Charakteristika des Werks

Tel Aviv. Eine Stadterzählung

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Tel Aviv. Eine Stadterzählung [ ↑ ]
In ihrer ersten Veröffentlichung lässt Katharina Hacker die junge Ich-Erzählerin, die einen Winter in Tel Aviv verbringt, von ihren Gedanken, Eindrücken und Erlebnissen erzählen. Sie berichtet von dem Leben in der Stadt, von Freunden und Bekannten und Menschen, denen sie begegnet. Es sind skizzenhafte Beschreibungen, oft sehr knappe, teils aneinandergereihte Sätze, die jedoch sehr poetisch daherkommen. Auch eine gewisse Melancholie und Tristesse sind vorherrschend. „Man kann die Stadt lieben, in der man lebt. Man kann in einer Stadt leben, die man liebt. Und das ist etwas ganz anderes, als gut zurechtkommen in einer Stadt.“ (S. 21) Es sind kleine Geschichten, die das Leben schreibt, von Erfolgen und Misserfolgen, Sehnsüchten, Träumen und Hoffnungen. Teils sind es kleine, zerbrechliche Momente, skizzenhaft dargestellt, die jedoch jederzeit alles verändern können (vgl. KGL http://www.munziger.de). Denn nicht jeder hat das Glück auf seiner Seite, nicht jeder hat Erfolg. Die namenlose Ich-Erzählerin beobachtet ihre Nachbarn, deren Gewohnheiten sowie tägliche Routinen und lässt ihrer Phantasie dabei freien Lauf. „Jeden Tag geht ein sehr hochgewachsener Mann die Straße entlang, und alle zwei Tage kauft er große Bögen Geschenkpapier. Das ist mit Rosen bedruckt, manchmal auch mit dicken Engeln im blauen Himmel. Wird er Geschenke einpacken? Für wen? Und warum sieht er so einsam aus?“ (S. 50) Als Leser*in kann man in die triste und zugleich farbenreiche Welt eintauchen, sich von den Geschichten, Erlebnissen, Fragen und von der Atmosphäre einlullen und mitnehmen lassen von Tel Aviv, einer Stadt in der viele Menschen unterschiedlicher Herkunft leben, in der jeder seine ganz eigene Vergangenheit und  Erfahrung, Trauer und Hoffnung mit sich trägt.

Leseprobe

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Thematische Aspekte zu Tel Aviv. Eine Stadterzählung [ ↑ ]

Stadt
Die Stadt, ist ein gängiges Sujet der Gegenwartsliteratur (vgl. Ledanff 2009, S. 407f.), besonders um die Jahrtausendwende herum. Vor allem Berlin steht immer wieder im Zentrum, sodass von einer jungen Berlinliteratur gesprochen werden kann, die ihren Höhepunkt um die Jahrtausendwende hatte, auch deswegen, da viele Autor*innen selbst in Berlin leben (vgl. Ledanff 2009, S. 407 ff.). Judith Hermann (Verlinkung Autorenlexikon) (Sommerhaus, später) ist deren meistgefeierteste Repräsentantin, doch auch andere Autor*innen wie Tanja Dückers , Julia Franck , David Wagner, Antje Rávic Strubel und Katharina Hacker gehören zur jungen Autorengeneration (vgl. ebd., S. 407 f). So finden sich auch in Hackers Texten immer wieder Stadtbeschreibungen und setzt die Stadt ins Zentrum ihrer Texte. In ihrem Erstlingswerk Tel Aviv (Link zu Inhaltsangabe) ist die Stadt bereits im Titel enthalten. Es ist eine Erzählung von einer, über eine und auch für eine Stadt.

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Pressespiegel zu Tel Aviv. Eine Stadterzählung [ ↑ ]
Insgesamt haben Katharina Hackers Romane und Erzählungen alle eine Resonanz in der Presse erhalten, wenn auch unterschiedlich stark.
Zu Tel Aviv. Eine Stadterzählung (1997) hat sich die Kritik kaum geäußert. Zudem sind die Rezensionen eher verhalten und nicht direkt von der Erzählung überzeugt. Harald Hartung (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.01.1998) bedauert, dass der Text leider nicht halte, was er verspreche. So heißt es gleich zu Beginn der Erzählung: „Will man von einer Stadt sprechen, so kann man ihr verschiedene Sätze anprobieren. […] Von einem richtigen Satz hängt alles ab. Das ist eine Überzeugung, der man unbedingt anhängen muß.“ (S. 9) Doch erreiche man mit dem bloßen Poetisieren nicht automatisch Poesie, Hacker habe Tel Aviv mit „Figuren à la Chagall ausstaffiert“, die zudem „lauter Merkwürdiges und Ausgefallenes denken und träumen“ müssen und selbst beim Streiten Lyrik produzieren würde. So unterliege alles „dem Diktat der Poetosierung“: „die Monate lächeln“, „Alle Dinge lachen“.
Gut acht Jahre später erscheint in Der Freitag (4. August 2006) eine Rezension, sozusagen ein Aufruf, sich Hackers Erzählung noch einmal zuzuwenden, da der brisante Konflikt zwischen Israel und Palästina in eine weitere Runde gegangen ist. Beat Mazenauer betont, dass Hacker „den Schrecken des Nahostkonflikts nur durch die Hintertüre“ hereinlasse. Die Stadterzählung irritiere aufs Entschiedenste. So wirke die Poetisierung auf den ersten Blick unangemessen und die „Biedermeiermöbel“ würden ebenfalls nicht ins Bild passen. Doch die politische Aktualität verleihe dem Buch „unwillkürlich einen doppelten Boden“. Die Figuren sind zu sehr mit sich selbst und ihrer Einsamkeit beschäftigt. Dadurch streue Hacker immer wieder Signale in ihren Text ein, dass der „Nicht-Krieg“ sowie dessen Umkehrung nicht interessieren würden und macht „das grausige Dilemma deutlich“.
2011 wurde Tel Aviv in abgewandelter Form als Theaterstück im Kölner Theater der Keller aufgeführt. (zum Trailer )

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Morpheus oder Der Schnabelschuh

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Morpheus oder Der Schnabelschuh [ ↑ ]
Hackers zweite Veröffentlichung ist ein Band mit sieben Erzählungen. Sie hat einige Figuren aus Homers Odyssee, d.h. der griechischen Mythologie, ins heutige Berlin versetzt. Deren Geschichten werden weiter erzählt, wobei die Figuren in ihrer jeweiligen Anlage nah an der von Homer bleiben. Jede Erzählung hat einen Protagonisten, dessen Namen gleichzeitig den Titel bildet: Elpenor, Sisyphos, Ariadne, Minotaurus, Charon, Morpheus und Mnemon.
Besonders interessant ist die erste Erzählung: Elpenor, der bei Homer ein Säufer ist, wird bei Hacker zum Obdachlosen. Er hält einen langen Monolog, antwortet auf die Fragen eines potenziellen Gegenübers und erzählt Geschichten. Die Erzählung fungiert wie eine Art Einleitung, da Elpenor über die anderen Figuren Bescheid weiß und von ihnen erzählt. So muss Sisyphos noch immer seinen Stein rollen, nun jedoch in einem Berliner Hotel, in dem er zu Gast ist. Concierge und Hotelier wundern sich über die Geräusche aus dem Zimmer des seltsamen Gastes. Doch Sisyphos' „Stein ist zu klein, um darauf zu sitzen, und zu klein, um Schaden anzurichten. Ich bin nur ein Gast und hinterlasse keine Spuren.“ (S. 31) Ariadne hingegen verbringt ihre Zeit einsam an einer Bushaltestelle, teils den Gedanken und Erinnerungen an vergangene Zeiten verhaftet, an Naxos. „Das Geräusch von Regen weckt sie; sie fröstelt. […] Tagsüber kämpft sie gegen den Schlaf, der droht, die Erinnerung auszulöschen.“ (S. 33) Immer wieder schläft sie ein; wenn sie aufwacht, ist der Bus gerade abgefahren. Am Ende steigt sie jedoch in den Bus ein, wer weiß, wo es hingehen wird. Die vierte Erzählung handelt abwechselnd von Minotaurus, dem Stier-Menschen und Daedalus, dem Baumeister, die sich ‚von Früher‘ her kennen. Charon ist der Fährmann, der die Toten in die Unterwelt bringt. „Sie stehen da und bewegen sich nicht. Einige von ihnen stehen dicht am Radweg, und es scheint, als hofften sie, jemand möge ihnen ins Gesicht schauen. Aber die Lebenden sehen die Toten nicht.“ (S. 77) Doch Charon läuft in der Erzählung durch die Straßen Berlins, da alle Flüsse zugefroren sind und er nicht raus fahren kann. Am Ende der Erzählung rudert Charon letztendlich doch immer weiter auf den See hinaus. Es ist fraglich, ob er jemals zurückkommen wird. Morpheus ist der Gott des Traumes. Er ist eitel und unzufrieden mit seinem Leben. So lässt sein Vater Hypnos ihn 2000 Jahre lang schlafen und als er wieder erwacht, befindet er sich im Mittelalter, gekleidet in kostbare Gewänder und wunderschöne Schnabelschuhen. „Er hat eine Vorliebe für Schnabelschuhe. Schnabelschuhe, deren Spitzen länger sind als der eigene Fuß.“ (S. 93) Der Erzählband endet mit der Erzählung über Mnemon, dem professionellen Merker; damals ein bedeutender Beruf, da es noch keine Möglichkeit gab etwas aufzuschreiben. Doch mittlerweile ist er müde von dieser Aufgabe und fühlt sich allein. „Die Sätze marschieren wie Armeen durch meinen Kopf. Oh, man lernt es gut, nichts zu vergessen, nichts auszuplaudern, nicht einen Satz.“ (S. 103)

Leseprobe

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Thematische Aspekte zu Morpheus oder Der Schnabelschuh [ ↑ ]

Historische und politische Ereignisse
Auf historische Stoffe greift Hacker in Morpheus oder Der Schnabelschuh zurück. So nimmt sie Figuren aus Homers Odyssee und versetzt sie ins Berlin der Jahrtausendwende. Sie entwickelt ihre Geschichten weiter und besonders Elpenor, der in der Odyssee eher ein Verlierer-Typ ist, wird bei Hacker ungemein aufgewertet. So zeichnet ihn gerade das monologisierende Erzählen aus, wohingegen er bei Homer nur ,nachredet‘ und kaum etwas sagt. (Vgl. Riedel 2011, S. 133). Hacker verknüpft die mythischen Figuren überaus geschickt mit Elementen der Gegenwart, spinnt ihre Geschichten kunstvoll weiter, führt sie in andere Gefilde. Vieles bleibt mystisch, schattenhaft in den leicht trübsinnigen Erzählungen, so wie die Protagonisten auch ,Schatten' sind.

Stadt
Morpheus oder Der Schnabelschuh spielt in Berlin, d.h. die ins heutige Berlin versetzten ,Schatten‘ leben dort, mehr oder weniger glücklich. Hacker nimmt nicht nur eine poetische Umdeutung der Schicksale vor, sondern verfremdet auch die Stadtimpression mythologisch (vgl. Ledanff 2009, S. 447). Der Bademeister spielt ebenfalls in Berlin. Hugo irrt durch die Straßen, fühlt sich verloren und weiß nichts mit sich anzufangen, als sein Schwimmbad wegen Einsturzgefahr geschlossen wird.

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Formale Aspekte zu Morpheus oder Der Schnabelschuh  [ ↑ ]

Sprache und Stil
In Morpheus oder Der Schnabelschuh führt „[d]ie psychologische Recherche ihrer scheiternden Figuren [...] zu einer unsentimentalen, lakonischen und von ,Leerstellen‘ durchsetzten Prosa“ (Ledanff 2009,  S. 447). Genau das kennzeichnet viele Texte Hackers. Elpenor (Morpheus oder Der Schnabelschuh) sucht Antworten auf existenzielle Fragen, führen Selbstgespräche, bzw. einen unendlichen Monolog.

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Pressespiegel zu Morpheus oder der Schnabelschuh [ ↑ ]
In Morpheus oder der Schnabelschuh (1998) versetzt Katharina Hacker die Figuren der griechischen Mythologie in unsere Gegenwart. Die Erzählungen wurden von den wenigen Feuilletons, die sie beachtet haben, durchweg positiv rezensiert.
In Die Zeit vom 07.01.1999 nennt Martin Lüdke Hackers Vorgehen eine „listige Wiederholung“. So  erzähle sie die Mythen nicht nur simpel nach, wie es viele andere vor ihr gemacht hätten, sondern sie gehe radikal zu Werke, indem sie die „mythologischen Gestalten unserem modernen Bewußtsein“ aussetze. Auch Martin Halter (Frankfurter Allgemeine) äußert sich positiv. Er betont vor allem, dass Hacker sich den verstoßenen Figuren, die nicht wissen, was sie in unsere heutige Zeit verschlagen hat, liebevoll annehme. „Sie stellt die poetischen Lügen richtig, trägt Unterschlagenes und Vergessenes nach, schreibt ihre Geschichten auf und fort.“ Dennoch würden die Erzählungen manchmal „an den Haaren herbeigezogen“ wirken und die „elegisch-morbide Poesie“ sei ein bisschen zu stark gesucht. Trotzdem spüre man den fast heiligen und unzeitgemäßen Ernst einer begabten Erzählerin und „ihre unheilbare Melancholie“.

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Skizze über meine Großmutter

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Skizze über meine Großmutter [ ↑ ]
Die Kurzgeschichte Skizze über meine Großmutter ist zusammen mit Die Schnecken von Paulus Böhmer erschienen. Auf jeweils einer halben Seite erinnert sich eine namenlose junge Ich-Erzählerin an ihre Großmutter, ihre eigenen Kindheitserfahrungen und an die Ferien bei den Großeltern – darunter sind ,Schneckenbeschreibungen‘ von Böhmer abgedruckt, z.B. Die Galgenfußschnecke oder Alle Wehleidsschnecken. Die Protagonistin erzählt von den Bemühungen der Großmutter, die gefräßigen Schnecken aus ihrem Garten fern zu halten. „Meine Großmutter sammelte Schnecken auf und ertränkte sie in Salzlake. Früh morgens, bevor wir aufwachten, suchte sie den Garten ab. Es handelte sich um die roten Nacktschnecken.“ (S. 4) Alte Fotos erinnern die Erzählerin an die Vergangenheit des Großvaters, an die Nazizeit, über die nie gesprochen wurde. Die Großmutter war eine stille Person, die nicht viel sprach, doch ihre Anwesenheit und bloße Existenz bedeutete, „daß die Welt geordnet war oder sich doch immer wieder ordnen würde, daß es Ruhe gab und Trost. Sie war alt, neunundsiebzig Jahre alt, als sie starb.“ (S. 16f.)

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Der Bademeister

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Der Bademeister [ ↑ ]
„Ich bin der Bademeister, ich habe nie viel gesprochen. Das Schwimmbad ist geschlossen. Seit Wochen steht das Gebäude leer. Einsturzgefahr!“ (S. 7) So beginnt Hackers erster Roman Der Bademeister, in dem es um den Protagonisten Hugo, einen Bademeister in einem Volksbad der DDR, geht. Da sein Vater ein bedeutender NS-Offizier war, durfte Hugo nicht studieren und wurde Bademeister, obwohl er es nie hatte werden wollen. Als das baufällige Schwimmbad – es ist die Zeit des Mauerfalls und der Wiedervereinigung – geschlossen wird, weiß Hugo nicht wohin mit sich, da er sein Leben lang jeden Tag im Schwimmbad gearbeitet hat. Er irrt durch die Straßen, erlebt sich als überflüssig. Seine Existenz spielt keine Rolle. So geht er eines Tages wieder in das geschlossene Schwimmbad zurück und bleibt dort, geht nicht mehr hinaus. „Es ist ein Glück, daß meine Mutter ihnen nicht öffnen kann und tot ist. Keiner weiß, wo ich bin, Sie dürfen mich nicht finden, sie würden alles tun, um mir zu schaden.“ (S. 66)
Der Roman ist ein langer, monotoner, aber sehr anrührender Monolog, ein Selbstgespräch des alternden Bademeisters. Er erinnert sich achronologisch an Ereignisse in seinem Leben: So erfahren die Leser*innen nach und nach Dinge aus seiner verdrängten Vergangenheit, seiner Kindheit, den schwierigen Familienverhältnissen und von seinem Leben als Bademeister, dem Nutzen des Schwimmbads vor seiner Zeit, der NS-Zeit, als in dem Schwimmbad Juden vergast wurden und von der Stasi-Überwachung. Hugo hat nie viel gesprochen. Er war immer der Bademeister, hat immer aufgepasst, ihm ist nie einer ertrunken. Dies betont er immer wieder. Es kann als eine Vorausdeutung auf den Ausgang der Geschichte gelesen werden.

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Thematische Aspekte zu Der Bademeister [ ↑ ]

Erinnerung
In Der Bademeister ist das Erinnern sehr zentral. Nach und nach erfährt die Leserin vieles über die Vergangenheit Hugos, dass er beispielsweise nicht studieren durfte, aufgrund der NS-Vergangenheit seines Vaters. Auch über den Nutzen des Schwimmbads, in dem während des Zweiten Weltkriegs Juden eingesperrt und vermutlich vergast wurden, erfährt man im Laufe des Romans. So meint Hugo die Schatten der Verstorbenen zu sehen und auch ihren Geruch wahrzunehmen, da Wasser die Gerüche speichert. Hugo erinnert sich assoziativ und sprunghaft, es ist keine chronologische Erinnerung bzw. Erzählung. Doch so kommt die verdrängte Vergangenheit  langsam ans Tageslicht. Die Geschichte ist unglaublich einnehmend, die Details sind manchmal erschreckend. So beschreibt Hacker ein Stück deutsche Zeitgeschichte und verlangt ihren Leser*innen einiges ab, da viele Einzelheiten erst nach und nach erzählt werden und manches nur angedeutet wird. Demnach beschreibt Der Bademeister „eine erstickende Kleinbürgerlichkeit und ihre Verstrickung mit Verbrechen und Entsetzen des Nationalsozialismus. Aber hier gibt es keine moralische Verurteilung, keine Anklage, sondern nur tief greifende Melancholie.“ (KLG)

Historische und politische Ereignisse
Hacker greift in vielen ihrer Texte auf geschichtliche und politische Ereignisse zurück. So sind die Geschichtsereignisse oft zentraler Bestandteil der Erzählungen und Romane: Zweiter Weltkrieg, Holocaust, DDR, Stasi, Wende 1989, Vertreibung, Golfkrieg, 11. September 2001, Afghanistan-Krieg und Irak-Krieg. Auch wenn die historische Dimension in manchen Prosatexten nur anklingt oder hintergründig ist, so spielt der geschichtliche Aspekt doch immer ein Rolle und prägt jeden ihrer Texte. Hacker setzt damit einen Schwerpunkt und zeigt auch ihre Geschichtsauffassung. Es wird deutlich, dass sie Wert darauf legt, dass sich die Menschen, sprich die Leserinnen und Leser, mit den geschichtlichen Ereignissen auseinandersetzen, dass die Vergangenheit nicht vergessen wird, damit man von ihr lernen kann und sich ihrer bewusst ist. Demnach ist dieser Aspekt eng mit mit dem bereits genannten Thema Erinnerung verbunden.
Zentral sind die historischen und politischen Ereignisse besonders in Hackers Wenderoman Der Bademeister. Auch Autor*innen wie Günter Grass (Ein weites Feld), Thomas Brussig (Am kürzeren Ende der Sonnenallee) oder Annett Gröschner (Moskauer Eis) haben Wendeliteratur verfasst. Für den alternden Bademeister Hugo bricht mit dem Mauerfall 1989 seine ganze Welt zusammen, da das Volksbad, in dem er sein ganzes Leben als Bademeister täglich tätig war, geschlossen wird. So haben die Wende und Wiedervereinigung Deutschlands für den Bademeister nicht Positives. Er wird überflüssig. Sein Einzelschicksal interessiert nicht, er hat keine Funktion mehr, fühlt sich völlig hilflos und einsam. „Drei Wochen bin ich durch die Stadt gelaufen. Es ist mein gutes Recht, hier zu sein [im Schwimmbad]. Wohin soll ich denn sonst?“ (Der Bademeister, S. 13) So blitzen das kommunistische System der DDR sowie die Stasi-Überwachung immer wieder am Rande auf, da Hugo scheinbar auch im Schwimmbad überwacht und abgehört wurde. Doch auch die Verbrechen der Nazizeit werden thematisiert und unheimliche Bilder heraufbeschworen. Hugos Vater, ein hoher Nazioffizier, hatte beispielsweise eine riesige Sammlung guter Lederschuhe im Keller. „[I]ch sollte es nicht wissen, es müssen Schuhe in allen Größen dort gewesen sein, so gut wie neu, mein Vater liebte gutes Schuhwerk, […] woher sie kamen, wußte ich nicht“ (Der Bademeister, S. 111). Es werden keine Zweifel gelassen, dass die Schuhe zum Teil von den Juden kamen, die während der NS-Zeit im Volksbad vergast wurden. So ist Hackers Der Bademeister ein Wenderoman, der ein Stück deutscher Zeitgeschichte erzählt.

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Formale Aspekte zu Der Bademeister  [ ↑ ]

Erzählperspektive
Die Erzählperspektive in Hackers Texten ist oft personal, meist aus der Sicht einer oder mehrerer Figuren. Alix, Anton und die anderen sowie Die Habenichtse werden multiperspektivisch erzählt, sodass das Geschehen immer wieder aus einer anderen Sicht dargestellt wird. In Tel Aviv, Der Bademeister, Eine Art Liebe und Eine Dorfgeschichte gibt es im großen und ganzen jeweils von eine Ich-Erzählerin bzw. einen Ich-Erzähler, deren Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen man leicht folgen kann. Die auf eine einzige Figur verengte Erzählperspektive in Der Bademeister wirkt schnell monoton, da er sich oft wiederholt und in seinen kreisenden Gedanken nur langsam vorwärts kommt. Doch entspricht genau dies der Befindlichkeit der Figur, sodass man als LeserIn gut in die Perspektive des Bademeisters eintauchen kann und schnell Empathie für ihn entwickelt.

Sprache und Stil
Auffällig ist auch der parataktische Stil in Der Bademeister, durch den die Eintönigkeit und Ausweglosigkeit in Hugos Leben zum Ausdruck kommen. Hackers Prosagedichte zeichnen sich einerseits durch eine sehr poetische, komplexe andererseits teils einfache Sprache aus. Die Gedichte evozieren Stimmungen und eine dichte Atmosphäre: in „mal anekdotischen, mal aphoristischen Gedankensplittern, poetischen Notizen, realistischen Beobachtungen und lyrischen Phantasien, archetypisch, einfach, jedes Pathos vermeidend.“ (KLG)
Oft sind es düstere, melancholische Bilder, die Hacker entstehen lässt.  Es ist ihr Stil, mit sparsamen Mitteln viel zu sagen, Dinge nur anzudeuten, vieles nur schemenhaft zu skizzieren. So regen ihre Texte zum Nachdenken an, zum Hinterfragen, denn die Wahrheiten kommen nur selten leicht ans Tageslicht.

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Pressespiegel zu Der Bademeister [ ↑ ]
Deutlich mehr Beachtung von der Presse hat Hackers Debütroman Der Bademeister (2000) erfahren. Er wurde begeistert aufgenommen und die Kritik lobte vor allem Hackers ruhigen, sachlichen Erzählstil. Hajo Steinert (Die Zeit, 19.10.2000) ist begeistert: „Der Bademeister ist eine beeindruckende Charakterstudie.“ Und dadurch, dass der Roman das Hallenbad als einzigen Schauplatz habe, entstehe eine atmosphärische Dichte, die die Leistung des Romans sei. Folglich solle die Leserin/der Leser besser ein Handtuch in der Nähe haben, so nass gehe es im Roman zu. Die unterschiedlichen „Anspielungen auf Ereignisse der deutschen Zeitgeschichte“ würden den Roman jedoch ebenfalls zu einem Buch für Nichtschwimmer machen. Hacker habe eine glaubwürdige Einsamkeitsfigur geschaffen und überzeuge, so Steinert, sowohl mit der Erzählperspektive als auch mit den sprachlichen Eigenheiten des Romans. Auch Verena Auffermann (Süddeutsche Zeitung, 06.12.2000) ist von Hackers Romandebüt begeistert. Sie lobt vor allem die ruhige Erzählweise und den sachlichen Ton der Autorin. Auch dass Hacker trotz der monotonen Wiederholungen kein Wort zu viel verwende, bemerkt sie positiv. Ebenfalls positiv äußert sich Simone Müller (Wochenzeitung, 28.06.2001). So weise der behutsam geschriebene Roman „präzise Psychologie, atmosphärische Dichte, [und] strenge Fokussierung auf einen wortkargen Einzelgänger“ auf. Die unzähligen wiederholten Sätze würden „Hackers Prosa den ihr eigenen Rhythmus“ verleihen und eine gewisse Spannung erzeugen. Der Bademeister „ist das Porträt eines Gescheiterten, dessen persönliche Tragik eng mit (deutscher) Geschichte verknüpft ist.“ So entstehe die Sogkraft des endlosen Monologes vor allem durch die „gekonnte Überlagerung von Schwimmbadrealität und symbolischer Bedeutung des Wassers“, schreibt Müller enthusiastisch. Auch Beatrix Langner (Neue Zürcher Zeitung, 14.09.2000) gefällt Der Bademeister. Sie lobt die ersten Sätze, ihrer Meinung nach fange eine gute Geschichte genau so an: „Ich bin der Bademeister, ich habe nie viel gesprochen. Das Schwimmbad ist geschlossen. Seit Wochen steht das Gebäude leer.“ (S. 7) Der Roman sei „ein Monolog von beklemmender Intensität“ und der Text verkehre paradox das „Auferstanden aus Ruinen“, aus der Nationalhymne der DDR. „Auf Schuld häufte sich neue Schuld, aus Ruinen wuchsen neue Ruinen.“ Maike Albath (Frankfurter Rundschau, 25.11.2000) beschreibt den Bademeister als „die verzweifelte Rede eines Menschen, der aussortiert wurde und nun versucht, über das Sprechen seine Würde zurück zu gewinnen.“ Monoton wie das Schwappen des Wassers am Beckenrand seien die rhetorischen Fragen und stereotypen Wiederholungen, nur ab und zu tauchen Erinnerungsfetzen auf. „Hacker unterstreicht auf diese Weise die gespenstische Macht des Verdrängten – es bleibt dem Leser überlassen, die richtigen Schlüsse zu ziehen.“ Mit wachsender Beklemmung begreife man als Leserin die Verzweiflung des Bademeisters und frage sich zugleich, warum er sich nie gewehrt habe. Kulturgeschichtlich gesehen habe das Wasser eigentlich eine reinigende Funktion, doch Hugo, der Bademeister, ist nie gern geschwommen. Werner Jung (taz, 24.10.2000) zieht inhaltliche und formale Spuren zu Thomas Bernhard und Gerhard Köpf. Seiner Meinung nach sei der Roman vor allem durch seine „oszillierende Mehr- und Vieldeutigkeit“ spannend, die in dem Diskurs über die Zeit, der dem Monolog des Bademeister zugrunde liege, verankert sei. So würden in Hackers Zeitroman „Facetten einer Philosophie der Zeit zur Sprache“ kommen: „Die Zeit ist wie das Wasser: flüchtig, unauffällig, glatt und gefährlich!“ Daher brauche es beispielsweise auch die ermüdend wirkenden Wiederholungen, das Mäandernde, durch das die atmosphärische Dichte entstehe. In Der Tagesspiegel (01.10.2000) schreibt Carsten Hueck, dass auch wenn der Plot von Der Bademeister beinahe banal wirke, eindeutig das Gegenteil der Fall sei: „Sie [Hacker] erzählt vom Untergang eines Menschen, der in seinem kleinen Leben Urgewalt und Schicksalskraft erfährt.“ So berühre die traurige Gestalt Hugos. In seiner „Ausgesetztheit“ sei er mit den „Figuren Becketts oder Kafkas verwandt“, doch in seiner Sprache sei er die einzigartige Schöpfung Hackers. So sei Der Bademeister, dessen Biographie eng an die Schuld der Elterngeneration geknüpft ist, „auch ein Buch über das Verdrängte in der deutschen Geschichte.“

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Eine Art Liebe

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Eine Art Liebe [ ↑ ]
Eine Art Liebe ist ein Roman über drei Menschen, die durch Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbunden sind. Aus der Perspektive der jungen deutschen Studentin Sophie wird die Geschichte des Juden Moshe erzählt, der sich an seine Kindheit in der NS-Zeit, versteckt in einem katholischen Internat in Frankreich, zurück erinnert. Er möchte, dass Sophie die Geschichte seines Freundes Jean, einem französischen Trappistenmönch, der unter seltsamen Umständen ums Leben gekommen ist, aufschreibt. Doch in Wirklichkeit handelt es sich dabei um seine Geschichte. Es ist eine Geschichte von Freundschaft und Verrat, Schuld und Sehnsucht, die achronologisch, in Erinnerungsbruchstücken und Einschüben erzählt wird. „,Du erzählst so durcheinander, daß man es sich nicht merken kann und ganz wirr wird.‘ ,Still. Alles ist Durcheinander, Tohuwabohu, und wenn es ein Vorher und Nachher gibt, gerät es durcheinander, weil wir nicht den Verstand haben, zusammenzutun, was zusammengehört, und zu trennen, was getrennt gehört.‘“ (S. 41) So schreibt Hacker selbst, dass der Roman von der Frage handle, „wie es möglich ist, mit Hilfe der Imagination da zu verstehen, wo es kein eigenes Erinnern gibt.“ (S. 267) Es ist ein Erinnerungsroman, der zeigt, wie schwierig es ist, sich in die Erinnerung eines anderen hinein zu fühlen. Gleichzeitig bildet er die Geschichte des Schreibprozesses ab. „Nach Berlin zurückgekehrt, las ich, was ich geschrieben hatte. Es war schlecht, und ich ließ es liegen.“ (S. 12) Langsam setzt sich das Bild aus verschiedenen Elementen, zusammen: Episoden aus Moshes Kindheit, die Flucht aus Deutschland, sein Leben im Internat mit seinem Freund Jean. Sie wechseln sich mit den Episoden der Gegenwart in Israel ab; den Passagen über Sophies Leben in Berlin, Jerusalem und Tel Aviv. Auch die Freundschaft von Sophie und Moshe wächst, es entsteht tatsächlich dem Titel folgend eine Art Liebe.

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Thematische Aspekte zu Eine Art von Liebe [ ↑ ]

Erinnerung
Der Roman Eine Art Liebe ist ein Erinnerungsroman durch und durch. Bei dem Erzählmodell handelt es sich um eine ,Mimesis des Erinnerns‘ (vgl. Herrmann 2008, S. 253), da die Ich-Erzählerin versucht den Erinnerungsprozess nachzuvollziehen und aufzuschreiben. Moshe Fein erinnert sich an seine Kindheit, die Flucht, die Zeit im katholischen Internat und Sophie versucht die Erinnerungen festzuhalten und mit Fantasie Erinnerungslücken zu füllen. Das Buch handelt daher von der Frage, schreibt Hacker selbst in ihren Anmerkungen zum Roman, „wie es möglich ist, mit Hilfe der Imagination da zu verstehen, wo es kein eigenes Erinnern gibt.“ (Eine Art Liebe, S. 267) Es ist ein sehr persönliches Buch, das Hacker verfasst hat. Denn der Roman weist sowohl autobiographische wie biographische Elemente auf, da er nicht nur Hackers Freund, dem israelischen Historiker und Autor Saul Friedländer, der 2007 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, gewidmet ist, sondern sich auch an dessen autobiographischen Essay, Wenn die Erinnerung kommt, anlehnt und Hacker einige Elemente daraus entlehnt und weiter verarbeitet hat. Außerdem hat Hacker selbst in Jerusalem studiert und einige Jahre dort gelebt.

Historische und politische Ereignisse
In Eine Art Liebe sind vor allem der Zweite Weltkrieg und die NS-Zeit zentral. Moshe erzählt Sophie von seinen Erinnerungen, seiner Geschichte und wie er als Jude die NS-Zeit überlebte im Gegensatz zu seinen Eltern, die deportiert wurden. Die Gegenwart des Romans, der in Jerusalem spielt, steht eher im Hintergrund. Auch diese ist geprägt von politischen Ereignissen. Vor allem der Konflikt zwischen Israel und Palästina, aber auch der Golfkrieg, der immer wieder Erwähnung findet, prägen die Erzählung. „Als der Golfkrieg vorbei war, trafen wir uns freitags wieder im Café Atara.“ (Eine Art Liebe, S. 26)

Stadt

Der Roman Eine Art Liebe spielt vor allem in Jerusalem, teils jedoch auch in Berlin, da zum einen die Protagonistin Sophie von dort kommt, zum anderen da auch Jean dort die letzten Wochen bis zu seinem Tod verbracht hat.

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Formale Aspekte zu Eine Art Liebe [ ↑ ]

Sprache und Stil
Auch wenn die Romane und Erzählungen unterschiedliche Themen aufweisen und auch insgesamt teilweise sehr unterschiedlich geschrieben sind, so zeigt sich doch ein ganz bestimmter Ton, der Katharina Hacker eigen ist: Sie verwendet meist eine behutsame, bedachte, teils philosophische, poetische Sprache und ohne zu viel zu sagen oder zu viel zu verraten, schafft sie es schnell und behutsam Stimmungen und Bilder zu erzeugen. Ihre Ton ist oft lakonisch, doch gleichzeitig sehr komplex und aussagekräftig. Sie lässt den Leser*innen viel Freiraum für eigene Fantasien, doch gleichzeitig fordert sie auch einiges von ihnen, da vieles oft nur angedeutet wird bzw. erst nach und nach erzählt wird (vgl. z.B. Eine Art Liebe, Der Bademeister).

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Pressespiegel zu Eine Art Liebe [ ↑ ]
Auch die Pressestimmen für Eine Art Liebe (2003) fallen überwiegend positiv aus. Sabine Peters (Frankfurter Rundschau, 29.10.2003) drückt der Autorin gegenüber ihre Anerkennung aus. Denn „er [der Roman] will sich nicht anmaßen, das Schicksal eines Überlebenden der Shoa zu erzählen, sondern folgt der Aufforderung, Jeans Leben wiederzugeben oder eben zu erfinden.“ Es sei die Geschichte über die Freundschaft von Moshe und Jean, sozusagen Kain und Abel, und gleichzeitig die Geschichte über das schwierige Verhältnis von Juden und Deutschen, Christen- und Judentum. Schade sei nur, dass die Ich-Erzählerin nur schemenhaft gezeichnet sei und ihre Motive, warum sie nach Israel gegangen sei, nicht geschildert werden würden. Silja Ukena (Kultur Spiegel, Dezember 2003) zieht konkrete Bezüge zu Hackers Biographie und findet in ihren Büchern die „unaufdringliche, aber nachdrückliche Forderung, sich nicht zu verabschieden aus der deutsch-jüdischen Vergangenheit“ – so wie Hacker es vermutlich selbst auch nicht tue. Hacker habe versucht die Geschichte aufzuschreiben „in ständiger Sorge vor den typischen Peinlichkeiten, die drohen, wenn man als Deutsche versucht, eine jüdische Biographie zu erzählen.“ Doch laut Ukena sei ihr dieser Versuch mehr als gelungen: „Eine Art Liebe ist ein Buch, das man nicht vergisst.“ Katrin Kruse (taz, 22.12.2003) reflektiert die Absichten Hackers und dass es ihr um „das Aufspüren einer ,vergessenen Prägung‘“ gehe, d.h. um Erinnerungen und wie diese zu vermitteln seien. So sei das Erinnern ein zentraler Bestandteil des Romans, da sich beispielsweise Sophie schreibend an Moshes Erinnerungen erinnert. Hacker schätze es, vom Schreiben-Können zu Leben und wolle „die Leute nicht belästigen mit Büchern, die nichts zu sagen haben; die man nach der Lektüre ,schüttelt, weil man hofft, es fällt noch was raus.‘“ Thomas Kraft (Die Welt, 10.04.2004) beschreibt den Roman als die Versuche der Erzählerin, das Leben ihres Freundes zu fassen, was ihr jedoch nur „bruchstückhaft“ gelinge. So würde auch dem Leser ein „Verwirrspiel um Identitäten und Perspektiven“ eröffnet, das jedoch kunstvoll erzählt sei. So hält er fest: „Eine Art Liebe ist eine Geschichte über den schwierigen Umgang mit Biografien – aus der Sicht einer Nachgeborenen und einer Autorin –, die die Konsequenz des Denkens mit der Nonchalance einer sicheren Erzählerin verbindet.“
Nur Jörg Magenau (FAZ, 07.10.2003) und Steffen Martus (Süddeutsche Zeitung, 28.11.2003) äußern sich leicht kritisch zu Hackers Roman, obwohl auch sie ein paar lobende Worte finden. Magenau fragt sich, warum Moshe Sophie seine Erinnerungen erzähle, was er damit bezwecke. So würde der Text viele Fragen aufwerfen und eine „kleine Prise ,Narziß und Goldmund‘ […] [sei] in dieser klösterlichen Elegie enthalten.“ Hacker erzähle in einer „nüchternen“, „zurückhaltenden“ Sprache die Geschichte von Freundschaft und Schuld, dem Holocaust sowie auch der jüngsten Gegenwart in Israel und schaffe „eindrückliche Bilder“. Martus hält den Roman eher nicht für eine ,große‘ Erzählung, dafür sei alles zu bruchstückhaft erzählt. Die Tonlage des Romans sei geprägt von den „typischen Kurzsätzen der jüngeren Prosa“, doch auch wenn der Roman an einigen Stellen fast ins Kitschige verfallen würde („die Blätter der Olivenbäume schimmerten matt im Mondlicht“), so schaffe er es doch Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu knüpfen, indem die historischen Ereignisse in einem dichten Netz dargestellt werden würden und es um die Frage nach Verrat, Schuld und Verantwortung gehe.

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Die Habenichtse

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Die Habenichtse [ ↑ ]
„Alles wird anders“ (S. 7). Mit einem Umzug soll alles anders werden, nicht nur für Sara und Dave, auch für Isabelle und Jakob. In Die Habenichtse verlaufen zunächst verschiedene Handlungsstränge parallel, die erst nach und nach miteinander verknüpft werden. Isabelle und Jakob, die beiden Hauptfiguren des Romans, sind ein Paar in den Dreißigern, die sich auf einer Party am 11. September 2001 in Berlin wiedertreffen, später heiraten und zusammen nach London gehen. Sie gehören zum gutsituierten Bürgertum, das eigentlich alles hat. Im Londoner Nachbarhaus wohnen die Geschwister Sara und Dave mit ihren Eltern, die als Alkoholiker das soziale Randmilieu im Roman darstellen. Die unterentwickelte Sara ist verwahrlost und wird misshandelt. Der 11. September 2001 ist der Ausgangspunkt des Romans und bringt für die Figuren viele private Veränderungen mit sich – für Isabelle und Jakob beispielsweise die Möglichkeit nach London zu gehen, da Jakobs Kollege im World Trade Center umgekommen ist. Jakob selbst war zwei Tage früher abgereist: „Er wollte die Zeitungen nicht sehen, die Gesprächsfetzen nicht hören. Vorgestern war er noch dort gewesen. Aber er war rechtzeitig abgereist. Er war verschont geblieben, Isabelle, dachte er, hatte ihn gerettet.“ (S. 22) Doch das Leben von Isabelle und Jakob gerät in London immer mehr aus den Fugen, nicht nur deshalb, da Isabelle anfängt sich für den Dealer Jim zu interessieren und Jakob sich immer mehr zu seinem homosexuellen Chef hingezogen fühlt. Als Isabelle verdächtige Geräusche aus der Nachbarwohnung hört, schreitet sie nicht ein. Erst als die Gewalt gegen Sara eskaliert und es fast zu spät ist, alarmiert sie die Rettungskräfte.
Der Roman wurde 2006 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet und ist mittlerweile in viele Sprachen übersetzt worden.

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Thematische Aspekte zu Die Habenichtse [ ↑ ]

Historische und politische Ereignisse
Eines der wohl stärksten und einschneidensten Ereignisse des 21. Jahrhunderts, das die Welt – so kann man sagen – in ein Vorher und ein Nachher teilt, sind die Terroranschläge des 11. September 2001. Sie sind der Ausgangspunkt für Hackers Roman Die Habenichtse, für den sie 2006 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Bedrohungen von Gewalt und Terror, die Anschläge des 11. September, die Bombenanschläge in London, der Irak-Krieg und der Einmarsch in Afghanistan schwingen die gesamte Handlung über mit. Die Gewalt, d.h. die wachsende, permanente Bedrohung, ist der Grundton des Romans (vgl. Leskovec 2010). Doch auch in diesem Roman sind der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die DDR von Bedeutung: In der Londoner Anwaltskanzlei des Juden Bentham, der als Kind mit einem Flüchtlingszug nach London kam, ist Jakob  Anwalt für Restitutionsfragen, d.h. für Eigentum, das Menschen während der NS-Zeit enteignet wurde. Isabelles Arbeitskollege in der Berliner Grafikagentur ist ein ungarischer Jude und hat in der DDR gelebt. Herkunft und politische Ereignisse werden von den Figuren als prägend erlebt.
In Hackers erster Veröffentlichung Tel Aviv klingen historische und politische Ereignisse nur an, spielen sich im Hintergrund ab, doch wird der Israel-Palästina-Konflikt  erwähnt und vereinzelt von Bombenattentaten berichtet.

Generation(en)porträt
Seit der Wende ist die neue Form des Generationenbildes (vgl. Ledanff 2009, S. 407f.), d.h. des Generationenromans, sehr populär. Bei Die Habenichtse handelt es sich um das Porträt der Mittdreißiger-Generation. Als solcher wird der Roman auch in der Forschung bezeichnet. Ihre Vertreter sind gut situiert, haben alles, gehen arbeiten und abends in schicke Bars. So sind auch Hackers Figuren emotionslos und ziellos, sie lassen Unheil und richtige Gefühle nicht an sich heran, lassen sie nicht zu. „Die Romanfiguren eröffnen unterschiedliche soziale Milieus, die als Parallelwelten in der Londoner Lady Margaret Road aufeinandertreffen.“ (Reinhäckel 2012, S. 132): Isabelle und Jakob, die „globale Elite“, der oben beschriebenen Generation angehörend, und auf der anderen Seite die Geschwister Sara und Dave mit ihren Eltern, sowie Jim, die jeweils am sozialen Rand der Gesellschaft stehen. Demnach erzählt der Roman von ideeller und materieller Armut (vgl. ebd., S. 137) und zeichnet das „Psychogramm einer Post 9/11-Gesellschaft, die von seelischer Verwahrlosung, sozialer Erosion und politischen Bedrohungsszenarien geprägt ist.“ (Ebd., S. 137). Die Protagonistin Isabelle beispielsweise gehört zu jenen Frauenfiguren, deren Lebensgefühl als „sich-so-ein-Leben-vorstellen“ bezeichnet werden kann (vgl. Schlicht 2008, S. 140); sie lebt in diesen Illusionen und scheint das wirkliche Leben und die teils sehr harte Realität nicht zu begreifen. Sie lädt Schuld auf sich, weil sie weder Reaktionen zeigt noch handelt. Schlussendlich zeichnet Hacker „das Bild einer Generation, der alles möglich ist, die sich aber für nichts entscheidet“ (Sieg 2011, S. 41) und spielt damit auf ein Leben an, „das keinen Halt vermittelt, keine Kriterien kennt und letztlich keine Sicherheit bietet.“ (ebd.) Auffällig bei Hackers Figuren – nicht nur bei denen der Generation(en)porträts – ist ihre Haltlosigkeit. Nichts scheint den Figuren in Hackers Texten Halt zu geben (vgl. Tigges 2011, S. 73ff.). Die Außenwelt entpuppt sich für sie als brüchig und zerstörerisch, z.B. für Moshe (Eine Art Liebe) oder auch für Hugo (Der Bademeister), der ein Opfer von Fremdbestimmung ist, da die Umwelt ihm nach und nach alles nimmt, selbst die aufgezwungene Tätigkeit als Bademeister. Doch vor allem in Die Habenichtse herrscht eine gewisse Ohnmacht der Subjekte vor, denn die Protagonisten Isabelle und Jakob sind passive Zuschauer des Geschehens. Für Hackers Figuren besteht keine Möglichkeit einer anderen Figur nah zu sein, daher geben auch die Beziehungen keinen Halt.

Stadt
In Die Habenichtse tritt die Stadt als Sujet sehr deutlich hervor. So spielt der Roman nicht nur in Berlin und London, sondern die Stadt fällt auch als urbanes Gebilde, als „urbanes Labyrinth“ auf, in dessen Wirren Isabelle immer mehr gerät (vgl. Görner 2010, S. 239).

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Formale Aspekte zu Die Habenichtse [ ↑ ]

Erzählperspektive
Der Roman Die Habenichtse ist unglaublich vielschichtig konstruiert. Die drei Handlungsstränge werden aus wechselnder personaler Perspektive erzählt, jeweils unterschiedliche Figuren fokussierend. Durch die fehlende bündelnde Erzählerinstanz steht die Wahrnehmungsperspektive der Figuren im Vordergrund und die Distanz zum Erzählten ist vollkommen reduziert. Folglich überträgt sich die Überforderung der Figuren auch auf die LeserInnen (vgl. Leskovec 2010), nichts wird beschönigt.

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Pressespiegel zu Die Habenichtse [ ↑ ]
Die Kritik zu Die Habenichtse (2006) fällt sehr positiv aus. Die Rezensent*innen loben Hackers Roman, der nicht nur Zeitgeschichte und eingehend eine Generation porträtiere, sondern auch wichtige Fragen und Themen aufgreife. Laut Claudia Voigt (Der Spiegel, 13.03.2006) ist der Roman auf beunruhigende Weise „von unterschwelliger Gewalt, Erotik und Einsamkeit“ durchzogen. Auch das Schriftbild, dicht und fast absatzlos, entspreche der „düsteren und vollgepackten Geschichte.“ Dennoch oder gerade deswegen sei es ein fesselnder Roman. Die Habenichtse sei etwas Besonderes, findet Ursula März (Frankfurter Rundschau, 15.03.2006), auch deshalb, da er „einen Fortschritt in der deutschen Gegenwartsliteratur“ markiere, nämlich die „Verschmelzung von Ästhetik und Engagement.“ Krass seien allerdings die sozialen Verhältnisse, die in dem Roman aufeinander treffen würden: „Hauswand an Hauswand“ lebt die gutsituierte Mittelschicht neben der sozial schwachen Alkoholikerfamilie. Doch gerade Isabelle und Jakob, denen es materiell an nichts fehlt, wollen nicht sehen und hören, was im Nachbarhaus geschieht, denn sie sind „beschäftigt mit ihrer Leere und damit, sie mit geliehenen Intensitäten aufzufüllen“. Außerdem sei der Roman von großer „erzählerischer“ und „geistiger“ Weite, stellt die Rezensentin begeistert fest. Auch Verena Auffermann (Die Zeit, 16.03.2006) lobt Die Habenichtse. Hacker schreibe kunstvoll von der Macht der Gefühle und Bedrohungen. „Ein paar wohlsituierte und ein paar heruntergekommene junge Leute treffen falsche Entscheidungen, sie scheitern an der Liebe und ihren Möglichkeiten.“ Hacker fixiere die Gegensätze, „Gut und Böse, bürgerlich und asozial, fleißig und verwahrlost“, die sie „Wand an Wand“ platziert habe. Somit sei Die Habenichtse ein zeitkritischer Roman, der die Geschichte von „Gewalt, Drogen, Fremdheit und Radikalität als Fortsetzung der allgemeinen Diskussion um Krieg und Frieden“ erzählt, lobt die Rezensentin. „Nichts wird gut“ lautet der treffende Titel von Friedmar Apels Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.03.2006). Hacker überrasche mit der Darstellung „ihrer“ Generation in Die Habenichtse. Die Autorin habe den Schauplatz gut vorbereitet, „auf dem sich die Katastrophe der Teilnahmslosigkeit abspielen wird“. Apel ist sehr angetan von dem neuen Roman einer „der begabtesten Erzählerinnen dieser Generation“. Laut Meike Fessmann (Süddeutsche Zeitung, 05.04.2006) ist Die Habenichtse ein „streng konstruierter, szenenstarker Roman, der in einer Art negativen Theologie durchspielt, wie armselig das Leben in den Metropolen der Gegenwart aussieht.“ Das Buch sei verstörend und desorientierend, doch gehe es um die ganz großen Themen: „Tod, Liebe, Schuld. Wie ihre weibliche Hauptfigur versucht auch sie [Hacker], mit ,unerbittlicher Ziellosigkeit‘ hinter das Geheimnis der Existenz zu kommen.“ Dennoch oder gerade deswegen sei es ein gutes Buch. Für Hans Pleschinski (Die Welt, 22.04.2006) ist der Roman „das Epochen- und Mahnbild unserer Zeit“. Er lobt immer wieder Hackers Erzählkunst, wie sie beispielsweise souverän die Schauplätze London und Berlin sowie „die Schicksale zweier Ausprägungen von Habenichtsen […], nämlich die seelisch Armen und materiell Benachteiligten“, verschränke. Durch das kunstfertige Erzählen der Autorin erdrücken die Szenarien die Leser*innen jedoch nicht zu sehr. Da sie mit ihrer „behutsam greifenden Sprache“ ihren Figuren nachdenklich Gerechtigkeit erfahren lasse. Mit äußerster Sorgfalt und Achtsamkeit folge Hacker ihren Figuren, „minuziös schildert sie die verschiedenen Milieus in London“, stellt Roman Buchely (Neue Zürcher Zeitung, 16.05.2006) fest. Dennoch würden die Figuren teils nur schemenhaft bleiben und als Leser*in erfahre man nur soviel, wie die Figuren auch selbst über sich wissen – eindeutig eine Stärke des Romans. Auch das Zeitgeschehen habe Hacker unaufdringlich in ihren Roman mit eingeflochten; Irak-Krieg, DDR, Holocaust. „Es macht den Zauber dieses Buches aus, dass uns am Ende auf diese Frage [ob es jetzt anders und besser wird] ebenso wenig wie auf viele andere auch, die dieser Roman aufgibt, eine Antwort gegeben wird.“
Im Herbst 2006 wurde Katharina Hacker für Die Habenichtse mit dem Deutschen Buchpreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Der mit 25.000 € dotierte Preis „werde ihr helfen, vom Schreiben leben zu können“, es werde sich dadurch jedoch nicht viel in ihrem Leben ändern, sagte die Preisträgerin und frisch gebackene Mutter.

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Forschungsspiegel zu Die Habenichtse [ ↑ ]
Die Forschung hat sich mit dem Großteil von Hackers Romanen und Erzählungen bisher eher verhalten beschäftigt. Nur der Bestseller und Buchpreis gekrönte Roman Die Habenichtse wurde in der Forschung vielfach diskutiert.

Stadt
Bei Katharina Hacker finden sich durchaus typische Phänomene der Gegenwartsliteratur. Ein gängiges Sujet ist die ,Stadt'. So ist die Stadt immer wieder Mittelpunkt, zentraler Ort oder auch wichtiger Hintergrund für aktuelle Gegenwartsromane. Typisch für die junge ,Berlinliteratur' sind die literarischen Generationenbilder wie beispielsweise in Hackers Die Habenichtse oder Alix, Anton und die anderen und Die Erdbeeren von Antons Mutter. Susanne Ledanff stellt heraus, dass das Sujet der Stadt und das Berlin-Thema bei Hacker vor allem in Morpheus oder Der Schnabelschuh und Der Bademeister dominieren. „Hackers mythologisches Verfremden von Stadtimpressionen ist weit komplexer als ein loses Assoziationsspiel, das Mythologisches mit Motiven der Großstadt zusammenschließt.“ (Ledanff 2009, S. 447) So findet eine „poetische Umdeutung“ der mythologischen Figuren statt, die sich als melancholische ,Schatten' in der Großstadt wiederfinden. Christian Riedel nimmt ebenfalls Bezug auf Morpheus oder Der Schnabelschuh, in seinem Aufsatz Homer hat gelogen. Er bezieht sich hauptsächlich auf die erste Erzählung, Elpenor. In Homers Odyssee ist Elpenor eher eine Verlierer-Figur, doch bei Katharina Hacker findet eine große Aufwertung der Figur statt. So zeichnet Elpenor bei Hacker gerade das monologisierende Erzählen aus – ganz im Gegensatz zum Original. Auch wenn er immer noch der Säufer ist, ein Obdachloser am Bahnhof, überblickt er den gesamten Figurenkosmos und ist sich seiner Fehler bewusst. (Vgl. Riedel 2011, S. 133) Auch in Der Bademeister, dessen Handlung in Berlin spielt, dominieren die „Schatten der Vergangenheit“. So ahnt der Bademeister neben „den Schatten der früheren Badegäste […] die dunkle Vorgeschichte des Orts.“ (Ledanff 2009, S. 450) Die auffällige „Verschachtelung von Zeit- und Handlungsebenen“ (ebd., S. 451) ist typisch für Hacker.
Das Thema Stadt, Urbanität und London als urbaner Raum werden in der Forschung auch immer wieder in Bezug auf Die Habenichtse besprochen und untersucht. Rüdiger Görner nimmt in seinem Aufsatz Die Le(h)(e)re der Fülle. London in Katharina Hackers „Die Habenichtse“, wie auch Ledanff, vor allem die Stadt in den Blick. Im Roman symbolisiert sie einen übervollen Hintergrund, allerdings keine Erfülltheit (vgl. Görner 2010, S. 234). London wird zum „urbanen Labyrinth“, Isabelle zur Gefangenen ihrer Umwelt, wodurch sie beinahe in ein Abhängigkeitsverhältnis mit dem Dealer Jim gerät, der „für die Gegenwelt zum smarten double income no kids-Milieu“ (ebd., S. 235), dem Isabelle und Jakob angehören, steht.

Erinnerungsdiskurse
Der Roman Eine Art Liebe wird vor allem als Erinnerungsroman diskutiert. Friedmar Apel zieht Parallelen zu Saul Friedländer, dem der Roman gewidmet ist, und seinem autobiographischem Essay Wenn die Erinnerung kommt. Hacker will „von ihrem Lehrer ein Nachdenken über Erinnerung und Wissen gelernt haben“ (Apel 2006, S. 178). Apel stellt fest, dass bereits das dem Roman vorangestellte Motto Paul Ricoeurs, der herausstellt, dass das Nachvollziehen einer Geschichte ein schwieriger Prozess ist, die Geschichte aber dennoch annehmbar sein müsse, die Lektüre „für eine Reflexion über das Verhältnis von Erzählung, Geschichte und Verstehen“ (ebd., S. 179) eröffnet. Die „Erinnerungen der Überlebenden der Naziverfolgung“ sind den „Nachgeborenen geschenkt“ (ebd., S. 182) worden. Sie müssen versuchen sich die Geschehnisse vorzustellen und zu eigen zu machen, was Katharina Hacker laut Apel gut gelungen ist.
Auch Meike Herrmann betont den Erinnerungsdiskurs des Romans und stellt die Frage, wie die Zeitgeschichte in den Roman kommt. Doch die Ich-Erzählerin rekonstruiert die Erinnerungen Moshe Feins und das „Erzählmodell adaptiert vielmehr den Erinnerungsprozess und repräsentiert ihn zugleich: achronologisch, sprunghaft, assoziativ und stets gegenwartsgesteuert.“ (Herrmann, S. 253) Das erzählerische Mittel des Romans ist folglich eine „,Mimesis des Erinnerns', die Inszenierung und Nachahmung von Erinnerungsprozessen“ (ebd., S. 253). So wird der Roman selbst zu einem „Medium des Gedächtnisses“ (ebd. S. 254), indem er seine Entstehungsgeschichte mit erzählt.
Andrea Häuser macht den Aspekt des Jüdischen stärker und bezeichnet Hackers Roman als „Kain und Abels Erben“ (Häuser 2011, S. 280). Sie nimmt damit einerseits Bezug zum Buchcover, andererseits aber auch zu der Tatsache, dass der Roman die Geschichte einer Freundschaft und eines Verrats ist. Sie betont, dass der Roman eine Form von „Erinnerungsarbeit“ (ebd., S. 284) darstellt und zieht ebenfalls Parallelen zwischen Hacker und Friedländer, indem sie Textstellen nebeneinander stellt und vergleicht. Sie kommt zu dem Schluss, dass es vor allem die erfundenen Passagen sind, die aussagekräftig für den Roman sind (vgl. ebd., S. 295). Sie bezeichnet den Roman als eine „Poetik der Annäherung“ (ebd., S. 297), der sowohl eine deutsch-jüdische-, eine Shoah-, als auch eine Liebesgeschichte erzählt (vgl. ebd., S. 302).

Zeitroman/Generation(en)roman
Die Habenichtse (2006) haben weitaus mehr Beachtung in der Forschung erhalten, vor allem deshalb, da der Roman mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Er wird als Zeitroman gelesen, der die aktuelle Geschichte wiedergibt, insbesondere die 9/11-Katastrophe und die mit ihr einhergehende Empathie bzw. nicht-Empathie.
Corinna Schlicht wirft einen Blick auf Die Ohnmacht der Frauen in der Geschichte. So wird Geschichte meist von Männern erzählt, die sich selbst als die erinnernden Subjekte begreifen. Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts entstehen immer mehr Romane, die die Geschichte aus weiblicher Sicht schildern und neu definieren. (Vgl. Schlicht 2008, S. 119 ff.) So ist der 11. September der Ausgangspunkt der Geschichte, weitere Terrorwarnungen sowie der Irak-Krieg spielen sich im Hintergrund ab. Darüber hinaus ist Jakob Anwalt für Restitutionsfragen, sodass er mit der vergangenen deutschen Geschichte arbeitet. „Geschichte erscheint so als ständige Neuregelung von Kapital und kultureller Identität als Frage von Raumbesitz und Erstanspruch auf bestimmte Orte.“ (Ebd., S. 139) Isabelle erlebt sich ohnmächtig gegenüber der Geschichte, sie gehört zu den Frauenfiguren, „die z.B. Judith Hermanns (Verlinkung Autorenlexikon) Debüt Sommerhaus, später bevölkerten; ,Sich-so-ein-Leben-vorstellen‘ heißt dort das Lebensmotto einiger jungen (Berliner) Frauen“ (ebd., S. 140). Schlicht kommt zu dem Schluss, dass Isabelle tief in ihrem Herzen eigentlich ihrer Ziellosigkeit entkommen will, die Hoffnungen Londons sich jedoch nicht erfüllen und sich so die Enttäuschungen des Lebens wiederholen.
Franz Fromholzer betrachtet ebenfalls vor allem die Figur Isabelle. Er bringt sie in Zusammenhang mit Walter Benjamins Engel der Geschichte, dem Flaneur und der messianischen Jetztzeit. Doch Isabelle ist ein ein geschichts- und erinnerungsloser Engel. (Vgl. Fromholzer 2008)

9/11 als Großereignis
Neben Romanen wie Bryant Park, von Ulrich Peltzer, oder Woraus wir gemacht sind, von Thomas Hettche, zählt auch Die Habenichtse zu den deutschen 9/11-Romanen. Heide Reinhäckel stellt die Frage nach der Bedeutung der literarischen Orte dieser 9/11-Romane. In Die Habenichtse ist das Medienereignis 9/11, d.h., dass die ganze Welt das Einstürzen des zweiten Turmes und auch die springenden und in Panik fliehenden Menschen live vor dem Fernseher mitverfolgen konnte, vor allem eine Hintergrundszene (vgl. Reinhäckel 2009, S. 123). „Die Lady Margaret Road dient als Hauptschauplatz, in der sich die Biographien der ungleichen Paare kreuzen.“ (Ebd., S. 132) Doch zeichnen sich die Figuren alle durch eine besondere „soziale Kälte“ aus, sodass kein richtiger Kontakt und vor allem kein Mitgefühl, keine Empathie entsteht. Reinhäckel hält fest, dass Hacker „das Psychogramm einer Post-Nine-Eleven-Gesellschaft, die sich selbst am Nächsten ist“ (ebd., S. 133) entwirft. Darüber hinaus konstruiert der Roman mittels „eines realistischen, multiperspektivischen Erzählverfahrens […] die komplexe Gegenwart nach dem 11. September im Mikrokosmos menschlicher Beziehungen.“ (Ledanff 2012, S. 137) Der Roman erzählt vor allem von materieller und ideeller Armut, der sich mit dem Verweis auf die Zeitgeschichte als kritischer Sozialroman positioniert (vgl. ebd., S. 137).
Wim Peeters untersucht die Tatsache, „dass man ein dramatisches Großereignis nur nebenbei im Alltag registriert hat“ (Peeters 2009, S. 203) – wie es vielen Menschen ergangen ist, wie beispielsweise Fotografien zeigen – dass das jedoch tabuisiert ist. Die Gegenwartsliteratur knüpft jedoch an dieser Stelle an und formuliert die tabuisierten Themen, wie Hacker in Die Habenichtse. Die etwas naive und teilnahmslose Isabelle geht am 11. September Schuhe kaufen und denkt an die später stattfindende Party. Auch die Medienereignisse spielen im Roman eine Rolle: Isabelle überlegt sich, ob sie sich wegen des Irakkriegs einen Fernseher anschaffen soll. (Vgl. ebd., S. 214 ff.) „Es ist, als ob Isabelle sich ein erlösendes Ereignis herbeisehnt, das das Nebeneinander mit ihrem Mann im Londoner Alltag überblenden kann.“ (Ebd., S. 219)

Gewalt
Die Frage nach der Gewalt wird besonders von Andrea Leskovec in den Blick genommen. Ihrer Meinung nach ist Gewalt das zentrale Thema des Textes, da sie „als real existierende Bedrohung, als Grundtonus des Textes“ (Leskovec 2010, S. 160) vorherrschend ist. Zunächst beginnt die Gewalt mit den Terroranschlägen des 11. September, später gefolgt von den Terrorwarnungen, dem Irak-Krieg und auch von Jim, von dem eine unterdrückte Bedrohung ausgeht und mit dem eine Radikalisierung der Gewalt einhergeht (vgl. ebd., S. 162ff.). Isabelles Schuld ist das Ausbleiben von Reaktionen und irgendwelchen Empfindungen oder Handlungen, so erreicht der Roman seinen Höhepunkt in einem Gewaltszenario, in dem Jim Isabelle und Sara erniedrigt. Schlussendlich überfordert die Gewalt sowohl Täter wie auch Opfer und wird durch eine fehlende Erzählerinstanz auch auf den Leser übertragen (vgl. ebd., S. 164 ff.).
Auch Christian de Simoni thematisiert die ständige Bedrohungslage und die Nicht-Betroffenheit der Figuren in Die Habenichtse. So ist das, was Isabelle und die anderen Protagonisten „eben nicht ,haben', […] Betroffenheit.“ (Simoni 2009, S. 136) Demzufolge werden neben „die weltpolitischen Bemerkungen, Gedanken und Gespräche […] als Kontrast harmlose Gegebenheiten und Gegenstände des Alltags eingefügt.“ (Ebd., S. 135)

Globalisierung
Wilhelm Amann stellt heraus, dass in Hackers Roman „Lebensentwürfe unter Globalisierungsbedingungen thematisiert werden“ (Amann 2010, S. 209). So beleben Die Habenichtse das Genre des Gesellschaftsromans im Globalisierungskontext, auch wenn der mit dem Buchpreis ausgezeichnete Roman sich bisher nur schwer bei einem breiten Publikum durchsetzen konnte (vgl. ebd., S. 209 ff.). Die ständig wachsende Bedrohung sowie die steigende Überwachung können als Leitmotiv gesehen werden, doch Isabelle und Jakob leben weiterhin ihre ,Fassaden-Normalität' (vgl. ebd., S. 215). Die Lady Margaret Road ist das geographische Zentrum des Romans, an dem sich die verschiedenen Protagonisten und Handlungsstränge treffen. Hier „lebt eine globale Elite mit den Ausgeschlossenen Wand an Wand.“ (Ebd., S. 219) So weist der Roman laut Amann darauf hin, „dass angesichts des Spektakulären des ,11. September' die vielen unspektakulären Katastrophen aus dem Blickfeld geraten, die im Zuge der Globalisierung möglich geworden sind.“ (Ebd., S. 220)
Eine sozialwissenschaftliche Perspektive wirft Christian Sieg auf den Roman. Er nimmt Bezug auf die Migrationserfahrungen Isabelles und Jakobs und stellt ebenfalls heraus, dass der Roman „viele Probleme unserer globalisierten Welt“ (Sieg 2011, S. 41) aufgreift. Die Beiläufigkeit, mit der erzählt wird, spiegelt die fehlenden Emotionen und das gedämpfte Erleben der Figuren wider (vgl. ebd., S. 45). Doch laut Sieg ist es nicht die emotionale Kälte bei Isabelle, die sie die Augen vor der Kindesmisshandlung im Nachbarhaus verschließen lässt – wie einige Rezensenten schreiben –, sondern letztlich die psychische Überforderung (vgl. ebd., S. 43).

Liebe/Sexualität
Oliver Sill untersucht vor allem den Aspekt der Liebe und Sexualität in Die Habenichtse. Er vergleicht Isabelle und Jakob mit Ottilie und Eduard aus Johann Wolfgang von Goethes (Verlinkungen..Goethezeitportal, Text.) Wahlverwandtschaften und wirft auch einen vergleichenden Blick auf die beiden Romane, zwischen denen 200 Jahre liegen. Er schaut auch auf die vier Habenichtse (Isabelle, Jakob, Sara und Jim) und untersucht, was sie zu jenen macht. Er kommt zu dem Schluss, dass in Die Habenichtse weder die einzelnen Figuren noch die Gesellschaft ein Ziel haben, sondern nur eine leere Zukunft auf sie wartet. (Vgl. Sill 2009, S. 37 f.)
Sara Tigges untersucht mehrere Romane Hackers. Sie stellt die These auf, dass Hackers Figuren alle scheitern, sowohl an der Innen- als auch an der Außenwelt. So gibt es zum anderen immer wieder den Bezug zu historischen und politischen Phänomenen, z.B. den Schrecken der Naziherrschaft, der Stasiüberwachung oder den Terroranschlägen des 11. September. (Vgl. Tigges 2011, S. 73). Folglich entpuppt sich die Außenwelt für die Figuren als zerstörerisch und brüchig, insbesondere für Moshe (Eine Art Liebe) aber auch für Hugo (Der Bademeister), die beide Opfer von Fremdbestimmung sind (vgl. ebd., S. 74 f.). Die „Ohnmacht des Subjekts“ ist jedoch auch in Die Habenichtse von zentraler Bedeutung, da beispielsweise Isabelle und Jakob nicht empathiefähig sind, gerade weil oder obwohl die Schrecken des Terrors überaus präsent sind (vgl. ebd., S. 77). Darüber hinaus sind die Figuren einsam und auch die Beziehungen zu anderen geben keinen Halt (vgl. Isabelle und Jakob in Die Habenichtse, Alix und Jan in Alix, Anton und die anderen oder Anton und Lydia in Die Erdbeeren von Antons Mutter), „da für die Figuren kaum eine Möglichkeit besteht, einer anderen Figur nah zu sein.“ (Ebd., S. 79) Die „Brüchigkeit der eigenen Erinnerung“ (ebd., S. 81) zeigt sich vor allem in Eine Art Liebe und in Die Erdbeeren von Antons Mutter. Die Erinnerung stellt keine verlässliche Orientierung dar, da beispielsweise die Mutter, die an Demenz leidet, sowohl ihre Erinnerungen als folglich auch ihre gesamte Biographie verliert. Tigges kommt zu dem Ergebnis, dass Hackers Figuren der Innen- und Außenwelt ausgeliefert sind. Erste vermeintliche Lösungsansätze lassen sich ihrer Meinung nach jedoch sowohl in Die Habenichtse, Eine Art Liebe als auch in Die Erdbeeren von Antons Mutter finden. (Vgl. Ebd., S. 81 ff.)

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Überlandleitung. Prosagedichte

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Überlandleitung. Prosagedichte [ ↑ ]
Hackers einzige Lyrik-Veröffentlichung besteht aus mehreren Gedichtzyklen bzw. teilen. Es sind Natur- und Landschaftsbeschreibungen, urbane Landschaften und Räume, Eindrücke und vieles mehr. So ist der erste Gedichtzyklus ein Jahreslauf: im September, im Oktober usw. „im Juni / die Wiesen dicht an dicht die Schafe kaum zu sehen / und Sommertag wie Sommertage früher / [...]“ (S. 23) Es folgt ein zweiter Zyklus, in dem jedes Gedicht den Titel Ein Tag trägt. Insgesamt sind es 19 Tage. „Ein Tag, 9 / Ob ein Jahr länger ist als ein Tag, frage ich mich, / schaue auf Risse, Einschußlöcher in der Hauswand gegenüber, / der Putz fällt ab, ein Stück der Mauer ist herausgebrochen / [...]“ (S. 43) Verschiedene Eindrücke, Wahrnehmungen und Gedanken werden im dritten Teil wiedergegeben, der keinen zusammenhängenden Zyklus ergibt, sondern nur eine lose Sammlung von Gedichten darstellt. Die Gedichte heißen beispielsweise Leichthin, Schattenbilder, Wende, Nacht oder Körperbilder.

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Thematische Aspekte zu Überlandleitung. Prosagedichte [ ↑ ]

Stadt
Die Stadt bildet somit einen übervollen Hintergrund für die Figuren, jedoch keine Erfülltheit (vgl. ebd). Letztendlich sind auch einige der Prosagedichte in Hackers Lyrikband Überlandleitung Stadtbeschreibungen, und -erzählungen, Eindrücke von der Stadt und den Menschen dort.

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Pressespiegel zu Überlandleitung. Prosagedichte [ ↑ ]
Die Prosagedichte Hackers wurden vom Feuilleton eher wenig und dann auch nicht so positiv bedacht. Tobias Lehmkuhl (Süddeutsche Zeitung, 19.11.2007) schreibt, dass Hacker, die erfolgreiche Autorin von Die Habenichtse, mit den Prosagedichten einen überraschenden Weg eingeschlagen habe. Doch mache sie es kunstvoll, da sie sowohl die Erwartungen an Prosa als auch an Lyrik unterlaufe und sich somit „weder den Anforderungen der einen noch der anderen Gattung“ stelle. Naturbeschreibungen und „der leise Ton“ würden vorherrschen und die beiden Zyklen – wie es sich für Zyklen gehöre – „vom Werden und Vergehen, von der ewigen Wiederkehr“ sprechen. Doch die dritte Abteilung, die einzelnen Gedichte, seien leider „die schwächsten Texte des Bandes“, da sie dort doch versuche, Lyrik mit einem tieferen Sinn zu verfassen. Auch Jochen Jung (Der Tagesspiegel, 30.12.207) ist der Meinung, dass die Texte im letzten Teil  unverhohlene „Gedicht-Gedichte“ sind, denen mit großen Worten Bedeutung beigemessen werde. Er kommt zu dem Schluss, dass es sich bei den vierzig Seiten Gedichten um „gute Prosa“ handle, „detailreich und mit Empathie vorgetragen“ – jedoch  nicht um gute Prosagedichte.

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Alix, Anton und die anderen

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Alix, Anton und die anderen [ ↑ ]
Der Roman Alix, Anton und die anderen ist der Beginn einer zunächst als mehrteiliges Romanprojekt geplanten Geschichte über Alix, Anton, ihre Freunde und Familien. Eine Gruppe Mittvierziger, denkt über ihr Leben und ihre Wünsche nach, die zum größten Teil unerfüllt geblieben sind. Alix leidet an Hyperakusis, d.h. sie hat ein besonders ausgeprägtes Gehör, sodass sie weit entfernte Geräusche wahrnehmen kann. Sie ist mit Jan verheiratet, einem Psychotherapeuten. Anton ist Arzt und sehnt sich nach einer festen Beziehung und einer eigenen Familie. „Als einziger von uns hatte er nie andere Träume, er hat uns immer geduldig zugehört, wenn wir darüber sprachen, was wir uns erwarteten, und er hat sich daran nicht beteiligt, er hat gesagt, er wünsche sich eine Familie, wir fanden seinen Wunsch bescheiden, und doch hat auch sein Wunsch sich bislang nicht erfüllt“ (S. 14 f.). Bernd ist ein homosexueller Buchhändler und wie Anton ein guter Freund von Alix und Jan. Seit 19 Jahren essen die Freunde jeden Sonntag bei Alix' Eltern Clara und Heinrich zu Mittag. Zu Beginn der Romanhandlung etablieren sie jedoch ein neues Ritual: Einmal im Monat gehen sie in das vietnamesische Restaurant, das von Mai Linh, und ihren Brüdern geführt wird. „Ich habe schon gekocht, sagte Clara. Dann lachte sie. Heinrich ist über achtzig, ich werde achtundsiebzig, und plötzlich wollt ihr uns zum Essen einladen. Vietnamesisch.“ (S. 8) Die Leser*innen erhalten Einblicke in das Leben der Figuren, die verschiedenen Träume und Sehnsüchte, Gedanken an die Vergangenheit und an das, was sie beschäftigt. Im Grunde sind sie alle einsam, auch wenn sie oft zusammen sind. So geht es in dem Roman um Schuld und Einsamkeit, Gewalt und Rache, Schweigen und Vergessen. Doch immer wieder wird gezeigt, dass die Figuren ihr Glück machen wollen, dass sie Suchende sind. Auch in diesem Roman verknüpft Hacker die Schicksale und Geschichten verschiedener Figuren miteinander, Figuren, die geprägt und gezeichnet sind vom Leben. In wechselnden Perspektiven werden die Erlebnisse und Begegnungen erzählt. Durch zwei Textspalten, die jeweils unterschiedliche Perspektiven wieder geben, wird der Leser dazu angeregt, selbst tätig zu werden und zu entscheiden, wie er oder sie weiterlesen möchte.

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Thematische Aspekte zu Alix, Anton und die anderen [ ↑ ]

Generation(en)porträt
Auch in Alix, Anton und die anderen leben die Figuren miteinander nebeneinander her. Sie sind einsam und allein, trotz Partnerschaften. Diesmal sind es jedoch melancholische, kinderlose Mittvierziger, die Hacker in den Blick nimmt. Die Figuren altern mit ihrer Schöpferin. Die Figuren sind alle auf der Suche und werden sich immer mehr darüber bewusst, dass sie die meisten ihrer Träume nicht verwirklichen konnten. Das Porträt, vor allem der Mittvierziger-Generation, wird in Die Erdbeeren von Antons Mutter fortgeführt. Mehrere Generationen werden ebenfalls in Eine Dorfgeschichte dargestellt, wobei der Fokus auch auf den Unterschieden zwischen den Generationen, ihren verschiedenen Erfahrungen und Lebensweisen liegt: Großeltern – Eltern/Kinder – Enkel/Kinder.

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Formale Aspekte zu Alix, Anton und die anderen [ ↑ ]

Layout
Besonders auffällig ist das Layout in Hackers Roman Alix, Anton und die anderen. So gibt es hier parallel zum Haupttext eine kleinere zweite Spalte. Die LeserInnen können und müssen selbst entscheiden, wie sie den Roman lesen, ob sie die Spalten jeweils nacheinander lesen oder hin und her springen möchten. Eigentlich wollte Hacker zwei gleich breite Spalten, der Verlag konnte sich jedoch nur auf eine zweite verkleinerte Spalte einlassen, wodurch es zum Bruch zwischen Hacker und dem Suhrkamp-Verlag kam. Gerade in der kleineren Spalte werden jedoch wichtige Gedanken und Ereignisse mitgeteilt und wichtige Fragen gestellt. Das Layout gibt dem Text eine besondere Note und macht es spannend, den Roman, auf ganz individuelle Weise und immer wieder neu, zu lesen.

Erzählperspektive
Auch in Alix, Anton und die anderen wird die Geschichte aus wechselnder personaler Perspektive präsentiert, ein Kapitel ist meist aus der Sicht einer Figur. So kann man als LeserIn in die Innensichten der jeweiligen Figuren eintauchen und das Geschehen aus unterschiedlichen Blickwinkeln erfahren und betrachten.
Hacker schafft es, ganze Erzählwelten zu erschaffen, einzigartige Stimmungen heraufzubeschwören und fesselnde Charaktere, Geschichten, Bilder und Landschaften entstehen zu lassen; immer wieder anders und doch ihrem eigenen Stil treu bleibend.

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Pressespiegel zu Alix, Anton und die anderen [ ↑ ]
Mit dem Roman, der auf Die Habenichtse folgte, konnte Hacker die Mehrheit der Feuilletons eher nicht für sich gewinnen. Viele Kritiker*innen fanden das Lesen der zwei Spalten als ermüdend und verwirrend, fühlten sich von der Autorin allein gelassen. Auch der Streit mit dem Suhrkamp-Verlag findet in den Kritiken immer wieder Erwähnung und wird teilweise als Eitelkeit der Autorin aufgefasst. Dennoch gibt es auch eine positive Rezensionen.
Patrick Bahners (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.11.2009) bezeichnet Hackers Roman Alix, Anton und die anderen als einen philosophischen Roman, in dem Schicksal, Schuld und Tod eine Rolle spielen. Ihm gefällt sowohl der Roman als auch seine Aufmachung, die beiden ungleichen Spalten. Nicht nur die Figuren würden „Beobachtungen buchstäblich vom Rand aus“ machen, sondern auch die Leserschaft. So erweist sich dieser „zweispaltige Umbruch […] als elegantes Mittel, das dem Roman jene Dimension der philosophischen Reflexion wieder erschließt, die die Höhepunkte der Gattung auszeichnet.“
Laut dem Rezensenten Elmar Krekeler (Literarische Welt, 21.11.2009) können wir LeserInnen den Roman nicht kennen, weder nach dem ersten noch dem zweiten Lesen. So wird der „Roman ohne Hauptfiguren“ in zwei parallelen Strängen erzählt, die sich „umschlingen, ergänzen, spiegeln sollen.“ Dabei gehe es hier um mehr als Layout, Ästhetik und Spielerei, Hacker wolle „konsequent ausbrechen aus dem Gefängnis des literarischen Nacheinander ins […] Nebeneinander, in die Gleichzeitigkeit.“ Die Mittvierziger, von denen Hacker erzählt, sind eine „Parallelgeschichte der ,Habenichtse‘“, denen es an sich gut geht, die jedoch auf der Suche nach dem Glück sind und immer stärker die Leere und den ,nahenden‘ Tod wahrnehmen würden. So haben die Figuren alle Geheimnisse, tragen Schuld, Wunden und Verletzungen mit sich herum, durch die sie auch miteinander verbunden werden. Der Rezensent ist nach dem „Ende, das keines ist“ auf die Fortsetzung gespannt. Dennoch fühlte er sich beim Lesen allein gelassen und hält das mit den zwei Spalten für keine gute Idee.
Meike Fessmann (Süddeutschen Zeitung (21./22.2009) steht Hackers neuem Roman eher kritisch gegenüber. So erzähle sie – wie auch in Die Habenichtse – von der Desorientierung einer Generation, die sich auch auf die Leser*innen übertragen würde, nicht nur wegen des Layouts. Doch gerade in den Randnotizen stecken oft wichtige Informationen, die man als Leser jedoch „mühsam“ zusammenfügen müsse. Daher hält Fessmann das Konzept des Romans eher für eine Notlösung, für eine Skizze des Romanprojekts. Auch Gerrit Bartels (Der Tagesspiegel, 24.11.2009) möchte wissen, wie es mit den Figuren weiter gehen wird, allerdings „nicht in der von Katharina Hacker gewählten Form“, da dies doch mühselig und kein „formvollendeter Roman“ sei. So gibt es seiner Meinung nach nichts im Text, was nicht auch in einem „normalen Textblock“ hätte stehen können. Folglich stelle sie sich „mit ihrer avantgardistischen Erzählweise eher ein Bein“, als dass sie der Handlung und den Figuren zuträglich wäre. Ebenfalls zweifelnd äußert sich Ursula März (Die Zeit, 03.12.2014) zu Alix, Anton und die anderen. So seien diese Generationendarstellungen ein gängiges Sujet und bereits von Ralf Rothmann, Ulrich Peltzer und vielen anderen bekannt. Und so sei nicht nur in diesem Buch, in dem es unter anderem um Schuld und Kinderlosigkeit gehe, „etwas aus dem Lot geraten“ sondern auch drum herum, mit den Eitelkeiten der Autorin, dem Bruch mit dem Verlag, der den Roman gegen Hackers Willen veröffentlichte. So zweifle niemand, dass Hacker „hervorragend Charaktere, Schauplätze, Szenen entwerfen“ könne, jedoch besser ohne „exotische Romankonstruktion“ mit eher „unexotischem Romanpersonal“. Nicht ganz so kritisch rezensiert Sibylle Birrer in der Neuen Zürcher Zeitung (11.02.2010) den   Roman. So sei es erst der Anfang eines „mehrteiligen Romangeflechts, dass die Leserschaft literarisch in das Lebensgefühl einer individualistisch fragmentierten, hedonistisch ruhelosen und in Sachen Lebenssinn gänzlich desorientierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts führt.“ Obwohl Hacker eine Meisterin des Erzählens von „menschlicher Destabilisierung“ sei, vermöge sie der Roman nicht komplett zu überzeugen. Doch bleibe umso mehr auf die folgende Veröffentlichung im S.Fischer Verlag zu hoffen. Nicole Henneberg (Frankfurter Rundschau, 24.11.2009) äußert sich überaus positiv zu dem Roman. So sei es ihrer Meinung nach fatal, dass die beiden Spalten nicht – wie von Hacker geplant – gleich seien, da es gerade in der verkleinerten rechten Spalte um die wichtigen Fragen nach „Schuld, Scham und Lebensangst“ gehe, die den Roman leitmotivisch durchziehen würden. Der zwischen den Textspalten entstehende freie Raum zeige, wie brüchig und haltlos das Leben von Alix und den anderen sei. „Die vielen Unfälle, das Ertrinken, die Vergiftungen, das Überfahren werden“ lese sie als Ankündigungen von einer viel größeren Katastrophe, die in diesem Roman jedoch nicht mehr eintreffen wird. Man darf gespannt sein, wie das Roman-Projekt weitergehen wird.

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Die Erdbeeren von Antons Mutter

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Die Erdbeeren von Antons Mutter [ ↑ ]
Dieser Roman setzt die Geschichte aus Alix, Anton und die anderen fort, ist jedoch ein eigenständiges Werk. Nun steht vor allem Anton im Zentrum der Geschichte, der damit zurecht kommen muss, dass seine demenzkranke Mutter immer vergesslicher wird. So beginnt alles damit, dass sie vergessen hat, die Erdbeeren zu pflanzen, obwohl sie dies eigentlich jedes Jahr macht, um später Erdbeermarmelade zu kochen und auch Anton und seinen Freunden davon welche nach Berlin zu schicken. Anton pflanzt verspätet und heimlich die Erdbeeren, da er nichts so sehr möchte als an dem Alten festzuhalten. „Ob es richtig war, mit einer Lüge jemanden zu trösten oder glücklich machen zu wollen? Er würde seiner Mutter vorschlagen, in den Garten zu gehen, um nach den Erdbeeren zu schauen.“ (S. 6) Des Weiteren geht es auch um die sich entwickelnde Beziehung zwischen Anton und Lydia. Doch sie lässt ihn nur langsam an sich heran und dunkle Schatten aus der Vergangenheit scheinen sie zu umgeben.

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Thematische Aspekte zu Die Erdbeeren von Antons Mutter [ ↑ ]

Erinnerung
In Die Erdbeeren von Antons Mutter ist Erinnerung von zentraler Bedeutung. Doch geht es in dem Roman vor allem um den Verlust von Erinnerungen, da Antons Mutter demenzkrank ist. Hilde verliert nach und nach ihre eigene Biographie, vergisst die – so zentralen – Erdbeeren zu pflanzen und erkennt die Stimme ihres Sohnes am Telefon nicht mehr. Anton muss lernen, dies zu akzeptieren. Auch mit der Vergangenheit muss er sich auseinandersetzen, da dunkle ,Schatten' aus der Vergangenheit seiner Freundin Lydia auftauchen: ihr Exfreund Rüdiger und dessen Kriegskamerad Martin. Von ihnen geht eine ungewisse aber beständige Bedrohung aus.

Generation(en)porträt
Katharina Hacker porträtiert in vielen ihrer Romane eine oder mehrere Generationen und thematisiert Fragen und Probleme dieser. Damit schafft sie eingängige Bilder, Generation(en)porträts, die teilweise eine unrühmliche Spiegelung gegenwärtiger Lebenskonzepte ergeben. Sowohl in Die Habenichtse als auch in Alix, Anton und die anderen sowie in Die Erdbeeren von Antons Mutter zeichnet sie das Bild von Generationen, die eher nebeneinander her als miteinander leben, die von einer Ziel- und Haltlosigkeit geprägt sind und die an der Innen- und Außenwelt scheitern, da ihnen nichts Halt geben kann (vgl. Tigges 2011, S. 73ff.). Die Brüchigkeit der Erinnerung und somit auch die Haltlosigkeit der eigenen Identität werden vor allem in Die Erdbeeren von Antons Mutter deutlich, da der Mutter nach und nach durch die Demenz ihre gesamte Biographie genommen wird. Das Vergessen ist erbarmungslos. So lässt sich zusammenfassend sagen, dass Hackers Figuren der Innen- und Außenwelt ausgeliefert und von Verlorenheit gekennzeichnet sind (vgl. ebd.).

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Pressespiegel zu Die Erdbeeren von Antons Mutter [ ↑ ]
Mit dem Roman Die Erdbeeren von Antons Mutter (2010), dem ersten im S.Fischer Verlag veröffentlichten Buch, konnte Hacker die Kritik wieder überzeugen und begeistern. In Die Erdbeeren von Antons Mutter ist „nichts kompliziert gedacht und konstruiert“ – wie in Alix, Anton und die anderen, stellt Judith von Sternburg begeistert in der Frankfurter Rundschau (25.05.2010) fest. So investiere Hacker nun in „raffinierte Perspektivwechsel“, um die Geschichte um Alix und ihre Freunde weiter zu führen. Doch hinter dem so harmlos klingenden Titel tue sich ein „so seltsames wie realistisches Panorama der Bedrohungen auf.“ Diese Bedrohungen liegen in der Demenz von Antons' Mutter, dem Exfreund Lydias und dessen Freund sowie den Schnecken, die am Ende des Buches Die Erdbeeren von Antons Mutter vernichtet werden. Und so geraten ein paar Dinge aus den Fugen, leise – wie es im Roman heißt – und die Geschichte scheint mit dem Ende des Buches noch nicht zu Ende zu sein. Fast schmerzlich, so Sternburg, wirft Hacker eine sanfte, doch unerbittlich düstere Perspektive auf die Mittvierziger-Generation, der sie selbst angehört. Auch Meike Fessmann (Süddeutsche Zeitung, 28.05.2010) ist von Hackers neuem Roman begeistert. So erinnert sie zunächst noch einmal an den Streit mit dem Suhrkamp-Verlag, der Alix, Anton und die anderen gegen Hackers Willen veröffentlichte. Dies sei jedoch geradezu „ein Lehrstück“ um zu zeigen, „wie heikel und verletzlich kreative Prozesse sind“. In Die Erdbeeren von Antons Mutter folge Hacker nun ganz „den strengen Formgesetzen der Novelle“ und schaffe es so, die Geschichte von Anton, der hin- und hergerissen zwischen Berlin mit seiner neuen Liebe und der Demenz seiner Eltern ist. „Zum Showdown zieht man gemeinsam aufs Erdbeerfeld, unterlegt vom Basso continuo einer Bedrohung, die Katharina Hacker hier wie in all ihren Büchern mit einer großen ,Bangnis' um die Verletzlichkeit des Glücks inszeniert.“ Man darf gespannt sein, ob die Geschichten um Alix, Anton, Bernd und Jan fortgesetzt werden. Friedmar Apel (Süddeutsche Zeitung, 18.06.2010) ist ebenfalls angetan von dem Roman. So beschreibt er sie als „leicht, klug und im besten Sinne unzeitgemäß“. Auch wenn die Geschichte von Alix, Anton und die anderen weiter erzählt wird, wird die Kenntnis des Buches nicht vorausgesetzt – der Roman ist ein eigenständiges Werk. Den kinderlosen Mittvierzigern gehe es eigentlich gut und dennoch seien sie „eigentümlich heikel und gefährdet“. „Mit ,Bangigkeit, mit Schrecken und schlechtem Gewissen' wird ihm [Anton] im Anblick seiner Mutter fasslich, wie einem das Leben enteignet werden kann.“ Mit Raffinesse setze Hacker die Geschehnisse und Stimmungen in Beziehung, während über allem die Erdbeeren als „dämonisch schillernde Symbole der Gleichzeitigkeit allen Werdens und Vergehens, von Hingabe und Vergeblichkeit, von Lust und Liebe, Angst und Trägheit des Herzens“ stehen. Auch Rezensentin Sibylle Birrer (Neue Zürcher Zeitung, 14.08.2010) lobt den neuen Roman. Sie ist begeistert von der gekonnten Inszenierung von „Hoffnung und Verzweiflung, Glück und Enttäuschung“ und feiert Hacker ein weiteres Mal als „Meisterin der Beschreibung menschlicher Destabilisierung.“ Besonders die unterschiedlichen Szenen, in denen aus wechselnder Sicht die Erfahrungen der fortschreitenden Demenz erzählt werden, findet sie eindrucksvoll. So zeige Hacker ihr Talent, „das emotionale Wurzelwerk der Gegenwart auszuleuchten – mit den langsamen, forschenden Suchbewegungen einer Anthropologin sowie der sprachlichen Präzision und dramaturgischen Finesse einer herausragenden Literatin zugleich.“

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Eine Dorfgeschichte

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Eine Dorfgeschichte [ ↑ ]
Die Ich-Erzählerin erinnert sich an die Sommer auf dem Land mit ihren Großeltern, Eltern und Brüdern, die sie in einem kleinen Dorf im Odenwald verbrachten und in dem sie eine unbeschwerte Kindheit verlebten. „Angekommen vor unserem Haus, rissen wir, bevor noch der Motor abgestellt war, die Türen auf und sprangen hinaus, rannten los in den Garten, zur Hütte, zum Schuppen“ (S. 9). Die Welt scheint still und schön zu sein, doch gibt es vieles, worüber geschwiegen wird, die Vergangenheit der Großeltern und Eltern kommt nur langsam und sachte ans Licht. Die scheinbare Idylle ist trügerisch, denn auch das Dorf scheint von dunklen Geheimnissen umgeben. Behutsam lässt Hacker eine kleine Welt entstehen, in der jedoch die ,großen‘ Fragen nach Liebe, Leben und Tod gestellt werden.

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Thematische Aspekte zu Eine Dorfgeschichte [ ↑ ]

Erinnerung
Hackers teilweise autobiographische Erzählung Eine Dorfgeschichte beschreibt Kindheitserinnerungen an die Sommer auf dem Land bei den Großeltern. Auch andere AutorInnen haben sich dem Genre Dorfgeschichte gewidmet, beispielsweise Jan Brandt (Gegen die Wand), Peter Kurzeck (Vorabend) oder Maja Haderlaps (Engel des Vergessens). Eine trügerische Idylle ist vorherrschend, denn es gibt viel Schweigen – auch im Dorf – und über die Vergangenheit wird so gut wie gar nicht gesprochen. Nur kleine Erinnerungsfetzen der Großeltern tauchen vereinzelt auf über Vertreibung, Flucht und die Nazizeit. So verlangt Hacker von den Lesenden einiges an Denkleistung, da sich vieles erst nach und nach erschließt, Zusammenhänge nur bruchstückhaft klar werden und letztendlich schemenhaft bleiben.

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Formale Aspekte zu Eine Dorfgeschichte [ ↑ ]

Layout
Auch in Eine Dorfgeschichte ist das Layout auffällig, da auf den Seiten viel Platz gelassen wurde, viel ,weiß' vorhanden ist. Außerdem sind den einzelnen Kapiteln kleine Prosaminiaturen beigefügt worden, die am Rand stehen. Es handelt sich um kleine Erinnerungsfetzen, knappe Einschübe, die meist in der Ecke einer Seite und deutlich abgesetzt in anderer Schriftart stehen. In ihnen wird die Geschichte der Ich-Erzählerin als erwachsene Frau erzählt und reflektiert.

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Pressespiegel zu Eine Dorfgeschichte [ ↑ ]
Die Pressestimmen zu Eine Dorfgeschichte (2011) fallen größtenteils positiv aus. Nur vereinzelt gibt es Kritik. Die lobenden Rezensenten erwähnen immer wieder die trügerische Idylle, die in dem Dorf vorherrscht und die Erzählkunst Hackers, mit der sie die Stimmungen und Bilder heraufbeschwöre. „Einfühlsam und ohne je in ein Klischee abzurutschen“ erzähle Hacker ihre Dorfgeschichte, so Maike Albath (dradio.de, 05.10.2011). Die Ich-Erzählerin erzähle von dem Dorf im Odenwald, von der Welt, in die es gebettet ist. Die Rezensentin wurde sofort von der Atmosphäre gefangen genommen, von der trügerischen Idylle. Hacker vermittele die Zeit der Kindheit, die Lebensphase, „in der Fantasien, Ängste, Wünsche ebenso real sind, wie die konkrete Wirklichkeit“ auf wunderbare Weise. Auch in Die Welt (15.10.2011) äußert sich Maike Albath zur Dorfgeschichte. So ähnle die äußere Welt „einem impressionistischen Gemälde“ und „wie Glasperlen“ würden sich die Sommertage der Kinder aneinanderreihen. Gegenwart und Vergangenheit scheinen miteinander zu verschmelzen und ohne „es zu verstehen, agieren die Kinder in ihren Spielen das Verdrängte“ der Eltern und Großeltern aus. So belebe Hacker mit ihrer Dorfgeschichte „das alt-ehrwürdige Genre der Idylle neu“ und erzähle in „lose gestaffelten Prosaschüben“ von den Sommertagen auf dem Land. Tobias Becker (Spiegel Online, 17.10.2014) lobt die Erzählung ebenfalls. So erzähle Hacker „lakonisch“ von einer Kindheit, einem Kindheitsparadies im Odenwald. „Die dunklen Wälder waren reich an Wild und reich an dunklen Erinnerungen, unter den Buschwindröschen lagen Soldatenhelme und Patronenhülsen.“ Laut Becker ist es ein stilles Büchlein, „so wortkarg, dass es einen gruseln kann […], aber auch trösten.“ Dass die Ich-Erzählerin später auch einmal auf dem Dorffriedhof liegen wolle, findet er eine „der schönsten Liebeserklärungen“ an einen Ort. Judith von Sternburg (Frankfurter Rundschau Literatur-Magazin, Herbst 2011) brauchte einen Moment, bis sie „von dieser stillen Erzählung und Erzählweise“ gefesselt wurde. Die Erzählung ist voll von Erinnerungen, von Unheimlichkeiten, der Vergangenheit der Großeltern, Flucht und Vertreibung. Sternburg macht aufmerksam, dass auch die Nacktschnecken – bekannt aus Die Erdbeeren von Antons Mutter oder auch Skizze über meine meine Großmutter – „wieder unterwegs [sind], aber chancenlos“. So schaffe Hacker es mühelos, dass die Dorfgeschichte auch ein „hingetupftes Generationenporträt [ist], in dem sich viele Altersgenossen wiedererkennen werden.“ Sehr lobenswert findet auch Christoph Schröder (Der Tagesspiegel, 06.11.2011) Hackers „rätselhafte Familiengeschichte“, die zeitlich größtenteils in der Nachkriegszeit angesiedelt ist. In dem Dorf gebe es Flurnamen wie „Totenkopf“, Galgenhügel“ oder Geiersberg“ und die Figuren seien „märchenhaft bedrohlich“, überhöht, realistisch. Hacker setze eine Erinnerungsporträt „des Dorfes und der eigenen Familie zusammen und unternimmt zugleich eine Bestandsaufnahme der Gegenwart.“ Über allem liege jedoch der Schatten des Todes, da die Großeltern, Eltern und auch der ältere Bruder bereits verstorben sind. So gelinge Hacker mit ihrer Erzählung ein „Balanceakt zwischen kindlicher Lust am Geheimnis und Reflexion der Erwachsenenzeit“. Beatrice von Matt (Neue Zürcher Zeitung, 22.11.2011) beschreibt Hackers Dorfgeschichte als ein „Erinnerungsexperiment“, in dem sich die Figuren schattenhaft bewegen, „Inseln inmitten von Unbekanntem.“ Es sei keine zusammenhängende Geschichte, nichts werde geklärt, nur manchmal würden sich „Ansätze zu Geschichten“ abzeichnen; die „Schrecken der Nazizeit“ werden nebenbei erwähnt. Doch gerade durch die karge Poesie und den „Verzicht auf allen herrischen Umgang mit der Vergangenheit“ besteche die Erzählung.
Eher kritisch rezensiert Thomas Steinfeld (Süddeutsche Zeitung, 13.10.2011) Hackers  Dorfgeschichte. So erinnere es ihn eher an eine Stickarbeit, wenn sich Literatur mit Handarbeiten vergleichen ließe. Auch dieses diffuse „Wir“, von dem man seiner Meinung nach gar nicht wisse, wen es meine, findet er gewöhnungsbedürftig. Er habe zwar nichts gegen autobiographisches Schreiben, allerdings gefalle ihm das Vermischen des echten und halbechten in der Erzählung nicht, da Erinnerungen und Geschichten, keineswegs das Gleiche seien.

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Analyse zu Die Gäste

(Ein Beitrag von Paula Schröder)

 

„Pandemische Ängste im Puppenstubenformat“ (Deutschlandfunk Kultur, 24.02.2022), „verstörend und aufregend“ (Berliner Morgenpost, 02.03.2022) oder „kleine Episodensammlung“ (SWR-Kultur, 24.02.2022), auf diese Weise wird Katharina Hackers Roman Die Gäste beschrieben. In ihm verbindet Katharina Hacker eine pandemische, „düster[e] und dystopische“ (SWR-Kultur, 24.02.2022) Geschichte über ein Café, dessen Besitzerin mit den Folgen der Pandemie umgehen muss. Sie beschreibt die Auswirkungen, die die pandemische Lage auf die Gesellschaft und vor allem die Protagonistin Friederike haben. Hacker spielt mit der Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fantasie und macht dieses Gefüge für Friederike die Hauptfigur durchlässig (SZ, 26.07.2022). Sie schreibt einen Roman, der „über das Willkommen-Heißen und über fehlende Nähe“ (SZ, 26.07.2022) berichtet und fängt damit die komplexe und von Ambiguität geprägte Atmosphäre während einer Pandemie ein.
An ihrem 50. Geburtstag erbt die Protagonistin Friederike aus Katharina Hackers Roman Die Gäste von ihrer verstorbenen Großmutter ein Café in Berlin-Schöneberg. Sie beschließt ihre Stelle als Dozentin am „Institut für schwindende Idiome“ (S. 12) zu kündigen und kümmert sich fortan um das Café. Sie lebt allein, ihr Adoptivsohn Florian hat sie verlassen, als er von seiner Adoption erfuhr (vgl. S. 18f.) und auch ihr Mann Daniel lebt nicht mehr bei ihr, sondern arbeitet in den USA als Dozent. Nach der Übergabe durch den Vorbesitzer übernimmt Frederike nicht nur die Kellnerin Kasia, sondern auch deren Freund Stislaw als Personal (vgl. S. 40ff.). Um sie herum bildet sich ein Netzwerk aus Personen, die sie unterstützen und aus Gästen,  deren Binnenerzählungen die Handlung durchziehen. Mit ihrer Gastfreundschaft und dem Wunsch nach Normalität schafft sie mit dem Café einen Ort, an dem Menschen zusammenkommen, was gerade in pandemischen Zeiten eine Seltenheit ist. Die Angst des Alleinseins, die Probleme nach der ersten Pandemie und die Angst vor einer zweiten sorgen für eine Vermischung von Realität und Fantasie. Im Keller des Cafés bildet sich eine Parallelwelt in der menschlich gekleidete Ratten Untergangsszenarien spielen. Neben fantastischen Elementen, den sprechenden Tieren und sich verwandelnden Menschen, spielt sich der normale Alltag im Café ab, in dem die Gäste weiterhin ein und ausgehen. 

 

Inhalt und Struktur

Der Roman strukturiert sich in 267 Kapitel, die teilweise nur aus einzelnen Wörtern oder Sätzen bestehen und sich insgesamt über 256 Seiten erstrecken. Auf die sprachliche Gestaltung des Romans geht Nico Bleutge in der Süddeutschen Zeitung treffend ein. Er beschreibt Friederikes Satzstruktur als „knappe, sehr rhythmisch gehaltene Sätze“, die von Umstellungen und veralteten Wörtern leben (SZ, 26.07.2022); so finden sich Nebensätze ohne Finitum: „[…] dass ich den Hof noch nicht betreten.“ (S. 72) Friederikes Ausdrucksweise wirkt damit stets freundlich und unbedarft, was auch ihren Charakter widerspiegelt: „Ich hüpfte erleichtert auf, die braunen Stiefelchen wie Sprungbretter“ (S. 27).
Nach der Übernahme des Cafés steht die Protagonistin vor der Aufgabe, das Geschäft in Berlin-Schöneberg zu etablieren, Stammgäste zu gewinnen und sich in der Umgebung einen Namen zu machen. Schnell wird deutlich, dass Kasia eine tragende Rolle in der Organisation des Cafés übernimmt. Sie ist pragmatisch, kocht Suppe und putzt das Café (vgl. S. 47f.). Stislaw hingegen übernimmt handwerkliche Arbeiten. Robert, ein neuer Mann in Friederikes Leben, unterstützt Friederike ebenfalls, ist jedoch aufgrund seines Jobs häufig unterwegs (vgl. S. 118f.). Nach wenigen Tagen wird das Café zu Frederikes Lebensmittelpunkt. Sie verbringt sowohl die Tage als auch die Nächte im Café. Sie kauert sich auf einen Sessel zusammen: „[…] ich fand später, dass ich in dem Sessel ausgezeichnet schlief, wenn ich mich nur um ein weniges kleiner machte, als ich in Wirklichkeit war“ (S. 57).
Größenverhältnisse spielen im Roman eine wichtige Rolle, immer wieder schrumpfen Friederike oder auch andere Figuren in ihrer Wahrnehmung zu etwas Kleinerem. So zum Beispiel Kasias vermisster Bruder, den Friederike findet. In dem Moment, in dem sie ihn wie ein Tier anleint, damit er nicht mehr weglaufen kann, beginnt der große Mann zu schrumpfen (vgl. S. 164f.). Auch die gegenläufige Entwicklung, das unkontrollierte Wachsen, sind im weiteren Verlauf der Handlung in Friederikes Wahrnehmung präsent. Die Leser*innen kennen nur Friederikes Sicht auf die Situationen, weshalb nicht ersichtlich wird, ob es sich bei den Verwandlungen um die Wirklichkeit oder ihre Fantasie handelt.
Herr Lehmann, der Besitzer eines Spätkaufs in Berlin, wird Teil von Friederikes sozialem Umfeld und hilft ihr bei der Auswahl der Lebensmittel für das Café (vgl. S. 60f.). Ein Mitarbeiter des Veterinäramts zweifelt an der Umsetzung des Cafés in der Pandemie, gibt Friederike dann jedoch die Freigabe, dass es frei von Ungeziefer ist (vgl. S. 63). Auf das Ungeziefer wird an dieser Stelle deutlich Bezug genommen, weil die Ratten im weiteren Romanverlauf eine tragende Rolle übernehmen und sich weiterhin im Keller des Cafés befinden.
Erst in Kapitel 69 beschließt Friederike das Café endlich zu öffnen und wartet sehnsüchtig auf Gäste. Ein Mann namens Benedikt taucht immer wieder auf, führt seine Geschäfte mit Prostituierten und handelt mit Organen (vgl. S. 92ff., 153). Nach einigen Versuchen, in ihrem Café neue Klienten anzuwerben wird er daraus vertrieben (vgl. S. 170). Ein weiterer Gast ist Herr Palun, der jedoch zu Kasias Unzufriedenheit immer nur einen Filterkaffee trinkt und sehr lange verweilt (vgl. S. 111f.). Trotz der Tatsache, dass immer mehr Gäste im Café platznehmen und ihre Lebensgeschichten skizzieren, werden die Figuren nicht detailliert beschrieben, sodass sie nicht in Erinnerung bleiben und als leere Hüllen im Pandemiealltag fungieren (vgl. SWR-Kultur, 24.02.2022).
In einer Nacht, in der sich Frederike allein im Café aufhält, wird sie Opfer eines Überfalls. Sie wehrt sich nicht, sitzt nur schweigend und passiv unter der Decke auf ihrem Sessel. Auch hier nimmt Kasia später wieder eine aktive Rolle ein. Sie kommt am nächsten Morgen, findet Friederike auf dem Sessel vor, tröstet sie und schickt sie aus dem Café, um einen Spaziergang zu machen. Unterwegs nach Hause, wo sie kaum noch Zeit verbringt, trifft sie auf zwei Männer, die eine Bleibe in der Nähe suchen. Sie bietet ihre Wohnung zur Untermiete an und gibt damit den letzten Teil außerhalb ihres Lebens im Café in fremde Hände (vgl. S. 83f.).
Nach den nächtlichen Vorkommnissen kauft Stislaw Friederike einen Hund. „Pollux, wie Licht aus Polen“ (S. 88) soll er heißen. Er leistet Friederike Gesellschaft und leuchtet wortwörtlich für sie. Pollux nimmt den Platz der Männer ein, die Friederike in ihrem Leben verlassen haben und ist in einsamen Situationen an ihrer Seite. Das Einzige, was ihr in einsamen Momenten bleibt, sind die Tiere in der Remise, dem Hinterhof des Cafés (vgl. S. 152f., 156). Der leuchtende Hund, der im weiteren Verlauf der Handlung zu sprechen beginnt und nur von Frederike verstanden wird, ist ein erstes Anzeichen für das Verschmelzen von Fantasie und Realität(vgl. S. 88ff.). „[Wo] Tiere sind, geht es bergauf“ (S. 89), zitiert Friederike ihre Großmutter im Traum. Friederikes Träume sind ein wiederkehrendes Element der Handlung,in denen ihr Hund Pollux zum Beispiel im Café kellnert oder ein Pferd sich in der Remise aufhält (vgl. S. 165f., 178).
In der Remise finden die meisten Begegnungen mit sich verwandelnden Tieren statt. Die fantastischen Erlebnisse und verwirrten Wahrnehmungen Friederikes nehmen im Verlauf der Handlung kontinuierlich zu. So sieht sie zum Beispiel einen blutenden Mann in der Remise, Kaninchen, die auf beiden Hinterbeinen laufen und Ratten in ihrem Keller, die sich wie Menschen verhalten (vgl. S. 182). Die Ratten spielen Friederike Szenarien aus der Vergangenheit vor und halten ihr dabei immer wieder die Handlungen der Gesellschaft vor Augen (vgl.S. 127, 132, 234).
„Ratten, dachte ich, tragen Masken, dann sah ich, es war eine Augenbinde. […]
Graue Ratten, […] fast dreißig Zentimeter hoch, mit einem schwarzen Umhang und einem Stock in der Pfote. Sie gingen aufrecht, alle, einige barfuß, andere hatten halbhohe Stiefel an. Der Anführer, er musste der Anführer sein, schaute zu mir und lüpfte, mit blödem Lächeln, seinen Hut. […]
Den mit der Augenbinde stießen sie vor sich her, zu einem Holzgestell, sie trieben ihn mit Stangen, vielleicht waren es Gewehre, und was da aus Holz aufgebaut stand, das war ein Galgen. […]
Der Verurteilte drehte den Kopf zu mir. Einer der anderen trat vor, streifte ihm die Augenbinde ab. […] Sein Gesicht war eingefallen, das eine Auge geschwollen, es war etwas unendlich Verzagtes, wie er die Pfote hob, den Kopf sinken ließ. […]
Pollux hatte sich aufgerichtet und kam nicht näher. Der verurteilt war, wurde das Treppchen hinaufgestoßen. Eine Schlinge hing schon bereit. […]
Noch einmal schaute der Verurteilte zu mir, dann legte er den Kopf in die Schlinge, so vorsichtig, als wollte er etwas Kostbares bewahren.
Nun? Bereit?
Der Anführer schaute zu mir herauf. Dann traten zwei den Hocker unter den Pfoten weg. Ein Schauder lief durch meinen Körper.
Sein Ruf gellte in meinen Ohren: Freiheit!“ (128-129)
Tiere stehen bei Hacker für eine positive Entwicklung, was in der Folge in  ihren zuletzt erschienenen Minutenessays Über Leben mit Tier weiter ausgeführt wird.
Im Oktober der erzählten Zeit regnet es viel und Friederike beschreibt den Niederschlag als schwarzen Regen, der die Menschen in ihr Café treibt (vgl. S. 121ff.). Immer wieder wird auch von „Heckenschützen“ (S. 125) berichtet, die mit Gewehren auf Passanten schießen und unschuldige Kinder töten (vgl. S. 138). Dadurch entsteht für die Leser*innen eine „postapokalyptische“ (SZ, 26.07.2022) Stimmung, die durch die aktuellen pandemischen Bezüge eine Zukunft abbildet, die einen aktuellen Bezug zur Lebenwelt der Rezipient*innen herstellt.
Friederike nimmt in ihr unangenehmen Situationenselbst die Rolle eines Gastes ein. Sie hofft, dass so jemand nach ihren Wünschen fragt, aber meistens bleibt sie unbeachtet und in Stille allein auf einem Stuhl zurück (vgl. S. 194). Gegen Ende des Romans wird von einer neuen Pandemie berichtet, die alte Verhaltensmuster hervorruft wie das Tragen von Masken oder Handschuhen (vgl. S. 216). Der Sommer bringt neue Hoffnung in Friederikes Leben, weil auch Pollux sagt: „Wenn es Sommer werden will, muss man nicht mehr in den Keller“ (S. 235). Der Keller ist als eine Metapher für Ungeziefer, Ratten und Dreck zu verstehen. Der Sommer hingegen steht damit für eine Zeit ohne Sorgen vor einer weiteren pandemischen Welle. Damit verschwinden auch die Ratten aus Friederikes Keller und lassen die Gesellschaft im Café zurück: „Den Gästen gehört die Zukunft!“ (S. 253).

 

Thematische Aspekte

Ratten als Motiv für Seuche, Verfall und Krankheit


„Tiere und Tierchen. Ratten. Dreck“ (S. 33) –  Mit diesem einleitenden Zitatwird die Rolle der Ratten im Roman deutlich. Sie tauchen immer wieder in Verbindung mit Dreck, als Auslöser der Pandemie und als Symbol für Verfall auf. Friederike beschreibt eine Zeit „als man die Ratten vernichten wollte, wegen der nächsten Pandemie. Die Ratten sind schuld. Wer sonst?“ (S. 67).
Im Verlauf der Handlung erhalten die Ratten zusätzlich zum Symbolcharakter noch eine weitere  Bedeutungsebene.Feßmann beschreibt es mit den Worten: „Im Keller des Cafés hausen die Ratten […] und spielen den Untergang“ (Deutschlandfunk Kultur, 24.02.2024). Sie stellen für Friederike die Taten der Gesellschaft während der Pandemie dar und halten dieser, einen Spiegel vor. Damit weisen sie die Schuld von sich und machen auf die Untaten der Gesellschaft aufmerksam, die von eben dieser nicht sanktioniert werden.
Friederike beschreibt mehrere Szenen, die die Ratten für sie aufführen: „und wie ich genau hinschaute, erkannte ich dort Ratten. Ratten, die um Ziegel herumrannten wie in einer Rallye, Ratten, die Koffer und schwere Taschen trugen, Ratten, die Kleider in Koffer rafften, flüchteten oder spielten, dass sie flüchteten oder ihr Spiel war unausweichlich ernst“ (S. 81). Friederike versteht die Botschaften, die die Ratten ihr übermitteln möchten. Häufig ist sie im Anschluss an eine Begegnung mit den schauspielenden Ratten im Keller nachdenklich und betrübt, macht sich Gedanken über ihr eigenes Handeln oder reflektiert das Handeln der Gesellschaft. Die Ratten spielen Friederike unterschiedliche Szenarien vor: „Da standen sie schon, den Blick nach oben, auf mich gerichtet, dicht an dicht, als hätten sie nur darauf gewartet, dass ich käme […] Ratten, dachte ich, tragen Maske, dann sah ich, es war eine Augenbinde. […] [Und] was da aus Holz aufgebaut stand, das war ein Galgen […]. Noch einmal schaute der Verurteilte zu mir, dann legte er den Kopf in die Schlinge, so vorsichtig, als wollte er etwas Kostbares bewahren. […] Sein Ruf gellte in meinen Ohren: Freiheit!“ (S.127ff.). Häufig sind es verstörende und gewaltvolle Szenen, die Friederike von den Ratten dargeboten werden. Trotzdem bleibt die Protagonistin neugierig und begibt sich immer wieder mehr oder weniger freiwillig in den Keller:

„Endlich. Hinsetzen! Ich setze mich. Sie sprangen, drängelten und rannten. Hört auf, dachte ich […] Die Angriffe wurden heftiger, die Schlagstöcke blitzten […] ich wartete, dass sie auf kleinen Pferden heranritten, aber wer hätte je eine Ratte reiten sehen […]“ (S. 132).

„Die Ratten hatten ein helles Tuch in der rechten Hälfte des Raumes gebreitet […] sie bereiteten ein Notlazarett vor […]. Die Kranken, die ruhig gelegen hatten, bewegten sich jäh zur Seite, als wollten sie sich von ihren Liegen werfen […] und dann zog eine schnell ein kleines, grünes Kissen hervor […] Todkranke, die keine Atemmaske mehr hatten bekommen können, seien nicht nur ihrem Schicksal überlassen worden, die Pfleger wären sogar angewiesen worden, den unvermeidlichen Tod zu beschleunigen, die einfachste Methode war, sie, die nach Atemluft rangen, mit einem Kissen zu ersticken“ (S. 234ff.).

Diese Szenen verfolgen Friederike auch im Schlaf, lassen die Ratten zu ihr sprechen und bringen sie damit immer mehr an die Grenze zwischen Realität und Fantasie. Ausrufe wie dieser von den Ratten lassen sie erschaudern: „Wie lange haben wir an eurer Seite gelebt, wie lange ertragen, was ihr einander antut!“ (S. 240). Bis zum Ende wird die genaue Bedeutung der Schauspiele für Friederike nicht deutlich. Durch die Begegnungen mit den Ratten fällt es der Protagonistin zunehmend schwer, zwischen Realität und Fantasie zu unterschieden. Deshalb wendet sie sich direkt an sie: „Sind es die Träume, oder bin ich es oder ist es die Welt? Die Welt, riefen die Ratten und wandten sich in ihre Zukunft“ (S. 241). Gegen Ende des Romans verschwinden die Ratten aus dem Keller, es ist Sommer geworden.

 

Fantasie als Schutzmechanismus

Die fantastischen Ereignisse und die verquere Wahrnehmung Friederikes häufen sich im Laufe des Romans. Hinzu kommt, dass sie dauerhaft die Folgen der Pandemie beschreibt, Angst vor dem Scheitern ihres Cafés hat und auch unabhängig davon als passiv und ängstlich auftritt. Die Tiere wirken durch ihre untypischen Handlungen als eine Art Schutz vor der Einsamkeit. Friederike spricht den Tieren viel Macht und Kontrolle zu und geht davon aus, dass die Tiere die Entscheidungen der Gesellschaft widerspiegeln. „Wahrscheinlich sind die Tiere in der Stadt die Sendboten, die unser Tun und Lassen beobachten. Womöglich haben sie einen Plan“ (S. 119). Diesen übergeordneten Plan sieht Friederike vor allem in den schauspielenden Ratten. Sie vermutet einen Mehrwert in allen tierischen Handlungen.
„Träume gibt es mit und ohne Tiere“ (S. 157) – Dieser einfache Satz bildet ein einzelnes Kapitel und kann als Prämisse des Romans gelesen werden. Während Friederike träumt, durchlebt sie sowohl fantastische Momente mit Tieren als auch mit Menschen. „Wenn man nicht träumt, wacht man nicht auf, sagte Pollux“ S. 203). Dieses Zitat verdeutlicht Friederikes psychischen Zustand. Sie kann als labile Figur beschrieben werden, die weder Sicherheit in ihrer Umgebung noch in ihren Träumen findet. Die Elemente der Fantasie nehmen für sie eine schützende Funktion ein, innerhalb derer ihr die Tiere das Gefühl von Verbundenheit vermitteln.
Gegen Ende des Romans beruhigt sich die Situation, der Sommer kommt. Die Tiere schauen nur noch ab und zu vorbei, um zu kontrollieren, dass ohne sie alles läuft (vgl. S. 252). Gäste kommen ins Café und Friederike schöpft Hoffnung, dass sich die Situation wieder bessern wird: „Es war, als sollten wir etwas feiern, und weil uns nicht einfiel, was es sein könnte, feierten wir das Ausbleiben einer weiteren Pandemie, die lange Pause, die uns die Heckenschützen gönnten, den wunderschönen Monat Mai, der schon vergangen war […] und dass es bald, sagte Herr Lehmann, ein Jahr war, dass ich das Café geerbt“ (S. 255).

 

Friederike als Figur der neuen Normalität

Friederike wird für die Leser*innen mit der Veröffentlichung des Romans 2022 nach der akuten Phase der Corona-Pandemie als eine Person der nahen Zukunft dargestellt. Hacker erschafft in ihr eine Figur, die schreckhaft ist, aber dennoch voller Hingabe ihr Ziel einer neuen Normalität nach einer Pandemie verfolgt. Die neue Normalität entsteht durch die Tatsache, dass in ihr die dauerhafte Furcht vor einer zweiten Pandemie die Oberhand nimmt: „Wie furchtbar es wäre, alleine zu sein“ (S. 194). Sie formuliert selbstständig ihre Angst vor dem Alleinsein, weshalb sie ein Café eröffnet, das der Gesellschaft die Einsamkeit nehmen kann und sie damit vor ihrer größten Angst schützt. Friederike hat trotz ihrer Unsicherheiten immer ein Ziel vor Augen. Sie möchte den Menschen einen Ort schaffen, an dem sie sich sicher fühlen können und vor den Heckenschützen und Ängsten in der Stadt fliehen können. Ihr selbst gelingt diese Flucht in das Café nicht immer. Stattdessen flüchtet sie sich in ihre Träume, die ihre Ängste aufnehmen, verarbeiten und in denen die Tiere zu ihr sprechen .
Die Jahreszeiten spielen in Friederikes Hoffnung und Zielstrebigkeit eine bedeutende Rolle: „Im Winter beharrte er, gibt es Krankheiten und Unglücke, im Sommer gibt es nichts davon“ (S. 235). Auf diese Weise kommentiert der Hund Pollux die Jahreszeiten und ihre Bedeutung für die Gesellschaft (und damit auch für die Protagonistin). Am Ende des Romans ist es Sommer, die Sorgen lösen sich zugunsten einer wenn auch nur temporären Freude über die schönen Dinge (Frühling, Besuch von Gästen, keine neue Pandemie etc.) auf, was Friederike positiv stimmt: „Manchem Unglück muss man ausweichen, manches Unglück muss man beheben manches Unglück muss man sich schönreden, manches Unglück ist zu groß für eine Seele“ (S. 239). Dieses Zitat verdeutlicht Friederikes Einstellung einer mittelalten Frau, die im Leben nicht immer Glück hatte, dennoch mit der Eröffnung eines Cafés etwas Neues ausprobieren möchte. Friederike nimmt jede Situation, jeden Gast und jedes Problem einfach hin. Sie versucht nicht perfekt zu sein, gibt aber ihr Bestes und ist dabei stets auf das Wohl aller bedacht. Sie verkörpert eine Figur der Zukunft nach der Pandemie und mit dem großen Ziel trotz vieler Ängste ein normales Leben zu führen. Mit ihr hält die neue Normalität Einzug in die Gesellschaft.

 

 

Literatur

Primärliteratur

Hacker, Katharina. Die Gäste. S. Fischer. Frankfurt am Main. 2022.

 

Sekundärliteratur

Beyer, Ina: Katharina Hacker – Die Gäste. In: SWR-Kultur,24.02.2022.

Bleutge, Nico: Wie furchtbar, allein zu sein. In: Süddeutsche Zeitung,26.07.2022.

Feßmann, Meike: Pandemische Ängste im Puppenstubenformat. In: Deutschlandfunk Kultur,24.02.2022.

Müller, Felix: Verstörend und aufregend: „Die Gäste“ von Katharina Hacker. In: Berliner Morgenpost,02.03.2022.