Max Dauthendey

 

 

Brief an würzburger Jugendfreunde

[Auszug]

 

Würzburg, 5. Juni 1891

 

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Literatur

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Texte zur George-Rezeption

 

Am Nachmittag waren wir wie immer in der Harmonie. Denke Dir, ich habe einen neuen "Jacobsen" entdeckt. In der "Frankfurter Zeitung" war ein Aufsatz über Maeterlinck, einen belgischen Dichter. Höre nur, was man von ihm sagt: Die Wunder der singenden Seele deutet er uns, wie Böcklin die Wunder des Meeres. Ein Dichter für die Delikaten, die zu träumen wissen und durch die Nerven empfinden. Den elektrischen Drähten gleichen seine Nerven, die auf den Windhauch, den Blätterfall schmerzende Antwort geben. Populär wird er nie. Sein Lieblingswort ist "étrange". Dem Besonderen neigen sich niemals die gekränkten Massen. Von seinen Gedichten sagt man: Gefühle werden gerochen, Düfte geschmeckt, Töne gesehen und jeder Sonnenstrahl gehört. [16] Ich werde mir die Sachen bestellen und ins Deutsche übersetzen. O, wie ich entzückt bin von den kurzen Novellenskizzen, nur Stimmung und Gefühlsbilder; aber welche zarten Gefühlsbilder! Das Herz vibriert in den feinsten Fasern, wenn man seine Gedanken, so tiefe, wunderbare Gedanken, hört. Das Drama wurde in Paris aufgeführt. Es enthält keine Handlung, nur eine Reihe phantastischer Märchenbilder, Mondschein und Sonnenduft, dunkle Blutstropfen, lachendes und weinendes Tränenblut.

Auf der Bühne wird er nicht verstanden werden. Nur im Alleinsein mit einem solchen Geist, weg von der illusionstörenden Menge, weit weg, nur da versteht man seine Farben, seine scheuen Nachtigallenlieder. Nicht wahr, Du freust Dich mit mir, daß ich wieder Nahrung gefunden habe? Es war alles so schal und duftlos, alle diese naturalistischen Bilder, die meisten, weil sie mit photographischer Treue alles Sichtbare, Greifbare sichtbar, greifbar machen – das Höchste, was sie leisten können. Es sind dies alles nur rohe Totgeburten des Verstandes gewesen, bis auf den Schmutz unter den Fingernägeln genau menschengetreu. Sie verstanden nur, die leblose Materie nachzuformen, nicht aber die geheimen Kräfte, die bessere Hälfte des Menschenleibes, die Gefühle und Gedanken, die warmen unsichtbaren Lebenszeichen nachzubilden, die feinen Empfindungstöne nachklingen zu lassen, sie so anzuschlagen, daß es in uns in demselben Tone mitklingt.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Max Dauthendey: Ein Herz im Lärm der Welt.
Briefe an Freunde.
München: Langen/Müller 1933, S. 15-16. [PDF]

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Artikel der "Frankfurter Zeitung", aus dem Dauthendey zitiert:
Maximilian Harden: Maeterlinck.
In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt. 1891:
Nr. 154, Erstes Morgenblatt, 3. Juni, S. 1-2
Nr. 155, Erstes Morgenblatt, 4. Juni, S. 1-2. [PDF]
PURL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hebis:30:2-223884

 

Kommentierte Ausgabe

 

 

 

Werkverzeichnis


Verzeichnis

Osthoff, Daniel: Max Dauthendey – Eine Bibliographie.
Würzburg: Osthoff 1991.



Dauthendey, Max: Josa Gerth. Roman.
Dresden u. Leipzig: Pierson o.J. [1893]
URL: https://archive.org/details/bub_gb_8nouAAAAYAAJ
PURL: https://hdl.handle.net/2027/njp.32101067528511

Dauthendey, Max: Ultra Violett. Einsame Poesien.
Berlin: Haase o.J. [1893].
PURL: https://hdl.handle.net/2027/uc1.31970033860419

Dauthendey, Max: Gedankengut aus meinen Wanderjahren.
Bd. 1. München: Langen 1913.
URL: https://archive.org/details/bub_gb_tcMPAAAAQAAJ

Dauthendey, Max: Gedankengut aus meinen Wanderjahren.
Bd. 2. München: Langen 1913.
URL: https://archive.org/details/gedankengutausme02daut

Dauthendey, Max: Ausgewählte Lieder aus sieben Büchern.
München: Langen 1914.
URL: https://archive.org/details/bub_gb__b_nAAAAMAAJ
PURL: https://catalog.hathitrust.org/Record/007087014

Dauthendey, Max: Des großen Krieges Not.
München: Langen 1915.
PURL: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00007CAF00000000
URL: https://archive.org/details/bub_gb_o3ouAAAAYAAJ


Dauthendey, Max: Gesammelte Werke.
6 Bde. München: Langen 1925.
Bd. 1 u. 2.
URL: https://archive.org/details/3343584.1-2
Bd. 3, 4 (Lyrik), 5
URL: https://archive.org/details/3343584.3-5

Dauthendey, Max: Ein Herz im Lärm der Welt.
Briefe an Freunde.
München: Langen/Müller 1933.

Dauthendey, Max: Frühe Prosa.
Aus dem handschriftlichen Nachlaß
hrsg. von Hermann Gerstner unter Mitarbeit von Edmund L. Klaffki.
München und Wien: Langen/Müller 1967.

Osthoff, Daniel (Hrsg): Max Dauthendey: Briefe an seine Jugendfreunde, 1890 - 1892;
insbesondere an Siegfried Löwenthal.
Würzburg: Osthoff 1993.

Eyb zu Kleinstett, Clara (Hrsg.): Nun küßt dich jedes Wort.
Max Dauthendey – Gertraud Rostosky in ihren Briefen.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2008.

Bölsche, Wilhelm: Briefwechsel. Mit Autoren der Freien Bühne.
Hrsg. von Gerd-Hermann Susen.
Berlin: Weidler 2010 (= Wilhelm Bölsche: Werke und Briefe. Briefe, 1).

 

 

 

Literatur

Anz, Heinrich: "'Poesiens Revolte': Die Revolte der Poesie". Stefan George, Max Dauthendey, Johannes Jørgensen im Wechselspiel von skandinavischen und deutschen Literaturzentren des Fin de siècle. In: Fin de siècle. Hrsg. von Monika Fludernik u.a. Trier 2002 (= Literatur, Imagination, Realität, 29), S. 29-42.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Fromm, Waldemar: Themen und Netzwerke in Münchens literarischer Moderne - eine Einführung. In: Literaturgeschichte Münchens. Hrsg. von Waldemar Fromm u.a. Regensburg 2019, S. 259-272.

Görner, Rüdiger: Sprachlichtarbeit. Zu einer poetologischen Figur in Max Dauthendeys ästhetischer Selbstpositionierung. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 60 (2016), S. 399-421.

Hess, Günter: Dauthendeys Sommer oder Wie man in Würzburg zum Dichter wird. In: Max Dauthendey, 1867 - 1992. Reden zu seinem 125. Geburtstag. Hrsg. von Gabriel Engert u.a. Würzburg 1992, S. 9-34.

Kafitz, Dieter: Décadence in Deutschland. Studien zu einem versunkenen Diskurs der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts. Heidelberg 2004 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 209).
Vgl. S. 213-214.

Klawitter, Arne: Ästhetische Resonanz. Zeichen und Schriftästhetik aus Ostasien in der deutschsprachigen Literatur und Geistesgeschichte. Göttingen 2015.

Matthews-Schlinzig, Marie I. u.a. (Hrsg.): Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. 2 Bde. Berlin u. Boston 2020.

Rduch, Aleksandra E.: Max Dauthendey. Gauguin der Literatur und Vagabund der Bohème. Mit unveröffentlichten Texten aus dem Nachlass. Frankfurt a.M. 2013 (= Polnische Studien zur Germanistik, Kulturwissenschaft und Linguistik, 2).

Specht, Benjamin: "Gesänge der Düfte, Töne und Farben". Die Poetik von Max Dauthendeys Ultra Violett. Einsame Poesien (1893) und die 'Empirisierung des Transzendentalen' In: Empirisierung des Transzendentalen. Hrsg. von Philip Ajouri u. Benjamin Specht. Göttingen 2019, S. 309-344.

Strohmann, Dirk: Die Rezeption Maurice Maeterlincks in den deutschsprachigen Ländern (1891-1914). Bern u.a. 2006.
S. 783-791: In den Jahren 1891-1914 in ausgewählten deutschsprachigen Zeitschriften erschienene Artikel über Maurice Maeterlinck.

Uhrig, Klaus: Art. Dauthendey. In: Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Hrsg. von Achim Aurnhammer u.a. Bd. 3. Berlin u.a. 2012, S. 1333-1334.

Zanucchi, Mario: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890-1923). Berlin/Boston 2016 (= spectrum Literaturwissenschaft/spectrum Literature, 52).

 

 

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