Annette von Droste-Hülshoff

 

 

Text
Editionsbericht
Werkverzeichnis
Literatur

 

                         Mein Beruf.

 

5   "Was meinem Kreise mich enttrieb,
Der Kammer friedlichem Gelasse?"
Das fragt ihr mich als sey, ein Dieb,
Ich eingebrochen am Parnasse.
So hört denn, hört, weil ihr gefragt:
10   Bei der Geburt bin ich geladen,
Mein Recht so weit der Himmel tagt,
Und meine Macht von Gottes Gnaden.
 
Jetzt wo hervor der todte Schein
Sich drängt am modervollen Stumpfe,
15   Wo sich der schönste Blumenrain
Wiegt über dem erstorbnen Sumpfe,
Der Geist, ein blutlos Meteor,
Entflammt und lischt im Moorgeschwehle,
Jetzt ruft die Stunde: "tritt hervor,
20   Mann oder Weib, lebend'ge Seele!
 
"Tritt zu dem Träumer, den am Rand
Entschläfert der Datura Odem,
Der, langsam gleitend von der Wand,
Noch zucket gen den Zauberbrodem.
25   [116] Und wo ein Mund zu lächeln weiß
Im Traum, ein Auge noch zu weinen,
Da schmettre laut, da flüstre leis,
Trompetenstoß und West in Hainen!
 
"Tritt näher, wo die Sinnenlust
30   Als Liebe giebt ihr wüstes Ringen,
Und durch der eignen Mutter Brust
Den Pfeil zum Ziele möchte bringen,
Wo selbst die Schande flattert auf,
Ein lustiges Panier zum Siege,
35   Da rüttle hart: "wach auf, wach auf,
Unsel'ger, denk an deine Wiege!"
 
"Denk an das Aug', das überwacht
Noch eine Freude dir bereitet,
Denk an die Hand, die manche Nacht
40   Dein Schmerzenslager dir gebreitet,
Des Herzens denk, das einzig wund
Und einzig selig deinetwegen,
Und dann knie nieder auf den Grund
Und fleh' um deiner Mutter Segen!"
45    
"Und wo sich träumen wie in Haft
Zwei einst so glüh ersehnte Wesen,
Als hab' ein Priesterwort die Kraft
Der Banne seligsten zu lösen,
Da flüstre leise: "wacht, o wacht!
50   Schaut in das Auge euch, das trübe,
Wo dämmernd sich Erinnrung facht,
Und dann: wach auf, o heil'ge Liebe!"
 
[117] "Und wo im Schlafe zitternd noch
Vom Opiat die Pulse klopfen,
55   Das Auge dürr, und gäbe doch
Sein Sonnenlicht um einen Tropfen, –
O, rüttle sanft! "Verarmter, senk'
Die Blicke in des Aethers Schöne,
Kos' einem blonden Kind und denk'
60   An der Begeistrung erste Thräne."
 
So rief die Zeit, so ward mein Amt
Von Gottes Gnaden mir gegeben,
So mein Beruf mir angestammt,
Im frischen Muth, im warmen Leben;
65   Ich frage nicht ob ihr mich nennt,
Nicht fröhnen mag ich kurzem Ruhme,
Doch wißt: wo die Sahara brennt,
Im Wüstensand, steht eine Blume,
 
Farblos und Duftes baar, nichts weiß
70   Sie als den frommen Thau zu hüten,
Und dem Verschmachtenden ihn leis
In ihrem Kelche anzubieten.
Vorüber schlüpft die Schlange scheu
Und Pfeile ihre Blicke regnen,
  Vorüber rauscht der stolze Leu,
Allein der Pilger wird sie segnen.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Gedichte von Annette Freiin von Droste-Hülshof.
Stuttgart und Tübingen: Cotta 1844, S. 115-117.

URL: https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb10107456
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844
URL: https://hdl.handle.net/2027/uiug.30112039688020

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

Das Gedicht steht in der Abteilung "Gedichte vermischten Inhalts" und bildet dort das erste Stück.

Entstanden: Winter 1841/42.

 

 

Kommentierte und kritische Ausgaben

 

 

 

Werkverzeichnis


Verzeichnis
Haverbusch, Aloys (Bearb.): Droste-Bibliographie.
2 Teile. Tübingen: Niemeyer 1983/85
(= Annette von Droste-Hülshoff. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 14, 1/2).



Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte.
Münster: Aschendorff 1838.
URL: https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb10926034
PURL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6:1-72758

Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte.
Stuttgart u. Tübingen: Cotta 1844.
URL: https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb10107456
URL: http://www.deutschestextarchiv.de/droste_gedichte_1844
URL: https://hdl.handle.net/2027/uiug.30112039688020

Droste-Hülshoff, Annette von: Das geistliche Jahr.
Nebst einem Anhang religiöser Gedichte.
Stuttgart u. Tübingen: Cotta 1851.
URL: https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb10107458
URL: https://hdl.handle.net/2027/njp.32101073859637
URL: https://books.google.de/books?id=dItDAAAAYAAJ


Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte.
Hrsg. von Bernd Kortländer.
Stuttgart: Reclam 2012 (= Reclams Universal-Bibliothek, 18292).

 

 

 

Literatur

Arnold-de Simine, Silke: Schreiblegitimationen und -Strategien in Annette von Droste-Hülshoffs Dichtergedichten und ihrem Versepos "Des Arztes Vermächtnis". In: German Life and Letters 57 (2004), S. 158-169.

Blasberg, Cornelia / Grywatsch, Jochen (Hrsg.): Annette von Droste-Hülshoff Handbuch. Berlin 2018.

Brandmeyer, Rudolf: Poetologische Lyrik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 164-168.

Grywatsch, Jochen: Annette von Droste-Hülshoff. Baden-Baden 2022 (= Literatur kompakt, 19).

Gymnich, Marion / Müller-Zettelmann, Eva: Metalyrik: Gattungsspezifische Besonderheiten, Formenspektrum und zentrale Funktionen. In: Metaisierung in Literatur und anderen Medien. Theoretische Grundlagen – Historische Perspektiven – Metagattungen – Funktionen. Hrsg. von Janine Hauthal u.a. Berlin u.a. 2007 (= spectrum Literaturwissenschaft / spectrum Literature, 12), S. 65-91.

Hinck, Walter (Hrsg.): Schläft ein Lied in allen Dingen. Das Gedicht als Spiegel des Dichters. Poetische Manifeste von Walther von der Vogelweide bis zur Gegenwart. Frankfurt a.M. 1985.

Hinck, Walter: Magie und Tagtraum. Das Selbstbild des Dichters in der deutschen Lyrik. Frankfurt a.M. u.a. 1994.

Koopmann, Helmut: "Nicht fröhnen mag ich kurzem Ruhme". Zum Selbstverständnis der Droste in ihren Dichtergedichten. In: Droste-Jahrbuch 4 (2000), S. 11-33.

Liebrand, Claudia (Hrsg.): Redigierte Tradition. Literaturhistorische Positionierungen Annette von Droste-Hülshoffs. Paderborn 2010.

Martus, Steffen u.a. (Hrsg.): Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11).

Meyer, Matthias: Die "Dichtergedichte" der Annette von Droste-Hülshoff. Probleme einer Identitätsbildung. In: Europäische Literaturen im Mittelalter. Mélanges en l'honneur de Wolfgang Spiewok à l'occasion de son 65ème anniversaire. Hrsg. von Danielle Buschinger. Greifswald 1994, S. 297-319.

Oberembt, Gert: Die Dichter und die Droste. Produktive Lektüre in der klassischen Moderne. Bielefeld 2003 (= Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, 7).

Perraudin, Michael: Lyrische Realisten der Biedermeierzeit. In: Lyrik des Realismus. Hrsg. von Christian Begemann u. Simon Bunke. Freiburg i.Br. u.a. 2019, S. 89-110.

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u.a. 2004.
S. 242-261: Weibliche Poetik – Andere Reflexion? Die Physiko-Poetik der Annette von Droste-Hülshoff.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

Schlaffer, Heinz: Das Dichtergedicht im 19. Jahrhundert. Topos und Ideologie. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 10 (1966), S. 297-335.

Schneider, Manfred: Das Amt der Dichterin. In: Transformationen. Texte und Kontexte zum Abschluss der Historisch-kritischen Droste-Ausgabe. Hrsg. von Ortrun Niethammer. Bielefeld 2002 (= Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen, 6), S. 51-68.

Selbmann, Rolf: Dichterberuf. Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Darmstadt 1994.

Woesler, Winfried: Modellfall der Rezeptionsforschung. Droste-Rezeption im 19. Jahrhundert. Dokumentation, Analysen, Bibliographie. 2 Bde. Frankfurt a.M. 1980.

 

 

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Lyriktheorie » R. Brandmeyer