Zum aktuellen Forschungsstand des fötalen Alkoholsyndroms
Annika Drozella
Bei der Übernahme des Themas "Zum aktuellen Forschungsstand des fötalen Alkoholsyndroms" habe ich zwei Kinder mit dem fötalen Alkoholsyndrom vor Augen gehabt, die ich im Rahmen meines Praktikums für die Zusatzausbildung in Frühförderung getroffen habe.
Das kleine Mädchen ist hörbehindert, trägt eine Brille mit dicken Gläsern und ist in ihrer Entwicklung nicht altersgemäß. Den Jungen und seine Besonderheiten kannte ich schon aus Erzählungen, da er zur Familie meiner Freundin gehört, ehe ich ihn wenige Tage im Kindergarten erleben konnte. Die beiden Kinder haben mich damals lange Zeit beschäftigt, ihre zahlreichen gesundheitlichen Probleme, ihre Unruhe und die Ursache für ihre Behinderung. Gibt es genaue Symptome und Kennzeichen für das fötale Alkoholsyndrom?
Die Adoptivmutter der Kleinen sprach sehr negativ über die leibliche Mutter. Sie war sehr wütend über die Frau, die schon pränatal dem Leben ihrer Tochter eine von anderen Kindern abweichende Richtung gegeben hat. Was sind das für Mütter, die ihr Kind durch den Alkoholkonsum schädigen?
Beide Kinder sind als geistigbehindert bezeichnet worden. Bedeutet das fötale Alkoholsyndrom automatisch, dass eine geistige Behinderung bei dem betroffenen Menschen vorliegt? Anders gefragt, ist es nur ein Thema für die Geistigbehindertenpädagogik oder sind auch andere pädagogische Bereiche mit diesem Syndrom konfrontiert?
Wie wird der Lebensweg dieser Kinder aussehen? Werden sie später alleine wohnen können, arbeiten und ein gesellschaftlich integriertes Leben führen können?
An diese Fragen aus meiner Praktikumszeit habe ich mich bei der Vorarbeit zu diesem Thema wieder erinnert, ich werde versuchen sie zu bearbeiten.
Bei der Bearbeitung des Themas "Zum aktuellen Forschungsstand des fötalen Alkoholsyndroms" will ich mich am AAMR-Konzept (s. Kapitel 1.2) orientieren, stellt die Leistungsmöglichkeiten eines Menschen mit geistiger Behinderung als Zusammenspiel seiner persönlichen Fähigkeiten mit der Umwelt und individuellen Hilfen darstellt.
Die Informationen für die Bearbeitung dieses Thema habe ich mir auf vielfältige Weise beschafft. Zum einen habe ich eine Online-Recherche in der Universitätsbibliothek durchgeführt; in "Medline", "Bibliodata" und "Psyndex" habe ich zahlreiche deutschsprachige Artikel und Buchangaben finden können, andere anhand der Literaturangaben der Autoren im Anhang an ihre Texte.
Auch im Internet sind zahlreiche Literaturangaben und Informationen zum Thema des fötalen Alkoholsyndroms zu finden, der größte Teil davon aus Nordamerika.
Ich habe schon beim Lesen der Literatur festgestellt, dass man leicht in die Versuchung geraten kann, die Individualität der Menschen mit Alkoholschädigung zu vernachlässigen, wenn man ihre gemeinsamen Besonderheiten beschreiben will. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass alle später dargestellten Symptome und Verhaltensweisen auftreten können, es aber nicht müssen, und das sie nur Teil der individuellen Persönlichkeit eines Menschen mit Alkoholschädigung sind, denn es besteht leicht die Gefahr nur noch diese Schädigung zu sehen, nicht aber den einzelnen mit all seinen Stärken und Schwächen.
Aus diesem Grund habe ich im Rahmen meiner Vorbereitungen eine Familie mit vier betroffenen Kindern und Jugendlichen in Hamburg besucht, so dass ich immer verschiedene Individuen im Hinterkopf habe.
Die American Association On Mental Retardation (AAMR, 1992) definiert "geistige Behinderung" folgendermaßen:
"Mental retardation refers to substantial limitations in present functioning. It is characterized by significantly subaverage intellectual functioning, existing concurrently with related limitations in two or more of the following applicable adaptive skill areas: communication, self-care, home living, social skills, community use, self-direction, health and safety, functional academics, leisure, and work. Mental retardation manifests before age 18."
Diese Definition erklärt "geistige Behinderung" als eine signifikante Einschränkung in der konzeptionellen, praktischen und sozialen Intelligenz eines Menschen, andere Dimensionen ( z.B. Gesundheit oder Temperament) müssen nicht betroffen sein. Die deutlich unterdurchschnittliche intellektuelle Leistungsfähigkeit wird bei einem IQ-Durchschnitt von ca. 70-75 oder darunter angesetzt. Die intellektuellen Einschränkungen treten gemeinsam mit denen in sozialer Kompetenz (Kommunikation, Wohnen im Haushalt, Selbststeuerung, usw.) auf, letztere muß in zwei oder mehr Teilbereichen betroffen sein. Die Bewertung der sozialen Kompetenz und der intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen muß auf der Grundlage seiner kulturellen Umwelt geschehen. Die geistige Behinderung wird vor dem 18. Lebensjahres eines Menschen offenkundig.
In der unteren Graphik ist die allgemeine Struktur der Definition von "Geistiger Behinderung" abgebildet.
Die Graphik zeigt, dass ein Mensch mit geistiger Behinderung nicht isoliert als ein Mensch mit begrenzter Leistung betrachtet werden darf. Sie zeigt vielmehr, dass neben den Fähigkeiten eines Menschen, auch seine Lebensumwelt (Environemt) und dem Bedarf angepasste Hilfen (Supports) die individuelle Leistungsfähigkeit bestimmen.
Capabilities = Fähigkeiten (Intelligenz soziale Kompetenz)
Environments = kulturelle Gegebenheit (Zuhause Arbeit/Schule Gemeinschaft)
Functioning = Leistungfähigkeit
Supports = Unterstützungen
Die heute gültige medizinische Erstbeschreibung des fötalen Alkoholsyndroms (FAS) erfolgte 1968 durch den Kinderarzt P. Lemoine et al. in Nantes / Frankreich, obwohl zuvor in den sechziger Jahren schon einige Fälle dargestellt worden waren (Löser 1995, 91; Majewski 1980, 8).
Gleichzeitig mit Lemoine stellte Jones et al. ohne Kenntnis der Arbeit von Lemoine im Jahre 1973 in Seattle (USA) das Syndrom vor und führte den Begriff "Fetal Alcohol Syndrom" ein (dt. fötales Alkoholsyndrom, auch fetales Alkoholsyndrom oder Alkoholembryopathie). Erst durch diese Veröffentlichung wurde die weltweite Aufmerksamkeit auf das Syndrom gezogen.
Die Folgen des mütterlichen Alkoholkonsums rückten erst zu diesem relativ späten Zeitpunkt verstärkt in das Bewußtsein der Ärzte und der Öffentlichkeit, denn zuvor stand der Alkoholismus des Vaters im Blickpunkt der Wissenschaft (Löser 1995, 92). Es gab aber durchaus frühere Beschreibungen der Folgen des mütterlichen Alkoholkonsums.
Majewski (1980, S.2) schreibt, dass vermutlich aus der Zeit der "Gin-Epidemie" in den Jahren 1720-1750 in England die ersten Berichte über Kinder mit Alkoholembryopathie (AE) stammen. In dieser Zeit wurden Destillierverbote aufgehoben, um Getreideüberschüsse für den Adel absetzbar zu machen; während gleichzeitig ein Einfuhrverbot für Alkoholika aus Frankreich bestand. Durch die, auf diese Weise entstehenden Mengen an billigen Alkohol, also selbstgebranntem Gin, in allen sozialen Schichten, geriet England in eine Krise. Diese konnte erst durch eine Gesetzesänderung im Jahre 1751 beendet werden. In den vorherigen Jahren war der Verbrauch an Alkohol auf 1 Million Gallonen im Jahr gestiegen. "Eine Petition des "College of Physicians" an das Parlament in London stellte 1726 fest, dass die Kinder trunksüchtiger Eltern schwach, dumm und geistig gestört seien." (Löser 1995, 95).
Die Folgen des Alkoholüberflusses hielt William Hogarth in einem Kupferstich (1751) fest (s. Anhang). Sein Bild "Gin-Lane" trug mit zu der Verabschiedung des Gesetztes, das zum Ende der "Gin-Epidemie" führte, bei. Paditz (1993, 145) beschreibt, dass auf diesem Bild ein Kind mit Alkoholembryopathie zu erkennen ist. Seiner Meinung nach, weist das stürzende Kind im Bildmittelpunkt für die Alkoholembryopathie typische Gesichtszüge auf, wie: "tiefliegende Augen mit antimongoloider Lidachsenstellung, eingesunkene hypoplastische Nasenwurzel und nach vorne aufgeworfene Nasenöffnungen, die an die typische "Steckdosennase" erinnern".
Die Erfahrungen der "Gin-Epidemie" von 1720-1750 scheinen dann in Vergessenheit geraten zu sein (Majewski (1980, 3), da ähnliche Epidemien auf dem europäischen Festland nicht auftraten (Löser 1995, 97).
Auch waren die Fälle des fetalen Alkoholsyndroms wahrscheinlich nicht so häufig wie heute, da bis "zum zweiten Weltkrieg das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Alkoholkranken etwa 10:1 betrug, während es heute etwa 3:1 beträgt" (Löser 1995, 97+102).
Der Gefängnisarzt W. C. Sullivan untersuchte 1899 in einem Liverpooler Gefängnis 600 Geburten von 120 alkoholkranken Frauen. Er stellte fest, dass sich die Überlebensfähigkeit der Kinder mit Dauer und Intensität des mütterlichen Trinkens verringerte. Von diesen Kindern starben über die Hälfte vor dem dritten Lebensjahr (Majewski 1980, 4). Sullivan schrieb, "Der Einfluß der mütterlichen Trunkenheit (drunkeness) ist eine so prädominante Kraft, dass der väterliche Faktor fast zu vernachlässigen ist" (Löser 1995, 4).
Die Geschichte des fötalen Alkoholsyndrom ist ausführlicher in "Untersuchungen zur Alkoholembryopathie", 1980 von F. Majewski, bzw. in "Alkoholembryopathie und Alkoholeffekte" von H. Löser , in den Beiträgen von Paditz (Zur Geschichte der Alkoholembryopathie in Kinderkrankenschwester 1993, Nr.4: 144-147 / Ansätze der Prävention der Alkoholembryopathie bereits vor 3000 Jahren? In Kinderärztliche Praxis 1989; 57 H.11: 565-570) dargestellt.
Für das, durch mütterlichen Alkoholkonsum bedingte, toxische, polydystrophe Fehlbildungssyndrom, beim Kind mit unterschiedlicher Ausprägung, gibt es keine weltweit einheitliche Bezeichnung.
In Deutschland spricht man von der Alkoholembryopathie bzw. dem fötalen (fetalen) Alkoholsyndrom (FAS) und den Alkoholeffekten (FAE). Die Alkoholembryopathie wird nach dem Schweregrad der Ausprägung in drei Formen unterteilt.
In den USA wird zwischen dem Fetal Alcohol Syndrome (FAS), den Alcohol-related birth defects (ARBD) und den Alcohol-related neurodevelopmental disorders (ARND) unterschieden, letztere werden in der gängigen Literatur als fetal Alcohol Effects (FAE) bezeichnet.
Die wichtigsten Kennzeichen für das Syndrom sind:
Neurologie
Intelligenz
Verhalten
Die beiden Bezeichnungen für die Alkoholschädigung des Kindes betonen den Schwerpunkt der Schädigung zu unterschiedlichen Zeiten der Schwangerschaft anders. Der Begriff "Alkoholembryopathie" drückt aus, dass in der Embryonalzeit die Gefahr für eine Schädigung am größten ist. Die Bezeichnung "fetales Alkoholsyndrom" macht deutlich, dass auch zu späteren Zeitpunkten, in der Fetalzeit, noch Alkoholschäden enstehen können.
Majewski (1980, 35) unternahm den Versuch einer Einteilung der Alkoholembryopathie in drei verschiedene Schädigungsgrade. Die Übergänge zwischen diesen sind fließend, ebenso der Übergang zum "Normalen".
Nach dem Ausmaß der cerebralen Schädigung und der kraniofazialen Dysmorphie wurden die betroffenen Kinder und Jugendlichen den Schädigungsgraden I III, d.h. in schwach, mittel und stark betroffen, zugeordnet .
Es wurde eine Wertung von 26 wesentlichen Symptomen nach Punkten vorgenommen. In der folgenden Tabelle kann man die Punkte der einzelnen Symptome ablesen, sowie die Häufigkeit der einzelnen Symptome, auf die z.T. später noch genauer eingegangen wird (s. Kapitel 2.3.1 2.3.8).
Punkte nach Majewski
Symptome |
Häufigkeiten, Literaturangaben |
|
4 | Intrauteriner Minderwuchs, Untergewicht | 88% (Lö), >80% (Cl), 83% (Maj) |
- | Postnatale Wachstumsverzögerung | 86% (Maj) |
- | Vermindertes subkutanes Fettgewebe | ca. 80% (Lö) |
Kraniofaziale Dysmorphie | ||
4 | Mikrocephalie | 82% (Lö), 72% (Sp), 81% (Maj) |
2 | Haaraufstrich im Nacken | ca. 35% (Lö) |
3 | Verkürzter Nasenrücken | 51% (Maj), 52% (Sp) |
1 | Nasolabialfalten | 67% (Maj), 48% (Sp) |
1 | Schmales Lippenrot, dünner Lippenwulst | 65% (Maj), 69% (Sp) |
- | Fehlendes / flaches / verlängertes Philtrum | 95% (Lö) |
- | Fehlender Cupidobogen | 20% (Lö) |
- | kleine Zähne / Zahnanomalien | 31% (SP), 28% (Maj) |
2 | Hypoplasie der Mandibel, fliehendes Kinn | 65% (Maj), >50% (Cl), 82% (Sp) |
2 | Hoher Gaumen | 27% (Maj), >80% (Cl), 69% (Sp) |
4 | Gaumenspalte | 7% (Maj), 7% (Sp), 4,4% (Lö) |
- | Dysplastische, tief ansetzende Ohren | 59% (Sp), 26-50% (Cl), 31% (Maj) |
Augenfehlbildungen | ||
- | Myopie / Hyperopie / Astigmatismus | 25% (Lö) |
- | Strabismus | 23% (Lö), 20% (Maj), 27% (Sp) |
- | Spaltbildungen | ca. 5% (Lö) |
- | Opticusaplasie / - Hypoplasie | ca.10% (Lö) |
- | Microphthalmie / Mikrocornea | 5% (Lö), 3% (Maj) |
2 | Epikanthus | 54% (Maj), 68% (Sp), 26-50% (Cl) |
2 | Ptosis | 36% (Maj), 26-50% (Cl),, 14% (Sp) |
2 | Blepharophimose | 24% (Maj), 49% (Sp) |
- | Antimongoloide Lidachsen | 34% (Maj), 49% (Sp) |
2 / 4 | Genitalfehlbildungen | 32% (Lö), 39% (Sp), 40% (Maj) |
4 | Nierenfehlbildungen | 9% (Bra), 10% (Maj), 8,0% (Sp) |
4 | Herzfehler | 29% (Lö), 30% (Maj) |
- | Alkoholkardiomyopathie | 3% (Lö) |
- | Haemangiome | 10% (Maj), 8,3% (Lö), 11,1% (Sp) |
Extremitäten / Skelettfehlbildungen | ||
3 | Anomale Handfurchen | 7% (Maj), 52% (Sp) |
- | Flaches Handlinienrelief | ca.15% (Lö) |
2 | Brachy- / Klinodactylie | 38% (Maj), 65% (Sch), 61% (Sp) |
2 | Kamptodactylie | 13% (Maj), 6,8% (Sch), 8,5% (Sp) |
1 | Hypoplasie der Endphalangen / Nägel | 14% (Maj), 11% (Sch), 10% (Sp) |
2 | Radioulnare Synostose / Supinationshemmung | 14% (Lö), 11% (Sp), 11% (Maj) |
2 | Hüftluxation / -dysplasie | 11% (Maj), 14% (Sp), 7% (Sch) |
- | Skoliose | 7% (Lö), 3% (Maj) |
- | Trichterbrust (pectus excavatum) | 12% (Lö), 20% (Maj), 17% (Sp) |
- | Kielbrust (pectus gallinaceum) | 6% (Lö), 7% (Sp), 1-25% (Cl) |
- | Rippenanomalien | 10% (Lö), 10% (He) |
- | Wirbelanomalien | 5% (Sch) |
Weitere Fehlbildungen | ||
2 | Hernien | 12% (Lö), 25% (Sp), 1-25% (Cl) |
- | Bindegewebsschwäche | ca.25% (Lö), 42% (Maj) |
1 | Fovea coccygea | 51% (Maj), 59% (Sp) |
Neurologische, mentale, psychopathol. Störungen | ||
2 / 4 / 8 | Geistige Entwicklungsverzögerung | 89% (Lö), 83% (Maj), 93% (Sp) |
- | Sprachstörungen | 80% (Shaywitz et al. 1984) |
- | Hörstörungen | ca.20% (Lö) |
- | Eß- und Schluckstörungen | ca.30% (Lö) |
- | Schlafstörungen, Pavor nocturnus | ca.40% (Lö) |
2 | Muskul. Hypotonie, Muskeldysplasie | 57% (Maj), 65% (Sp) |
- | Verminderte Schmerzempfindlichkeit | ca.20% (Lö) |
- | Feinmotorische Dysfunktion | ca.80% (Lö) |
- | Krampfanfälle | 6% (Lö) |
Verhaltensstörungen | ||
4 | Hyperaktivität, Hyperexzitabilität | 72% (Lö), 72% (Sp), 74% (Maj) |
- | Distanzlosigkeit, Vertrauensseligkeit | ca.50% (Lö) |
- | Erhöhte Risikobereitschaft, Waghalsigkeit | ca. 40% |
- | Autismus | 3% (Lö) |
- | Aggressivität, dissoziales Verhalten | ca.3% (Lö) |
- | Emotionale Instabilität | ca. 30% |
Punkte | 10 29 Punkte: | Schädigungsgrad I (leicht) der Alkoholembryopathie |
30 39 Punkte: | Schädigungsgrad II (mäßig) | |
> 40 Punkte: | Schädigungsgrad III (schwer) |
Abkürzungen: Bra= Brachmann (1987), CL= Clarren und Smith (1978) (?), He= Hermann et al. (1980), Lö= Löser (1991 + 1992) (?), Maj= Majewski (1988 + 1993), Sch= Schubert (1988) (?), Spohr (1989 (?) + 1990)
(Tabelle übernommen aus Löser 1995, 7-8)
In der mittleren Spalte der Tabelle sind die möglichen Symptome der Alkoholembryopathie abzulesen. Der rechten Spalte kann entnommen werden, wie häufig diese Symptome von den verschiedenen Autoren gefunden worden sind.
Die Einteilung der Schädigungsgrade der Alkoholembryopathie nach Majewski (1980, 35) erfolgt nach der Punktbewertung der Symptome in der linken Spalte:
Schädigungsgrad I: weniger als 30 Punkte
Die leichte Form der Alkoholembryopathie ist oligosymptomatisch. Das Gesicht kann uncharakteristisch sein, die Entwicklungsparameter sind unter dem Durchschnitt bzw. unter der Norm. Geistig sind diese Kinder geringfügig subnormal. Die Alkoholkrankheit der Mutter muß bekannt sein (Majewski 1980, 35, Löser 1995, 15), um eine Diagnose stellen zu können.
Schädigungsgrad II: 30 39 Punkte
Bei der mittelschweren, moderaten Form sind die Gesichter der Kinder mit Alkoholembryopathie auffällig. Die Kinder sind intrauterin minderwüchsig, untergewichtig und mikrozephal. Sie haben mäßige neurologische Auffälligkeiten. Es besteht eine geistige Minderbegabung, innere Fehlbildungen sind selten (Majewski 1980, 35, Löser 1995, 14).
Schädigungsgrad III: 40 Punkte und mehr
Bei der starken Form zeigen die betroffenen Kinder fast alle in der Tabelle angeführten Symptome auf. Sie weisen erhebliche Wachstumsverzögerungen, Mikrozephalie, typische kraniofaziale Anomalien, Muskelhypotonie, eine erhebliche geistige Behinderung und zahlreiche innere Fehlbildungen auf (Löser, 1995,14; Majewski 1980, 35).
Diese Schweregradeinteilung der Alkoholembryopathie ist grob und wenig differenziert, es bestehen fließende Übergänge und die Punktebewertung ist eine subjektive. Auch können einige andere Syndrome zu einer hohen Punktebewertung führen, z.B. das Dubowitz- oder das Cornelia de Lange-Syndrom (Spohr 1991, 294).
Die oben schon erwähnten Alkoholeffekte (Fetal Alcohol Effects, FAE) prägen sich hauptsächlich am Gehirn aus (Löser 1995, 19). Bei den körperlichen Symptomen werden nach Majewski nicht mehr als 10 Punkte erreicht. Besonders wichtig für eine Diagnosestellung ist bei den Alkoholeffekten die gesicherte mütterliche Alkoholanamnese. Die Alkoholeffekte können sich auch bei Kindern manifestieren, deren Mütter einen relativ geringen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft hatten. Die Alkoholeffekte beruhen auf Teilleistungsstörungen des Gehirns, die durch psychometrische, psychologische und verhaltensbezogene Untersuchungen erfaßt werden können (Löser 1995, 20). Es handelt sich um eine embryotoxische Enzephalopathie, da jede Hirnregion vom Alkohol betroffen wird (Löser 1991, 33).
Gerade bei den Alkoholeffekten wird die Schwierigkeit einer Diagnosesicherung deutlich, es gibt keine typische neurologische oder psychatrische Besonderheit, auch wenn einige Teilleistungsstörungen, Hyperaktivität und distanzloses Verhalten gehäuft auftreten.
Die meisten Testverfahren können die Alkoholeffekte nicht in den ersten Lebensjahren aufdecken. Es kann nur ein Verdacht geäußert werden, da Angaben zum Alkoholkonsum während der Schwangerschaft nur schwierig zu erhalten sind, oder dieser verharmlost oder verheimlicht wird bzw. die Mütter nicht befragt werden können.
Bei fehlenden Angaben zum Alkoholkonsum der Mutter muß von möglichen Alkoholeffekten gesprochen werden (Löser 1995, 20).
Neben dem Alkohol können noch zahlreiche andere Faktoren die Entwicklung des Kindes während der Schwangerschaft beeinflußen, z.B.: Nikotin, Drogen, Medikamente, Streß, Ernährung (Löser 1995, 12 / 16).
Die in den USA gültigen Definitionen für die Auswirkungen des Alkohols auf das sich entwickelnde Kind während der Schwangerschaft, sind in der untenstehenstehenden Tabelle angeführt.
Diagnostic Criteria for Fetal Alcohol Syndrome (FAS) and Alcohol-Related Effects ( Stratton 1996, 76-77)
Fetal Alcohol Syndrome |
|
B, C, and as above |
Either C or D or E
|
Alcohol-Related Effects |
Clinical conditions in which there is a history of maternal alcohol exposure, and where clinical or animal research has linked maternal alcohol ingestion to an observed outcome. There are two categories, which may co-occur. If both diagnoses are present, then both diagnoses should be rendered: |
List of congenital anomalies, including malformations and dysplasias
Cardiac Atrial septal defects Aberrant great vessels Ventricular septal defects Tetralogy of Fallot Skeletal Hypoplastic nails Clinodactyly Shortened fifth didits Pectus excavatum and carinatum Radioulnar synostosis Klippel-Feil syndrome Flexion contractures Hemivertebrae Camptodactyly Scoliosis Renal Aplastic, dysplastic, Ureteral duplications Hypoplastic kidneys Hydronephrosis Horseshoe kidneys Ocular Strabismus Refractive problems secondary to small globes Retinal vascular anomalies Auditory Conductive hearing loss Neurosensory hearing loss Other Virtually every malformation has been described in some patients with FAS. The etiologic specific of most of these anomalies to alcohol teratogenesis remains uncertain. |
Presence of: and / or B. Evidence of a complete pattern of behavior or cognitive abnormalities that are inconsistent with developmental level and cannot be explained by familial background or environment alone, such as learning difficulties; deficits in school performance; poor impulsive control; problems in social perception; deficits in higher level receptive and expressive language; poor capacity for abstraction or metacognition; specific deficits in mathematical skills, or problems in memory, attention, or judgement |
1.5 Die Häufigkeit von FAS und FAE
Für die USA wird die Häufigkeit von FAS mit 1:500700 und für FAE mit 1:300-350 Geburten angegeben (Davis 1994, 4). Das bedeutet, dass über 40.000 Babies mit Alkoholschäden im Jahr in den USA geboren werden (Mc Intyre-Palmer 1995, 63).
Die Angaben für Deutschland liegen bei "2200 Kindern mit Alkoholembryopathie (Grad I-III) pro Jahr bei einer Inzidenz von 1:300 Neugeborenen", doch die Alkoholeffekte treten um ein Vielfaches häufiger auf (Löser 1995, 4).
Durch die zuvor genannten Zahlen wird deutlich, dass die Alkoholembryopathie bzw. das FAS eine führende Rolle in der Gruppe der Menschen mit Behinderungen einnehmen. In der folgenden Tabelle ist die Häufigkeit des Auftretens einiger anderer Behinderungsarten abzulesen:
Häufigkeit von anderen Behinderungen:
Down-Syndrom |
1: 600-900 (Neuhäuser ?, 165) 1,2: 1000 (Spohr 1990, 39) |
Cerebralparese |
1: 833 (Spohr 1990, 39 ) |
Spina Bifida |
1: 700 (George 1996, 8) |
Die oben genannten Zahlen für die Häufigkeit des Auftretens der FAS sind nur grobe Richtwerte. Innerhalb einer Bevölkerung ist das Risiko sehr unterschiedlich. In Indianerreservaten in den USA und Kanada beträgt die Häufigkeit z.T. sogar 1:100 (in Majewski 1987 (a), 106) bzw. an einem bestimmten Ort sogar 1:8 (Robinson 1987, 203). In Frankreich liegt die Häufigkeit in der Stadt Roubaix bei 1:212 (in Majewski 1986, 1127). Die höchste Inzidenz wurde in Süd-Dakota (USA) in einem Indianerreservat mit einer Häufigkeit von 1:4 Geburten (Löser 1995, 5) bestimmt.
Die zu Beginn des Kapitels genannten Zahlen beziehen sich auf die Gesamtbevölkerung. Es ist jedoch sinnvoller, das Risiko für das Auftreten von FAS / FAE genauer zu differenzieren. Abel (1995, 437.) unterscheidet zwischen der Häufigkeit des Auftretens von FAS in der Durchschnittsbevölkerung, (0,97:1000) und dem bei "heavy drinkers", das bei 4,3 % liegt. Abel führt aus, dass das Vorkommen in den USA 20mal höher ist (1,95:1000) als im Vergleich zu Europa und anderen Ländern. Seiner Meinung nach, steht das Risko für das Vorkommen von FAS in enger Korrelation zum sozioökonomischem Status einer Bevölkerungsgruppe. Die Armut bestimmter Bevölkerungsgruppen bedingt gemeinsam mit hohem Alkoholkonsum zahlreiche Faktoren, z.B. Nikotinabusus, schlechter Allgemeinzustand, Mangelernährung, Streß und den Mißbrauch von Drogen und Medikamenten. Abel vermutet, dass all diese Faktoren den Effekt des starken Alkoholmißbrauches verstärken, so dass das FAS gehäuft auftritt.
Die Häufigkeitsangaben für die Alkoholembryopathie sind nicht einheitlich, was z.T. schon durch den obigen Abschnitt erklärt worden ist. Die Ergebnisse einer Untersuchung der Inzidenz hängt stark von der untersuchten Gruppe ab, auch ist die uneinheitliche Eingrenzung der Alkoholembryopathie (Löser 1995, 3) und der gleitende Übergang zu den Alkoholeffekten erschwerend für eine exakte Angabe des Vorkommens.
Die Häufigkeit der Alkoholeffekte genau zu ermitteln ist nicht möglich, da sie zumeist erst im Kleinkindalter bzw. Schulalter erkennbar werden. Viele Fachleute denken bei Verhaltens- und/ oder Lernschwierigkeiten nicht an die Möglichkeit einer Hirnschädigung durch Alkohol während der Schwangerschaft. So beruhen die Zahlen der Häufigkeit der Alkoholeffekte auf Schätzungen. Sie sind um ein Vielfaches häufiger als die Alkoholembryopathie (Löser 1995, 5). Lösers Aussage beruht auf der Angabe der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS) (1985), "dass mehr als 80% der Mütter in der Schwangerschaft mehr oder weniger Alkohol trinken und nur 6% der Frauen vollständig abstinent leben", die Löser zitiert ( in Löser 1995, 5).
Im folgenden Teil der Arbeit werde ich der Einfachheit halber nur noch von dem fötalen Alkoholsyndrom (FAS) und den fötalen Alkoholeffekten (FAE) schreiben, außer es erscheint für die Verdeutlichung einer Aussage als wichtig, auf die Einteilung der Schädigungsgrade bei der Alkoholembryopathie (AE) einzugehen.
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11.03.01