[anonym]

 

 

An junge Lyriker über lyrische Gedichte.

 

Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Die Grenzboten

 

Häufig werden den Grenzboten lyrische Gedichte eingesandt, zuweilen sogar anonym. Wir versuchen ehrlich, nicht immer mit Erfolg, solch ehrenvolle Sendungen durchzulesen; abdrucken können wir sie nicht. Und deshalb bitten wir artig und respektvoll, uns keine Gedichte mehr zu schicken, wir sind dieser Ehre durchaus nicht würdig, selbst wenn wir vor Jahren die Kühnheit gehabt haben sollten, selbst welche zu machen. Im Allgemeinen tönen sie – wir nehmen einzelne achtungsvoll aus – auf zweierlei Weise, sie sind entweder leises Brummeisengesumm oder kriegerische Trompetenstöße eines jugendlichen Dichtertriebes. Wir verkennen keineswegs die volle Berechtigung der Dichter, sie zu schaffen und zur Geltung zu bringen, wir sehen mit wahrem Interesse, wie der ideale Schöpfungstrieb des Menschen unter den verschiedensten Verhältnissen fast genau denselben Weg geht, von den Blüthen und Sternen durch die "erste Liebe" durch, bei epischer Anlage in die gechichtliche Ballade, oder bei rhetorischer Disposition in die Freiheitspoesie hinein. Aber dieses Aufblühen der Produktivität in den Einzelnen ist für unser Publikum schon längst von sehr geringem Interesse, und vollends jetzt! In dieser Zeit, wo kein Mann, sei er noch so fertig gebildet, noch so sehr mit alten Lorbeeren geschmückt, ein Recht auf allgemeine Aufmerksamkeit hat, wenn er seine Persönlichkeit nicht als Theil des Ganzen in die große Werkstatt einfügt, in welcher unser Volk in Massen, wenigstens mit Leidenschaft arbeitet; in einer solchen Zeit gehört alle Naivetät junger Poeten dazu, für ihre Seelenmetamorphosen die Theilnahme eines größeren Kreises zu beanspruchen. Interessant werden sie im besten Fall unserer Zeit grade erst da, wo die Meisten aufhören zu singen, auf dem Höhepunkt ihrer Bildung, wo der volle Strom der Wirklichkeit in ihre Seelen gedrungen ist, und den unbestimmten Drang zu schaffen, der sich sonst in Gedichten aussprach, in bestimmte Bahnen je nach der stärksten Anlage geleitet hat. Freilich wird es dann scheinbar ein ganz anderes Schaffen, der Blumendichter wird ein Mathematiker, aus den Vergleichen werden Gleichungen; der Balladendichter entpuppt sich als Jurist, und wie er sich sonst in ein Heldenleben hineinschwärmte, so referirt er später über die Irrgänge eines Prozesses; aber der Unterschied zwischen den beiden Thätigkeiten ist – im Vertrauen gesagt – nicht so gar groß. Ein starkes Talent freilich überdauert diese Periode. Und so wünschen wir allen unsern jungen Lyrikern vorläufig Freunde und Liebende, durch deren innigen Antheil sie Aufmunterung und Kraft gewinnen, ihr Talent durch eine spröde, unempfindliche Zeit zu tragen; und zum Zweiten wünschen wir ihnen heiße Kämpfe und ein thätiges Leben, damit ihr Dichterdrang geprüft, ihr Talent gebildet werde und ihnen die Möglichkeit verschaffe, einst der Stolz und Schmuck ihrer Zeit zu werden.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Die Grenzboten.
Zeitschrift für Politik und Literatur.
Jg. 8, 1849, Bd. 1, S. 119.

Ungezeichnet.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Die Grenzboten   online  (ohne Titelblätter der Hefte)
URL: http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten
URL: https://www.digitale-sammlungen.de/de/details/bsb10612589
URL: http://data.onb.ac.at/rep/10489303
URL: http://catalog.hathitrust.org/Record/000057894
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/007914762
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Grenzboten

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

Literatur: anonym

Albrecht, Wolfgang: Wegweiser zu neuer Poesie? Ästhetische Kriterien politisierter deutscher Literaturkritik um 1850 (Wienbarg, Vischer, J. Schmidt). In: Literaturkonzepte im Vormärz. Hrsg. von Michael Vogt u.a. Bielefeld 2001 (= Forum Vormärz Forschung, Jb. 2000), S. 23-47.

Begemann, Christian / Bunke, Simon (Hrsg.): Lyrik des Realismus. Freiburg i.Br. u.a. 2019.

Brandmeyer, Rudolf: Poetiken der Lyrik: Von der Normpoetik zur Autorenpoetik. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. 2. Aufl. Stuttgart 2016, S. 2-15.

Felten, Georges: Diskrete Dissonanzen. Poesie und Prosa im deutschsprachigen Realismus 1850–1900. Wallstein Verlag 2022.

Häntzschel, Günter: Die deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 bis 1914. Sozialgeschichte der Lyrik des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden 1997 (= Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München, 58).

Klein, Wolfgang: Der nüchterne Blick. Programmatischer Realismus in Frankreich nach 1848. Berlin u.a. 1989.

Martus, Steffen u.a. (Hrsg.): Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur. Bern u.a. 2005 (= Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, 11).

Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u.a. 2004.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

 

 

Literatur: Die Grenzboten

Barthold, Willi W.: Der literarische Realismus und die illustrierten Printmedien. Literatur im Kontext der Massenmedien und visuellen Kultur des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 2021.

Butzer, Günter / Günter, Manuela / Heydebrand, Renate von: Von der 'trilateralen' Literatur zum 'unilateralen' Kanon. Der Beitrag der Zeitschriften zur Homogenisierung des 'deutschen Realismus'. In: Kulturtopographie deutschsprachiger Literaturen. Perspektivierungen im Spannungsfeld von Integration und Differenz. Hrsg. von Michael Böhler u. Hans Otto Horch. Tübingen 2002, S. 71-86.

Günter, Manuela: Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert. Bielefeld 2008.

Kauffmann, Kai / Jost, Erdmut: Diskursmedien der Essayistik um 1900: Rundschauzeitschriften, Redeforen, Autorenbücher. Mit einer Fallstudie zu den "Grenzboten". In: Essayismus um 1900. Hg. v. Wolfgang Braungart u. Kai Kauffmann. Heidelberg 2006, S. 15-36.

Naujoks, Eberhard: Die Grenzboten (1841 – 1922). In: Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Heinz-Dietrich Fischer. Pullach bei München 1973 (= Publizistik-historische Beiträge, 3), S. 155-166.

Nölte, Manfred / Blenkle, Martin: Die Grenzboten on its Way to Virtual Research Environments and Infrastructures. In: Journal of European Periodical Studies 4.1 (Summer 2019), S. 19–35.
URL: https://ojs.ugent.be/jeps/article/view/10171/11229

Papiór, Jan: Zum politischen Programm der "Grenzboten" unter G. Freytags und J. Schmidts Redaktion (1847 – 1870). Mit bibliographischem Anhang der "Polnischen Beiträge" für die Jahre 1845 – 1889. In: Studia Germanica Posnaniensia 20 (1993), S. 31-46.

Thormann, Michael: Der programmatische Realismus der Grenzboten im Kontext von liberaler Politik, Philosophie und Geschichtsschreibung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 18,1 (1993), S. 37-68.

Thormann, Michael: "Culturvolk" und "Raubthier": das Frankreichbild der liberalen Kulturzeitschrift Die Grenzboten (1848-1871). In: Germanisch-romanische Monatsschrift 46 (1996), S. 44-56.

Vries, Jan-Christoph de: Aristokratismus als Kulturkritik. Kulturelle Adelssemantiken zwischen 1890 und 1945. Wien u.a. 2021.
Vgl. Kap. 4.2: 'Aristokratismus' in Zeitschriften am Beispiel der "Grenzboten".

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer