lyrische Poesie auseinander geht, ausschließlich auf die kurze Uebersicht über dasjenige beschränken, was mir in diesem Kreise zur Kenntniß gekommen ist, und woran ich einen regeren Antheil habe nehmen können.

Den Grund für die allgemeine Gruppirung der vielfachen nationalen und individuellen lyrischen Produkte haben wir, wie bei der epischen Poesie, aus den durchgreifenden Formen zu entnehmen, zu denen sich das künstlerische Hervorbringen überhaupt entfaltet, und welche wir als die symbolische, klassische und romantische Kunst haben kennen lernen. Als Haupteintheilung müssen [467] wir deshalb auch in diesem Gebiete dem Stufengange folgen, der uns von der orientalischen zu der Lyrik der Griechen und Römer, und von dieser zu den slavischen, romanischen und germanischen Völkern herüberführt.

a) Was nun erstens die orientalische Lyrik näher anbetrifft, so unterscheidet sie sich von der abendländischen im Wesentlichsten dadurch, daß es der Orient seinem allgemeinen Principe gemäß weder zur individuellen Selbstständigkeit und Freiheit des Subjekts noch zu jener Verinnigung jedes Inhaltes bringt, deren Unendlichkeit in sich die Tiefe des romantischen Gemüths ausmacht. Im Gegentheil zeigt sich das subjektive Bewußtseyn seinem Inhalt nach auf der einen Seite in das Aeußere und Einzelne unmittelbar versunken, und spricht sich in dem Zustande und den Situationen dieser ungetrennten Einheit aus, anderer Seits hebt es sich, ohne festen Halt in sich selber zu finden, gegen dasjenige auf, was ihm in der Natur und den Verhältnissen des menschlichen Daseyns als das Mächtige und Substantielle gilt, und zu dem es sich nun in diesem bald negativeren bald freieren Verhältniß in seiner Vorstellung und Empfindung, ohne es erreichen zu können, heranringt. – Der Form nach treffen wir deshalb hier weniger die poetische Aeußerung selbstständiger Vorstellungen über Gegenstände und Verhältnisse, als vielmehr das unmittelbare Schildern jener reflexionslosen Einlebung, wodurch sich nicht das Subjekt in seiner in sich zurückgenommenen Innerlichkeit, sondern in seinem Aufgehobenseyn gegen die Objekte und Situationen zu erkennen giebt. Nach dieser Seite hin erhält die orientalische Lyrik häufig, im Unterschiede besonders der romantischen, einen gleichsam objektiveren Ton. Denn oft genug spricht das Subjekt die Dinge und Verhältnisse nicht so aus, wie sie in ihm sind, sondern so, wie es in den Dingen ist, denen es nun häufig auch ein für sich selbstständig beseeltes Leben giebt; wie z.B. Hafis einmal ausruft:

[468] O komm! die Nachtigall von dem Gemüth Hafisens
Kömmt auf den Duft der Rosen des Genusses wieder.

Anderer Seits geht diese Lyrik in der Befreiung des Subjekts von sich und aller Einzelnheit und Partikularität überhaupt zur ursprünglichen Expansion des Innern fort, das sich nun aber leicht ins Grenzenlose verliert, und zu einem positiven Ausdruck dessen, was es sich zum Gegenstande macht, nicht hindurchdringen kann, weil dieser Inhalt selbst das ungestaltbar Substantielle ist. Im Ganzen hat deshalb in dieser letzteren Rücksicht die morgenländische Lyrik besonders bei den Hebräern, Arabern und Persern den Charakter hymnenartiger Erhebung. Alle Größe, Macht und Herrlichkeit der Kreatur häuft die subjektive Phantasie verschwenderisch auf, um diesen Glanz dennoch vor der unaussprechlich höheren Majestät Gottes verschwinden zu lassen, oder sie wird nicht müde, wenigstens alles Liebliche und Schöne zu einer köstlichen Schnur aneinander zu reihn, die sie als Opfergabe demjenigen darbringt, was dem Dichter, sey es nun Sultan, Geliebte oder Schenke, einzig von Werth ist.

Als nähere Form des Ausdrucks endlich ist hauptsächlich in dieser Sphäre der Poesie die Metapher, das Bild und Gleichniß zu Hause. Denn Theils kann sich das Subjekt, das in seinem eigenen Innern nicht frei für sich selber ist, nur im vergleichenden Einleben in Anderes und Aeußeres kundgeben; Theils bleibt hier das Allgemeine und Substantielle abstrakt, ohne sich mit einer bestimmten Gestalt zu freier Individualität zusammenschmelzen zu lassen, so daß es nun auch seiner Seits nur im Vergleich mit den besondern Erscheinungen der Welt zur Anschauung gelangt, während diese endlich nur den Werth erhalten, zur annähernden Vergleichbarkeit mit dem Einen dienen zu können, das allein Bedeutung hat und des Ruhmes und Preises würdig ist. Diese Metaphern, Bilder und Gleichnisse aber, zu welchen das durchweg fast zur Anschauung heraustretende Innere sich aufschließt, sind nicht die wirkliche [469] Empfindung und Sache selbst, sondern ein nur subjektiv vom Dichter gemachter Ausdruck derselben. Was deshalb dem lyrischen Gemüthe hier an innerlich konkreter Freiheit abgeht, das finden wir durch die Freiheit des Ausdrucks ersetzt, der sich von naiver Unbefangenheit in Bildern und Gleichnißreden ab, die vielseitigsten Mittelstufen hindurch, bis zur unglaublichsten Kühnheit und dem scharfsinnigsten Witz neuer und überraschender Kombinationen fortentwickelt.

Was zum Schluß die einzelnen Völker angeht, welche sich in der orientalischen Lyrik hervorgethan haben, so sind hier erstens die Chinesen, zweitens die Inder, drittens aber vor allem die Hebräer, Araber und Perser zu nennen auf deren nähere Charakteristik ich mich jedoch nicht einlassen kann.

b. Auf der zweiten Hauptstufe, in der Lyrik der Griechen und Römer, ist es die klassische Individualität, welche den durchgreifenden Charakterzug ausmacht. Diesem Principe gemäß geht das einzelne Bewußtseyn, das sich lyrisch mittheilt, weder in das Aeußere und Objektive auf, noch erhebt es sich über sich selbst hinaus zu dem erhabenen Anruf an alle Kreatur: alles was Odem hat lobe den Herrn! oder versenkt sich, nach freudiger Entfesselung von allen Banden der Endlichkeit, in den Einen, der alles durchdringt und beseelt, sondern das Subjekt schließt sich mit dem Allgemeinen, als der Substanz seines eigenen Geistes, frei zusammen, und bringt sich diese individuelle Einigung innerlich zum poetischen Bewußtseyn.–

Wie von der orientalischen, so unterscheidet sich die Lyrik der Griechen und Römer auf der anderen Seite ebensosehr von der romantischen. Denn statt sich bis zur Innigkeit partikulärer Stimmungen und Situationen zu vertiefen, arbeitet sie hingegen das Innere zur klarsten Explikation seiner individuellen Leidenschaft, Anschauung und Betrachtungen heraus. Dadurch behält auch sie, selbst als Aeußerung des inneren Geistes, soweit dieß der Lyrik gestattet ist, den plastischen Typus [470] der klassischen Kunstform bei. Was sie nämlich von Lebensansichten, Weisheitssprüchen u.s.f. darlegt, entbehrt aller durchsichtigen Allgemeinheit ungeachtet dennoch nicht der freien Individualität selbstständiger Gesinnung und Auffassungsweise, und spricht sich weniger bilderreich und metaphorisch als direkt und eigentlich aus, während auch die subjektive Empfindung Theils in allgemeinerer Weise, Theils in anschaulicher Gestalt für sich selbst objektiv wird. In derselben Individualität scheiden sich die besonderen Arten in Betreff auf Konception, Ausdruck, Dialekt und Vermaaß von einander ab, um in abgeschlossener Selbstständigkeit den Kulminationspunkt ihrer Ausbildung zu erreichen, und wie das Innere und dessen Vorstellungen ist auch der äußere Vortrag plastischerer Art, indem derselbe in musikalischer Rücksicht weniger die innerliche Seelenmelodie der Empfindung als den sinnlichen Wortklang in dem rhythmischen Maaß seiner Bewegung hervorhebt, und hiezu endlich noch die Verschlingungen des Tanzes treten läßt.

α) In ursprünglicher reichster Entwickelung bildet die griechische Lyrik diesen Kunstcharakter vollendet aus. Zuerst als noch episch gehaltnere Hymnen, welche im Metrum des Epos weniger die innere Begeisterung aussprechen, als in festen objektiven Zügen, wie ich schon oben anführte, ein plastisches Bild der Götter vor die Seele stellen. – Den nächsten Fortgang sodann bildet dem Metrum nach das elegische Sylbenmaaß, das den Pentameter hinzufügt, und durch den regelmäßig wiederkehrenden Anschluß desselben an den Hexameter und die gleichen abbrechenden Einschnitte den ersten Beginn einer strophenartigen Abrundung zeigt. So ist denn auch die Elegie in ihrem ganzen Tone bereits lyrischer, sowohl die politische als auch die erotische, obschon sie besonders als gnomische Elegie dem epischen Herausheben und Aussprechen des Substantiellen als solchen noch nahe liegt, und daher auch ausschließlich fast den Ioniern angehört, bei welchen die objektive Anschauung die Oberhand hatte. [471] Auch in Rücksicht auf das Musikalische ist es hauptsächlich nur die rhythmische Seite, die zur Ausbildung gelangt. – Daneben drittens entwickelt sich in einem neuen Versmaaße das jambische Gedicht, das durch die Schärfe seiner Schmähungen eine schon subjektivere Richtung nimmt.

Die eigentlich lyrische Reflexion und Leidenschaft aber entwickelt sich erst in der sogenannten melischen Lyrik: die Metra werden verschiedenartiger, wechselnder, die Strophen reicher, die Elemente der musikalischen Begleitung durch die hinzutretende Modulation vollständiger; jeder Dichter macht sich ein seinem lyrischen Charakter entsprechendes Sylbenmaaß; Sappho für ihre weichen doch von leidenschaftlicher Gluth entflammten und im Ausdruck wirkungsvoll gesteigerten Ergüsse; Alcäus für seine männlich kühneren Oden, und besonders lassen die Skolien bei der Mannigfaltigkeit ihres Inhalts und Tones auch eine vielseitige Nuancirung der Diktion und des Metrums zu.

Die chorische Lyrik endlich entfaltet sich sowohl in Betreff auf Reichthum der Vorstellung und Reflexion, Kühnheit der Uebergänge, Verknüpfungen u.s.f., als auch in Rücksicht auf äußeren Vortrag am reichhaltigsten. Der Chorgesang kann mit einzelnen Stimmen wechseln, und die innerliche Bewegung begnügt sich nicht mit dem bloßen Rhythmus der Sprache und den Modulationen der Musik, sondern ruft als plastisches Element auch noch die Bewegungen des Tanzes zu Hülfe, so daß hier die subjektive Seite der Lyrik an ihrer Versinnlichung durch die Exekution ein vollständiges Gegengewicht erhält. Die Gegenstände dieser Art der Begeisterung sind die substantiellsten und gewichtigsten, die Verherrlichung der Götter, sowie der Sieger bei den Kampfspielen, in welchen die in politischer Rücksicht häufig getrennten Griechen die objektive Anschauung ihrer nationalen Einheit fanden; und so fehlt es denn auch nach Seiten der innern Auffassungsweise nicht an epischen und objektiven Elementen. Pindar z.B., der in diesem Gebiete den Gipfel der [472] Vollendung erreicht, geht, wie ich bereits angab, von den äußerlich sich darbietenden Anlässen leicht über zu tiefen Aussprüchen über die allgemeine Natur des Sittlichen, Göttlichen, dann der Heroen, heroischer Thaten, Stiftungen von Staaten u.s.f. und hat die plastische Veranschaulichung ganz ebenso wie den subjektiven Schwung der Phantasie in seiner Gewalt. Daher ist es aber nicht die Sache, die sich episch für sich fortmacht, sondern die subjektive Begeisterung, ergriffen von ihrem Gegenstande, so daß dieser umgekehrt vom Gemüthe getragen und producirt erscheint.

Die spätere Lyrik der alexandrinischen Dichter ist dann weniger eine selbstständige Weiterentwickelung als vielmehr eine gelehrtere Nachahmung und Bemühung um Eleganz und Korrektheit des Ausdrucks, bis sie sich endlich zu kleineren Anmuthigkeiten, Scherzen u.s.f. verstreut, oder in Epigrammen sonst schon vorhandene Blumen der Kunst und des Lebens durch ein Band der Empfindung und des Einfalls neu zu verknüpfen und durch Witz des Lobes oder der Satyre aufzufrischen sucht.

β) Bei den Römern zweitens findet die lyrische Poesie einen zwar mehrfach angebauten, doch weniger ursprünglich fruchtreichen Boden. Ihre Epoche des Glanzes beschränkt sich deshalb vornehmlich Theils auf das Zeitalter des Augustus, in welcher sie als theoretische Aeußerung und gebildeter Genuß des Geistes betrieben wurde, Theils bleibt sie eine Sache mehr der übersetzenden, oder kopirenden Geschicklichkeit, und Frucht des Fleißes und Geschmacks, als der frischen Empfindung und künstlerischen originalen Konception. Dennoch aber stellt sich, der Gelehrsamkeit und fremden Mythologie, sowie der Nachbildung vorzugsweise kälterer alexandrinischer Muster ungeachtet, die römische Eigenthümlichkeit überhaupt und der individuelle Charakter und Geist der einzelnen Dichter zugleich wieder selbstständig heraus, und giebt, wenn man von der innersten Seele der Poesie und Kunst abstrahirt, im Felde sowohl der Ode als auch [473] der Epistel, Satyre und Elegie etwas durchaus in sich Fertiges und Vollendetes. Die spätere Satyre dagegen, die sich hier hereinziehn läßt, betritt in ihrer Bitterkeit gegen das Verderben der Zeit, in ihrer stachelnden Entrüstung und deklamatorischen Tugend um so weniger den eigentlichen Kreis ungetrübter poetischer Anschauung, jemehr sie dem Bilde einer verworfenen Gegenwart nichts Anderes entgegenzusetzen hat, als eben jene Indignation und abstrakte Rhetorik eines tugendhaften Eifers.

c) Wie in die epische Poesie kommt deshalb auch in die Lyrik ein ursprünglicher Gehalt und Geist erst durch das Auftreten neuer Nationen hinein. Dieß ist bei den germanischen, romanischen und slawischen Völkerschaften der Fall, welche bereits in ihrer heidnischen Vorzeit, hauptsächlich aber nach ihrer Bekehrung zum Christenthume, sowohl im Mittelalter als auch in den letzten Jahrhunderten, eine dritte Hauptrichtung der Lyrik im allgemeinen Charakter der romantischen Kunstform immer mannigfacher und reichhaltiger ausbilden.

In diesem dritten Kreise wird die lyrische Poesie von so überwiegender Wichtigkeit, daß ihr Princip sich zunächst besonders in Rücksicht auf das Epos, dann aber in einer späteren Entwickelung auch in Betreff auf das Drama in einer viel tieferen Weise, als es bei den Griechen und Römern möglich war, geltend macht, ja bei einigen Völkern sogar die eigentlich epischen Elemente ganz im Typus der erzählenden Lyrik behandelt, und dadurch Produkte hervorbringt, bei denen es zweifelhaft scheinen kann, ob sie zur einen oder anderen Gattung zu rechnen seyen. Dieses Herüberneigen zur lyrischen Auffassung findet seinen wesentlichen Grund darin, daß sich das gesammte Leben dieser Nationen aus dem Princip der Subjektivität entwickelt, die das Substantielle und Objektive als das Ihrige aus sich hervorzubringen und zu gestalten gedrungen ist, und sich dieser subjektiven Vertiefung in sich mehr und mehr bewußt wird. Am ungetrübtesten und vollständigsten bleibt dieß Princip bei den [474] germanischen Stämmen wirksam, während sich die slawischen umgekehrt aus der orientalischen Versenkung in das Substantielle und Allgemeine erst herauszuringen haben. In der Mitte stehn die romanischen Völker, welche in den eroberten Provinzen des römischen Reichs nicht nur die Reste römischer Kenntnisse und Bildung überhaupt, sondern nach allen Seiten hin ausgearbeitete Zustände und Verhältnisse vor sich finden, und, indem sie sich damit verschmelzen, einen Theil ihrer ursprünglichen Natur dahingeben müssen. – Was den Inhalt angeht, so sind es fast alle Entwickelungsstufen des nationalen und individuellen Daseyns, welche sich in Bezug auf die Religion und das Weltleben dieser zu immer größerem Reichthum aufgeschlossenen Völker und Jahrhunderte im Reflex des Innern als subjektive Zustände und Situationen aussprechen. Der Form nach macht Theils der Ausdruck des zur Innigkeit koncentrirten Gemüths, sey es nun, daß sich dasselbe in nationale und sonstige Begebnisse, in die Natur und äußere Umgebung hineinlege, oder rein mit sich selber beschäftigt bleibe, Theils die in sich und ihre erweiterte Bildung sich subjektiv vertiefende Reflexion den Grundtypus aus. Im Aeußeren verwandelt sich die Plastik der rhythmischen Versifikation zur Musik der Alliteration, Assonanz und mannigfachsten Reimverschlingungen, und benutzt diese neuen Elemente einer Seits höchst einfach und anspruchslos, anderer Seits mit vieler Kunst und Erfindung festausgeprägter Formen, während auch der äußere Vortrag die eigentlich musikalische Begleitung des melodischen Gesangs und der Instrumente immer vollständiger ausbildet.

In der Eintheilung endlich dieser umfassenden Gruppe können wir im Wesentlichen dem Gange folgen, den ich schon in Ansehung der epischen Poesie angegeben habe.

Auf der einen Seite steht demnach die Lyrik der neuen Völker in ihrer noch heidnischen Ursprünglichkeit;

[475] zweitens breitet sich reichhaltiger die Lyrik des christlichen Mittelalters aus;

drittens endlich ist es Theils das wiederauflebende Studium der alten Kunst, Theils das moderne Princip des Protestantismus, das von wesentlicher Einwirkung wird.

Auf eine nähere Charakteristik jedoch dieser Hauptstadien kann ich mich für diesmal nicht einlassen, und will mich nur darauf beschränken, zum Schluß noch einen deutschen Dichter herauszuheben, von dem aus unsere vaterländische Lyrik in neuerer Zeit wieder einen großartigen Aufschwung genommen hat, und dessen Verdienste die Gegenwart zu wenig würdigt: ich meine den Sänger der Messiade. Klopstock ist einer der großen Deutschen, welche die neue Kunstepoche in ihrem Volke haben beginnen helfen; eine große Gestalt, welche die Poesie aus der enormen Unbedeutenheit der gottschedischen Epoche, die, was in dem deutschen Geiste noch Edles und Würdiges war, mit eigner steifster Flachheit vollends verkahlt hatte, in muthiger Begeisterung und innerem Stolze herausriß, und, voll von der Heiligkeit des poetischen Berufs, in gediegener wenn auch herber Form Gedichte lieferte, von denen ein großer Theil bleibend klassisch ist. – Seine Jugendoden sind Theils einer edlen Freundschaft gewidmet, die ihm etwas Hohes, Festes, Ehrenhaftes, der Stolz seiner Seele, ein Tempel des Geistes war; Theils einer Liebe voll Tiefe und Empfindung, obschon gerade zu diesem Felde viele Produkte gehören, die für völlig prosaisch zu halten sind; wie z.B. "Selmar und Selma", ein trübseliger langweiliger Wettstreit zwischen Liebenden, der sich nicht ohne viel Weinen, Wehmuth, leere Sehnsucht und unnütze <melancholische> Empfindung um den müßigen leblosen Gedanken dreht, ob Selmar oder Selma zuerst sterben werde. – Vornehmlich aber tritt in Klopstock in den verschiedensten Beziehungen das Vaterlandsgefühl hervor. Als Protestanten konnte ihm die christliche Mythologie, die Heiligenlegenden u.s.f., (etwa die Engel aus[476]genommen, vor denen er einen großen poetischen Respekt hatte, obschon sie in einer Poesie der lebendigen Wirklichkeit abstrakt und todt bleiben,) weder für den sittlichen Ernst der Kunst, noch für die Kräftigkeit des Lebens und eines nicht blos weh- und demüthigen, sondern sich selbst fühlenden, positiv frommen Geistes genügen. Als Dichter aber drängte sich ihm das Bedürfniß einer Mythologie, und zwar einer heimischen, auf, deren Namen und Gestaltungen für die Phantasie schon als ein fester Boden vorhanden wären. Dieß Vaterländische geht für uns den griechischen Göttern ab, und so hat denn Klopstock, aus Nationalstolz kann man sagen, die alte Mythologie von Wodan, Hertha u.s.f. wieder aufzufrischen den Versuch gemacht. Zu objektiver Wirkung und Gültigkeit jedoch vermochte er es mit diesen Götternamen, die zwar germanisch gewesen aber nicht mehr sind, so wenig zu bringen, als die Reichsversammlung in Regensburg das Ideal unserer heutigen politischen Existenz seyn könnte. Wie groß daher auch das Bedürfniß war, eine allgemeine Volksmythologie, die Wahrheit der Natur und des Geistes, in nationaler Gestaltung poetisch und wirklich vor sich zu haben, so sehr blieben jene versunkene Götter doch nur eine völlig unwahre Hohlheit, und es lag eine Art läppischer Heuchelei in der Prätension, zu thun, als ob es der Vernunft und dem nationalen Glauben Ernst damit seyn sollte. Für die bloße Phantasie aber sind die Gestalten der griechischen Mythologie unendlich lieblicher, heiterer, menschlich freier und mannigfacher ausgebildet. Im Lyrischen jedoch ist es der Sänger, der sich darstellt, und diesen müssen wir in Klopstock um jenes vaterländischen Bedürfnisses und Versuches willen ehren, eines Versuches, der wirksam genug war, noch späte Früchte zu tragen, und auch im Poetischen die gelehrte Richtung auf die ähnlichen Gegenstände hinzulenken. – Ganz rein, schön und wirkungsreich endlich tritt Klopstock's vaterländisches Gefühl in seiner Begeisterung für die Ehre und Würde der deutschen Sprache, und alter deutscher [477] historischer Gestalten hervor, Herrmann's z.B., und vornehmlich einiger deutscher Kaiser, die sich selbst durch Dichterkunst geehrt haben. So belebte sich in ihm immer berechtigter der Stolz der deutschem Muse, und ihr wachsender Muth, sich im frohen Selbstbewußtseyn ihrer Kraft mit den Griechen, Römern und Engländern zu messen. Ebenso gegenwärtig und patriotisch ist die Richtung seines Blicks auf Deutschland's Fürsten, auf die Hoffnungen, die ihr Charakter in Rücksicht auf die allgemeine Ehre, auf Kunst und Wissenschaft, öffentliche Angelegenheiten und große geistige Zwecke erwecken könnte. Eines Theils drückte er Verachtung aus gegen diese unsere Fürsten, die "im sanften Stuhl, vom Höfling rings umräuchert, jetzt unberühmt und einst noch unberühmter" seyn würden, anderen Theils seinen Schmerz, daß selbst Friedrich der Zweite

Nicht sah, daß Deutschands Dichtkunst sich schnell erhob,
Aus fester Wurzel daurendem Stamm, und weit
     Der Aeste Schatten warf! –

und ebenso schmerzlich sind ihm die vergeblichen Hoffnungen, die ihn in Kaiser Joseph den Aufgang einer neuen Welt des Geistes und der Dichtkunst erblicken ließen. Endlich macht dem Herzen des Greisen nicht weniger die Theilnahme an der Erscheinung Ehre, daß ein Volk die Ketten aller Art zerbrach, tausendjähriges Unrecht mit Füßen trat, und zum erstenmale auf Vernunft und Recht sein politisches Leben gründen wollte. Er begrüßt diese neue

      Labende, selbst nicht geträumte Sonne.
Geseegnet sey mir du, das mein Haupt bedeckt,
Mein graues Haar, die Kraft, die nach sechzigen
   Fordauert; denn sie war's, so weit hin
      Brachte sie mich, daß ich dieß erlebte!

Ja er redet sogar die Franzosen mit den Worten an:

Verzeiht, o Franken, (Namen der Brüder ist
Der edle Name) daß ich den Deutschen einst
      [478] Zurufte, das zu fliehn, warum ich
         Ihnen izt flehe, euch nachzuahmen.

Ein um so schärferer Grimm aber befiel den Dichter, als dieser schöne Morgen der Freiheit sich in einen greuelvollen, blutigen, freiheitsmordenden Tag verwandelte. Diesen Schmerz jedoch vermochte Klopstock nicht dichterisch zu bilden, und sprach ihn um so prosaischer, haltungsloser und fassungsloser aus, als er seiner getäuschten Hoffnung nichts Höheres entgegenzusetzen wußte, da seinem Gemüthe keine reichere Vernunftforderung in der Wirklichkeit erschienen war.

In dieser Weise steht Klopstock groß im Sinne der Nation, der Freiheit, Freundschaft, Liebe und protestantischen Festigkeit da, verehrungswerth in seinem Adel der Seele und Poesie, in seinem Streben und Vollbringen, und wenn er auch nach manchen Seiten hin der Beschränktheit seiner Zeit befangen blieb, und viele bloß kritische, grammatische und metrische, kalte Oden gedichtet hat, so ist doch seitdem, Schiller ausgenommen, keine in ernster männlicher Gesinnung so unabhängige edle Gestalt wieder aufgetreten.

Dagegen aber haben Schiller und Goethe nicht bloß als solche Sänger ihrer Zeit, sondern als umfassendere Dichter gelebt, und besonders sind Goethe's Lieder das vortrefflichste, tiefste und wirkungsvollste, was wir Deutsche aus neuerer Zeit besitzen, weil sie ganz ihm und seinem Volke angehören, und, wie sie auf heimischem Boden erwachsen sind, dem Grundton unseres Geistes nun auch vollständig entsprechen. –

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Georg Wilhelm Friedrich Hegel's Vorlesungen über die Aesthetik.
Herausgegeben von H. G. Hotho. Dritter Band
(= Georg Wilhelm Friedrich Hegel's Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten.
Zehnter Band. Dritte Abtheilung).
Berlin: Duncker und Humblot 1838, S. 419-478.

PURL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10045988-2
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/012517156
URL: https://archive.org/details/georgwilhelmfri03hegegoog
URL: https://books.google.com.cu/books?id=CfIGAAAAcAAJ

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Hegel hat während seiner Lehrtätigkeit in Heidelberg und Berlin insgesamt fünfmal über Ästhetik gelesen, und zwar in Heidelberg: SS 1818 und in Berlin: WS 1820/21, SS 1823, SS 1826, WS 1828/29. Auf der Grundlage von Hegels eigenen, heute verlorenen Heften und verschiedenen Vorlesungsnachschriften hat Hotho die "Vorlesungen über die Aesthetik" redigiert und in der hier benutzten ersten Gesamtausgabe von Hegels Werken in drei Bänden herausgegeben (I: 1835, II: 1837, III: 1838). Für die zweite Auflage der "Aesthetik" hat Hotho geringfügige Änderungen vorgenommen.

Zweite Auflage 1843
Georg Wilhelm Friedrich Hegel's Vorlesungen über die Aesthetik.
Herausgegeben von H. G. Hotho. Dritter Theil. Zweite Auflage
(= Georg Wilhelm Friedrich Hegel's Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten.
Zehnter Band. Dritte Abtheilung. Zweite Auflage).
Berlin: Duncker und Humblot 1843; hier: Die lyrische Poesie (S. 419-478).
URL: https://books.google.com.ly/books?id=WPo9AQAAMAAJ

 

 

 

Mitschriften

Gethmann-Siefert (1998) und Berr/Gethmann-Siefert (2004) unterrichten über den gegenwärtigen Stand der Bemühungen, jenseits von Hothos eigenwilliger und stark eingreifender Redaktion durch Sichtung und Edition der überlieferten Vorlesungsmitschriften die Entwicklung von Hegels Denken der Kunst wiederzugewinnen (Resümee in: Gethmann-Siefert 2005, S. 13-24). Bis jetzt liegen fünf Editionen von Mitschriften vor.

 

 

 

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