Adolf Strodtmann

 

Die Arbeiterdichtung in Frankreich
Ausgewählte Lieder französischer Proletarier.

Einleitung.

[Auszug]

 

Text
Editionsbericht
Literatur: Strodtmann
Literatur: Anthologie

 

[VII] Man hat den politischen Zustand Frankreichs unter einer früheren Regierung als einen "durch Lieder gemilderten Despotismus" bezeichnet. Mit Ausnahme der Gesänge Béranger's, sind wenige der originellen Chansons, in welchen der unterdrückte Volksgeist sich Luft machte, außerhalb ihrer Heimat bekannt geworden. Wir glauben, dass diese moderne Volkspoesie jedenfalls eine größere Beachtung verdient, als ihr seither zu Theil wurde, denn sie liefert, um uns eines in letzter Zeit beliebt gewordenen Ausdrucks zu bedienen, einen wichtigen Beitrag zur Naturgeschichte des französischen Proletariats. So gering im Allgemeinen der artistische Werth jener Produktionen anzuschlagen ist: sie geben einen zuverlässigen Maßstab für die Beurtheilung des Bildungsdranges, welcher die Arbeitermassen von Paris beseelt und sich, trotz aller Hemmnisse, Befriedigung zu verschaffen sucht. Wem ernstlich daran gelegen ist, die Wünsche und Hoffnungen der sogenannten unteren Volksklassen zu studieren, Der sollte nicht mit vornehmer Gleichgültigkeit die Lieder übersehen, in welchen das Volk selbst seine trüben Zustände geschildert, seine Forderungen mit klarer Bestimmtheit, Punkt für Punkt, entwickelt hat.

[VIII] Die Menschheit bedarf frischer, thatkräftiger Elemente, wenn ihr ermattender Organismus sich nicht in innerem Kampfe zerstören soll, und das Proletariat ist der neue Faktor, dessen Eintritt in die Geschichte sich naht. Wer ist diese junge, bisher unverbrauchte Kraft, die so mächtig in den Tiefen unserer Gesellschaft gährt und des Tages harrt, da man sie entfesselt? Heros der Zukunft! taufen wir dich Engel des Lichts oder der Zerstörung? Wirst du Kultur und Sitte zertrümmern? fragen die Einen. Wirst du mit belebendem Hauch die Menschheit verjüngen? fragen die Andern. Wähle zwischen Segen und Fluch!

Doch, wie lange schon hast du gewählt! Spanntest du nicht den müden Arm an den Webstuhl und das sausende Triebwerk der Maschinen? Fügtest du nicht die bleierne Haft der Lettern, daraus das Wort, die Lerche der Freiheit, sich in die Lüfte schwang? Sahen mir dich nicht im Gewande des Paria auf der Barrikade, so oft es den Kampf um die Rechte der Menschheit galt?... O, sie haben dich verkannt und geschmäht, sie haben dich eingekettet in den Zwang einer greisen Gesellschaft, deren Verwesung schon begonnen hat, ehe sich das Grab der Geschichte über ihr schloss, – und nun zittern sie vor der gefesselten Kraft, welche (sie wissen es!) sich morgen schon der ohnmächtigen Hand ihrer Kerkermeister entringt! Es quält sie das Bewusstsein ihrer Schuld; sie haben es längst erkannt, dass der Grund all' unserer Missverhältnisse nur in den socialen Einrichtungen, in der gepriesenen "Ordnung" liegt; aber, zu feig, jene vernunftwidrigen Institutionen dem Wohl der Gesammtheit zu opfern, vermehrt sich mit jedem Tag ihre Furcht vor der Rache des Betrogenen. Damit ein Zehntel der Menschheit die Früchte des Reichthums und der Bildung genieße, müssen neun Zehntel eigenthumslos, und – um eigen[IX]thumslos zu bleiben – der Segnungen der Bildung beraubt sein!... ist es noch ein Wunder, dass jenes erste Zehntel, das zum Theil diesen Zustand geduldet, zum Theil ihn geflissentlich heraufgeführt hat, nur mit Zittern der Sühne gedenkt? Doch, sie mögen sich beruhigen! Wie überall, liegt auch hier, außer dem seltnen Gericht des Zufalls, die Hauptstrafe in der peinigenden Selbstanklage des Gewissens. Nicht Hass, noch Rache leiten den Arm des Proletariers zum Werke der Zerstörung oder Neugestaltung unsrer socialen und politischen Verhältnisse; was ihn zum Kampf erregt, ist vielmehr das Gefühl der Unsittlichkeit und Ungerechtigkeit der heutigen Gesellschaftsform, und nur humane Forderungen sind es, deren Erfüllung er von der Zukunft verlangt.

Für diese Thatsache liefert die nachstehende Sammlung französischer Arbeitergedichte aufs Neue einen eklatanten Beweis. Das Proletariat stellt sich hier in den Liedern seiner eigenen, von ihm selbst geliebten und gefeierten Dichter vor das Tribunal der Geschichte und bringt seine Klagen wie seine Hoffnungen vor. Beide wägt Themis in ihrer ewigen Wage gegen die Sünden der Gesellschaft ab, und, mag die Schale des Armen sinken oder steigen: das Urtheil wird gerecht sein! –

Welche Stellung die französische Arbeiterpoesie in ihrer Heimat behauptet, sehen wir aus zahlreichen der nachfolgenden Lieder, und vielleicht klarer noch aus den Worten, mit welchen Auguste Loynel, einer dieser Volksdichter, die "Voix du peuple", eine Sammlung republikanischer Gesänge aus dem Jahr 1848, *) einleitet:

[X] "Es giebt in Frankreich, zumal in Paris, eine Klasse von Schriftstellern – wir meinen die Dichter aus dem Handwerkerstande, – die selten von den Freiherrn der "höheren Literatur" eines Blickes gewürdigt werden. Oder wenn eine verlorene Stunde diesen Herren erlaubt, einen höhnischen Blick auf derartige Schöpfungen zu werfen, hervorgebracht unter den Mühen und Leiden, welche die Arbeit der Hände dem Proletariat auferlegt, so zerbrechen sie mitleidslos das begonnene Bildwerk, bevor der rüstige, verständige Meißel des Künstlers im Stande war, daraus ein Meisterstück zu erschaffen. Sie verschwenden auf nicht bloß alberne, sondern meist auch plumpe Kritiken die Kraft ihres Geistes, von dem sie ab und zu in fadenscheiniger und selbstunverstandener Sprache Zeugnis ablegen, sei es im untersten Geschoss bald urweltlich riesiger, bald fast unscheinbarer Journale, sei es in gewissen Romanen, Broschüren, Schmähschriften etc., die freilich unglücklich genug verfasst sind, um nur eine sehr winzige Zahl wohlwollender Leser zu finden.

"Man begreift es so leicht, wie man es hört: die großen Geister können sich nicht mit aller Welt einlassen!... Und doch – wir dürfen es sagen – giebt es auch hier glückliche Ausnahmen. Wenn verschiedene "Arbeiter des Gedankens" (wie sich Herr Alexandre Dumas, Marquis von La Pailleterie und andern Besitzungen, elegant genug ausdrückt) übereingekommen sind, den Dichtern aus dem Arbeiterstande gar kein Verdienst zu lassen: so finden sich doch Einzelne, die – weit entfernt, den Stein auf Jene zu werfen – sie ermuthigen auf dem steilen Pfad, wenn sie Keime wahren Talents in den Kämpfern entdecken, die kühn in die Rennbahn eintreten, wo als Angriffs- und Vertheidigungswaffe die mit Geschick geführte Feder gilt. Vietor Hugo, Béranger, Lamartine, George Sand, Eugène Sue, Balzac [XI] und andere Männer von unzweifelhaftem Genie oder Talent halten ihre Hand segnend über viele Proletariatsdichter ausgestreckt, um ihnen die ersten Stufen erklimmen zu helfen, die früh oder spät zum Ruhm oder zur Vergessenheit, zum Glück oder zum Elend führen.

"Weh Dem, welcher sich auf dem rechten Wege befand, aber nicht die Kraft besaß, gegen all' die aufgethürmten Hindernisse anzukämpfen! Nachdem er die Qualen des Hungers erlitt, harrt seiner das Hospital am Ende seiner Laufbahn! – Können wir ihn verdammen? Ach, wie manchem Versuch hat er sich unterwerfen müssen, bevor er zu solchem Loos sich entschied! Oft ward er das Opfer der Niedertracht oder des Egoismus seiner Umgebung. Bald quälten ihn eifersüchtige Nebenbuhler, bald die Forderungen grausamer Herren, thörichter und prosaischer Menschen, die nicht begreifen, dass Inspiration das Haupt des Proletarierdichters berühren kann inmitten des betäubenden Lärmens der Werkstatt.

"O, warum ihn seiner Träume willen tadeln? Warum seine Phantasien verspotten? Ist nicht die Dichtung die gütige Fee, welche Familienkummer, getäuschte Hoffnung, betrogene Freundschaft vergessen macht, indem sie aus ihrem Füllhorn einige duftende Blüthen hinstreut über den Weg, den der Proletarier zu gehen verdammt ist, ihn befeuchtend mit seinem Schweiß und seiner Thräne?...

"Doch wohin sind wir gerathen! Verzeiht uns – das Wort Elend floss uns in die Feder, und das ganze Leid der Vergangenheit stieg in der Erinnerung vor uns auf.

"Chatterton, Malfilâtre, Auguste Lebros, Victor Escousse, Hégésippe Moreau und zahlreiche Andere sind ebenso viel' gespenstische Schatten, welche nachdrücklich wider die affektierte Milde und Nachsicht protestieren, [XII] unter deren abgenutztem Mantel unser Zeitalter sich heuchlerisch verhüllt.

"Wir haben heute einfach die Aufgabe, den Lobredner der demokratischen Lieder zu machen, welche die Sonne des Februar ins Leben rief; ja, sie sind zum Theil schon entstanden, bevor das Gestirn der Revolution von 1848 jene zweifelhafte Freiheit erhellte, die uns heute zu beschützen scheint. – Weh Allen, die nicht begreifen wollen, dass das Volkslied der wahre Ausdruck der Gefühle eines aufgeklärten Volkes war und ist, – eines Volkes, das seit lange in der Herrschaft der socialen Demokratie das einzige Mittel erkennt, die Bande zu zerbrechen, darin das Elend uns Tag für Tag zu ersticken droht!"

Wir können uns diesem lebhaften und warmen Plaidoyer für die vorliegenden Dichtungen anschließen, soweit von der Bedeutsamkeit ihres Inhalts als einer zuverlässigen Quelle für die Erkenntnis der Zustände und Hoffnungen des französischen Proletariats die Rede ist. Fern aber sei es von uns, den Kunstwerth dieser meist grellen und einseitigen Lieder zu überschätzen, weil dieselben nicht im bleichen Glanz vergoldeter Säle, sondern zwischen vier kahlen Lehmwänden erdacht wurden. Nur der hochgebildete Mensch, dem die freie und naturgemäße Entfaltung aller Geisteskräfte vergönnt war, vermag sein Fühlen und Denken in Kunstwerken zu gestalten, denen nicht die flüchtige Parteiströmung des Tages, sondern die ewige Wahrheit ihren Stempel verlieh. Wer unausgesetzt inmitten feindseliger Zustände und barbarischer Widersprüche lebt, wird sich nicht aus dem Zwange befreien, der mit der Gesammtheit auch ihn danieder hält. Oder wenn er sich scheinbar befreite, stände er allein; er gehörte zu den Einsamen, man verstände ihn nicht mehr, und der Einsame ist vielleicht noch gefesselter, als die Ruderknechte unserer Staats[XIII]galeere zwischen ihren Mitgefangenen. Diesen bleibt doch der Trost eines verstohlenen Gedankenaustausches, und wenn beim Takt der Ruderschläge der Eine dem Andern ein Wort ins Ohr flüstert von der Hartherzigkeit ihrer Peiniger, so hat Jener einen Fluch des Verständnisses, und zuletzt zerreißen doch ein paar kräftige Bursche die Ketten, oder ziehen den abgemagerten Fuß durch den Eisenring, und werfen den Kerkermeister sammt dem Steuermann und dem ganzen Matrosengesindel über Bord! –

Fast alle der in Rede stehenden Gedichte sind Chansons, d. h. Lieder mit regelmäßig wiederkehrender Schlusszeile, oder Chants, d. h. Lieder mit regelmäßig wiederkehrender Chorstrophe. Letztere Form ist im Ganzen seltener; nur dem Pierre Dupont ist sie die gewöhnliche. Was die Wahl der Versmaße betrifft, so giebt es hier wenig Abwechselung. Als die gebräuchlichste Form erscheint der fünffüßige Jambus mit wechselndem männlichen und weiblichen Reim; der vierfüßige Jambus ist ausschließlich Dupont eigen, und trochäische Versmaße finden sich nur ausnahmsweise vor. Die meisten dieser Proletariatsdichter haben sich – ähnlich den Meistersängern des Mittelalters – eine bestimmte Strophe gewählt, die selten mit einer andern vertauscht wird; höchstens dass die Anordnung der Reime sich einmal ändert, oder dass der Refrain um einen Fuß verkürzt oder verlängert wird.

Was den Refrain selber betrifft, so umfasst dieser meist den scharf ausgesprochenen Gedanken, welcher im übrigen Theil des Gedichtes zur Ausführung kommt. Es wäre möglich, die Weltansicht jedes einzelnen dieser Dichter ziemlich klar nachznweisen, wenn man nur seine Refrains übersichtlich zusammenstellte und mit denen der andern Proletariatsdichter vergliche. Wir behalten uns eine derartige Arbeit vor; die Philosophie des Armen [XIV] hat zur Lösung der socialen Frage für uns wenigstens keinen geringeren Werth, als die Philosophie der officiellen Systemerfinder in Presse und Kammerdebatte. Wenn man das Volk einmal als Kranken betrachtet, sollte man doch zuvor aus dessen eigener Rede seinen Zustand erforschen, statt ihm von oben herab die Universalmedicin zu dekretieren, als wäre nicht der Patient die Hauptsache, sondern das Heilmittel, das wissenschaftliche System. Wir protestieren freilich gegen den ganzen Vergleich. Das Volk ist weder krank noch schlecht, es bedurfte nicht der Ärzte, sondern die Ärzte bedurften des Volkes, um sich für ihre Quacksalbereien bezahlt zu machen; sie haben es verdummt und eingeschläfert, aber die gesunde Natur des Volkes stößt das eingeathmete Traumgift wieder zurück, und es könnte den unberufenen Heilkünstlern bei dieser Gelegenheit ergehen wie dem Doktor Strafford und seinem königlichen Patron...

Man wird gegen die vorliegenden Chansons mit dem ewig wiederkehrenden Refrain sicher den Vorwurf der Monotonie und Gedankenarmuth erheben. Wir vertheidigen die Verfasser gegen solchen Tadel nicht; das Volk ist einmal einseitig in seinem Verlangen und seinem Urtheil; wenn es die Gründe seiner Hilflosigkeit: die schlechten Institutionen, und den einzigen Rettungsanker: die Freiheit, erkannt hat, so variiert es diese zwei Grundtöne in hundert Weisen, aber das Thema bleibt dasselbe. Die Unsittlichkeit der heutigen Welt und die Durchsetzung einer socialen Reform gegen die Zwingherrschaft des Kapitals – Das ist der stillschweigends anerkannte Text jeder Melodie, und Belehrung oder Trost der einzige Zweck. Ich beziehe mich hier auf einen Brief, den ich 1881 von Gustave Leroy, einem der anerkanntesten dieser Volksdichter, empfing. "Mein Ziel," schreibt er, "war niemals, eine [XV] höhere oder niedere Literaturstufe zu erklimmen; nein – ich sagte mir: die Wissenschaft ist unfruchtbar für Den, der Nichts weiß, und der seinen Tag um einen Bissen Brot einer mühsamen Arbeit zu opfern verdammt ist. Wohlan, diese Bücher voll hoher Philosophie, bei denen ich so oft bleich wurde, ich will sie jeder Vernunft klarmachen, ich will an die Herzensthür klopfen – der Verstand wird mir später antworten, wenn sie mich begriffen; sie werden ja lesen... Ich habe mein Ziel erreicht – mögen sie mich vergessen! Was kümmert mich Das? – habe ich nicht meine Bescheidenheit und meine Armuth?"

Der ausgesprochene Zweck dieser Chansons ist demnach ein didaktischer; der Poet sucht seine Leidensgenossen "klarzumachen" über ihre Stellung in der heutigen wie in der künftigen Gesellschaft, er beweist die Verworfenheit der jetzigen Lebensform, er revolutioniert überall durch den Gedanken der Sittlichkeit. Es ist kein Ruhmeskitzel, der ihn zum Schaffen treibt, er will das Lied, um "der Brüder Wunden zu heilen," um den Armen zu versöhnen, wenn er im Kampf gegen das Unrecht des Schicksals erlag, ihn zu stählen, wenn ihn die Kraft zu jenem Kampfe noch durchglüht. Was soll ihm der Ruhm? Was ihm dieser bleiche Schatten, der fast nur um Gold sich an unsre Fersen heftet, der uns zum Sklaven der Menge macht in den Tagen der Kraft und Jugend, um dem müden Greis das Scepter einer Scheinherrschaft in die zitternde Hand zu legen? Er hasst die Reichen, – doch nicht, weil sie reich sind, sondern weil das Gold sie verblendet, weil es die Kluft zwischen Bildung und Unwissenheit, zwischen Besitz und Eigenthumslosigkeit, Genuss und Entbehrung tiefer und tiefer aufwühlt, weil jedes Stück schimmernden Metalls in ihren Händen zum Dämon wird, der sie noch trotziger der Milde verstockt!...

[XVI] Welch ein schwieriges Loos ist dem Volksdichter gefallen! Sein Publikum ist der Arme, der von der Civilisation Ausgeschlossene; Alles, was vorausgesetzt werden kann, ist der sogenannte gesunde Menschenverstand – welch ein Hemmnis für den Dichter, in dessen Werken man zugleich ein Muster vollendeter Form begehrt! Und nicht bloß verständlich muss jene Poesie auch dem rohesten, verkümmertsten der Proletarier sein – sie muss ihn zugleich so energisch, so nachhaltig ergreisen, dass er sich von ihrem Einflusse nicht mehr losmachen kann. Darum diese Refrains, die gleichsam mit so viel' Widerhaken wie Strophen sich in das Herz einstechen, von denen sich zu befreien zur Unmöglichkeit wird; darum diese eintönige, meist klagende oder finstere Melodie, welche, einmal gehört, nicht wieder verklingt!

Die Entstehung der Chanson ist sehr alt. Schon aus dem Minnegesang der Provençalen tritt uns diese Form entgegen, als populärer Ton erhielt sie sich im Volksliede, und bis auf Piron und Béranger ist sie bei den Franzosen niemals ganz ausgestorben. Als den Vater derselben dürfen wir vielleicht Meister François Villon betrachten, den ersten französischen Dichter, welcher durch seine bald heitern, bald schwermüthigen Lieder seine Muttersprache, gegenüber der trocken lateinischen Mönchspoesie, zu Ehren brachte. Er war im Jahre 1431 zu Paris geboren und führte ein unstätes Wanderleben voll Noth und abenteuerlicher Zufälle. Bisweilen von Rittern und Fürsten protegiert, musste er zu andern Zeiten seinen Lebensunterhalt erbetteln oder stehlen und dafür ins Gefängnis wandern.

"Es zwingt die Noth uns oft, zz stehlen,
    Der Hunger lockt den Wolf hervor,"

singt er in einem seiner Lieder, und ein andermal klagt er:

[XVII] "Ach! hätte man mich einst belehrt
    In meiner Jugend tollen Jahren,
So hätt' ich jetzt wohl Haus und Herd,
Und würd' ein besser Loos gewahren.
Nun muss ich irr das Land durchfahren,
    In keiner Schul' ein wertber Gast,
Ihr zählt mich zu der Schlechten Scharen,
    Und, o! Das bricht das Herz mir fast."

Villon muss noch ziemlich jung gewesen sein, als ein Richterspruch des Parlamentes ihn zum Tod am Galgen verurtheilte. Ludwig XI. verwandelte dies Urtheil jedoch in die Strafe der Landesverweisung. Mit echtem Galgenhumor verfasste der Dichter zu jener Zeit sich und seinen, gleich ihm, der Strafe des Gehängtwerdens verfallenen Geführten nachstehende Grabschrift:

    "Der Regen wusch und spült' uns ab – o Graus!
Die Sonne dörrt' und schwärzt' uns immerzu;
    Die Raben pickten uns die Augen aus,
Und zupften Bart und Brauen ab dazu.
Wir kommen nie und nimmerdar zur Ruh',
    Bald hie, bald da, wie es der Wind begehrt,
    Der je nach Lust durch unsre Glieder fährt,
Zerfetzt von Vögeln, dass sie nicht zu flicken.
    Kein Spott, o Menschen, sei uns drob beschert,
Nein, fleht zu Gott: er woll' uns Gnade schicken!"

Über das Ende dieses originellen Poeten ist nichts Zuverlässiges bekannt. Er klagt vielfach in seinen Liedern, dass er besonders von den Pfaffen verfolgt worden sei. Rabelais erzählt, dass Villon später zu Saint-Mairent in Poitou gelebt und geistliche Schauspiele gedichtet habe, die er von den Bauern aufführen ließ.

Es kann indess nicht unsre Aufgabe sein, an dieser Stelle eine Geschichte des Ursprungs und der Fortentwicklung der Chanson zu geben. Wir haben es hier vorherrschend mit der socialen Chanson zu thun, als deren [XVIII] Begründer J. P. Béranger gelten darf. Wo dieselbe in der ersten französischen Revolution vereinzelt emportaucht, trägt sie noch einen beschränkten, fast ausschließlich politischen Charakter. Dem Einflüsse Béranger's begegnet man seit der Julirevolutiou überall, wo sich das Volkslied erhebt. Herwegh hat hier seine Schule gemacht, und in Frankreich giebt es wohl kaum ein einziges Gedicht des großen Chansonniers, das nicht seine Nachahmer gefunden. Ich hörte in Paris im Winter 1850—18S1 wenig' Lieder von ihm singen, aber jeder Volksdichter hat ihn als Muster der Form studiert, und sich dann gewöhnlich eine oder ein paar Strophen gebildet, in denen er es ziemlich leicht zu einer bedeutenden technischen Fertigkeit bringt. Und wirklich findet man selten Einen unter der Sängerschar, der nicht mindestens ein selbständiges, in seiner Art wirksames Gedicht geliefert hätte.

Überhaupt erstreckt sich die Abhängigkeit von Béranger mehr auf die Korrektheit der Form, und auch hier darf man nicht an sklavische Nachahmung denken. Der Fortschritt von Béranger zu der heutigen Proletariatspoesie ist dem Inhalte nach fast so bedeutend, wie bei uns Fortschritt von den "Gedichten eines Lebendigen" zu der neueren Poesie eines Freiligrath. Hier wie dort flüchtet sich das Lied vom abstrakt politischen auf das konkret sociale Gebiet; hier wie dort ist die Phrase der Allgemeinheit überwunden, nur das Besondere, Thatsächliche hat Werth; statt der nebelhaft philosophischen Träumerei, vertieft sich der Poet in die großen Leiden der Menschheit, in die brennenden Fragen seines Jahrhunderts. Die Entwicklung geht so schnell, dass man selbst an den Einzelnen oft Perioden nachweisen kann, deren äußerste Grenzen einander ferner liegen, als zuweilen in der Poesie ganzer Kulturepochen der Fall ist. Das ist erklärlich; denn jedes Ereignis im öffentlichen [XIX] Leben findet sein Echo im Liede des Volksdichters, und wie haben sich die Ereignisse seit 1830 gedrängt! Vom Bürgerkönig bis zur Februarrevolution oder Junischlacht, von da bis zum Staatsstreich und der zweiten Auflage des Kaiserreichs – welch ein reicher Stoff für den Dichter, der als Kämpfer inmitten seines Volkes steht! Bedeutungsvoll ist namentlich der Rückhall, welchen die Junitage von 1848 in den Herzen der Volksdichter fanden. Die meisten Gedichte aus den ersten Monaten der Republik sind voreiligen Jubels, grundloser Hoffnungen voll; man glaubte mit einem Schlage verwirklicht, was lange Leidensjahre ersehnt hatten. Erst mit der Niederlage kam die Enttäuschung; so paradox es klingen mag: erst die Niederlage war der Sieg. Oder hat das Volk nicht schon heute gesiegt, trotz dem zeitweiligen Regime der kleinen, gemeinen Eskamoteurs? Hält nicht Alles, was groß, edel und tüchtig ist, zum Volke, während der Feind sich stützt auf Betrug und Meineid, List und Gewalt, Kanonenlogik und Junkerimpertinenz! Es ist ein sonderbares Schauspiel, das sich uns bietet – die schwarzen Flöhe suchen dem schlafenden Riesen noch einen Stich beizubringen, die feigen Hunde ihm noch in der Eile die letzte Wurst aus der Tasche zu ziehen... das Gesindel weiß ja, dass mit dem aufsteigenden Morgen der Schläfer erwacht! –

Wir ließen uns vorhin über den Zweck dieser Poesie als einen didaktischen aus und erklärten dadurch die Einseitigkeit der Chanson. Aus demselben Grunde kommt es, dass alles wahrhaft Tüchtige jener Dichtung einen ernsthaften Charakter trägt. Frivolität ist ein Erzeugnis der höheren Stände, sie liegt dem Volke zu fern; seine Schmerzen sind zu tief und echt, als dass es ihm möglich würde, sie zu ironisieren, und wo sich hin und wieder der Humor einmal lustig macht, erinnert sein unwillkürlich trübes Gesicht an die Sprünge [XX] des armen Bajazzos, der bei seinen plumpen Späßen jeden Augenblick an die bittere Noth seines Lebens gedenken muss. Solche Lieder stehen vereinzelt da; es sind rohe Nachahmungen Béranger's, ohne einen Hauch jener Grazie, welche Letzterem zu Gebote stand, und sie verdienen wenig Beachtung. Dasselbe gilt von der Romanzenpoesie. Die moralische Tendenz ist hier die unvermeidliche Klippe sür den Poeten: weil aber jene Tendenz ihm das einzig Wesentliche war, führt er gewöhnlich zuerst den Helden oder die Heldin seiner Romanze redend ein, und hängt dann einen prosaischen Epilog an das Ende, in dem die eigentliche Katastrophe lakonisch berichtet wird. So in den Leroy'schen Gedichten: "Die Wahrsagerin," "Eine Mutter," "Der Tod einer Rose," etc. Diese Geschmacksverletzung hat in der Regel noch den sehr triftigen Grund, dass, wie hier, Mademoiselle oder Madame mittlerweile gestorben ist und das eigene Begräbnis doch nicht selber erzählen kann. Schaurig sind all' diese Geschichten, und der Aberglaube spielt oft eine wichtige Rolle in den Erzeugnissen des Proletariats. Mit den Zigeunern hat es nicht Viel auf sich, der Glaube an sie existiert mehr in der Poesie, als in den Köpfen des Publikums; allein desto gedankenloser spukt meistens der religiöse Wahnglaube in diesen Chansons. Man hält in Frankreich seltsamerweise den Atheismus für einen überwundenen Standpunkt, und hat sich mit der Religion wieder auf freundschaftlichen Fuß gesetzt; doch ist diese Entente cordiale von den politischen Alliancen nicht gar zu verschieden, und wenn sich der "Herr der Heerscharen" bei der nächsten Kampfgelegenheit nicht besser zusammennimmt, als das vorige Mal, wenn er noch einmal die Partei der Soldatenwirthschaft ergreift, so wird es vielleicht mit dem Respekt zu Ende sein, uud selbst eine Abdankung zu Gunsten des Sohnes oder der Mutter [XXI] Maria wirkungslos bleiben. Ich habe statt des Ausdruckes "Gott" nur einzelne Male die Phrase "der Himmel", "das Geschick", "der Zufall", "die Natur" u. Dergl. erlaubt, weil ich ein deutsches Publikum vor Augen hatte. Sonst bin ich mir, außer der Weglassung weniger allzu beschränkt französischer Strophen, die in Deutschland unverständlich wären, keiner wesentlichen Abänderung bewusst. Ich habe mich im Gegentheil bemüht, den Inhalt wie die Form überall möglichst treu wiederzugeben und den oftmals derben oder dürr prosaischen Charakter der Originale nirgends zu verwischen.

Was die historische Auffassung dieser Dichter betrifft, so mag "Die Fahrt des Verbannten" von Louis Voitelain ein Beispiel davon geben. Das Volk hängt mit der Geschichte seiner Vorfahren, mit der Vergangenheit und ihren Erinnerungen, überhaupt nur lose zusammen, und wo es sein Urtheil über geschichtliche Momente ausspricht, ist dasselbe gewöhnlich beschränkt und zur Hälfte ungerecht. Wenn Voitelain in dem erwähnten Liede gegen Washington den Vorwurf erhebt, Derselbe habe unter den bestehenden ungünstigen Verhältnissen die Sklaverei der Schwarzen nicht sofort aufgehoben, so ist Das gar nicht seltsam. Das Volk beurtheilt jede Thatsache, jeden Charakter nach dem einseitigen Standpunkte der Gegenwart, und gerade diese, in andrer Beziehung verwerfliche, gegen die Vergangenheit unbillige Kritik des gesunden Menschenverstandes ist der treueste Maßstab für den Fortschritt des Menschengeschlechts. Wandelten Christus oder Luther heut zu Tage unter uns einher und vernähmen den häufig ungerechten und geringschätzigen Ton, mit welchem das Volk und die Volksführer der Gegenwart sich die Unzulänglichkeit früherer Reformationslehren bekennen: – wahrlich, sie würden mit lächelnder Triumphatormiene sich der Erweiterung ihrer Ideale und des Vernunftsieges [XXII] erfreuen, der gerade durch das Medium ihrer Lehre vermittelt ward! Der vollständige Sieg jedes neuen Ideals beginnt erst da, wo es veraltet und zu enge geworden, wo es nicht mehr die Fülle des menschlichen Lebens, seiner Sehnsucht und Hoffnung, zu umfassen im Stande ist. So mag auch Washington sich bei der Weltgeschichte bedanken, wenn er dem Volke des neunzehnten Jahrhunderts als herzlos erscheint, – eines Jahrhunderts, das jede Knechtschaft, jede Fessel als unmenschlich gesprengt wissen will.

Von dem mächtigen Einfluss, welchen diese Proletariats-Poesie in neuerer Zeit auf das Volk von Paris, ja von ganz Frankreich geübt, hat man in Deutschland schwerlich eine Vorstellung. Als ich mich im Winter 1850—51 in Paris aufhielt, war die Fluth der politischen Reaktion schon im Steigen. Klubsitzungen und Volksreden waren verboten, aber der Gedanke des Sozialismus, die revolutionäre Kraft flüchtete sich in die Form des Liedes und zündete von hier aus in den Herzen der Menge. Es versteht sich, dass die Bourgeoisie in bleicher Furcht vor dem muthigen Feinde erbebte, dass die Regierung es an Maßregeln gegen die Verfasser jener stürmischen Weisen nicht fehlen ließ – aber was vermag alle Verfolgungswuth wider den Geist! Die Zahl jener Volksdichter ist Legion (ich allein besitze an 5000 dergleichen Chansons von mehr als 400 Proletariern) – wie will man da dem Gesang Einhalt thun? Jeder neue Gewaltstreich weckt neue Lieder, schafft junge Dichter, und wenn es allzu toll hergeht, bleibt den Armen die Waffe der Anonymität, da ihnen, wie gesagt, am Ruhme nicht Viel gelegen ist,

Indess, was ist nicht möglich in einem Staate, wo die Willkür der Polizei längst keine Grenzen mehr kennt? Schon zu Anfang der fünfziger Jahre wurde nicht selten das Absingen von Liedern bestraft, die nie[XXIII]mals ein officielles Verbot erfahren hatten. Weh Dem, welcher den "Soldatengesang," "Das Lied vom Brote" oder "Die Soldaten der Verzweiflung" *) auf den Straßen oder in einem öffentlichen Lokale anzustimmen wagte! Ich selbst wohnte zu Anfang des Jahres 1851 einer Scene bei, die mir bewies, dass ein Pariser Gendarm von seinem Bruder an der Spree oder Donau wenig unterschieden ist. Ein Trupp Arbeiter, der so eben seinen Wochenlohn erhalten, begab sich an einem Sonnabend, das "Lied vom Brote" singend, aus der Fabrik nach Hause. Kaum lenkten sie in die Rue St. Antoine, als ein Sergeant-de-Ville auf sie zuschritt und ihnen in barschem Tone das Absingen des Liedes verbot. Mit schmerzlichem Blick trat ein kleiner ältlicher Blousenmann aus der Reihe, und einige Franks aus der Tasche hervorlangend sprach er: "Mann! da – nehmt dies Geld – es ist mein ganzer Wochenlohn – Weib und Kind hungern daheim – aber ich weiß, auch ihnen ist das Lied vom Brote lieber, als das tägliche Brot!" Der Ouvrier wurde verhaftet, und einige Tage nachher las ich, dass ein Mensch, der unter versuchter Bestechung sich in der Rue St. Antoine einem Polizeisergeanten widersetzt habe, mit fünftägigem Gefängnis bei Wasser und Brot bestraft worden sei.

Nicht allein auf dem Kampfplatze der Poesie wetteifern diese Dichter-Proletarier mit ihren Todfeinden, [XXIV] den Champions der "guten Gesellschaft" – nein, auch auf anderem Felde sind sie ihnen begegnet. Die meisten von ihnen fochten auf den Barrikaden des Februar, und viele standen im mörderischen Feuer der Junischlacht. Diese hat, wie schon angedeutet ward, mächtig auf die Volkspoesie gewirkt. Zuerst schien alle Hoffnung niedergeschmettert, der Gesang verstummte in den Werkstätten, das Lächeln der Zuversicht entschwand von den trotzigen Gesichtern – aber schon nach wenigen Tagen der Verwirrung erhob die Dichtung ihr geächtetes Haupt, zuerst scheu und leise, mahnend um Milde und Menschlichkeit, dann aber stolz und glühend, Rachepfeile schleudernd auf die herzlosen Sieger. Schaurige Accorde zogen durch die Luft, es war ein Schwur der Sühne für die Gefallenen, ein Gelöbnis der Vergeltung für die erlittene Schmach, für die Beleidigung des Gefühls und der Menschlichkeit. Man empfand es klar: hier wäre Vergessen Feigheit, Verzeihen marklose Schwäche!

In der That begleitete diese originelle Poesie mit ihren zuerst hoffnungsfreudigen, bald aber düsteren und melancholischen Weisen Schritt für Schritt alle politischen Ereignisse seit dem Jahre 1848. Unter den Arbeiterdichtern war Gustave Leroy der Erste, welcher durch sein schwungvolles Lied "Gruß der jungen Republik!" den Sieg des Volkes verherrlichte und durch dasselbe direkt auf die Vorgänge in den Revolutionstagen einwirkte; denn in Folge dieses Liedes, das am 25. Februar jenes Jahres erschien, wurde der Julithron verbrannt. Dies (auf S. 132 und 133 abgedruckte) Gedicht enthält in charakteristischer und klar bestimmter Weise die Forderungen des französischen Arbeiterstandes; es ist, so zu sagen, ein Parteiprogramm in Versen. Aber während Leroy solchergestalt der Freude über den Sieg des Volkes Ausdruck verlieh, warnte er in andern Gedichten bald nachher energisch vor dem Wahne, als [XXV] sei jetzt schon erreicht, was durch die gesetzgebende Versammlung und die erhoffte volksfreundliche Verfassung erst verwirklicht werden sollte. Die Junischlacht zeigte, dass sein Kampf gegen "die Alten von gestern" (S. 136—37), welche sich schnell genug wieder zu Herren des Heute gemacht haben, ein wohlbegründeter war. Mit ihm vereinte sich Pierre Dupont in zahlreichen geharnischten Liedern zur Befehdung jener schwachen provisorischen Regierung, welche den Arbeitern die ersehnten Reformen unter einem Schwall schönrednerischer Phrasen vorenthielt und den Ruf nach Brot schließlich mit Kartätschen beantwortete. Aus dieser Zeit eben stammt das "Lied vom Brote" (S. 14S ff.), dessen Popularität in ganz Frankreich eine fast unglaubliche war. Im Theater der Porte St. Martin gab man damals ein Stück unter dem Titel: "Misere," welches die trostlosen Zustände des irischen Proletariats schilderte. Schon im dritten Akt sterben die meisten der auftretenden Charaktere den schauerlichsten aller Tode, den Hungertod. Als der Vorhang fiel, begann das ganze Publikum einstimmig das "Lied vom Brote" zu singen, und dämonisch durchscholl der furchtbare Refrain das Haus:

Man hält nicht von den Marmorstufen
    Das Volk zurück mit seiner Noth.
Denn die Natur gebeut zu rufen:
    Brot thut uns noch! wir fordern Brot!

Das Einschreiten der Sergeants-de-Ville vermochte diesmal dem Gesang keinen Einhalt zu thun, denn der entsetzliche Chor überbrauste wie ein grollendes Meer die lächerlichen Scheltworte der Gendarmen. Am folgenden Tage wurde jede Wiederholung des Stückes polizeilich untersagt.

Jüngere Dichter schlugen in jenen Tagen hoff[XXVI]nungsfreudigere Töne an, unter welchen namentlich das Gedicht von Hippolyte Demanet: "Der alte Demokrat" (S. 179 ff.) sich wegen seiner abgerundeten, wohlklingenden Form großen Beifall erwarb. Als aber die Hinrichtung jener Männer, die im Gemetzel der Junischlacht den feindlichen General Bréa getödtet hatten, den Beweis lieferte, dass Louis Napoleon allen Bitten um Milde sein Ohr verschloss; als das erste Todesurtheil der Republik am 17. Marz 1849, an demselben Tage vollstreckt ward, an welchem der Präsident in seinem Pallaste ein glänzendes Fest gab: da nahm die Proletariatsdichtung einen unerhört finstern Charakter an, den sie seitdem nicht wieder ablegte. Leroy schrieb an diesem Tage sein berühmtes Gedicht: "Ball und Guillotine" (S. 188—189). Wilder noch sind die Gedichte: "Der Tag der Sühne" von Louis Menard (S. 152—1S6) und der "Gesang der Jacques" von Raoul Bravard (S. 198—202). Das letzterwähnte Lied wurde Gegenstand einer gerichtlichen Verfolgung und bei dieser Gelegenheit als corpus delicti von Emile de Girardin in seinem Journal "La Presse" abgedruckt. Es erhielt eben hiedurch eine so allgemeine Verbreitung, dass ein neuer Process gegen das Journal erhoben ward, welches sich den Abdruck gestattet hatte. Der Verfasser des Liedes entfloh nach Belgien und entzog sich dadurch der über ihn verhängten Strafe. Das Schwurgericht von Paris hatte ihn nämlich am 26. Juni 18S0 für "schuldig" erklärt, und der Urteilsspruch lautete auf fünf Jahre Gefängnis und 6000 Franks Geldbuße! –

Betrachtet man das französische Proletariat nach dem Maßstäbe deutscher Verhältnisse, so wird es Manchem auffallen, dass in jenem Lande so viel Begabung für Musik und Poesie existiert. Der Bildungstrieb des Pariser Arbeiters (nicht etwa des französischen Arbeiters [XXVII] überhaupt) überschreitet in der That den unseres Handwerkerstandes bei weitem, und es ist unglaublich, was ein Pariser Ouvrier Alles liest. Hiedurch wird es möglich, dass alle Volksschriften zu so billigen Preisen verkauft werden, und nicht allein die Quais waren zur Zeit meines Aufenthalts in der Seinestadt Tag für Tag mit der Waare "fliegender, Buchhändler" besetzt, sondern auch in den Straßen der Vorstädte und Armenviertel wurden beständig Lieder und wohlfeile Broschüren feilgeboten. Es gab Buchhändler, die einzig von dem Verkauf solcher Volkslieder lebten, und nicht selten war ein Chansonnier, wie z. B. Charles Durand, Verleger seiner eigenen Gedichte oder der Erzeugnisse seiner Genossen. Der gewöhnliche Preis eines Heftes von 6 bis 8 neuen Liedern betrug 2 Sous; mit der Melodie wurde für jedes einzelne Lied derselbe Preis bezahlt. Zwanzig solcher Hefte bildeten in der Regel einen Band oder einen Jahrgang.

Dass auch die zum Theil schwierigen Melodien so große Verbreitung fanden, hatte noch einen besonderen Grund. Die Arbeiter von Paris hatten nämlich ihre eigenen Singschulen, in denen nach der mir unbekannten, aber vielgerühmten méthode Wilhelm unterrichtet ward. Die besten Sänger dieser Schulen gaben unter dem Namen Enfants de Paris öffentliche Koncerte, meist in der Salle de Fraternité des Faubourg St. Denis. Dieser "Saal der Brüderlichkeit" war ursprünglich ein Reitstall, der im Jahre 1848 von den Pariser Arbeitern angekauft und in einen schmucklosen Versammlungssaal umgewandelt wurde. Um die Kosten zu bestreiten, gab jene Sängerschar dem Proletariat von Paris seine Wochenkonzerte, und hier neben dem Bilde der barrikadenkämpfenden Freiheit feierte das Volk seine fröhlichen Feste unter der lächerlichen Kontrolle der Polizei. Hier sang Pierre Dupont jedes neue Lied, [XXVIII] das ihm geworden, hier trug Lachambeaudie seine jüngsten Fabeldichtungen vor, hier war eine Waffenschmiede des Geistes für die gehoffte künftige Erhebung.

Die Associationen und volksthümlichen Wirthshäuser von Paris boten in den Jahren 1850 und 1851 ein bewegtes Schauspiel dar; sie fassten kaum die Menge der Arbeiter, welche sich Abends in ihnen versammelte, während die eleganten Cafés der Bourgeoisie nur von spärlichen, scheuen Gästen besucht waren. Wenn man in den Faubourgs das Lokal eines Marchand de vin betrat und sich mühsam in die Gaststube hineingedrängt hatte, traf man gewöhnlich sechs bis acht Männer, welche sich an der Ecke eines Holztisches das neueste Lied einübten, die Melodie leise vor sich hinsummend. Plötzlich erscholl ein "Silence!" und die Sänger trugen mit festem Ton ihre Chanson vor, während die Anwesenden laut in den Refrain oder die Chorstrophe mit einstimmten. So wurden diese Lieder bekannt und verbreiteten sich oft in einem oder zwei Tagen durch ganz Paris.

 

 

[Die Anmerkungen stehen als Fußnoten auf den in eckigen Klammern bezeichneten Seiten]

[IX] * La voix du peuple, ou les républicaines de 1848. Récueil des chants populaires, démocratiques et sociaux, publiés depuis la révolution de février. Paris, à la librairie chansonnière de Durand, éditeur. Rue Rambuteau 32.   zurück

[XXIII] * Die beiden letzterwähnten Gedichte sind durch Freiligrath's und Meißner's Übersetzungen auch in Deutschland bekannt geworden. Im Übrigen sind meines Wissens von den nachstehenden Liedern nur der "Gesang der Arbeiter" und "Die Blonde" von Pierre Dupont, sowie "Der Arbeitsmann" von Alcide Reynard und der (Victor Hugo zugeschriebene) "Löwe vom Quartier latin" anderweitig ins Deutsche übertragen   zurück

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Adolf Strodtmann: Die Arbeiterdichtung in Frankreich.
Ausgewählte Lieder französischer Proletarier.
In den Versmaßen der Originale übersetzt und mit biographisch-historischer Einleitung versehen;
nebst einem Anhang Victor Hugo'scher Zeitgedichte.
London: Trübner & Co.; Newyork: B. Westermann & Co.; Hamburg: Jean Paul Friedrich Eugen Richter; 1863.

Unser Auszug: S. VII-XXIX.

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

PURL: https://hdl.handle.net/2027/uc1.$b153550
URL: https://books.google.fr/books?id=SCQ6AAAAcAAJ
URL: http://digitalisate.bsb-muenchen.de/bsb10098289

 

 

Bibliographie der deutschsprachigen Lyrikanthologien 1840 – 1914

 

 

 

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Lyriktheorie » R. Brandmeyer