[anonym]

 

 

Robert Browning.

 

Text
Editionsbericht
Literatur: anonym
Literatur: Die Grenzboten

 

Dieser Dichter, von dessen poetischen Werken so eben eine neue Gesammtausgabe erschienen ist, gehört einer Richtung der englischen Literatur an, in welcher wir zwar den Einfluß des deutschen Geistes wiedererkennen, aber ohne uns über diese Sympathie besonders zu freuen. Wir haben von seinem letzten Gedicht "Weihnachtsabend und Ostertag" im 25. Heft des vorigen Jahrgangs Bericht erstattet. – Die beiden Schriftsteller, deren Einfluß vorzugsweise es zuzuschreiben ist, daß ganz gegen das Wesen der englischen Sprache und Gesinnung Faustische Gedankenlabyrinthe und die Mäandrischen Windungen des Jean Paul'schen Styls einen großen Theil des fashionablen Lesepublicums beschäftigen, sind Shelley und Thomas Carlyle. Der Erste verband mit einer Sprache, die zum Theil von hohem poetischen Werth ist, eine so frostige Allegorie, eine so weit hergeholte Metaphysik, daß man in den meisten Fällen gar keine Ahnung mehr hat, um was es sich eigentlich handelt. Wenn das schon uns Deutschen so geht, so mußte dem praktischen Engländer die Sache noch viel unheimlicher vorkommen. Dennoch hat Shelley nicht allein im Publicum einen ziemlich bedeutenden Anhang gefunden, sondern er hat auch eine Schule gegründet. Es war damals in der feinen gebildeten Welt eine Reaction gegen das steif puritanische Wesen der altenglischen Traditionen eingetreten, welche durch die Härte der Gesellschaft gegen die poetischen Kühnheiten Lord Byron's nur noch geschärft wurde, und doch ist Byron kein eigentlicher Empörer gegen den Geist seines Vaterlandes, wenigstens ist seine Empörung nur individueller Natur: durch die Ausnahmen, die er zu Gunsten seiner melancholischen und frivolen Helden macht, bestätigt er nur die Regel, der sie zum Opfer fallen; selbst sein Lucifer, auch wenn er blasphemirt, zittert vor dem Gott des Himmels und der Erde. – Bei Shelley dagegen ist der Zusammenhang mit der Tradition abgeschnitten; so wie er theoretisch von dem Glauben seiner Väter abfiel, so wirft er praktisch alle Bande ab, die ihn an die Denk- und Empfindungsweise seines Volkes knüpfen konnten. – Carlyle, den man in poetischen und religiösen Dingen beinahe einen Reactionär nennen könnte, denn er ist ein harter Eiferer gegen die weichliche [10] Humanität und den nivellirenden Liberalismus des 18. Jahrhunderts, geht in den Neuerungen seines Denkens und seiner Sprache noch weiter, als Shelley. Es ist in seiner Prosa ein so wüstes Durcheinander von sinnlichen Bildern, abstracter Metaphysik, gelehrten Reminiscenzen und dergleichen, daß man sich mitunter versucht fühlt, zu Hippel, <Hamann>, Jean Paul, Arnim, Bettina u. s. w. zu flüchten, wie jener preußische Officier von den Spontinischen Opern zu dem Zapfenstreich. Es ist das eine merkwürdige Erscheinung, daß es auch bei dem besonnensten Volk der Erde einmal dahin kommen sollte, daß man die Begriffe "geistreich und genial" mit "unklar und verworren" identificirte. – Von den übrigen Dichtern, die dieser Richtung angehören, ist Philipp Bailey der bedeutendste. Sein "Festus" geht über den Faust hinaus, und seine "Engelwelt" läßt Shelley's Phantasien weit zurück, um von Byron's Mysterien nicht zu reden. – Robert Browning gehört in der Sprache wie in der Denk- und Empfindungsweise der nämlichen Richtung an. Die erste trotzt nicht nur fortwährend den Regeln der Gewohnheit und des guten Tons, sondern nicht selten auch der Grammatik; seine Bilder sind gewagt, an eine Einheit der Stimmung ist nicht zu denken, sie springt aus dem Tragischen ins Lustige ungefähr in der burlesken Art Heine's über, aber ohne die Grazie, welche diesen Dichter doch nur selten verläßt. Zuweilen wird man geradezu an Karl Beck und Titus Ulrich erinnert. Es ist für die Unparteilichkeit der englischen Kritik höchst anerkennenswerth, daß sie trotz dieser Verirrungen das große Talent des Dichters noch immer gelten läßt. – Browning begann seine poetische Laufbahn mit dem "Sordello", 1840, einem Gedicht, in welchem der Gegensatz des Genius gegen die prosaische Welt behandelt wurde; ein leidiges Thema, welches auch bei uns über Gebühr variirt worden ist. – Ein ganz ähnlicher Gegenstand ist in dem zweiten Gedicht "Paracelsus"; der alte Naturphilosoph und Charlatan wird durch die Anerkennung seiner genialen Conceptionen in den Augen der gebildeten Welt über Gebühr rehabilitirt, wenn auch wegen seiner titanischen Selbstüberschätzung gedemüthigt. Er stirbt im Hospital zu Salzburg und bekennt zuletzt die Allmacht Gottes und seine strafende Gerechtigkeit. In dem Ton dieses Gedichts ist ein wesentlicher Unterschied von "Sordello". In diesem ist die Sprache übertrieben, schwülstig, leidenschaftlich, bewegt und abgerissen; sie schmeckt nach dem Schwefel, wie die Engländer sich ausdrücken; dagegen herrscht im Paracelsus eine gewisse Monotonie und ein zuweilen schläfriger Ernst. Die spätern Gedichte, "Pippa Passes" und "The Soul's Tragedy", leiden ebenso an einer unbestimmten und zu skizzenhaften Zeichnung; "der Weihnachtsabend" ist in seiner Mischung des Tragischen und Burlesken schon vollständig Manier geworden. Unter den andern zahlreichen kleinern Gedichten finden sich unter vielen, in denen die Seele von Land zu Land, von Himmel zu Himmel streift, um der Qual ihres Selbstbewußtseins zu entgehen, doch manche, in denen der alte brittische Geist sich wie[11]der geltend macht, volksthümliche Balladen, der Geschichte und den Sagen entnommen und in der gemäßigten Romantik der schottischen Schule wiedergegeben. Sonderbarer Weise verrathen seine Dramen nichts von der überspannten Phantasie, die seine Lyrik bewegt. Sie heißen: "Colombe's Birthday", "Luria", "The Return of the Druses" und "A Blot on the Scutcheon", und sind Intriguenstücke in der kalten Calderon'schen Manier; die Situationen sind sehr geschickt combinirt, aber mit Personen ohne Fleisch und Blut, nichts als Requisite fürs Theater. – Gleichzeitig mit seinen eignen Gedichten hat Browning auch die seiner Gemahlin herausgegeben, welche schon früher dem Publicum als Miß Elisabeth Barrett bekannt war. Auch diese bewegen sich meistens in der überirdischen Welt, und ihre beiden größten Gedichte, "The Drama of Exile" und "The Seraphim", erinnern lebhaft an Bailey. Doch zeigt sie namentlich in den kleinern Sonetten ein Talent für Rhythmus und Musik, welches zu besseren Hoffnungen berechtigt.

Wir knüpfen an diese Mittheilung eine allgemeinere Betrachtung. Die allgemeine Verbreitung, welche die anarchistischen Ideen der Poesie in ganz Europa gefunden haben, bezeugt zweierlei: einmal, daß sie wenigstens verhältnißmäßig berechtigt sein muß, denn ohne Grund tritt eine so weit ausgedehnte Erscheinung nicht in die Welt; sodann die Nothwendigkeit, mit Ernst und Consequenz gegen eine Krankheit anzukämpfen, die immer mehr Ausdehnung gewinnt. Uns scheint, daß diese Pflicht vornehmlich uns Deutschen zukommt, denn von uns ist das Uebel ausgegangen; wir haben diese gestaltlose Metaphysik und die zügellose Phantasie in die Welt eingeführt. Uns kommt es zu, den Weg zur Ordnung und zum Gesetz wieder zu finden.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Die Grenzboten.
Zeitschrift für Politik und Literatur.
Jg. 10, 1851, Bd. 2, Nr. 14, 4. April, S. 9-11.

Ungezeichnet.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).


Die Grenzboten   online  (ohne Titelblätter der Hefte)
URL: http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten
URL: https://www.digitale-sammlungen.de/de/details/bsb10612589
URL: http://data.onb.ac.at/rep/10489303
URL: http://catalog.hathitrust.org/Record/000057894
URL: https://catalog.hathitrust.org/Record/007914762
URL: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Grenzboten

 

 

Zeitschriften-Repertorien

 

 

 

Literatur: anonym

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Pott, Sandra: Poetiken. Poetologische Lyrik, Poetik und Ästhetik von Novalis bis Rilke. Berlin u.a. 2004.

Ruprecht, Dorothea: Untersuchungen zum Lyrikverständnis in Kunsttheorie, Literarhistorie und Literaturkritik zwischen 1830 und 1860. Göttingen 1987 (= Palaestra, 281).

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Literatur: Die Grenzboten

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URL: https://ojs.ugent.be/jeps/article/view/10171/11229

Papiór, Jan: Zum politischen Programm der "Grenzboten" unter G. Freytags und J. Schmidts Redaktion (1847 – 1870). Mit bibliographischem Anhang der "Polnischen Beiträge" für die Jahre 1845 – 1889. In: Studia Germanica Posnaniensia 20 (1993), S. 31-46.

Thormann, Michael: Der programmatische Realismus der Grenzboten im Kontext von liberaler Politik, Philosophie und Geschichtsschreibung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 18,1 (1993), S. 37-68.

Thormann, Michael: "Culturvolk" und "Raubthier": das Frankreichbild der liberalen Kulturzeitschrift Die Grenzboten (1848-1871). In: Germanisch-romanische Monatsschrift 46 (1996), S. 44-56.

Vries, Jan-Christoph de: Aristokratismus als Kulturkritik. Kulturelle Adelssemantiken zwischen 1890 und 1945. Wien u.a. 2021.
Vgl. Kap. 4.2: 'Aristokratismus' in Zeitschriften am Beispiel der "Grenzboten".

 

 

Edition
Lyriktheorie » R. Brandmeyer