Karl Gutzkow

 

 

[Rezension]

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Gutzkow
Literatur: Telegraph für Deutschland

 

[525] Gedichte eines Lebendigen. Von Georg Herwegh; Zürich und Winterthur, im literarischen Comptoir 1841.

 

Wenn wir gern die Ersten gewesen wären, die auf diese vortreffliche Gedichtsammlung aufmerksam gemacht hätten, so kommen wir zu spät. Schnell hat man das Genie des jungen Dichters erkannt und ihn von allen Seiten mit dem verdienten Kranze begrüßt. Selbst W. Menzel, nicht ahnend, daß der Verfasser seit Jahren zu seinen Gegnern gehört, konnte dem schwungvollen Fluge dieser Gedichte nicht widerstehen und ließ sich von ihnen fortreißen.

Schwaben bleibt doch ein poesie-gesegnetes Land. Auch Georg Herwegh ist ein Sohn der Alb, ein Enkel Schubarts und Schillers. Derselbe Reichthum poetischer Anschauungen, dieselbe Kühnheit und Erhabenheit der Bilder, dieselben gedankenreichen Antithesen, eine Lyrik im größten Styl.

Aber fast muß man fürchten, diesen Dichter zu beleidigen, wenn man nur von seiner Poesie redet. Die besungene Sache ist es, die ihn ganz erfüllt, die Freiheit. Er opferte seinen schönsten Schmuck, die Dichtergabe, mit Freuden, wenn er uns für Worte Thaten geben könnte. Er polemisirt gegen die Selbstgenügsamkeit des Poeten, der an Farben und Bildern sich ergötze, während ihn die Sache der Menschheit ruft. Leier und Schwert liegen in seiner Phantasie stets dicht bei einander, ja wenn er mit diesem die Freiheit retten könnte, er würde jene mit Freuden zertrümmern.

Vergleicht man diese zum Kampf auffordernden lustigen Trompetensignale mit der starren Ruhe des politischen Augenblickes, mit der gegenwärtigen Trägheit des gesellschaftlichen Körpers, so kann man nur von Wehmuth über dies Verhallen so großartiger Klänge erfüllt werden. Wir haben hier zehn Marseillaisen für eine; aber für die Marseillaise keine Revolution. Unser junger Tyrtäus, der jetzt in der Schweiz lebt und uns von den Alpen her diese Grüße sendet, fühlt diesen Widerspruch vielleicht nicht einmal so, wie wir. Da das Gemüth des jungen Dichters von Freiheitsgedanken ganz erfüllt ist, da er nicht wie etwa der pseudonyme Anastasius Grün *), zur Freiheit sich nur beobachtend und reflektirend verhält, sondern in dem Wunsche, ihr zu leben und zu sterben, ganz aufgeht, so mußte nothwendig in diese Sammlung eine gewisse Monotonie kommen. Doch entsteht sie nur aus dem Gegenstand, nicht etwa aus dem Monochorde seines Talentes. Wein, Liebe, Natur, Geschichte, Religion, allem finden wir den Dichter zugewandt, wenn auch durch alle Saiten seiner Leier diesmal nur die der Freiheit gewidmete stark und voll heraustönt. Wir gewinnen in Georg Herwegh mehr, als einen Freiheits-Dichter, der mit der Poesie seines Gegenstandes zusammenfällt. Er blendet nicht durch die Idee allein, die er besingt, wie wir in neuerer Zeit Bespiele gehabt haben, daß junge Poeten sich zu Zeitsängern hinaufschraubten, unser gutes Herz und unsere Hoffnung gefangen nahmen und uns später durch schwülstige oder kindisch tändelnde Produktionen für die gute Meinung, die wir von ihnen ausgesprochen hatten, in [526] Verlegenheit setzten. Herweghs Poesie ist in jeder Sphäre bedeutend und wird unsere Literatur ohne Frage noch mit den schönsten Gaben bereichern.

Tadeln muß man die äußere Ausstattung des Buches. Sie ist zu luxuriös, zu aristokratisch für den Inhalt. Man trüge diese Gedichte so gern bei sich, als Tröster und Begleiter, aber das große Format ist hinderlich. Kann man sich einen Dichter in der Weise Berangers anders, als in Duodez denken? Auch der Titel der Sammlung ist wunderlich gewählt, er wird durch die unklare Dedication nicht gerechtfertigt. Es giebt gefährlichere "Ritter," als Fürst Pückler-Muskau.

Proben, die zum Genusse dieser Sammlung einlüden, setzen wir nicht her. Wir haben uns eine Anzahl überraschender Bilder angezeichnet, aber auch diese mögen unmittelbar auf den Leser wirken. Die bescheidenste Blume auf dem Teppich der grünen Flur ist noch immer schöner, als die schönste Rose, wenn man sie abpflückt.

 

 

[Fußnote, S. 525]

*) Unter diesem Namen schrieb vor einigen Jahren ein österreichischer Graf Zeitgedichte, die damals stark gelesen wurden, jetzt vergessen scheinen. Man lese Herweghs geistvolles epigrammatisches Gedicht S. 86.   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Telegraph für Deutschland.
1841, Nr. 132, [16.] August, S. 525-526.

Gezeichnet: G.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Telegraph für Deutschland   online
URL: https://digitale-sammlungen.llb-detmold.de/periodical/structure/6868786

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

Editionsprojekt

 

das besprochene Werk

 

 

 

Literatur: Gutzkow

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