Eine Ausstellung der Association pour la Diffusion de la Pensée francaise (Ministère des Affaires Etrangères)

Ausstellung in der Universitätsbibliothek Duisburg-Essen, Campus Essen, 26. April 2006 bis 16. Oktober 2006
Öffnungszeiten: Mo - Fr 9:00 - 21:00 Uhr, Sa 9:00 - 13.00 Uhr, Eintritt frei

Unter allen Schriftstellern, die jemals gelebt haben, kann sich wohl nur Raymond Queneau rühmen, hunderttausend Milliarden Gedichte verfasst zu haben. Sie alle zu lesen würde, so hat man ausgerechnet, über 190 Millionen Jahre dauern.
Wie ist das möglich? Queneau hat zehn Sonette, deren Zeilen sich einzeln umblättern und so mit allen anderen Zeilen beliebig kombinieren lassen, in einer Art Ringbuch angeordnet, wobei jede Kombination wieder ein formal stimmiges Sonett mit sauberen Reimen ergibt. Das Werk, das in der Ausstellung gezeigt wird, ist eines der bekanntesten Produkte der Schriftstellergruppe Oulipo, die Queneau 1960 mitbegründet hat und deren Name eine Abkürzung für Ouvroir de Littérature Potentielle (Werkstatt für Potentielle Literatur) darstellt.

Der Leitgedanke von Oulipo besteht darin, die Literatur auf eine mathematischen Prinzipien gehorchende, logische Grundlage zu stellen. Bestimmte, meist formale Zwänge des Schreibens werden entweder in der literarischen Tradition wiederentdeckt oder neu entwickelt. Der Autor kann sie zwar frei wählen, muss sie aber beim Verfassen seines Textes streng einhalten. Beispielhaft dafür ist George Perecs berühmter Roman La Disparition, in dem der häufigste Buchstabe, das "e", nicht vorkommt und der, ein abenteuerliches Kunststück, von Eugen Helmlé unter dem Titel Anton Voyls Fortgang ins Deutsche übertragen worden ist).

Der Oulipo-Bewegung ist eine Ausstellung in der Universitätsbibliothek Duisburg-Essen, Campus Essen, gewidmet, die ab dem 26. April 2006 in Zusammenarbeit mit dem Deutsch-Französischen Kulturzentrum gezeigt wird. Der erfrischend unkonventionelle Geist von Oulipo zeigt sich unter anderem darin, dass die Mitgliedschaft nicht mit dem Tod endet und die verstorbenen Mitglieder lediglich "wegen Sterbefalls entschuldigt" werden. Auch gibt es das sonderbare Amt des "endgültig vorläufigen Sekretärs". Bis 2003 hatte es der Schriftsteller Paul Fournel inne, mittlerweile ist er Präsident der Gruppe. Am 15. Mai 2006 wird er im Rahmen der Vorlesung "Die französische Literatur im 19. Und 20. Jahrhundert" von Professor Helmut C. Jacobs über Oulipo sprechen (Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, Raum S05 T00 B5, 14:00 Uhr)
Fournel ist ein Meister der Kurzgeschichten und ein bekannter Jugendbuchautor. Aus seinem Erzählband Les Athlètes dans leur tête stammt die Novelle La cavalière, die für den vierten Schüler-Übersetzungswettbewerb ausgeschrieben war. Am 16. Mai findet im Deutsch-Französischen Kulturzentrum die Preisverleihung statt, im Anschluss daran eine Lesung und Diskussion mit dem Autor (17:30 bzw. 19:30 Uhr).

Die inspirierende Wirkung von Oulipo auf die französische und die internationale Literatur ist allenfalls noch mit der des Nouveau Roman zu vergleichen. Der Erfolg von Jacques Roubauds geistsprühenden Kriminalromanen hat zudem gezeigt, dass sich mit der oulipistischen Metho-de durchaus ein großes Publikum erreichen lässt. Das gleiche gilt für die Romane von George Perec, der mittels verborgener mathematischer Muster das Leben in den 99 Räumen einer Pariser Mietshauses beschreibt (Das Leben Gebrauchsanweisung), und Italo Calvino, der ein Buch nach den Motivkarten des Tarot - Spiels erzählt (Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen).
Bedeutende deutsche Mitglieder von Oulipo sind Oskar Pastior und Klaus Ferentschik. Letzterer hat drei vergnügliche und handlungsreiche Romane veröffentlicht. In dem Doppelroman Schwelle und Schwall werden ausschließlich weibliche bzw. männliche, in Scharmützel dagegen ausschließlich sächliche Substantive verwendet.

Gernot Krämer in: "Literatur in Essen", Ausgabe Mai - Juni 2006


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Hildegard Finke,

Tel.: 0201/183-3746