Wilhelm Hebenstreit

 

 

Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik

 

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[Lyrik, lyrische Poesie]

 

Lyrik, lyrische Poesie; die Poesie des Inneren, oder der inneren Zustände, nämlich der Gefühle, Anschauungen, Reflexionen, oder mit anderen Worten die idealisirende Darstellung des Inneren als dessen unmittelbare Erscheinung durch die Sprache. Die Lyrik nimmt nämlich von einer Seite die gesammte Welt der Gegenstände und Verhältnisse in sich auf, und läßt sie vom Inneren des einzelnen Bewußtseyns durchdringen, von der anderen Seite aber schließt sich das in sich gesammelte und zurückgedrängte Gemüth auf, und bringt jenes Innerliche durch Worte zur Anschauung. Indem solchergestalt der Dichter in eigener Person hervortritt, und das innere Gefühlleben in einer individuellen Unmittelbarkeit veranschaulicht, so ist die lyrische Poesie ihrer Eigenthümlichkeit nach subjektiv, und in ihrer Bewegung auf die Gegenwart selbst in dem Fall angewiesen, wenn auch die Gemüthslage durch Vergangenheit oder Zukunft veranlaßt erscheint. Der ästhetische Charakter der lyrischen Poesie begnügt sich indeß nicht mit der bloßen Subjektivität des Dichters, in der Darstellung seiner Innerlichkeit, sondern verlangt, der fast allgemeinen Ansicht zufolge, daß die Gemüthsäußerungen in sich selbst eine tiefere Bedeutung haben, sich über den Kreis des Gemeinen und Gewöhnlichen zum Bewußtseyn der inneren Freiheit und Würde des Menschen erheben, und in der Sprache veranschaulicht die möglich vollendete Form erhalten, damit sie nicht als der Ausdruck eines einzelnen Individuums, sondern gleichsam als ideale Nothwendigkeit erscheinen, und auch der Nachwelt verständlich bleiben. Nun ist es zwar allerdings wahr, daß die Anschauungen und Empfindungen, welche der Dichter als die seinigen schildert, wahrhafte Empfindungen und Betrachtungen seyn müssen, für die auch die Poesie den gemäßen Ausdruck erfindet und trifft, mithin selbst das Höchste und Tieffste des menschlichen Glaubens, Vorstellens und Erkennens, in so fern solches sich nach der Form der Anschauung fügt, und in die Empfindung eingeht, zum allgemeinen Inhalt der Lyrik gehört, und nur in besonderer Weise sich ausspricht; allein ohne Zweifel ist auch Hegels Bemerkung richtig, daß, weil im Lyrischen das Subjekt sich ausspricht, diesem Aussprechen selbst der geringfügigste Inhalt genügen kann. Es wird nämlich alsdann das Gemüth selbst (die Subjektivität als solche) der eigentliche Gehalt, und es kommt nicht mehr auf den näheren Gegenstand, sondern nur auf die Seele der Empfindung an, da hier die ganze Stufenleiter der Empfindung in ihren momentanen Bewegungen oder einzelnen Einfällen über die verschiedenartigsten Gegenstände festgehalten und durch das Aussprechen dauernd gemacht wird. So sind alsdann die Gegenstände das ganz Zufällige, und es handelt sich nur noch um die subjektive Auffassung und Darstellung. – In Beziehung auf die Mannigfaltigkeit des lyrischen Gedichts entscheidet die innere Anschauungsweise des Dichters. Das Ganze nimmt daher vom Herzen und Gemüth, und näher von der besonderen Stimmung und Situation des dichterischen Subjekts, seinen Anfang, und so entstehen die allerverschiedensten Normen für den inneren Fortgang und Zusammenhang, dieser Wandelbarkeit des Inneren wegen. Als Arten der eigentlichen Lyrik nennt man indeß Hymnen, Dithyramben, Päanen, Psalmen, Oden, das Lied (mit seinen verschiedenen Unterarten), Sonette, Sestinen, Elegien und Episteln. Uebrigens verlangt die lyrische Poesie eine bereits erworbene Bildung, indem hier der Mensch einer geordneten Außenwelt gegenüber in sich selbst reflektirt, und wie nur in der Gesammtheit der lyrischen Gedichte eines Dichters sich dessen inneres Leben abspiegelt, so kann auch nur in der gesammten Lyrik eines Volks die Gesammtheit der nationalen Interessen, Vorstellungen und Zwecke, ohne an eine bestimmte Epoche gebunden zu seyn, veranschaulicht werden. Wie aber die Empfindung im dichterischen Gemüthe nicht gleichmäßig fortschreitet, seine innere Bewegung vielmehr wechselt, sich hebt und senkt, so soll auch im Betreff der äußeren Form der Lyrik ein Wechsel der lebendigen Bewegung im Rhythmus herrschen, und daher ist für die Lyrik die größte Mannigfaltigkeit der Metra, und die <vielseitigere> innere Struktur derselben mit Recht zu fodern. Die griechische Lyrik hat den Namen von lyra, und bezeichnet ursprünglich Gedichte, [432] die zur Lyra gesungen wurden. Ihr Gefühlsausdruck diente aber auch besonders zur anschaulichen Schilderung der Gegenstände, und das in ihr herrschende Gefühl ist aus dem Eindrucke der Umgebungen von einem unbefangenen Gemüth aufgefaßt und ausgesprochen. Von einer Beziehung auf das Unsichtbare, Unendliche oder Ewige in dieser momentanen Stimmung weiß die Lyrik der Griechen nichts. Plato fand nur in den Hymnen und Enkomien jene höhere Lyrik, die sich durch Feinheit des Gefühls, durch richtigen Takt und durch einen ausgebildeten Sinn für alles Schöne auszeichnet. Und diese Lyrik, die ihm zufolge aus Rede, Melos und Rhythmus besteht, nennt er vorzugsweise Musik. Die römische Lyrik beschränkt sich größtentheils auf das Zeitalter August's, und bleibt der griechischen weit untergeordnet. – Aus der oben entwickelten Eigenthümlichkeit der Lyrik erklärt sich zugleich ganz ungezwungen die Unzahl der lyrischen Gedichte selbst, welche sämmtlich zu lesen wohl einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen würde, als den eines Menschenalters. Es ist dieß jedoch keineswegs eine nur der heutigen Zeit angehörige Erscheinung, vielmehr hat schon Cicero das nämliche von der seinigen bemerkt: Negat Cicero, si duplicetur aetas, habiturum se tempus, quo legat lyricos (Senec. epist. 49). Wie wenig die Lyrik der Römer überhaupt ausgezeichnet gewesen ist, sagt Quintilian, etwa hundert Jahre nach Cicero, ausdrücklich: Lyricorum Horatius fere solus legi dignus. Dagegen wird von ihm Pindar (um 500 v. Chr.) mit vollem Recht genannt: lyricorum longe princeps, spiritu, magnificentia, figuris, sententiis, beatissimus rerum verborumque copia etc.; ein Ausspruch, den mancher seichte Beurtheiler jenes kräftigen, tiefen und klaren griechischen Dichters beherzigen sollte. Ausführliches über die lyrische Poesie und über ihre geschichtliche Entwickelung enthält Hegel (Aesthet. III. S. 419-478), und treffliche Bemerkungen über die Lyrik der Griechen H. Ulrici (Geschichte der hellenischen Dichtkst., Th. II. Berlin, 1835. 8.).

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Wilhelm Hebenstreit: Wissenschaftlich-literarische Encyklopädie der Aesthetik.
Ein etymologisch-kritisches Wörterbuch der ästhetischen Kunstsprache.
Wien: Gerold 1843, S. 431-432.

URL: http://daten.digitale-sammlungen.de/0001/bsb00018126/images/
URL: https://books.google.fr/books?id=BtdXAAAAcAAJ

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

 

Enzyklopädien-Repertorium

 

 

 

Literatur

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Giebisch, Hans / Gugitz, Gustav: Bio-bibliographisches Literaturlexikon Österreichs. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2. Aufl. Wien 1985.  –  S. 144: Art. Hebenstreit.

Jäger, Georg: Das Gattungsproblem in der Ästhetik und Poetik von 1780 bis 1850. In: Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815 – 1848. Forschungsreferate und Aufsätze. Hrsg. von Jost Hermand u.a. Stuttgart 1970, S. 371-404.

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Pott, Sandra: Poetologische Reflexion. Lyrik als Gattung in poetologischer Lyrik, Poetik und Ästhetik des 19. Jahrhunderts. In: Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Hrsg. von Steffen Martus u.a. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11), S. 31-59.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Stammen, Theo u.a. (Hrsg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Berlin 2004 (= Colloquia Augustana, 18).

Trilcke, Peer: Lyrik im neunzehnten Jahrhundert. Ein kommentiertes Datenreferat zu populären Poetiken. In: Grundfragen der Lyrikologie. Bd. 2: Begriffe, Methoden und Analysemethoden. Hrsg. von Claudia Hillebrandt u.a. Berlin u. Boston 2021, S. 67-92.

Wurzbach, Constant von: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. 8. Teil. Wien 1862.
S. 180-182: Art. Hebenstreit.

Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart u. Weimar 2010.

 

 

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