Charakteristika des Werks

Beerholms Vorstellung

» Werkverzeichnis

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Beerholms Vorstellung [ ↑ ]
In Daniel Kehlmanns Debütroman Beerholms Vorstellung erzählt der Protagonist Arthur Beerholm in zwölf Kapiteln den chronologischen Verlauf seiner Lebensgeschichte. Beerholm nimmt die Position des Ich-Erzählers in Form eines unzuverlässigen Berichterstatters ein. Zwischenzeitlich spricht er dabei immer wieder eine Frau direkt an, jedoch erfahren die Leser*innen ihre genaue Identität nicht und sogar die Tatsache, ob sie existiert oder nur eine Schöpfung Beerholms Imagination ist, bleibt offen.
Einordnen lässt sich diese Veröffentlichung in das Genre Bildungs- oder Entwicklungsroman. Da der Protagonist am Ende der Geschichte jedoch in seiner Karriere als Täuschungskünstler scheitert und, die Leser*innen erfahren es nicht, sogar Suizid begeht, handelt es sich um einen negativen Bildungsroman an dessen Ende Helden scheitern. Als Beispiel für einen Bildungsroman mit einer negativen Entwicklung lässt sich Anton Reiser von Karl Philipp Moritz nennen. Es sind allerdings auch Einflüsse des magischen Realismus enthalten, vor allem im zentralen Abschnitt des Romans, in dem Beerholm glaubt wirklich zaubern zu können, werden die Grenzen der Realität in Frage gestellt. Zentrale Motive sind die Gegenüberstellung unterschiedlicher Lebenswege und die Identitätsfindung, sowie das letztendliche Scheitern Arthur Beerholms. Die religiöse Ausbildung des Protagonisten ist von Zweifeln geprägt, in der Magie scheitert er an den eigenen Ansprüchen. Er findet keinen passenden Platz in der Gesellschaft, was eine Fortführung seiner Kindheit darstellt, in welcher er ebenso nie einen wirklichen Anschluss an seine Pflegefamilie findet. Charakterlich ist Arthur Beerholm abgehoben und seiner Umwelt gegenüber distanziert. Dies äußert sich vor allem während seiner Phase als Täuschungskünstler, in welcher er jegliche Kommunikation mit der Öffentlichkeit meidet. Dem gegenüber steht eine außerordentliche Akribie in der Vorbereitung und Durchführung seiner Vorführungen. Bereits kleine Fehler seiner Assistenten, selbst wenn sie vom Publikum unbemerkt bleiben, führen zu einem emotionalen Ausbruch.
Beginn und Ende des Romans finden in einem Café auf der Aussichtsplattform des Fernsehturms statt. Der Protagonist schreibt dort seine Lebensgeschichte nieder, welche zugleich der Inhalt der Romanhandlung ist. Beerholms Kindheit nimmt einen tragischen Verlauf. So muss er miterleben, wie seine Adoptivmutter vom Blitz erschlagen wird. Auf Grund der emotionalen Distanz zu seinem Adoptivvater wird Arthur Beerholm auf ein Internat in die Schweiz geschickt. Dort macht er erste Erfahrungen mit der Täuschungskunst und entwickelt eine Faszination dafür. Seine erste große Vorstellung, zu welcher er mehr oder weniger genötigt wird, misslingt ihm jedoch.
Obwohl er in der Zauberei seine Berufung gefunden hat, entscheidet er sich dagegen, die Ausbildung zum Täuschungskünstler weiter zu verfolgen. Stattdessen beginnt er ein Theologiestudium, dadurch motiviert, dass er die mathematische Unendlichkeit geistig nicht erfassen kann. Dieses Rätsel sei in letzter Konsequenz nur im Glauben zu beantworten. Während seines Studiums lernt er im blinden Pater Fassbinder einen Mentor und eine Vaterfigur kennen. Dieser konfrontiert Beerholm immer wieder mit Zweifeln, ob das Theologiestudium für einen jungen Mann das Richtige ist. Beerholm empfängt sogar zunächst die niederen Weihen, entscheidet sich schließlich doch gegen diesen Lebensweg.
Er sucht den Magier Jan von Rode in dessen Zuhause auf, um sich von diesem zum Täuschungskünstler ausbilden zu lassen. Tatsächlich erlangt er schnell eine große Bekanntheit, verweigert dabei jedoch jeden Kontakt mit der Presse und der Zauberergemeinschaft und stilisiert sich damit zu einem mysteriösen, zurückgezogenen Magier. Beerholm sucht in seiner Niederschrift immer wieder den Vergleich zu Merlin. Vor allem in diesem Zusammenhang adressiert der Erzähler seine Ausführungen häufig an eine unbekannte Frau. In einer surrealen Romansequenz schafft Beerholm es tatsächlich durch seine Gedanken eine Schaufensterscheibe zu zerbrechen und einen Busch zu entzünden. Dieses Erlebnis nimmt ihn derartig mit, dass er es letztlich nicht schafft seine erfolgreichen Vorstellungen weiter zu führen. Im letzten Kapitel beschreibt Beerholm detailliert das Vorhaben, sich vom Fernsehturm zu stürzen. Der Roman endet damit und lässt die Leser*innen im Unklaren darüber, ob Arthur Beerholm Suizid begeht, oder lediglich seine Erzählung enden lässt.

» Autor*innenstartseite

Thematische Aspekte zu Beerholms Vorstellung [ ↑ ]

Identität und Lebensentwürfe
In Beerholms Vorstellung wechselt der Protagonist mehrmals seinen Lebensweg. So findet er seine Berufung in der Zauberei, widmet sich allerdings zunächst trotzdem einem Theologiestudium. Letztlich bricht er dies ab und avanciert zu einem der erfolgreichsten Zauberkünstler seiner Zeit. Nachdem er in diesem Lebensentwurf aber auch an seinem eigenen Anspruch scheitert, geht er noch einmal zurück ins Kloster um sich in letzter Konsequenz doch das Leben zu nehmen.
Für David Mahler und Sebastian Zöllner ist die Entscheidung zur Flucht keine ganz freiwillige. Mahler wird von unbekannten Kräften aufgrund seiner den Verlauf der Welt ändernden Entdeckung verfolgt. Sie versuchen ihn daran zu hindern, anderen Menschen von seinen Entdeckungen mitzuteilen, doch genau das ist nun zur wichtigsten Aufgabe seines Lebens geworden – seine wissenschaftliche Reputation und seine Freundschaften, sogar seine Gesundheit sind ihm egal. Zöllner hingegen versucht mit der Biografie Manuel Kaminskis, vormals bekannter Maler, dessen Ableben bald zu erwarten ist, berühmt zu werden, und seine schlechten Jobs bei Lokalredaktionen gegen eine Festanstellung in einer renommierten Kulturredaktion tauschen zu können. Kaminski aber bringt ihn dazu, eine abenteuerliche Reise zu seiner Jugendliebe zu unternehmen. Zöllner, der glaubt, so an brisante Informationen zu gelangen, bleibt nichts anderes übrig, als diese Reise ohne Rücksicht auf Verluste anzutreten – er verschuldet sich, stiehlt zwei Autos und wird mit dem Vorwurf der Entführung konfrontiert. Kaminski flieht aus seinem ‚Gefängnis’, dem wohlorganisierten Leben mit seiner Tochter, und reißt Sebastian mit sich, für den die Reise in einem Sinneswandel endet: Als Kunstkritiker, der eigentlich nichts von Kunst versteht und dem nur Geld und Ruhm wichtig sind, will er nicht weiter machen.
Eine andere Form der Flucht aus einem für ihn unpassenden Leben tritt Julian, der Protagonist in Der fernste Ort, an. Nach einem Badeunfall auf einer Dienstreise – er hatte sich vor der Arbeit an einem Vortrag gedrückt und war in einem See schwimmen gegangen – lässt er alles hinter sich und begibt sich auf eine Reise in die Fremde. Für die Leser*innen eröffnet sich immer deutlicher, dass Julian bei diesem Unfall gestorben ist, dass er als Geist durch die Welt wandert und sein Ziel ein mythischer Ort ist: Ultima Thule. Der fiktiven Theorie des Philosophen Vetering folgend, verweilt er einige Zeit in seinen Erinnerungen, um schließlich Abschied nehmen zu können. Der Tod und ein Existieren nach dem Tod, erzählt aus der Perspektive eines Geistes, stellt in Kehlmanns Textwelt die ultimative Flucht dar und überschreitet die Grenzen des Realismus. 

Männlichkeit
Äquivalent zur Nähe zur Mutter sind Kehlmanns Figuren oft räumlich und emotional von ihren Vätern distanziert; Arthur Friedland in F verlässt seine Söhne im Kindesalter, Beerholm in Beerholms Vorstellung kennt seinen leiblichen Vater überhaupt nicht und kann nie eine väterliche Beziehung mit seinem Adoptivvater aufbauen. Andere Figuren, denen in ähnlicher Weise eine Vaterfigur fehlte, suchen diese in anderen männlichen Vorbildern. Julian widmet seine wissenschaftliche Karriere einer Monografie zu Vetering, dessen Theorien er jedoch nie versteht. David Mahler sieht in dem Nobelpreisträger Valentinov, dessen Werke er schon in seiner Kindheit gelesen hatte, den einzigen Menschen, der seine Theorie verstehen kann.Auch die Beziehung zwischen Brüdern wird diskutiert, besonders die strikte Trennung der beiden Lebensentwürfe der Humboldtbrüder in Die Vermessung der Welt und der Brüder Julian und Paul in Der fernste Ort.
Hinzu kommen die Diskrepanzen zwischen sozialen und fachlichen Kompetenzen. So ist der Täuschungskünstler Arthur Beerholm in Beerholms Vorstellung zwar ausgezeichnet in seinem Beruf, bei zwischenmenschlichen Interaktionen allerdings fehlt ihm die Empathie. Eine ähnliche Figur findet sich in Ruhm und auch in Leo Richters Porträt. Bezeichnend ist das letzte Kapitel in Ruhm, in dem Richter sich selbst als Figur zeichnet, die nach Aussagen der Figur Elisabeth nicht dem wirklichen Leo Richter entsprächen: „Deswegen bist du so souverän. So besonnen und allem gewachsen. Das hier ist deine Version, das ist das, was du daraus gemacht hast“ (S. 200f.).
Ebenso wird die Sexualität der Figuren thematisiert, einige Männer führen heimliche Beziehungen mit mehreren Frauen, so in Ruhm, F und der Vermessung der Welt. Andere männliche Figuren führen hingegen ein Leben fernab jeglicher Sexualität, was häufig mit dem Motiv der Geistlichkeit verbunden wird, beispielsweise Martin in F oder Arthur Beerholm in Beerholms Vorstellung. Beide Figuren leben auf Grund ihrer geistlichen Ausbildung in Askese. Doch auch Humboldt in Die Vermessung der Welt sieht Sexualität als profan und eher als eine Ablenkung von seinen Forschungen an, ohne dass er diesen geistlichen Hintergrund besitzt. David Mahler entscheidet sich gegen eine körperliche Beziehung mit einer guten Freundin, einerseits um sie vor seiner Paranoia zu schützen, andererseits da er neben seiner Arbeit keine Zeit für eine solche Verbindung hat. Auch Aussehen und Schönheitsideale werden von den Figuren diskutiert, sei es in Zusammenhang mit Übergewicht wie bei Martin in F und David Mahler in Mahlers Zeit, oder anfänglichem Haarausfall bei Sebastian Zöllner in Ich und Kaminski. Durch diesen Fokus auf der männlichen Identität zeigt Kehlmann die Probleme und Einengungen, mit denen sich Männer in der heutigen Gesellschaft konfrontiert sehen.

Wirklichkeit und Einbildung/Wahrnehmung
Zum Teil bleibt dieser Unterschied zwischen Wirklichkeit und Einbildung auch dem Leser unklar, etwa wenn Beerholm in Beerholms Vorstellung plötzlich echte Zauberkräfte zu besitzen scheint. So beruft er sich dabei zum einen auf die eigene, möglicherweise unzuverlässige Berichterstattung der Erlebnisse. Zum anderen ruft er im Fieberwahn von einer eigentlich defekten Telefonzelle aus ein Taxi an und interagiert damit auch mit anderen Figuren innerhalb der Romanwelt.

» Autor*innenstartseite

Formale Aspekte zu Beerholms Vorstellung [ ↑ ]

Motto
In seinen frühen Veröffentlichungen (Beerholms Vorstellung, Der fernste Ort, Mahlers Zeit und Ich und Kaminski) stellt Kehlmann dem Haupttext ein oder mehrere Zitate anderer Schriftsteller voran. Dadurch lenkt er die erste Interpretation des Lesers, außerdem ergibt sich bei einem Rückblick nach Beendigung der Lektüre ein weiterer Erkenntnisgewinn.
So wird das verworrene Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Einbildung aus der Handlung des Romans Beerholms Vorstellung schon an diesem Zitat sichtbar: Dessen Autor Giovanni di Vincentio und das zitierte Werk Über die Kunst der Täuschung entspringen Kehlmanns Fantasie. Folgend wird Agrippa von Nettesheim aus seiner 1527 erschienen Satire Von der Eitelkeit der Wissenschaften zitiert: „Derowegen begreifet die Magie in sich die ganze Philosophiam, Physicam und Mathematicam, ferner die Kräfte des religiösen Glaubens“.

Metafikation
In Beerholms Vorstellung nimmt der erzählende Arthur Beerholm immer wieder direkten Bezug auf eine weibliche Figur: "Das überrascht dich, nicht wahr? Aber ich bin tatsächlich keiner. Ich glaube, liebe, ferne Nimue, an die ewige Verdammnis." (S. 264). Die genaue Identität dieser adressierten Nimue (Geliebte des Zauberers Merlin, dem Beerholm nacheifert) bleibt dabei offen. Versteckt in den Theorien seiner Figuren legt Kehlmann in Der fernste Ort seine Erzählstrategie dar. Laut Jerouen Vetering können Verstorbene noch einige Zeit in einer Welt aus ihren Erinnerungen leben, bevor sie letztendlich in ein Jenseits übertreten. Die Erzählung um Julian ist genau nach dieser Theorie angelegt, ihm begegnen an unpassenden Stellen Figuren aus seinem Leben, da die Erinnerungen begrenzt sind, oder er fantasiert sich an das Krankenbett seines Vaters, der eigentlich schon lange tot ist. Die andere Seite der Erzählstrategie ist in einem Computerspiel Pauls, Julians Bruder, angelegt: Der Spieler steuert ein Raumschiff und merkt erst nach und nach, dass das Spiel ihn überlistet und er gar nicht gewinnen kann. Auch Julian entdeckt erst ganz am Ende seiner Reise, als die Hinweise für die Leser*innen schon unübersehbar sind, dass er gestorben ist. Das Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion ist auch das Grundkonzept von Die Vermessung der Welt. Den Leser*innen ist zwar bewusst, dass Kehlmann die historischen Personen Humboldt und Gauß nicht wahrheitsgetreu abbildet, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität sind jedoch nicht zu erkennen.

» Autor*innenstartseite

Pressespiegel zu Beerholms Vorstellung [ ↑ ]
Kehlmanns Debütroman findet in der Presse durchaus Beachtung, wird von den Rezensenten jedoch eher ambivalent beurteilt. Häufig wird auf Kehlmanns junges Alter hingewiesen (zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war er 22) und dies letztlich wohlwollend in die Gesamtbeurteilung mit einbezogen. Hubertus Breuer bemängelt an Beerholms Vorstellung beispielsweise einen fehlenden zeitgenössischen Bezug, prognostiziert dem jungen Autor jedoch Potential für eine zukünftige Relevanz in der Gegenwartsliteratur: „In der Figur des Zauberers wird nichts Existentielles entdeckt, was nicht zuvor schon im Konzept entworfen gewesen wäre. Auch finden sich keine Ansätze, in einer solchen Figur zeitgenössische Problematiken zu spiegeln, wie einst Thomas Mann es tat. […] Der Roman ist noch zu selbstbewußt, zu sehr in einem Netz von Ideen und verführerischen Szenen gefangen, das seinem Helden Luft zum Leben nimmt. Aber der Autor mag auf dem richtigen Weg sein“ (FAZ, 27.10.1997). Claus-Ulrich Bielefeld von der Süddeutschen Zeitung kritisiert (nach einem einleitenden Hinweis auf Kehlmanns junges Alter) fehlenden Mut in der Inszenierung des Romans, der außerdem kaum Empathie beim Leser wecke: „Das Interesse an den kleinen und großen Abenteuern des Ich-Erzählers wird nie geweckt. Hier ist alles vorsichtig auf einen mittleren Ton gestimmt“ (SZ, 24.06.1997). Aufgrund von Kehlmanns Wiener Herkunft wird der Roman auch in der Österreichischen Presse rezensiert. Dabei kommt es ebenfalls vornehmlich zu gemischten bis negativen Kritiken: „'Beerholms Vorstellung' bleibt […] seltsam bieder, glatt und in literarischen Klischees gefangen, ohne dass sich die dem Roman anhaftende lakonische Typisierung als eigentliches Stilprinzip herauskristallisierte.“ (BUND, 19.04.1997, o.A.). In den Oberösterreichischen Nachrichten wird der Roman als „in der Struktur etwas amorph“ und „redselig“ bezeichnet. Kehlmann habe aber „ein originelles Thema […] durchaus unterhaltsam verarbeitet.“ (vgl. OÖN, 14.04.1997, o.A.).
Auffällig ist das positiver gestimmte Presseecho zum Debüt, nachdem Daniel Kehlmann mit seinen späteren Romanen Ich und Kaminski und Die Vermessung der Welt große Erfolge erzielt hat. Fritz Rudolf Fries vom Tagesspiegel etwa greift 10 Jahre nach der Veröffentlichung noch einmal zu Beerholms Vorstellung und kommt dabei zu dem überschwänglich positiven Fazit: „Daniel Kehlmanns Erstling über den Magier Arthur Beerholm: brillante Komposition, großartiges Finale“ (Der Tagesspiegel, 04.07.2007). Im Kontext seiner folgenden Texte fällt Fries auf, dass Beerholms Vorstellung bereits typische Charakteristika von Kehlmanns späterem Schreiben zeigt. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Lothar Müller, welcher in seiner Rezension zu Ruhm noch einmal einen Bezug zu Beerholms Vorstellung herstellt: „Schon sein Debüt, der Roman 'Beerholms Vorstellung' (1997) war am Gegenpol zu allen autobiographischen Coming-of-age-Büchern angesiedelt. […] Und es ließ bereits erkennen, was diesem Autor auch in seinen künftigen Büchern leicht von der Hand gehen sollte“ (SZ, 17.05.2010).

» Autor*innenstartseite

Gattungszuordnung - Adoleszensroman und -tale
Nicht zuletzt aufgrund des enormen Erfolgs von Ich und Kaminski und vor allem Die Vermessung der Welt setzen sich die Literatur- und Sprach- und Kulturwissenschaften – auch außerhalb des deutschen Sprachraums – mit den Texten Daniel Kehlmanns auseinander. Kehlmanns frühes Werk, insbesondere sein Debütroman Beerholms Vorstellung, wird in der Literaturwissenschaft für Untersuchungen zum Adoleszenzroman der 1990er Jahre im Zuge eines neuen Realismus nach 1989 herangezogen. Als Lesart wird hierbei etwa von Stefan Born die Identitätsbildung als Teil der Adoleszenz und ihr Gelingen oder im Falle von Beerholms Vorstellung ihr Nichtgelingen als zentrale Forschungsfrage herausgearbeitet. Adoleszenzromane „erzählen vom Versuch eines Individuums, sich eine Welt anzueignen, die ihm bislang noch unvermittelt und spröde entgegensteht“ (Born 2013, S. 97). Die Gattung verfolgt insofern ein „pädagogisches Anliegen“ (ebd.), als dass sie zur Nachahmung eines solchen Aneignungsversuchs inspirieren will. Kehlmann variiert nach Born Schemata des Entwicklungsromans, indem er einen gescheiterten Aneignungsversuch der Welt präsentiert, welcher sich nicht zur Nachahmung eignet: „So parodiert Kehlmann nicht bloß dogmatischen Fanatismus, sondern das Modell des Entwicklungs- und Bildungsromans gleich mit“ (Born 2013, S. 110). Die Gründe für das Scheitern der Individuation in Beerholms Vorstellung untersucht Born in einem weiteren Aufsatz. Es ist das „energische Festhalten an der Idee, die Welt sei durch allgemeine Vernunftvorgaben gestaltbar“, das die Entwicklung Arthur Beerholm verhindert. Durch den Roman wird ein „Weltzugriff ironisiert, der […] totalitäre Züge trägt“ (Born 2015, S. 270).

Mahlers Zeit

» Werkverzeichnis

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Mahlers Zeit [ ↑ ]
Doktor David Mahler, Professor für Physik, ist ein Genie; und Protagonist in Mahlers Zeit. Schon als Kind konnte er außerordentlich gut rechnen: „Es stellte sich heraus, daß David gut mit Zahlen umgehen konnte. Daß sie ihm vertraut und angenehm, waren, daß sein Geist mit ihnen arbeitete, ohne daß er es selbst bemerkte. Nach einer Autofahrt wußte er, daß zweitausendvierhundersiebenunddreißig Mal der weiße Pflock am Straßenrand vorbeigeglitten war“ (S. 47).
Seine gesamte Energie widmet er der Untersuchung des zweiten Satzes der Thermodynamik, dem „Gesetz der Zeit“ (S. 32). Schon als Kind fällt ihm nach der ersten Lektüre von Boris Valentinovs Die Textur der physischen Welt das Paradoxon im Verhältnis der Zeit auf: „Die Vergangenheit gibt es nicht, sie ist ja vorbei; die Zukunft gibt es nicht, weil sie noch nicht da ist; und die Gegenwart hat doch keine Ausdehnung, oder? Aber etwas, das keine Ausdehnung hat, das gibt es doch auch nicht! Ohne Vergangenheit und ohne Zukunft und ohne Gegenwart – wo ist die Zeit?“ (S. 52). So ist auch der Nobelpreisträger Valentinov – er wird den Leser*innen in einer Reihe von realen Wissenschaftlern wie Newton, Mach und Einstein vorgestellt – der einzige, von dem David glaubt, er könne seine Theorie nachvollziehen und ihn bei seinen Versuchen unterstützen.
Da seine Entdeckungen den Lauf der Welt, die Welt an sich durcheinanderbringen können („man braucht ein paar Dinge. Viel Energie, aber die könnte schon ein kleiner Reaktor liefern. Eine Art Zyklotron. Meine vier Formeln. Die Auswirkungen wären zunächst noch sehr beschränkt. Wie du gesagt hast: auf ein einzelnes Labor. Aber dann würde es sich ausbreiten. Ganz von selbst. Es würde sehr schnell gehen. Die Zeit würde ... Das ist schwer zu beschreiben ... – Sie würde verschwimmen“, S. 32), geht David davon aus, dass es Kräfte gibt, die ihn daran zu hindern versuchen, die Entdeckung überhaupt zu machen, und später, anderen Menschen davon mitzuteilen. Diese Kräfte können seinen Körper beeinträchtigen und die Natur steuern, so glaubt David: Kurz nach dem Abitur, als er die Sterne am Himmel in Afrika untersucht, erkrankt er an einer lebensgefährlichen Lungenentzündung. In der Nacht, in der er einen Durchbruch in seinen Berechnungen erzielt, hat er, auf die Erkenntnis folgend, einen schweren Asthma-Anfall. Sein Auto wird erst von einem unbekannten Fahrer von der Straße abgedrängt, später schlägt ein Blitz ein. Schließlich stirbt er an einem Herzinfarkt.
Diese Kräfte nennt David später „Wächter“ (S. 93) und „Engel“ (S. 98), denn sie tauchen auch in Form von Figuren in der Erzählung auf, das erste Mal schon in Davids Kindheit. Er trifft abends auf dem Heimweg einen Jungen, der eine Warnung ausspricht: „Mach das lieber nicht. Natürlich weißt du nicht, wovon ich rede. Aber du wirst es verstehen“ (S. 49). Um seinen Worten Nachdruck und Erinnerung zu verleihen, schlägt er David so fest, dass er auf die Straße fällt. Nicht nur David ist dadurch in Gefahr, auch Menschen die ihn berühren; ein Obdachloser, neben den David sich eines Nachts auf die Bank setzt, stirbt wenig später in seinen Armen. Das Auftauchen dieser Wächter sowie brenzlige Situationen für David oder Meilensteine in seiner Forschung, werden von Libellen oder Insekten begleitet: Die Trophäe seines ersten Preises, des Prix Science de Jeunesse, hat die Form einer Libelle; eine „Libelle tauchte im Licht der Laterne auf“ (S. 126); auch nach Davids Tod sieht sein Freund Marcel eine Libelle neben Valentinov schweben.
Es gibt aber auch eine gegenläufige Kraft in Form von rätselhaften Figuren, die ihn bei seinem Unterfangen unterstützen. Als er beispielsweise Valentinov nicht in seiner Wohnung antrifft, hilft ihm dessen vermeintliche Haushälterin ihn zu finden; Valentinov hat allerdings gar keine Haushälterin. Ein älterer Herr verhindert außerdem die Festnahme Davids, als dieser auf einer Konferenz die Rede unterbricht und aus dem Saal transportiert wird.
Davids Freundin Katja erklärt sich dessen zunehmend schlechter werdenden Gesundheitszustand mit Überarbeitung und Wahnsinn. Dies stellt eine zweite Interpretationsmöglichkeit der Erzählung dar, die Kehlmann seinen Leser*innen anbietet. Vor allem durch die vielen theoretischen Passagen, in denen höhere Physik zu erklären versucht wird – etwa Entropie als Zustandsgröße in der Thermodynamik (S. 107) –, wirken Davids Äußerungen eher metaphysisch. Der Erzähler nimmt dabei eine heterodiegetische Position mit interner Fokalisierung ein, er bleibt nahe beim Protagonisten und übernimmt dessen naturwissenschaftliche Weltsicht, etwa wenn er beschreibt: „Die Bahn fuhr an, ihre Bewegung drückte ihn sanft in den Sitz; die Kraft der Trägheit, das Streben nach Beharrung, Gesetz allen Stoffs“ (S. 29).
Der Anstoß für seine Untersuchungen zu Verhältnis und Beschaffenheit von Zeit ist der frühe Tod seiner Schwester. Beim Spielen hat sie einen Unfall mit einer Kehrmaschine: „Es war eines der großen, gelblichen Fahrzeuge der Straßenreinigung gewesen, [...] und es schien – denn genau wußte es niemand –, daß eine der Bürsten das Mädchen ergriffen und an sich gezogen hatte, [...] und als der Behälter abgenommen und geöffnet worden war, fand sich darin unter unzähligen gelben Blütenblättern ein verwirrend ruhiges Gesicht an einem Kopf, der nicht mehr Teil eines Körpers war“ (S. 44).
In dieser Gestalt erscheint die Schwester in Davids Träumen. Sie „teilte ihm Dinge mit, die offenbar wichtig waren, die er aber niemals über die Grenze des Aufwachens mitnehmen konnte, in den wachen Teil seines Bewußtseins, in den Tag“ (S. 45). Schließlich glaubt er, sie habe ihm die Lösung seiner Berechnungen mitgeteilt. Doch auch sie warnt David einmal in einem Traum, legt ihm eine gelbe Blume in die Hand, die er beim Aufwachen immer noch festhält und die wie lebendig geworden ihn zu erdrücken beginnt – er wachte erneut auf und ist sich sicher: „Das war eine Warnung gewesen“ (S. 59f.).
Realität und Traum oder Einbildung beginnen für David zu verschwimmen. Seine Freundin Katja hatte bei einem Besuch beim Zigarettenanzünden ein Streichholz fallen lassen und einen Brandfleck im Teppich hinterlassen. Nach einem kurzen Traum sind Brandfleck und Streichholz verschwunden, er zweifelt daran, ob der Besuch überhaupt stattgefunden hat. Er träumte von seiner Schwester, dass sie in seinem Zimmer stand, dann wird ihm etwas klar: „sie begann zu hüpfen, auf und ab, wie ein Kind, und das (plötzlich fiel es ihm ein) war sie doch auch; ein Kind mit durchgeschnittenem Hals, das ihm unbedingt etwas sagen wollte“ (S. 113). Da die Zeit nicht existiere, gebe es auch keine Vergangenheit für ihn, sondern seine Schwester ist in ihrem toten, leblosen Zustand existent. Auf der Fahrt zu Valentinov überkommt ihn ein ähnliches Gefühl: „Und David wußte, war ganz erfüllt von der Gewißheit, daß es keine Erinnerung war, keine Vorstellung, keine Zurückrufen ihrer blassen, schnell verschwundenen Erscheinung, wie es in Träumen üblich ist, sondern daß sie es wirklich war. Daß sie vor ihm stand, in ihrem echten, kindlichen, durch die Fremdheit eines anderen Daseins gegangenen Wesens. Jünger als er. Und doch kannte sie, was keiner kannte, was das Fremdeste war, was zu kennen ihr den Mund verschloß; denn es war undenkbar, daß sie zu ihm davon sprach. Und wenn sie es doch tat, mußte er es vergessen; und das hatte er auch, jede Nacht wieder, sein Leben lang“ (S. 120).
Dadurch wirken die Erlebnisse Davids surreal, er könnte unter Wahnvorstellungen leiden. Durch Personifikationen wird dieser Effekt verstärkt, etwa wenn er die Gesichter auf Plakaten auf ihn hinunterstarren spürt (vgl. S. 17), oder beschreibt: „Aus dem Abendrot fiel eine einzelne Krähe“ (S. 21). Auf dem Weg zur Arbeit beobachtet er einen Verkehrsunfall, „und der Augenblick gefror. Der Lastwagen stand, ganz ruhig auf zwei Rädern. Im Gleichgewicht und schwerelos. Als könnte es so bleiben. Und auch die Menschen waren erstarrt“ (S. 18f.). David sieht darin eine Bestätigung seiner Erkenntnis, dass Zeit nicht in der Form existiere, wie wir es kennen, dass das Netz der Natur löchrig sei und es Sprünge und Risse gebe (vgl. S. 24).
David ist allerdings nicht der erste Forscher, der diese Entdeckung gemacht zu haben glaubt, Katja macht ihn auf Platons Theorien aufmerksam: „Sei mir nicht böse, aber besonders originell ist das nicht“ (S. 106). Kehlmann stellt diesen Bezug auch durch das Anfangszitat eines Yeats-Gedichtes her, in dem Platons Spindel erwähnt wird. Sie beschreibt die Reise der Seelen, welche die Notwendigkeit in Form der Spindel von der Zeit drehen lassen und so ihr Lebensmodell für die Inkarnation wählen.
Dennoch sind die Reaktionen der Forschungsgemeinde hysterisch. Bei einer Konferenz fangen sie an zu schreien und zeigen mit dem Finger auf David, sodass er den Saal verlassen muss. Als er seinem Vorgesetzten Grauwald seine Berechnungen vorlegt, wird dieser wütend, ist sich sicher, dass David sich verrechnet habe, auch wenn er der Theorie nicht ganz folgen konnte. Die Gefahr, die von dem Wissen um die Theorie ausgeht wird hier deutlich: Nach dem Gespräch mit Mahler wird er ins Krankenhaus gebracht, „starke Schmerzen, irgendwo im Magen, auch eine Art Schock, etwas Genaues weiß noch keiner“ (S. 111).
Bevor David aber Boris Valentinov, seinen Hoffnungsträger, erreichen kann, hat er einen Herzinfarkt: „Als ob etwas in seiner Brust explodierte. Der Schmerz raste durch ihn, erfüllte alles, erfüllte die Welt und – war vorbei. Er fiel“ (S. 150).
Der Physiker hat seine Theorie jedoch schon gelesen, erklärt er Davids Freund später. Da er regelmäßig solche wirren Theorien bekommt, habe er sie nicht weiter beachtet, „nicht einmal seine Berechnungen waren richtig. Und der Rest – spekulativ! Reine Spekulationen, keine Wissenschaft. Nichts davon haltbar“ (S. 157). Marcel aber stutzt, David hatte sich noch nie verrechnet, war Mathe für ihn doch eher ein natürliches Erkennen als Nachdenken. Als er auf einer Parkbank wartet, hat er einen Traum: „Ein kleines Mädchen hatte ihn mit starrem Ausdruck angesehen, ganz direkt, ohne etwas zu sagen, und plötzlich hatte es sich umgedreht und war davongegangen, [...] und da erst hatte er ihre Insektenflügel bemerkt ... Solche Träume hatte er sonst nie. Aber es waren auch seltsame Umstände“ (S. 153).
Das Mädchen ist Davids kleine Schwester, ihre Rolle als Wächterin wird durch ihre Insektengestalt verdeutlicht. Die Aufgabe, Davids Theorie weiter zu erforschen, geht durch diesen Traum auf Marcel über. Auf dem Weg zum Auto erlebt er einige Dinge, die auch David schon erlebt hat: die Sterne am Himmel, ein großes Insekt, das vorbeifliegt und eine zerbrochene Laterne. Die Erzählung endet mit seinen Gedanken: „Er mußte sich beeilen. Es war noch ein weiter Weg“ (S. 159). Dies stellt die endgültige Brechung der möglichen Realität in der Geschichte dar, die Interpretation, dass David in einem Wahn eine Theorie entwickelt habe, die Unfälle nur Zufälle und seine Wahrnehmungen nur Einbildungen waren, wird obsolet.

» Autor*innenstartseite

Thematische Aspekte zu Mahlers Zeit  [ ↑ ]

Wirklichkeit und Einbildung/Wahrnehmung
Eine andere Ebene der Einbildung ist die des Traums. In Die Vermessung der Welt erlebt Gauß einen Traum, aus dem er nicht aufzuwachen scheint; Rosalie erlebt einen lebhafteren Traum als ihr Leben in den letzten Jahren in Ruhm, und Iwan Friedland in F wird nach einem Traum vom Hypnotiseur Lindemann klar, dass er niemals Maler werden wird. Kehlmann zeigt, in welchen Weisen sich Wirklichkeit und Einbildung, Bewusstsein und Unterbewusstsein bedingen und welchen Einfluss sie auf einzelne Figuren haben können. Die Entdeckung, dass der zweite Satz der Thermodynamik falsch sei und somit die ganze Wirklichkeit sich verändern könnte, kommt dem Physiker David Mahler in Mahlers Zeit im Traum. Dieses Überschreiten der Grenze zwischen Traum/Einbildung und Wirklichkeit ist besonders interessant, da Mahler in seinen Träumen oft der Geist seiner kleinen Schwester erscheint, die als Kind bei einem Unfall starb. Mahler ist sich sicher, dass sie jedoch keine Einbildung sei, sondern tatsächlich erscheine – dies würde auch seine Theorie unterstützen, dass Zeit kein lineares Gebilde ist. Nach seinem Tod erscheint seine Schwester seinem besten Freund Marcel, der damit die Weiterführung von Mahlers Theorie übernimmt. Auch der katholische Glaube und dessen Praxis in der Kirche werden thematisiert, beispielsweise in F: Der Priester Martin Friedland erklärt alle Glaubensfragen mit dem Mysterium, das die gesamte christliche Philosophie ausmache und den Unterschied zwischen Geglaubtem und Erlebten der Reflexion entzieht. Kehlmann nennt diese Art des Erzählens in seiner Poetikvorlesung gebrochenen Realismus, der wie bei Beerholms Vorstellung an den magischen Realismus angelehnt sein kann. Die Realitätsbrechungen erfolgen an manchen Stellen durch Figuren, etwa wenn die Protagonisten sich ‚allwissenden’ Figuren gegenübersehen, die die realistische Erzählwirklichkeit stören. Den Brüdern Eric und Iwan in F erscheint zum Beispiel ein seltsamer Mann mit Zahnlücke, der Eric sein Scheitern vor Augen führt und den Leser*innen die übernatürliche Verbindung zwischen den Zwillingen verdeutlicht.

» Autor*innenstartseite

Formale Aspekte zu Mahlers Zeit [ ↑ ]

Motto
In Mahlers Zeit erklärt Kehlmann die kommende Geschichte und vor allem Mahlers Theorie von Zeit mit einem Gedicht-Zitat aus W. B. Yeats Words for Music Perhaps, in dem er auf Platons Spindel eingeht. Diesem Mythos, erklärt in Der Staat, liegt der Gedanke zugrunde, dass unsere Leben einer Notwendigkeit folgen, die durch das Drehen einer Spindel durch verschiedene mythische Figuren, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft repräsentieren, bestimmt wird. Das folgende Zitat von Arthur Eddington aus Das Weltbild der Physik deutet die metafiktive Anlage der Geschichte an: „Wir dürfen uns nicht entmutigen lass, wenn neue Entdeckungen unerwartete Tiefe enthüllen. Vielleicht möchte auch der eine oder andere behaupten, die Natur habe unlautere Kniffe angewandt“. Die Frage, ob Mahler verrückt ist, wird dadurch indirekt verneint.

Ortlosigkeit
In Mahlers Zeit etwa führt die Autofahrt an ins Ungewissen: „eine Ortstafel schnellte vorbei“ (S. 132). Davids Mutter war in eine „weit entfernte Stadt“ gezogen (S. 74). Dadurch sind Kehlmanns Erzählungen offen, in andere Kontexte übertragbar.

Episches Vorausdeuten/Foreshadowing
In Mahlers Zeit wird die Ausrichtung der Erzählung auf eine klimatische Konfrontation ebenfalls zu Anfang angedeutet: „Etwas kam“ (S. 22). David Mahler fühlt sich permanent verfolgt, ihm geschehen Unfälle, die er als Anschläge interpretiert, sein Tod in Form eines Herzinfarktes sei das Ankommen dieses Etwas. („Da schoß etwas auf ihn zu. Aus dem Himmel, mitten aus der blauen Wölbung; raste heran; er spürte es am ganzen Körper“, S. 148).

» Autor*innenstartseite

Pressespiegel zu Mahlers Zeit [ ↑ ]
Ambivalent sehen die Rezensenten Kehlmanns zweiten Roman. Andreas Nentwich etwa lobt Kehlmann für seine Reife trotz seiner 25 Jahre. Seine Beobachtungen seien erwachsen, vor allem jedoch das gewählte Thema und die Implementierung in der Erzählung seien bemerkenswert: „Was diesem Autor immer wieder glückt: die Verschränkung von Zeit und Ewigkeit, Zauber und Schrecken, Hellsicht und Wahn in der Sprache der Poesie“ (NZZ, 12.10.1999). Und auch Veit Justus Rollmann sieht mehr als zehn Jahre nach ihrem Erscheinen in der Erzählung Kehlmanns Talent schon vor seinem Durchbruch Die Vermessung der Welt unter Beweis gestellt: „Was ohne Weiteres Stoff für triviale Spannungsprosa liefern könnte, wird unter den Händen Kehlmanns zu einem poetisch-suggestivem Spiel zwischen Traum und Wachbewusstsein und einem durchaus fesselnden und spannenden Taumel in die Katastrophe“ (literaturkritik.de, 26.11.2012). Nicht zuletzt nennt Fritz Rudolf Fries den Roman: „Ein modernes Märchen, ein gut erzähltes, ein sehr gegenwärtiges“ (FR, 31.12.1999). Für Daniel-Dylan Böhmer verhält sich das Vorhaben Kehlmanns parallel zu dem Mahlers: Während Mahler die Zeit zu überwinden versuche, müsse auch Kehlmann sich vor dem Einsturz seiner Geschichte retten: „Trocken könnte das Buch werden, verwirrend andererseits, gewollt in jedem Fall. Tatsächlich ist es nichts von alledem“ (Spiegel Online, 26.09.2000).
Als kritische Stimme ist vor allem Martin Halter zu nennen; er sieht den Mythos des „lebensuntauglichen Rechenknechts literarisch weitgehend erschöpft“ (FAZ, 19.11.1999). An der Herausforderung, eine für die Leser*innen verständliche und dennoch fundierte (meta-)physische Theorie zu zeichnen, sieht er Kehlmann gescheitert, er verliere sich in Beobachtungen und Beschreibungen. Zwischen der absichtlich achronischen Erzählstruktur und den Bewusstseinslücken sieht er die Makel des Textes: „Aber nicht jede dramaturgische Ungeschicklichkeit lässt sich mit dem Beziehungs- und Verfolgungswahn rechtfertigen, nicht jedes schiefe Bild mit überreizter Wahrnehmungsfähigkeit“ (ebd.). So wie Halter stellt auch Nikolaus von Festenberg das Thema Kehlmanns in Zusammenhang mit einer großen Erzähltradition: Romane wie Das Parfum von Patrick Süskind oder Michael Endes Unendlicher Geschichte haben sich mit dem Überwinden der „kulturgängigen Weisheit“ beschäftigt, er sieht in David Mahler „unter den vielen merkwürdigen Helden der neueren deutschen Literaturgeschichte [...] einen der sonderbarsten“ (Der Spiegel, 41/1999).

» Autor*innenstartseite

Forschungsspiegel zu Mahlers Zeit [ ↑ ]
Im Vergleich zu traditionellen Geistergeschichten wie etwa denen Edgar Allen Poes, erkennt Markus Gasser in dem Werk Kehlmanns Charakteristika des tales im Sinne von Henry James. Vor allem Mahlers Zeit sei an diese angelehnt, nicht nur durch den Inhalt, auch formal: „[…] entwickelt aus einer einzigen Idee, für einen Roman zu knapp, zu lang für eine Kurzgeschichte, und tückisch leicht zugänglich“ (Gasser 2010, S. 38). So führe Kehlmann am Anfang der Geschichte das dieser zugrunde liegende „System gläserner Schönheit“ (ebd.) ein, welches der Physiker David Mahler untersuche und welchen in wiederkehrenden Details die Geschichte präge und die Leser*innen zum schaudern bringe.
Uwe Wittstock erkennt diese Entwicklung aus einer Idee auch in anderen Erzählungen Kehlmanns wieder, viele seien getrieben durch fundamentale, dennoch unbeantwortbare Fragen, etwa nach der tödlichen Willkür des Kosmos in Der fernste Ort, der rätselhaften Unendlichkeit gesehen in einander gegenübergestellten Spiegeln in den Gemälden Manuel Kaminskis in Ich und Kaminski, und der rätselhaften Natur der Zeit in Mahlers Zeit (vgl. Wittstock 2009, S. 164).

Der fernste Ort

» Werkverzeichnis

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Der fernste Ort [ ↑ ]
Die dritte Erzählung Daniel Kehlmanns, Der fernste Ort, den Kehlmann selbst als „Aussteigerthriller“ bezeichnet (Diese sehr ernsten Scherze, S. 19), beginnt mit einer Täuschung der Leser*innen: Der Versicherungsangestellte Julian ist auf einer Dienstreise in Italien und hat einen Badeunfall: „Er machte hektische Bewegungen, schnappte nach Luft, schluckte Wasser und bekam einen Hustenanfall, spuckte. Und wieder spürte er den Griff nach seinen Beinen; er riß die Arme hoch, die Geräusche verstummten, kehrten wieder, verstummten, und er spürte, wie er sank“ (S. 17). Als er von Krämpfen geschwächt schließlich ans Ufer gelangt, kann er sich nicht mehr daran erinnern, wie er das geschafft hatte. Allerdings ist er sich der Chance, die sich ihm durch diesen Vorfall bietet, nämlich der Welt vorzutäuschen, er sei tatsächlich ertrunken, sofort bewusst und ergreift sie. Im Verlauf der Erzählung zeigt sich den Leser*innen aber immer deutlicher, dass Julian bei diesem Unfall tatsächlich gestorben ist, die Erzählung schildert seine Reise ins Jenseits, zum fernsten Ort, dem „Ultima Thule“ (S. 30). Auf diesem Weg besucht Julian die wichtigsten Stationen seines Lebens, er geht zurück in seine Wohnung, in der er seinen Bruder antrifft, in sein Büro und ruft von dort aus seine Freundin an, und besucht schließlich seinen Vater in einem Pflegeheim, bevor er in die Ferne reist. Das Thriller-Element kommt durch Julians Versuch, keine Spuren zu hinterlassen und mit einer neuen Identität zu reisen, hinzu.
Die Erzählstrategie wird in zwei Theorien in der Erzählung erklärt: Paul, Julians Bruder, erzählt von einem Spiel an dem er gerade arbeitet, „in dem wir mittels künstlicher Intelligenz eine Raumschiffbesatzung vortäuschen, von der der Spieler langsam, nach und nach, gegen seinen Willen entdeckt, daß sie wesentlich schlechter ist, als er gedacht hat, daß sie seine Befehle falsch ausführt, aus Versehen oder mit Absicht, [...] dann wird ihm klar, und auf diesen Moment ist das ganze ausgerichtet, daß er von Feinden umgeben ist, daß alle ihn belogen haben, von Anfang an. Daß er nicht gewinnen kann“ (S. 104). Auf ähnliche Weise bemerkt Julian, lange nach den Leser*innen, dass er in Italien gestorben ist, die Flucht gar keine echte ist und er nicht das neue Leben wird führen können, in welches er zu flüchten versucht.
Die Theorie Jerouen Veterings, einem fiktiven Wissenschaftler über den Julian seine Dissertation schrieb, stellt ebenfalls eine metafiktive Ebene der Erzählung dar. In Veterings späten Jahren wurde an seiner geistigen Gesundheit gezweifelt, da er davon überzeugt war, Gestorbene können als Geister noch einige Zeit durch unsere Welt in ihren Erinnerungen wandern. Der Erzähler lässt Julian einige Passagen lesen: „In diesem Moment erwählt die Seele sich aus dem Chaos ihrer Erinnerungen einen Gefährten, von welchem sie bis zur Schwelle – allerdings nicht darüber hinaus – begleitet zu werden vermeint. Wie mir offenbar wurde (ich bitte Sie, nicht zu fragen, wie) ist es diese Entscheidung, die, so nebensächlich sie auch erscheinen mag, in Wirklichkeit doch...“ (S. 69). Julian erlebt diese Reise, er bewegt sich durch eine aus seinen Erinnerungen konstruierte Welt und erwählt seinen Bruder als Gefährten. Kehlmann äußert dies sogar konkret auf der vorletzten Seite und bestätigt zuletzt Veterings These: „Und für einen Augenblick dachte er an Vetering, den kleinen, schlechtgelaunten Mann, von dem niemand je ahnen würde, wieviel er gewußt hatte“ (S. 147).
Der Schein, dass Julian überlebte und nun sein altes Leben hinter sich lasse, wird in der Erzählung aufrechterhalten. Vor allem die Erzählperspektive ist dafür entscheidend: Es erzählt ein heterodiegetischer Erzähler mit interner Fokalisierung. Dadurch, dass die Leser*innen also nur so viel wissen, wie die Figur Julian (der davon ausgeht, lebendig zu sein), müssen sie selbst die Deutung der Ereignisse vornehmen. Sie erfahren von Julians Kindheit und anderen Erinnerungen durch sein Erinnern bzw. Träumen. Am Ende des ersten Kapitels heißt es: „Sein Körper kam ihm schwerelos vor [...] am liebsten wäre er immer so weiter gelaufen. Egal wohin. Nur immer weiter“ (S.27).In Kapitel zwei wird seine Kindheit und sein Studium beschrieben, Kapitel drei beginnt mit dem Satz: „Ihm war, als hätte er noch nie so tief geschlafen“ (S. 62), die Beschreibung der Vergangenheit also war eine Erinnerung in einem Traum.
Den Gedanken, von zu Hause, vor seinem Leben, wegzulaufen, hat Julian schon als Junge. An dem Tag, an dem die Deutschlehrerin dem Elfjährigen von Goethes Gedicht Es war ein König in Thule erzählt, wird er wieder er in der Schule gehänselt. Am Nachmittag steht er plötzlich vom Küchentisch auf, zieht seine Jacke an und fährt mit dem nächsten Zug irgendwohin. Dort trifft er auf eine häufiger in Kehlmanns Geschichten auftauchende ‚allwissende’ Figur. Ein dicker Mann kauft ihm, noch ehe er sagen kann, dass er keine Fahrkarte hat, ein Ticket und bietet ihm an, bei ihm unterzukommen, auch er sei schon mal weggelaufen. Diese Art von Figuren dienen meist dazu, die Protagonisten in die richtige Richtung zu lenken, ihnen zu helfen oder ihnen eine andere Perspektive zu zeigen. Der Mann macht Julian darauf aufmerksam, dass er kein Ziel hat, dass er allein auf dieser Reise ist. An dieser Episode wird die Konstruktion der Erzählwelt aus Julians Erinnerungen am deutlichsten: später befindet er sich wieder auf einer Zugfahrt und beobachtet sich als Jungen im Gespräch mit dem älteren Mann (vgl. S. 136).
Julians Frustration und der Entschluss zur Flucht werden auch in seinem beruflichen Werdegang sichtbar. Er promoviert über den Barockdenker Jerouen Vetering, sein Buch Vetering: Person, Werk und Wirkung wird von der Forschungsgemeinde verrissen („Ihre Besprechungen waren vernichtend“, S. 86) und seine Zukunft als Wissenschaftler ist somit dahin. Er arbeitet zwangsweise in einer Versicherungsgesellschaft, ein Job, den ihm sein Bruder besorgt hat, in dem er aber nicht glücklich ist. Auch in anderen Bereichen seines Lebens läuft es anders als geplant: Er hat Schulden und keinen Erfolg in Beziehungen („Aber dazu mußte er es fertigbringen, nicht an den Mann von der Kreditabteilung und die Schulden bei der Bank zu denken, nicht an Wöllner [seinen Vorgesetzten], nicht daran, daß er einen Beruf hatte, den er nicht mochte, nicht an Andreas Stimme, als sie ihm gesagt hatte, daß er nicht mehr anrufen sollte“, S. 12). Die Flucht und vor allem die Motive dazu sind also durchaus realistisch und unterstützen Julians Lebendigkeit.
Deutlich wird den Leser*innen die nicht-Existenz Julians dennoch durch die Erzählweise und inhaltliche Hinweise. Durch Personifikationen erscheint die Welt um Julian surreal – „Immer wieder in der letzten Zeit hatte die Welt sich unzuverläßig gezeigt, Gläser und Tassen waren vor seiner Hand zurückgewichen, Türklinken hatten sich seinem Griff entzogen, und Buchstaben hatten ihn durch geschickte Verrenkungen über ihre wahre Natur getäuscht“ (S. 49). Außerdem wird das Wetter im Verlauf der Geschichte immer schlechter, aus dem sonnigen Wetter in Italien reist Julian in seine verschneite Heimatstadt und findet sich am Ende seines Weges in einem Schneesturm wieder. Diese Beschreibung des Weges ins Jenseits findet sich in Veterings Korrespondenz: Er nennt einen Menschen, der seinen eigenes Sterben versäumt hat, einen „Wanderer, der langsam und ohne Ungeduld seinen Weg durch eine winterliche Landschaft sucht“ (S. 77).
Die Wege, die Julian zurücklegt, ebenso wie die Zeit, die er erlebt, sind an Julians Empfinden und Erinnern geknüpft. So findet er sich nach kurzem Weg von seiner Wohnung vor dem Gebäude der Versicherung wieder, seinem Arbeitsplatz: „Aber das war doch nicht möglich! Er hatte nicht gemerkt, daß er diesen Weg genommen hatte“ (S. 108). Da sich diese Welt nur aus seinen Erinnerungen zusammensetzt, sieht er Vertrautes, nicht aber Wege. Julian fragt sich selbst, als er am Bahnhof ankommt und seine letzte Reise antreten will: „Wie hatte er eigentlich den ganzen Tag vertan?“ (S. 132) – die erlebte Zeit der Figur stimmt nicht mit der Erzählzeit überein.
Nach der Untergangsepisode im See sind Julians Sinne noch verwirrt, er kann die Ereignisse nicht einordnen, so wissen auch die Leser*innen nicht, was mit ihm geschehen ist („Bruchstücke von Erinnerungen, er wußte nicht, woher. Ein fast leeres Kaffeehaus, ein Raum voller tanzender Menschen, ein Eisenbahnwaggon in der Nacht, ein Schneesturm und eine ferne Küstenlinie“, S. 20). Diese Erinnerungen sind Szenen aus der folgenden Geschichte, so dass sie als Kette aus Hinweisen an die Leser*innen wirken und deren Interpretation des Sterbens Julians bestärken.
Der Raum voll tanzender Menschen findet sich auf Julians Weg als Nachtlokal wieder, in dem er einen falschen Reisepass zu bekommen hofft. Die Art und Weise, wie er ein Nachtlokal findet, hat Julian vorher in einem Film gesehen; es ist unrealistisch, dass er nur in ein Taxi einsteigen und den Fahrer nach einem zwielichtigen Nachtlokal fragen muss, um genau so eines zu finden. Da die Szene jedoch aus seiner Erinnerung an eben jenen Film rekonstruiert ist, muss es genauso passieren. Dort trifft Julian auf einen Kriminellen, der mit seinem Vorgesetzten Wöllner identisch ist. Von ihm erhält er einen Pass und kann so seine Reise fortsetzen. Die Situation wirkt wechselseitig auf seine Erinnerung, während er sich durch die tanzenden Menschen schiebt, erinnert er sich an sein eigenes Ertrinken: „etwas berührte seinen Hals, weich und sanft wie eine Schlingpflanze, und für einen Moment fühlte er sich ganz von Wasser umgeben, von einer kühlen Stille, jenem Dröhnen eigentümlich verwandt, und er spürte, wie er sank und tiefer sank... Schon war es vorbei“ (S. 122f.).
Als weiteres Indiz wirkt Julians Körperlichkeit und sein Körpergefühl. Schon früh, in seinem Hotelzimmer in Italien, verändert es sich. Am Strand war er noch peinlich berührt, „er fühlte sich lächerlich. Dünn und bleich“ (S. 15), später kommt ihm sein Körper „schwerelos vor, sein Atem ging gleichmäßig“ (S. 27). Später wundert Julian sich sogar über seine Materialität: „Er setzte sich und erschrak, als die Lehne des Stuhls unter ihm nachgab; fast kam es ihm unnatürlich vor, daß er noch Gewicht hatte“ (S. 110). In dem Kaffeehaus scheint er unsichtbar zu sein, weder die anderen Gäste noch die Kellnerin nehmen ihn und sein lautes Rufen wahr.
Der Erzählung liegt die Idee von Schicksalhaftigkeit zugrunde. So begegnet der Tod Julian in seiner Kindheit einmal in Form einer Leiche einer Frau, die sich vor einen Zug geworfen hatte. Für das Kind hat dieses Erlebnis eine offenbarende Wirkung: „Und plötzlich wußte er, daß er sterben würde. Nicht heute und wohl auch nicht so bald, aber irgendwann: ein Körper war zerreißbar, zerstörbar wie irgendein Ding“ (S. 41). Das Interesse für Veterings Theorie, die sich zu Julians Forschungs-schwerpunkt entwickelt, wirkt zunächst zufällig, denn Julian hält nur ein Referat über ihn. Es erweist sich aber als notwendig, da die Reise Julians die Bestätigung dieser Theorie darstellt. In seinem Beruf als Versicherungsangestellter kommt er mit dem Schicksal in Form von Statistiken direkt in Kontakt: „Es waren Berichte von menschlichen Unfällen, Mißgeschicken, Katastrophen, eingefaßt in Berechnungen“ (S. 93). Julian beginnt zu hinterfragen, wieso die Menschen dieser Statistik ‚folgen’ und wieso sie nicht ausbrechen. Sein Weglaufen aus Italien ist der Versuch, diesem Leben nach statistischen Parametern zu entfliehen, dennoch erfüllt sein Schicksal, wenn er dort ertrinkt. Auch das Ertrinken selbst ist im Text von einer Aura des Schicksalhaften umgeben, denn Julian spürt eine „grundlose Freude in ihm auf[steigen], sinnlos und stark, nicht zu unterdrücken, fast hätte er laut gelacht“ (S. 15), als er ins Wasser steigt. Schließlich scheint ihn „etwas“ (S. 17) im Wasser festzuhalten, obwohl Julian weiß, dass er nur die kalte Strömung ist.
Kehlmann stellt der Erzählung ein Zitat aus Vladimir Nabokovs Kurzgeschichte Einzelheiten eines Sonnenuntergangs voran, das keinen Zweifel mehr an tödlichen Ausgang der Geschichte lässt: „Er atmete nicht mehr, er war abgereist – wohin, in welche anderen Träume, weiß niemand“. Und auch der erste Satz in Der fernste Ort, eine Warnung eines Hotelangestellten, in dem See sei im vorigen Jahr jemand ertrunken, Julian solle vorsichtig sein, weist eindeutig in diese Richtung.
In seiner Poetikvorlesung Diese sehr ernsten Scherze geht Kehlmann auf die Wirkung seiner Geschichte ein. Er kritisiert die Rezensent*innen, die sich zu sehr von dem Text der Verlagsvorschau hätten leiten lassen. Darin stehe, dass Julian nach einem Beinahe-Unfall seinen Tod vortäusche und in ein neues Leben flüchte. Der Interpretation, dass Julian aber tatsächlich tot ist, folgen nur wenige. Die Übersetzerin hingegen hat Kehlmann vorgeworfen, die Hinweise seien zu deutlich, zu „holzhammerhaft“ (ebd., S. 19).

» Autor*innenstartseite

Thematische Aspekte zu Der fernste Ort [ ↑ ]

Wirklichkeit und Einbildung/Wahrnehmung
Der Protagonist Julian in Der fernste Ort ist im Hauptteil der Erzählung tot, jedoch in dem Glauben, einen Badeunfall überlebt zu haben. Die Welt, in der er sich bewegt, besteht aus Erinnerungen, er findet sich an Orten wieder, die er bereits kennt, oder in Situationen seiner Kindheit. Außerdem hat er kurz nach dem vermeintlichen Auftauchen verschiedene geistige Bilder von Situationen vor Augen, in denen er sich später wiederfinden wird. Julian in Der fernste Ort begegnet auf einer Zugfahrt einem kleinen Jungen, der seltsam viel von Julians Leben zu verstehen scheint (vgl. S. 114). Durch ihn wird sichergestellt, dass Julian den richtigen Weg geht. Mit der Figur des fiktiven Interviewers in seiner Poetikvorlesung Diese sehr ernsten Scherze kulminiert diese Erzähltechnik, denn der Schein der Wirklichkeit oder Realität muss nicht erst durchbrochen werden, sodass die Komik hier offensichtlich wird.

Mathematik
Als scheinbaren Gegenpart zu diesen die Wirklichkeit durchbrechenden Phänomenen setzt Kehlmann die Mathematik als rationales und logisches Element. Julian etwa erkennt in Der fernste Ort, dass sich das Schicksal mathematisch in Versicherungsstatistiken ausdrücken lässt. Doch schließlich stellen auch diese sich als nicht verlässlich heraus.

Spiegel und Spiegelungen
Die Bestätigung der Existenz Julians durch ein Spiegelbild wird den Leser*innen in Der fernste Ort zunächst verwehrt, auch der Protagonist meidet die „leere Fläche“ (S. 107). Schließlich erblickt er sich doch: „Aus dem Wandspiegel betrachtete ihn ein junger Mann. Julian hob seine Hand, der junge Mann tat das gleiche, und aus irgendeinem Grund beruhigte ihn das“ (S.68). Und tatsächlich ist in diesem Fall die Person im Spiegel nicht Julian, sondern nur eine Konstruktion seiner Erinnerung, wie alles um ihn herum. Beim Tod seiner Mutter hatte wiederum ein Spiegel das letzte Mal ihr Bild festgehalten.

» Autor*innenstartseite

Formale Aspekte zu Der fernste Ort [ ↑ ]

Motto
Das Zitat Vladimir Nabokovs aus einer frühen Kurzgeschichte Einzelheiten eines Sonnenuntergangs setzt das Thema der Erzählung Der fernste Ort – der Übergang vom Leben in etwas Unbestimmtes – und verrät den Leser*innen etwas über die Handlung. Trotz der Hinweise in der Geschichte, die auf Julians Überleben hindeuten können, ist durch das Voranstellen eines solchen Zitates die Interpretation unumgänglich, dass das eigentliche Leben des Protagonisten geendet hat: „Er atmete nicht mehr, er war abgereist – wohin, in welche anderen Träume, weiß niemand“.

Ortlosigkeit
Trotz einiger Landschafts- und Wegbeschreibungen finden sich in Kehlmanns Erzählungen selten konkrete Ortsnamen. Sind es nicht wie etwa in Die Vermessung der Welt, am Anfang von Der fernste Ort oder in Ruhm internationale Länder und Regionen – die Umgebung des Amazonas, Italien oder Asien – können die Leser*innen den Figuren nur zu unbestimmten Bahnstationen und durch die Umgebung („Wiesen, Wälder, Wiesen“, Ich und Kaminski, S. 14) folgen.

Episches Vorausdeuten/Foreshadowing
Der erste Satz in Der fernste Ort, „Seien Sie vorsichtig![...] Voriges Jahr ist jemand ertrunken“(S. 9) ist nicht nur Warnung an den Protagonisten Julian, sondern auch der erste Hinweis für die Leser*innen, dass Sebastian in der Geschichte ertrinkt. Die „Bruchstücke von Erinnerungen“ (S. 20), die sich nach seinem Ertrinken vor seinem geistigen Auge zusammensetzen, sind Hinweise auf Szenen in der folgenden Geschichte (ein fast leeres Kaffeehaus, ein Raum voll tanzender Menschen, ein Eisenbahnwaggon in der Nacht, ein Schneesturm).

» Autor*innenstartseite

Pressespiegel zu Der fernste Ort [ ↑ ]
Kehlmanns vierte Veröffentlichung wird in den Feuilletons ausschließlich gelobt. Vor allem der Bezug und die Ähnlichkeit zu seinen vorherigen Erzählungen Beerholms Vorstellung und Mahlers Zeit werden von den Rezensent*innen angesprochen; Hellmut Gollner schreibt, Der fernste Ort sei Kehlmanns „bisher konsequentester und bester Roman“ (Der Falter, 21.09.2001), da er auf die Mittel Magie und Wahn verzichte, um die unendlichen Räume hinter der Wirklichkeit zu öffnen. Die durchdachte Gestaltung dieser Geschichte hebe den Leser so aus seiner Souveränität des Verstehens bis auf die letzte Seite.
Martin Luedke sieht Kehlmann dadurch als zeitgemäßen Romantiker; „mit vielen versteckten Bezügen, häufig verdeckten Verweisen und sanft gleitenden Übergängen, lässt den unmerklichen Schwund an Realität kaum erkennen“ (Die Zeit, 03.01.2002). Für Luedke kulminiert diese ganze „Kunstfertigkeit des Erzählers Daniel Kehlmann“ (ebd.) in der Verwunderung des Protagonisten auf der letzten Seite darüber, dass er mitten in einem Schneesturm nicht fror.
Nicola Katja Streitler vermutet, dass Kehlmann die Idee für die Geschichte bei der Arbeit am Computer gekommen sei, bei der der Anwender sich mit verschiedenen Identitäten einloggen und diese verwalten könne. Ebenso erfinde der Protagonist in Der fernste Ort eine neue Identität. Die Frage nach der Wirklichkeit sieht Streitler im Roman nicht aufgelöst, die Leser*innen seien „dem Autor genau so auf seinen fiktiven Leim gegangen, wie er es vermutlich wollte“ (Der Standard, 14.09.2001). Darin erkennt Streitler die metafiktive Ebene des Buches, Leser*innen brauchten ein paar Minuten „um wieder ganz sicher zu sein, dass man selbst doch ganz real ist“(ebd.); vor allem dadurch sei der Roman ein „gutes Buch, ein sehr gutes sogar!“ (ebd.). Peter Henning nennt die neue Veröffentlichung in der Reihe der bisherigen Kehlmann-Publikationen eine „kleine, feine Novelle“ (Stern, 29.11.2001).
In seiner Poetikvorlesung Diese sehr ernsten Scherze geht Kehlmann auf die Wirkung seines Romans ein, er kritisiert viele Journalisten, die sein Buch nicht richtig verstanden hätten. So sei die Tatsache, dass der Protagonist am Anfang der Geschichte stirbt im weiteren Verlauf mit „fast aufdringlicher Eindeutigkeit“ (S. 19) beschrieben. Seine russische Übersetzerin habe ihn sogar dafür gerügt, dass „die Hinweise etwas holzhammerhaft daherkämen“ (S. 19). Dies führt er vor allem auf den Text in der Verlagsvorschau zurück, in dem stehe, dass Julian den Badeunfall überlebe, um nicht zu viel von der Geschichte zu verraten.

» Autor*innenstartseite

Ich und Kaminski

» Werkverzeichnis

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Ich und Kaminski [ ↑ ]
Sebastian Zöllner, Protagonist in Kehlmanns drittem Roman, ist Kunstkritiker und ein Narzisst. Um den Sprung vom freiberuflichen Journalisten zum angesehenen und festangestellten Kulturredakteur zu schaffen, will er die Biografie über den vormals berühmten, mittlerweile altersschwachen Künstler Manuel Kaminski schreiben. Dieser ist als „blind man“ (S. 38) berühmt geworden und lebt nun zurückgezogen mit seiner Tochter, die als seine strenge Managerin auftritt, in einem Dorf in den Bergen. Der Icherzähler Sebastian führt die Leser*innen durch die Geschichte, die eine dynamische Wendung nimmt, wenn Kaminski Sebastian dazu antreibt, mit ihm eine Reise zu seiner Jugendliebe Therese zu unternehmen.
Der Charakter des Protagonisten wird durch die subjektive Perspektive früh offenbar: Er erzählt von einem Streit mit dem Zugbegleiter, den er erst beleidigt und sich dann über dessen Reaktion ärgert: „Nicht Schaffner, sagte er, Zugbegleiter. Ich sagte, das sei mir egal. Er fragte, wie ich das meine. Egal, sagte ich, wie man diesen überflüssigen Beruf nenne. Er würde sich, sagte er, von mir nicht beleidigen lassen, ich solle aufpassen, er könne mir auch in die Fresse hauen. Das möge er versuchen, sagte ich, ich würde mich ohnehin beschweren, er solle mir seinen Namen nennen. Er denke nicht daran, sagte er, und ich stänke und bekäme eine Glatze“ (S. 9f.). Der Erzähler verhält sich arrogant, fällt anderen ins Wort und deutet die Welt zu seinen Gunsten, etwa wenn er mit der Kaminskis Haushälterin einen Deal ausmacht, um ungestört in das Haus zu kommen, und sie ihn hoffnungslos über den Tisch zieht; in seiner Version stellt es sich jedoch anders dar: „So viel Geld! Aber ich hatte erreicht, was ich wollte. Und weiß Gott, ich hatte es nicht ungeschickt angestellt, sie hatte keine Chance gegen mich gehabt“ (S. 68). Es besteht eine offene Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung Sebastians und der der Leser*innen, ungeachtet der vom Ich-Erzähler geleiteten Erzählung. Auch hat er gar keine richtige Ahnung von Kunst, vor allem aber keine Meinung: „Ich blätterte langsamer. Sie [die Bilder] gefielen mir. Ein paar betrachtete ich länger. [...] Aber es war besser, sie nicht zu mögen, die Reaktionen waren vernichtend gewesen“ (S. 39).
Nach dem ersten Treffen mit Kaminski und seiner Tochter erklärt er seine Motivation für das Unterfangen. Nicht etwa die Kunst Kaminskis oder der Künstler reizte ihn, sondern einzig die Aussicht auf Ruhm und Geld, vielleicht sogar auf die Möglichkeit, sich nach dem Tod Kaminskis ein Leben mit seiner Tochter einzurichten, gemeinsam den Nachlass zu verwalten und vielleicht ein Museum zu eröffnen. Als er sich mit Kaminski auf die Reise begibt, erklärt er: „Natürlich, die Reise würde seine Gesundheit gefährden. Aber um so früher konnte das Buch erscheinen“ (S. 91f.).
Das Zitat James Boswells, welches Kehlmann dem Roman voranstellt, beschreibt die Wahrnehmung der Figur Sebastian sehr genau. Er könnte es nach dem unerwünschten Besuch bei einer Gesellschaft in Kaminskis Haus selbst geschrieben haben: „Ich bin in der Tat ein einzigartiges Wesen. Werde ich nicht überall gut aufgenommen? Schenken mir nicht die bedeutendsten Köpfe ganz besondere Beachtung? Ich habe eine edle Seele, die immer wieder zum Vorschein kommt, ein gewisses Maß an Kenntnissen, alle möglichen Einfälle, einen originellen Humor und eine ebensolche Ausdrucksweise; dazu, so glaube ich, eine bemerkenswerte Menschenkenntnis“ (S. 7). Karl Zeyringer weist darauf hin, das Boswell dieses Zitat niederschrieb, nachdem Voltaire ihn hinausgeworfen hatte (vgl. Der Standard, 01.03.2003). Sebastians Bekannte Elke, bei der er eigentlich nur für ein paar Tage unterkommen wollte und bei der er nun schon seit mehreren Monaten wohnt, wirft ihn ebenfalls hinaus, Sebastian nimmt sie jedoch nicht ernst. Auch der Titel des Romans ist bezeichnend, nennt Sebastian sich dort zuerst.
Manuel Kaminski wird als rätselhafte Person eingeführt. Von seinem Leben erfahren die Leser*innen durch Rückschauen Sebastians: Er sitzt abends in seinem Hotel und hört die Diktaphonkassetten, welche er in den Wochen zuvor bei Gesprächen mit Bekannten Kaminskis aufgenommen hatte. Kehlmann führt die subjektive Perspektive des Icherzählers so konsequent fort und kann trotzdem Kaminskis Leben erzählen lassen, ohne den Zeitraum der erzählten Zeit zu weit zu fassen.
Die Gespräche allerdings, die Sebastian führte – etwa mit Kaminskis Galerist, einem Freund und Financier – lassen die Figur des Malers noch rätselhafter erscheinen, als dass sie über sein Leben aufklären: „Jeder sagt etwas anderes, da meiste ist vergessen, und alle widersprechen einander. Wie soll ich irgend etwas herausfinden?“ (S. 148).
Wie schon in Die Vermessung der Welt spielt Kehlmann mit historischer Realität und literarischer Erfindung. Er stellt Kaminski in den Kontext der Kunstwelt des 20. Jahrhunderts, Matisse war sein Lehrer, Picasso sein Freund, Claes Oldenburg stellte seine Bilder in der Leo Castelli Galerie in New York aus. Auch durch die detaillierten Beschreibungen der Kunstwerke, die Kehlmann allesamt imaginiert, wird Kaminski in diesen Zusammenhang gestellt und so ein Spiel mit dem gebrochenen Realismus betrieben.
Über Kaminskis Krankheit, die zu seinem Erblinden führte, ist nichts bekannt, an einigen Stellen zweifelt sogar Sebastian an dessen Blindheit (etwa: „für eine lange Sekunde war das Gefühl, daß er mich durch das Schwarz seiner Brille ansah, so stark, daß es mir den Atem nahm“, S. 104). Andererseits gibt es in dem verwaisten Atelier, welches Sebastian im Keller des Hauses findet, kein Tageslicht: „Wer immer hier gearbeitet hatte, hatte kein natürliches Licht gebraucht“ (S. 74). Kaminski selbst sagt, er sehe „Formen, manchmal Farben. Umrisse, wenn ich Glück habe“ (S. 105). In dem Atelier findet Sebastian auch eine Serie unvollendeter Selbstporträts, die sich von Bild zu Bild merkwürdig ins Undeutliche verzerren, sie stellen das Fortschreiten der Krankheit dar. Die Frage wird auch am Ende der Geschichte nicht vollkommen beantwortet, als Sebastian ihn aber auf einen dieser zweifelhaften Momente anspricht, tut Kaminski dies ab: „Ach, Sebastian“ (S. 170).
Kaminski wirkt in einigen Szene dement, fast verrückt, als würde er die Welt und die Gespräche um sich herum nicht wahrnehmen. Er wiederholt manchmal Fragen oder Schlagwörter. Dies führt zu kryptischen Aussagen wie: „Ich bin die Quelle schlechthin“ (S. 23). Sebastian deutet dies als Verwirrtheit: „Hatte er es sich wieder anders überlegt, oder wollte er mir bloß seine Macht zeigen? Aber nein, er war alt und verwirrt, ich durfte ihn nicht überschätzen“ (S. 104). Außerdem wohnt Kaminski in dem „Haus mit dem Turm“ (S. 17), was sich als Verweis auf Friedrich Hölderlin lesen lässt, der seine letzten Lebensjahre in einem Turmzimmer verbrachte und in der Literatur als Autor rezipiert wird, der schließlich seinen Pathologien erlegen ist.
Im Kontext der Vergangenheit Kaminskis wird den Leser*innen jedoch klar, dass Sebastian Kaminski tatsächlich unterschätzt. Kaminski hatte schon immer ein Netz aus Menschen um sich, die ihm nützlich sind. Seine große Liebe, Therese, die sich als einzige aus seinem Wirkungskreis befreien kann, nennt diese Menschen seine Spiegel. Sie haben die Aufgabe, schreibt sie in ihrem Abschiedsbrief an Kaminski, „[d]ein Bild zurückzuwerfen und Dich zu Großem, etwas Vielfältigem und Weitem zu machen“ (S. 88). Das Motiv der Spiegel und Spiegelungen, welches sich häufig in Kehlmanns Texten findet, wird hier zu Erzähltheorie. Auch thematisch wird es in der Gemäldereihe Reflexionen von Kaminski aufgegriffen: „Die Bilder zeigten Spiegel, die einander in unterschiedlichen Winkeln gegenüberstanden. Grausilberne Gänge in die Unendlichkeit öffneten sich, leicht gekrümmt, erfüllt von unheimlichem, kaltem Licht. Details der Rahmen oder Unreinheiten auf dem Glas vermehrten sich und reihten sich in identisch schrumpfende Kopien auf, bis sie weit entfernt aus dem Blickfeld verschwanden“ (S. 35).
Es stellt sich heraus, dass auch Sebastian einer dieser Spiegel ist. Miriam entwirrt die Ereignisse am Ende der Erzählung. Durch ihre Perspektive wird ihm klar, dass Kaminski ihn die ganze Zeit gesteuert hat: „Hat er sie nicht dazu gebracht, zwei Autos zu stehlen und ihn durch halb Europa zu fahren?“ (S. 166). Doch auch auf eine andere Art und Weise spiegeln sich die Figuren Sebastian und Kaminski: Ihre Leben verlaufen in einigen Punkten parallel. Kaminski setzt sich gegen den Versuch Matisses zur Wehr, ihn aus der Wohnung zu werfen, indem er einfach blieb („Aber ich bin nicht gegangen! Wissen Sie, wie das ist, wenn jemand einfach nicht geht? So kann man eine Menge erreichen“, S. 96), ähnlich wie Sebastian, der als ungebetener Langzeitgast bei Elke verharrt und ihren Versuchen, ihn loszuwerden, mit Ignoranz begegnet.
Sebastian legt es geradezu auf parallele Erlebnisse an; so imitiert er eine prägende Erfahrung Kaminskis und begibt sich in die Salzmienen von Clairance. Er will unbedingt „das Echo in der Stille beschreiben, das machte sich gut“ (S. 62). Sebastian schließt kurz die Augen und findet sich im nächsten Moment verlassen in den Gängen wieder. Er kann seine Gruppe nicht mehr finden, wartet einige Stunden, um dann von der nächsten Gruppe durch eine Tür direkt in den belebten Souvenirshop begleitet zu werden. Die Zeit in den Mienengängen gehorcht nicht mehr normalen Gesetzen, und plötzlich meint er Stimmen und andere Geräusche zu hören. Damit wiederholt ein Erlebnis aus Kaminskis Leben, das auf diesen eine enorme Wirkung hatte: Er schließt sich fünf Tage in eine Kammer ein, entwickelt einen neuen Stil und wird berühmt.
Auf der Reise haben beide eines Nachts denselben Traum, Kaminski erklärt: „ein winziger Raum, keine Luft, und ich war eingesperrt, ich dachte schon, es wäre ein Sarg, aber dann merkte ich, daß Kleider über mir hingen und daß es nur ein Schrank war“ (S. 146f.); Sebastian hatte in seinem Traum Kaminski ebenso zusammengekauert in einem Kleiderschrank gefunden.
Die Ankunft bei der Jugendliebe Therese endet mit Enttäuschungen. Kaminski muss feststellen, dass sie vielleicht durch Demenz, vielleicht durch ein ereignisloses Leben nicht mehr diejenige ist, die er liebte. Sie erinnert sich an wenig und möchte lieber fernsehen. Sebastian erfüllt Kaminski daraufhin einen letzten Wunsch, er fährt ihn ans Meer. An diesem Punkt in der Geschichte kulminiert die Veränderung Sebastians, die sich im Verlauf der Reise angebahnt hatte. Er wird gleichsam von Kaminski enttäuscht, der ihm eröffnet, dass er große Teile seiner Lebensgeschichte an einen Konkurrenten Sebastians verkauft hatte, sodass für Sebastians Buch kaum etwas mehr bleiben würde. Sebastian zerstört daraufhin alle seine Notizen und verlässt Kaminski. Für ihn ist das ein Neuanfang, ohne Wohnung, ohne Gepäck und nun ohne Buchprojekt, aber auch befreit von Kaminski.
In Kehlmanns Roman F taucht die Figur erneut als Kunstkritiker auf, der einem neuen Talent auf den Fersen ist. Er ist durch dieselbe pragmatisch-arrogante Art gekennzeichnet, mit der er in Ich und Kaminski dargestellt wird. Es ist jedoch unklar, in welcher zeitlichen Abfolge die Geschichten stehen. In seiner Poetikvorlesung Diese sehr ernsten Scherze führt Kehlmann polemisch aus, dass die Figur und die Erzählung über einen Kunstkritiker, der nichts von Kunst versteht, von den Literaturkritikern inspiriert sei, die seine Erzählung Der fernste Ort als realistisch lobten und somit nicht verstanden hätten (vgl. S. 20).

» Autor*innenstartseite

Thematische Aspekte zu Ich und Kaminski  [ ↑ ]

Hunde
An der Reaktion Sebastian Zöllners auf einen Hund wird sein rücksichtsloser Charakter verdeutlicht („Der Hund drückte seine Nase gegen meinen Schuh. Ich widerstand dem Wunsch, ihn zu treten“ Ich und Kaminski, S. 17). An der Reaktion wiederum der Hunde auf David Mahler in Mahlers Zeit wird dieser als rätselhaft eingeführt: Sie knurren ihn an und weichen dennoch vor ihm zurück. Die Hunde erkennen die Gefahr, die David durch seine Entdeckung für die Wirklichkeit darstellt.

Spiegel und Spiegelungen
Auch Sebastian Zöllner betrachtet sich in dieser Weise, hier kommt aber ein weiteres Element hinzu, welches charakteristisch für Kehlmanns gebrochenen Realismus ist: „Ich schüttelte den Kopf, mein Spiegelbild tat das gleiche“ (Ich und Kaminski, S. 16). Die Person im Spiegel scheint nicht identisch mit der vor dem Spiegel zu sein. In Ich und Kaminski tauchen Spiegel nicht nur als Motiv in Kaminski letzter Bildreihe Reflexionen auf, Kehlmann stellt die beiden Figuren immer wieder einander gegenüber. Dabei zeigt sich ihre Ähnlichkeit immer deutlicher, trotz der subjektiven Icherzählerperspektive Zöllners, der keine Erkenntnisse dieser Art für die Leser*innen aufdeckt. 

» Autor*innenstartseite

Formale Aspekte zu Ich und Kaminski [ ↑ ]

Motto
Das dem Roman Ich und Kaminski vorangestellte Zitat aus den Tagebüchern James’ Boswell ist weniger eindeutig. Der Schriftsteller spricht lobend von sich, seiner allgemein positiven Wirkung auf andere, seiner „edlen Seele“ und seiner umfassenden Bildung und schließlich seiner „ bemerkenswerte[n] Menschenkenntnis“. Es bleibt unklar, ob sich dieses Zitat auf Sebastian Zöllner oder auf Manuel Kaminski bezieht. Somit wird die Parallelität der Charaktere unterstrichen. Karl Zeyringer weist indes in seiner Rezension darauf hin, dass Boswell dieses Zitat niederschrieb, nachdem Voltaire ihn hinausgeworfen hatte (vgl. Der Standard, 01.03.2003).

Episches Vorausdeuten/Foreshadowing
Sebastian Zöllner äußert bei der Ankunft an Kaminskis Haus den Gedanken: „Vor dem Garagentor parkte ein grauer BMW; ich betrachtete ihn neidisch, so einen Wagen hätte ich gern einmal gefahren“ (Ich und Kaminski, S. 19). Etwas später wird er diesen Wagen stehlen. Somit wurde die wenig bedeutungsvolle Aussage zu einer Vorausdeutung. Auch der Rat eines Anhalters, den Zöllner und Kaminski auf ihrer Reise mitnehmen, „Bedenken Sie, lieber Herr! Vorsicht ist das wichtigste. Das Übel tarnt sich als der leichtere Weg“ (ebd., S. 99f.), wird zu einer Vorausdeutung: Der Mitfahrer stiehlt in einem unbeobachteten Moment das Auto und lässt Zöllner und Kaminski im Nirgendwo zurück.

» Autor*innenstartseite

Pressespiegel zu Ich und Kaminski [ ↑ ]
Auch Ich und Kaminski wird von den Rezensent*innen ausschließlich gelobt, es wird sogar mit Superlativen überhäuft: Gustav Seibt findet, der Roman sei „perfekt gebaut“ (SZ, 17.03.2003), Peter Mohr erklärt ihn zu Kehlmanns „bisher eindrucksvollsten Roman“ (literaturkritik.de, 20.11.2003), und auch Ulrich Weinzerl hält diesen Prosaband für seinen „gelungensten“ (Die Welt, 12.04.2003). Das Spiegel-Motiv in Kaminskis letzter erfolgreichen Gemälde-Reihe „Reflexionen“ entdeckt Peter Mohr aus Kehlmanns anderen Werken wieder (vgl. literaturkritik.de, 20.11.2003). Auch Andreas Nentwich erkennt ein gewisses Muster in den Erzählungen Kehlmanns: „Immer ist es eine Obsession, die am Anfang steht, gerade ausreichend, um einen Verstand neben die Spur der alltagsempirisch gebahnten Wege zu setzen, wo schon das Grenzenlose beginnt“ (Die Zeit, 13/2003).
Vor allem wird die Gestaltung der Figur Sebastian Zöllner anerkennend hervorgehoben. So beschreibt Peter Mohr Zöllner als „Opportunist reinster Güte, ein Dummschwätzer mit schlechten Manieren, einer, der verbal auf die Pauke haut, obwohl er nicht einmal die leisen Töne der Blockflöte beherrscht“ (literaturkritik.de, 20.11.2003); diese Eigenschaften machen ihn für Mohr zum Antihelden. Klaus Zeylinger versteht ihn als „negatives Prachtexemplar“ einer Figur aus einem vor elitärer Abgehobenheit strotzenden Kunstbetrieb (Der Standard, 01.03.2003) und auch Julia Kospach gefällt der „atemberaubend unsensible und unsympathische Icherzähler“ (Berliner Zeitung, 31.03.2003). Gustav Seibt ist vor allem beeindruckt von der Beschreibung der Peinlichkeit Zöllners: Während die Leser*innen unangenehm berührt seien, bemerke der Protagonist seine Wirkung nicht. Genau vor diesem Thema aber schrecken junge Autoren meist zurück, Kehlmann wisse dies in der subjektiven Erzählperspektive als komisches Element einzusetzen (vgl. SZ, 17.03.2003).
Die Beziehung zwischen Zöllner und Kaminski wird ambivalent verstanden. Seibert erkennt ein „wechselseitig parasitäre[s] Verhältnis zwischen Meister und Kritiker“ (SZ, 17.03.2003), ebenso wie Irene Binal, die das Verhältnis als kodependente Beziehung beschreibt, eine etwas unfreiwillige Symbiose (Spiegel Online, 07.03.2003). Gleichsam erkennt sie den parallelen Aufbau der Erzählung, auf deren Höhepunkt zulaufend sich die Figuren immer ähnlicher werden; die Kunst der Erzählung liege im Blickwinkel, da die Leser*innen in der Perspektive des ahnungslosen Icherzählers feststeckten und sich so das Mysterium um Kaminski nicht auflösen könne. Die Selbsterkenntnis Zöllners am Ende der Geschichte allerdings sei nur eine angedeutete Entwicklung der Figur, glaubwürdig sei sie nicht (vgl. Berliner Zeitung, 31.03.2003). Für Volker Hage findet Zöllner letztendlich seinen Meister (vgl. Der Spiegel, 11/2003). Im Moment des Mitleids der Leser*innen mit diesem „betrogenen Betrüger“ zeigt sich für Ulrich Weinzerl die Qualität dieser Erzählung (Die Welt, 12.04.2003).
Irene Binal zitiert Kehlmann darin, dass die Figuren parallel angelegt seien; der größte Unterschied zwischen Zöllner und Kaminski bestehe in dem Umgang mit dem eigenen Ehrgeiz und der Skrupellosigkeit: Zöllner sei „charakterlich problematisch“ (Zitat Kehlmann; Spiegel Online, 07.03.2003), bei Kaminski entstehe Kunst. Andreas Nentwich jedoch versteht das Ende, die Erkenntnis Zöllners, dass er von Kaminski ausgenutzt wurde, als moralische Belehrung des bösen Charakters, und dem Rüpel Zöllner werde vom Helden Kaminski die Katharsis verpasst (vgl. Die Zeit, 13/2003).
Bei der Genrezuordnung sind sich die Journalist*innen uneinig, viele sehen die Geschichte als Kritikersatire, etwa Irene Binal: sie spricht von einer „bitterböse[n] Satire über die Sucht nach Ruhm und die Rohheit der Medien“ (Spiegel Online, 07.03.2003). Dabei fänden sich die Kunstwerke Kaminskis „nicht nur in ihrer Bedeutung behauptet, sondern tatsächlich anschaulich geschildert“, so Klaus Zeylinger (Der Standard, 01.03.2003). Gustav Seibt sieht in dem Roman ein „Kammerspiel“ (SZ, 17.03.2003), Andreas Nentwich einen „Schundroman“ im positiven Sinne, der mit erweiterter Realität spiele (Die Zeit, 13/2003). Julia Kospach hingegen lobt Kehlmanns „Realismus“ (Berliner Zeitung, 31.03.2003).
Schließlich ziehen sowohl Peter Mohr als auch Klaus Zeylinger den Vergleich zu Max Frischs Gantenbein: „der malende Gantenbein und der Felix Krull der Kunstszene wirken wie Fremdkörper an der norddeutschen Küste. Geeint sind die beiden Protagonisten in der Verliererpose, die Realität hat die Mythen eingeholt“ (literaturkritik.de, 20.11.2003; vgl. außerdem Der Standard, 01.03.2003). 

» Autor*innenstartseite

Diese sehr ernsten Scherze

» Werkverzeichnis

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Diese sehr ernsten Scherze [ ↑ ]
Am 8. und 9. November 2006 hielt Daniel Kehlmann eine Poetikvorlesungen an der Göttinger Universität, die daraufhin als Diese sehr ernsten Scherze veröffentlicht wurden. Kehlmann hinterfragt hier die Rolle des Autors. Die Vorlesung kann als Dialog oder Monolog gelesen werden, da Kehlmann ein Selbstgespräch mit einem erfundenen Interviewer führt, diese Fragen bei der Vorlesung jedoch von Heinz Ludwig Arnold lesen ließ. Die metafiktive Ebene des Textes wird deutlich: mit dem Sprechen über die Literatur und das Schreiben verschwimmen Wirklichkeit und Text. Dabei ist die Befragung durch die interviewende Figur höchst selbstironisch: sie kritisiert nicht nur das Autordasein, sondern auch Kehlmann als Autor. Immer wieder wird diese Fiktivität angesprochen, etwa wenn der Interviewer Kehlmann entgegnet: "Sie haben meine Fragen geschrieben, es ist unmöglich, daß Sie das vergessen haben. Stellen Sie sich nicht so geziert an!" (S. 12). Der Frage nach dem Sinn für das Schreiben weicht der Befragte aus. Das Schreiben stellt für ihn die Flucht des Autors in eine von ihm zurechtgelegte Welt dar. Es diene nicht mehr, wie früher, der Verbesserung der Welt. Wichtig dabei sei aber, dass die Literatur die Regeln der Wirklichkeit brechen soll. Alles sei möglich, aber auch alles sei fiktiv: das Lesen eines Romans diene nicht zum Erfassen einer vergangenen Wirklichkeit.
Im Text finden sich einige Verweise auf Texte Kehlmanns: Beerholms Vorstellung, Der fernste Ort und Die Vermessung der Welt. Den Titel der Poetikvorlesungen entnimmt er aus Goethes Faust II. „Und in seinem [Goethes] letzten Brief spricht er von „Faust II“ als „jenen sehr ernsten Scherze“. Ist das nicht schön? Eine bessere Wendung für das Wesen der Kunst wurde nie gefunden.“

» Autor*innenstartseite

Formale Aspekte zu Diese sehr ernsten Scherze [ ↑ ]

Autorinszenierung Kehlmanns und mediale Vermarktung
Daniel Kehlmann nutzt als postmoderner Autor unterschiedliche mediale Kanäle, um sowohl seine Arbeit als auch sich selbst als Person im literarischen Feld zu positionieren. Nach einer umfassenden Auswertung von Pressegesprächen kommt der Kommunikationswissenschaftler Klaus Bichler zu dem Fazit, dass Kehlmann sich selbst als bürgerlich, konservativer Autor inszeniere, welcher den Kunst- und Literaturbetrieb sowie moderne Kommunikationspraktiken autonom kritisiere (vgl. Bichler 2013, S. 95 ff.). Kehlmann unterscheidet nach eigener Aussage zwischen Literaturwissenschaft und Schriftstellertum und zählt erstere zur reinen Theorie und bezeichnet Autoren wie sich selbst als Praktiker. Im Rahmen seiner Dozentur für Weltliteratur fordert er unter anderem: „Sollen doch die Literaturwissenschaftler sich damit beschäftigen, etwas Übersehenes zu finden, der Literat aber darf sich auch einmal den Luxus erlauben, über das Beliebteste zu sprechen[.][…] Grund genug also, noch einmal, nicht als Literaturwissenschaftler, sondern als Praktiker, ein paar Anmerkungen darüber zu machen, wie dieses in jeder Hinsicht merkwürdige Buch eigentlich funktioniert “(zit. n. Barner/Blamberger 2012, S. 19-20). Kehlmann bezieht sich hier auf den Roman Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez und bekennt sich zum lateinamerikanischen, magischen Realismus. Dieser wird in zahlreichen Rezensionen und wissenschaftlichen Arbeiten als Einfluss auf Daniel Kehlmann benannt.

Metafikation
In seiner Poetikvorlesung Diese sehr ernsten Scherze stellt Kehlmann sogar offensichtlich zwei verschiedene Personen dar, sich selbst und einen fiktiven Interviewer. Ähnlich wie bei dem Verschwimmen der Wirklichkeit und Einbildung der Figuren, verwischt Kehlmann für die Leser*innen die Grenze zwischen Fiktion und Realität.
Kehlmann erklärt diese Erzählweise als gebrochenen Realismus der Gattung, da die Leser*innen ein ernsthaftes Geschichtswerk erwarten, Kehlmann aber ausdrücklich Fiktion schreibt. Kehlmann fasst dieses Prinzip in Diese sehr ernsten Scherze folgend zusammen: „Ich fand Literatur immer am faszinierendsten, wenn sie nicht die Regeln der Syntax bricht, sondern die der Wirklichkeit. [...] Also, in meinen Romanen geht es immer um das Spiel mit Wirklichkeit, das Brechen von Wirklichkeit“ (S. 16).

» Autor*innenstartseite

Pressespiegel zu Diese sehr ernsten Scherze [ ↑ ]
Die Poetikvorlesung wird in den – spärlich vorhandenen – Rezensionen durchweg positiv besprochen. Hervorgehoben wird in diesen vor allem Kehlmanns Bezugnahme zu anderen Schriftstellern. Michael Maar greift Kehlmanns Bezug auf eine frühe Erzählung Nabokovs auf, die verdeutlicht, worauf es Kehlmann in seinem Schreiben vor allem ankommt: Details. Maar lobt Kehlmanns Wissen über die Vielzahl von Autoren, von Shakespeare bis Thomas Mann. Er kommt zu dem Schluss: "Kehlmann tritt der disparaten Schar dieser Dichter mit fast demütigem Respekt gegenüber, nebst einem prall gefüllten Rucksack von Kenntnissen – bei jedem der Autoren, über die er schreibt, hat er das Gesamtwerk am Schnürchen“ (Die Zeit, 24.08.2010). Jens Dirkens erachtet darüber hinaus Kehlmanns Regellosigkeit und Kritikfähigkeit bei seinem Schreiben als lobenswert: "Er weiß keine Regeln des Schreibens, nur dass es stimmig sein muss“ (NRZ, 04.05.2007).
Michael Maar betrachtet in seiner Rezension der Poetikvorlesung sein gesamtes Werk sowie die Besonderheiten seines Schreibens und lehnt Kritik an dem Schriftsteller ab: "Denn das ist es, was Kehlmanns Werk seit seinem Erstling Beerholms Vorstellung auszeichnet: eine Klugheit, wie sie die junge deutsche Literatur nicht alle naslang aufbieten kann, eine rege, luzide Intelligenz" (Die Zeit, 24.08.2010). Martin Krumbholz erkennt insbesondere den Realismus Kehlmanns literarischer Welten an: "Der Umkehrschluss zeigt, und das weiß der formidable Daniel Kehlmann natürlich: Unsere mitteleuropäische Welt ist leider bestürzend wirklich, und damit muss man auch als Poet erst einmal zurechtkommen. Ich sage nur: Deutsche Bahn!“ (Frankfurter Rundschau, 21.03.2007).

» Autor*innenstartseite

Ruhm

» Werkverzeichnis

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Ruhm [ ↑ ]
Der Roman Ruhm besteht aus neun lose zusammenhängenden Geschichten, die Kehlmann durch das Auftauchen von Figuren in Geschichten der anderen Figuren verbindet. Das Leitmotiv Ruhm spielt in verschiedenen Facetten für alle Figuren immer wieder eine Rolle.
Stimmen
In der ersten Geschichte Stimmen erhält der Techniker Ebling, nachdem er sich ein neues Mobiltelefon gekauft hat, Anrufe die nicht für ihn, sondern für einen Mann namens Ralf bestimmt sind. Nach vielen gescheiterten Versuchen das Missverständnis aufzuklären, schlüpft er in die Rolle desjenigen, dem die Anrufe gelten. Indem er die Anrufe beantwortet nimmt er Einfluss auf das Leben von Ralf und lebt damit zwei verschiedene Identitäten – eine im realen Leben, die andere nur durch sein Mobiltelefon.
In Gefahr
Leo Richter ist Schriftsteller und mit seiner Freundin Elisabeth auf einer Lesereise in Lateinamerika. Die Beziehung der beiden ist schwierig. Er ist sehr ängstlich, empfindlich, beklagt sich viel über Kleinigkeiten und ist auf Ihre Hilfe angewiesen. Sie ist jedoch gleichzeitig auch mit dem Verschwinden von drei entführten Arbeitskollegen beschäftigt. Hier wird Leo Richter auch als Autor der Figur Lara Gaspard eingeführt, die später noch einmal zurückkommen soll.
Rosalie geht sterben
Rosalie hat Krebs im Endstadium und beschließt, die Hilfe einer Sterbehilfeeinrichtung in der Schweiz in Anspruch zu nehmen. Der Weg zum Zentrum für Sterbehilfe wird für Rosalie zum Abenteuer, bei dem ihr immer bewusster wird, dass sie noch nicht sterben möchte. An dieser Stelle findet sich ein metaleptischer Bruch, denn Rosalie fängt an, mit Leo Richter wie mit ihrem 'Schöpfer' zu reden. Sie gibt sich als literarische Figur zu erkennen und Leo Richter, Figur aus einer vorherigen Geschichte, wird als ihr Autor eingeführt. Sie kann diesen schließlich davon überzeugen, dass er, anstatt sie alt sterben zu lassen, sie wieder in ihr gesundes jüngeres Ich verwandelt. Der Leser ist in den Prozess der Entscheidung Leo Richters durch dessen Gedankenschilderung einbezogen und nimmt so am Schreibprozess teil.
Der Ausweg
Ralf Tanner ist ein berühmter Schauspieler und nimmt nach ausbleibenden Aufträgen an einem Imitationswettbewerb zu seiner eigenen Person teil. So fängt er ein neues Leben als Imitator seiner selbst an und genießt das Leben als normaler Bürger, bis schließlich ein anderer sein altes Leben komplett übernimmt und Ralf Tanner keinen Einfluss mehr auf sein altes Leben nehmen kann. Der Leser kann auf einen Zusammenhang zur ersten Geschichte schließen, in der Ebling Anrufe für einen Ralf erhält. Dieser äußerte ebenso schon den Verdacht, es könne sich um den Schauspieler Ralf Tanner handeln.
Osten
Leo Richter überredet seine Kollegin Maria Rubinstein anstelle seiner zu einer Pressereise nach Zentralasien. Die Pressereise entpuppt sich als einziges Desaster: Sie wird nicht mit den anderen Teilnehmern in einem Hotel untergebracht, sondern muss alleine in einem anderen Hotel bleiben, das gerade renoviert wird. Die Gruppe vergisst sie am Abreisetag, und so bleibt sie zurück, allein durch ihr Handy kann sie noch Kontakt zur Heimat halten – bis der Akku leer ist. Wegen einer Verwechslung auf den Papieren kann sie nicht mehr ausreisen. Um die Hoffnung in dieser scheinbar ausweglosen Situation nicht zu verlieren, plant sie, einige Jahre als Haushaltshilfe auf dem Land zu arbeiten, bis sie genug Geld hat, um die Reise nach Hause mit den damit verbundenen Behördengängen antreten zu können. Das Thema Kommunikation und die damit verbundenen Problematiken, die Kehlmann in den meisten Teilen von Ruhm einbaut, werden hier auf die Spitze getrieben. Einzig und allein Marias Handy ist eine Verbindung in die Heimat, als diese abbricht, ist sie vollkommen verloren.
Antwort an die Äbtissin
Der Weltberühmte Autor Miguel Auristos Blancos schreibt esoterische Lebenshilfe-Bücher und beantwortet einen Brief einer Äbtissin zum Thema Theodizee. Dabei realisiert er, dass er alle Ratschläge und Thesen, die er vorher in seinen erfolgreichen Büchern aufgestellt hat, widerruft und bricht. Um glaubwürdig zu bleiben, plant er, sich umzubringen. Ob er seinen Plan umsetzt, bleibt offen.
Ein Beitrag zur Debatte
Mollwitz ist ein Mitarbeiter einer Mobilfunkgesellschaft und lebt in seiner eigenen Welt. Er ist internetsüchtig und verehrt die Romanfigur Lara Gaspard. Auf einer Konferenz trifft er zufällig den Autor Leo Richter und versucht mit ihm in Kontakt zu kommen. Er möchte, dass Leo Richter über ihn schreibt, um so möglicherweise der Figur Lara Gaspard näher zu sein. Bei seinem Vortrag blamiert er sich völlig, auch vor dem im Publikum sitzenden Leo Richter, der ihn daraufhin meidet. Die Geschichte ist als Foreneintrag von Mollwitz selbst geschrieben und fällt durch schlechten Bloggerjargon auf.
Wie ich log und starb
Der Abteilungsleiter einer großen Mobilfunkgesellschaft fängt eine Affäre mit einer jungen Frau an und beginnt so ein Doppelleben neben seiner Frau und seiner Tochter. Während er mit seiner Affäre und der Vertuschung seines Doppellebens beschäftigt ist, passieren in seiner Abteilung einige Fehler wie z.B. die doppelte Vergabe von Telefonnummern, die in den Geschichten Stimmen und Der Ausweg thematisiert wurde. In der vorherigen Geschichte wurde zudem deutlich was geschah, nachdem er eine wichtige Präsentation an seinen unfähigen Mitarbeiter Mollwitz weiter delegierte, weil er selber dazu nicht in der Lage war.
In Gefahr
In der letzten Erzählung wird die Geschichte um Leo Richter und Elisabeth in Teilen weiter erzählt. Sie trägt denselben Namen und es agieren dieselben Figuren. Diesmal wird aus der Sicht Leo Richters erzählt, der seine Freundin in ein Krisengebiet in Afrika begleitet. Elisabeth merkt, dass ihre Befürchtungen aus der wahr werden, denn sie wird zu einer Figur in Leo Richters Geschichte.

» Autor*innenstartseite

Thematische Aspekte zu Ruhm [ ↑ ]

Identität und Lebensentwürfe
Eine extreme Neuorientierung erlebt der Schauspieler Ralf Tanner in Ruhm, dessen Telefonnummer versehentlich an jemand anderen vergeben wurde, sodass er keine Anrufe und somit Jobangebote bekommt, und sich daraufhin ein neues Leben aufbaut, zunächst als Ralf Tanner Imitator, später jedoch, da seine Ähnlichkeit zu sich selbst immer mehr schwindet, als ganz anderer Mensch.

Kommunikation
Kehlmann bedient sich in seinem Werk verschiedener Formen der Kommunikation. Waren es in der Vermessung der Welt noch Briefwechsel, die Einblick in die Gedanken der Figuren gegeben haben, spielt in Beerholms Vorstellung das Telefon und in Ruhm und F das Mobiltelefon eine wichtige Rolle, bei letzteren vor allem in Bezug auf die Möglichkeit eines Doppellebens. Auch stellen die Kommunikationsmittel einen Bezug zur zeitlichen Umgebung der Figuren her. Eine kritische Sichtweise kommt durch die anfängliche Skepsis gegenüber Mobiltelefonaten des Abteilungsleiters in Ruhm zum Ausdruck. Die andere Seite stellt im selben Roman Mollwitz dar, der an Internetsucht leidet und seine gesamte Kommunikation in Foren verlagert hat. In Der fernste Ort spielt das Telefon zwar nur eine kleine Rolle, es dient jedoch als Mittel zur Kommunikation zwischen zwei Welten: der Geisterwelt, in der sich Julian bewegt, und der Wirklichkeit, in der die angerufene Freundin Clara lebt: „Sein Anruf war der eines Geistes gewesen, eines der sinnlosen Zeichen, die Gestorbene durch die eben noch und bald schon nicht mehr durchlässige Grenze schicken“ (S. 111).

» Autor*innenstartseite

Formale Aspekte zu Ruhm [ ↑ ]

Episches Vorausdeuten/Foreshadowing
Die Erzählweise Kehlmanns zeichnet sich vor allem durch eine extreme Figurenökonomie aus: Taucht eine Figur in einem Teil der Erzählung auf oder wird auch nur genannt, ist es wahrscheinlich, dass sie später in der Geschichte noch einmal auftaucht, zur Handlung beiträgt oder sich sogar zum Protagonisten entwickelt. Vor allem in Ruhm ist diese Erzähltechnik ausgeprägt. Die kurze Überlegung des Protagonisten Ebling aus dem ersten Teil der Erzählung etwa, dass seine Telefonnummer, die offensichtlich einem Ralf gehört, dem Schauspieler Ralf Tanner gehört haben könne, baut Kehlmann zu einer neuen Geschichte über Ralf Tanner aus, der mit den plötzlich ausbleibenden Telefonaten konfrontiert ist. Diese Figurenökonomie breitet sich sogar über zwei Romane aus, wenn Kehlmann den Kollegen des Abteilungsleiters in Ruhm, Longrolf, in F im Beichtstuhl des Priesters Martin erscheinen lässt, wo er jedoch namenlos bleibt. Beinahe beiläufig geäußerte Bemerkungen können in den Erzählungen Kehlmanns mehr Bedeutung tragen, als sie auf den ersten Blick verraten.

Metafiktion
Generell stellt das Sprechen über Literatur und Romane in einem Roman eine metafiktive Ebene dar. Diese taucht in Kehlmanns erzählerischem Werk immer wieder auf, nicht zuletzt, da er einen Schriftsteller zur Figur in Leo Richters Porträt und Ruhm macht. Die Leser*innen werden dabei im Unklaren gelassen, wer der eigentliche Autor der Texte ist. Der Erzähler taucht in Ruhm teilweise als Autor auf und gibt sich als Leo Richter zu erkennen. Das Porträt über diesen Autor weist wiederum starke charakterliche Ähnlichkeiten mit Daniel Kehlmann selbst auf, beschrieben von Adam Soboczynzki im zweiten Teil von Leo Richters Porträt, und wird durch die parallel inszenierten Fotos und Zeichnungen der beiden Autoren im Band noch verstärkt.

» Autor*innenstartseite

Pressespiegel zu Ruhm [ ↑ ]
Ruhm, der Roman in neun Geschichten, wird von der Presse größtenteils gelobt und als würdiger Nachfolger von Die Vermessung der Welt gefeiert. Es wird immer wieder betont, wie geschickt und leichtfüßig Kehlmann die Erzählstränge miteinander verwebt und den Leser*innen dadurch die Möglichkeit gibt, immer wieder neue Gemeinsamkeiten in den einzelnen Geschichten zu entdecken. Der Vergleich mit seinem vorherigen Bestseller Die Vermessung der Welt ist allgegenwärtig und in Anbetracht von Kehlmanns Alter wird immer wieder die Anzahl seiner Veröffentlichungen hervorgehoben.
Wiebke Porombka beurteilt Ruhm in Abgrenzung zu Die Vermessung der Welt: „Es spricht für die Professionalität Kehlmanns, dass er wenige Jahre nach seinem, Entschuldigung, Megaseller ein anständig gebautes, unaufgeregtes Buch vorgelegt hat, ein spiegelglattes Designmöbelstück“ (Die Zeit, 16.01.2009). Der aus Die Vermessung der Welt bekannte Humor fehle für Porombka in Ruhm aber gänzlich und werde durch eine Mischung aus Ironie und Tragik ersetzt. Sie weist auch auf die naheliegende Deutung des Titels hin, dieser schreie „natürlich nach einer Verbindung zu Kehlmanns Erfolgen der Vergangenheit“. Einer solchen Inszenierung, wie auch die Ähnlichkeit Kehlmanns zu seiner Figur Leo Richter, steht sie in Zusammengang mit der Bitte Kehlmanns, seinen Roman als eigenständiges Werk ohne Bezugnahme auf seine Person zu werten, allerdings skeptisch gegenüber (Zeit Online, 16.01.2009).
Ina Hartwig lobt vor allem die Verknüpfungen und Gemeinsamkeiten der einzelnen Geschichten: „Die jeweiligen Verbindungen zu entschlüsseln, gehört gewiss zu den vergnüglichsten Seiten von ‚Ruhm’. Hier zeigt der Autor sich als virtuoser, amüsierter, leichthändiger Jongleur“ (Frankfurter Rundschau, 16.01.2009).
In vielen Rezensionen wird ein Vergleich zu etablierten Schriftstellern und Werken gezogen: Lothar Müller erkennt das „Dürrenmatt-Modell“, die Figuren einen realen Albtraum erleben zu lassen, wieder (SZ, 17.05.10); Gunther Nickel sieht in Ruhm eine Kritik an der „Kolonialisierung der Lebenswelt durch mediale Vermittlung“ in Verbindung mit Karl Marx’ Kritik am Kapital (literaturkritik.de, 09.04.09); Jochen Jung hingegen vergleich den Erfolg von Die Vermessung der Welt mit Klassikern wie Die Buddenbrooks, Die Blechtrommel oder Der Prozess, schließt Ruhm allerdings aus dieser Reihe aus: „In jedem Fall aber ist das Ganze eine kleine Scheherazaderie, ein hübsch gemusterter, nicht ungeschickt gewobener Teppich. Fliegen kann er allerdings nicht“ (Die Zeit, 16.01.09).

» Autor*innenstartseite

Leo Richters Porträt

» Werkverzeichnis

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Leo Richters Porträt [ ↑ ]
Das Porträt besteht aus zwei Teilen: Daniel Kehlmann verfasst ein Porträt über Leo Richter (Protagonist aus Ruhm) und Adam Soboczynski ein Porträt über Daniel Kehlmann. Kehlmann spielt so mit den Identitäten von Autor und Figur. Leo Richter, von Daniel Kehlmann porträtiert, ist eine von Kehlmann erschaffene literarische Figur. Kehlmann greift so eine fiktive Figur auf, macht intertextuelle Sprünge innerhalb seiner eigenen Werke. Er spielt mit literarischer und realer Wirklichkeit. Im zweiten Porträt, geschrieben von dem Schriftsteller Adam Soboczynski, wird er selbst, Daniel Kehlmann, zur porträtierten Figur. Kehlmann schafft so ein Wechselspiel zwischen Porträtist und Porträtiertem, macht sich selbst als Autor zur literarischen Figur. Die parallel inszenierten Fotos und die jeweilige Zeichnungen unterstützen das. Ein Foto von Kehlmann wird neben einer Zeichnung von Leo Richter abgebildet. 
Leo Richters Porträt von Daniel Kehlmann
Leo Richter ist eine Hauptfigur aus Kehlmanns Ruhm. Er wird in seinem Porträt als ängstliche Figur dargestellt. Angst hat er scheinbar auch vor der Erstellung seines Porträts. Rabenwall, der dieses anfertigen soll, macht Richter zunehmend nervös. Der Porträtist stößt während seiner Nachforschungen auf Richters Affäre in Griechenland, wo er eine Reisereportage schreiben sollte. Die darauffolgenden Nächte versucht Rabenwall Richter nachts telefonisch zu erreichen, um weitere Nachfragen zu stellen. Richter will das Porträt daraufhin absagen, der Chefredakteur der Zeitung lässt das aber nicht zu.
Daniel Kehlmanns Porträt von Adam Soboczynski
In diesem wird das Porträt an sich kritisiert: dem Porträtist komme eine Macht zu, die nicht gerechtfertigt sei. Das Porträt werde dem wirklichen Menschen nie gerecht, es sei immer nur ein Abbild. Während des Treffens von Kehlmann und seinem Porträtisten werden die bisherigen Erfolge und Misserfolge benannt. Beerholms Vorstellung hatte sich kaum verkauft, Mahlers Zeit und Der fernste Ort ebenso wenig. Kehlmanns ersten Erfolg stellte Ich und Kaminski, zwei Jahre vor der Veröffentlichung der Vermessung der Welt dar. Kehlmann wird von seinem Porträtisten als heiter und höflich beschrieben, der Erfolg habe ihn nicht verändert. Außerdem gibt Kehlmann einige biographische Daten preis: er hat über seinen Vater (Regisseur) zur Literatur gefunden.

» Autor*innenstartseite

Thematische Aspekte zu Leo Richters Porträt [ ↑ ]

Kommunikation
Die dialogische Form treibt Kehlmann in seinen Romanen auf die Spitze, wenn er seine Figuren einem regelrechten Verhör unterzieht. In Leo Richters Porträt sieht sich Leo Richter mit einer Liste aus 87 Fragen konfrontiert, die der Journalist ihm für das Porträt stellt. Diese ‚Verhöre’ dienen Kehlmann als Mittel, die Fragen nach der Identität der Figuren und den Lebensentwürfen, die sie verfolgen, weiter in den Fokus zu rücken. Die direkte Rede dabei ermöglicht einen persönlicheren Einblick in die Gedanken der Figuren ohne den Kommentar oder die Interpretation eines Erzählers, gleichzeitig werden Unterschiede offenbar und Probleme in zwischenmenschlicher Beziehung und Kommunikation deutlich.

Hunde
Neben kurzen Erwähnungen – Leo Richter hat Angst vor Hunden, Ralf Tanner musste seinen Hund wegen einer Allergie abgeben – erfüllen sie auch einen Zweck: sie beleben die Szenerie und wirken als komisches Element. Martin erinnert sich in F an seine ersten sexuellen Annäherungen mit einem Mädchen, die von der unerwarteten Rückkehr der Eltern und des Familienhundes unterbrochen wurden: „Die Tür öffnete sich, und ihr Vater kam herein, gefolgt von ihrer Mutter und ihrer Schwester, gefolgt von einem Dackel, gefolgt von meiner Mutter. Keiner sagte ein Wort. Schweigend sahen sie zu, wie ich Unterhose und Hose anzog und den Gürtel schloss. Der Hund grunzte, legte sich auf den Teppich, streckte die Beine in die Luft und wartete darauf, dass jemand ihn kraulen würde“ (F, S. 73).

» Autor*innenstartseite

Pressespiegel zu Leo Richters Porträt [ ↑ ]
Leo Richters Porträt wird in der Presse wenig, dafür aber ausschließlich positiv besprochen. Anne Meyer-Gatermann greift im Titel ihrer Rezension Immer diese Journalisten den von ihr gelobten „feinen Humor“ Kehlmanns gegenüber dem Autorenporträt auf. Sie vergleicht die Bearbeitung des Bildnis-Motivs, das Beeinflussen einer Persönlichkeit durch die Abbildung, mit Max Frisch und sieht den Höhepunkt der Erzählung und des Gefühls des Ausgeliefertseins „als Richter selbst nicht mehr zu wissen scheint, wer er eigentlich ist“ (news.de, 03.12.2009). Meyer-Gatermann lobt die Verwirrung um Identität und Darstellung durch das Nebeneinanderstellen des Figurenporträts mit dem seines Autors: "Ein großartiger Kniff ist, dass der Kurzgeschichte in dem schlanken Buch ein Porträt hinterhergeschickt ist, das Adam Soboczynski, Redakteur beim Zeit-Magazin, über Daniel Kehlmann geschrieben hat. Dadurch ergeben sich schöne Anknüpfungspunkte" (news.de, 03.12.2009).
Uwe Wittstock bewundert das „Verwirrspiel des Romans ‚Ruhm’ [welches] noch um eine weitere Fiktionsebene erweitert“ wurde, neben dem „schönen und ausführlichen Porträt über den Schriftsteller Daniel Kehlmann, geschrieben von Adam Soboczynski“ (Die Welt, 20.03.2010).

» Autor*innenstartseite

F

» Werkverzeichnis

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu F [ ↑ ] 
Im Roman F steht die Reflexion über die eigenen Identität und das Auseinandersetzen mit dem Schicksal im Vordergrund. Kehlmann beschreibt anhand von vier Figuren den verschiedenen Umgang mit Freiheit und Fatum und durchbricht dabei immer wieder die Ebene der rein fiktiven Erzählung, indem er den Roman als Fiktion begreifbar macht, durch Ansprache des Lesers und Thematisierung von Literatur und Autorschaft, und weitet diese Reflexionen auf die Realität der Leser*innen aus.
Arthur Friedland verlässt plötzlich nach dem Besuch einer Vorstellung des Großen Lindemann, einem Hypnotiseur, seine drei Söhne und seine Frau und beginnt ein neues Leben als erfolgreicher Schriftsteller. Soviel erfahren die Leser*innen im Prolog des Romans von einem heterodiegetischen Erzähler. In den nachfolgenden drei Kapiteln schildern jeweils die drei Söhne aus der eigenen Perspektive die Geschehnisse weniger Tage in ihrem Erwachsenenleben.
Martin, Arthurs Sohn aus erster Ehe, wird Priester, obwohl er nicht an Gott glaubt. Seine Gedanken sind geprägt von Essen, dem Planen von Mahlzeiten, sowie der Rechtfertigung seiner Essgewohnheiten. Sein Übergewicht stellt er auch als Beweggrund für die Priesterkarriere vor, den Aufgaben, zu denen auch die Beantwortung von Glaubensfragen gehört, sieht er sich allerdings wenig gewachsen: „Sechzehn Semester, zwei davon auf der Gregoriana in Rom, aber das wäre mir nicht eingefallen.“ (S. 63) kommentiert er etwa eine Äußerung der Putzkraft des Klosters. An seiner Figur wird die Auseinandersetzung mit einem in der heutigen Gesellschaft als Ideal verstandenen Männlichkeitsbegriff besonders deutlich; Martin entspricht diesem Typ nicht, er ist weder athletisch, noch in anderer Weise attraktiv und rechtfertigt sich dafür häufig, doch gerade in seinen bewussten Entscheidungen gegen dieses Ideal, etwa die enge Beziehung zu seiner Mutter, zeigen sich glückliche Momente seines ansonsten unglücklichen Lebens.
Mit der Figur Eric bringt Kehlmann eine besondere Innenansicht in die Erzählung ein: Der Anlageberater ist paranoid und kann nur schlecht zwischen Einbildung und Wirklichkeit unterscheiden, was auch die Leser*innen vor ein ständiges Rätsel stellt, sind doch als einzige Anhaltspunkte Erics eigene Äußerungen gegeben. Verstärkt werden seine Rastlosigkeit und der Verfolgungswahn einerseits durch seine Affäre mit einer anderen Frau, andererseits durch sein noch unentdeckt gebliebenes Versagen im Beruf, er hat das gesamte Geld seiner Kunden verloren.
Mit Iwan lebt auch der dritte Bruder ein auf einer Lüge basierendes Leben: Er ist Kunstfälscher. Zusammen mit seinem Lebensgefährten Heinrich Eulenböck, über dessen Werk Iwan eigentlich seine Dissertation zur Mittelmäßigkeit in der Kunst schreiben wollte, heckt er den Plan aus, Eulenböck als Maler neu zu erfinden. Iwan malt also opportunistische Kunst, Heinrich mimt dazu den passenden exzentrischen Charakter. Doch sie decken den Schwindel, wie zuerst geplant, nie auf und noch nach Heinrichs Tod produziert Iwan weiter Bilder und lebt von den Einnahmen als Nachlassverwalter. Als er an einem Tag sein Studio verlässt, gerät er in einen Konflikt zwischen Jugendlichen und wird niedergestochen. Die Täter erkennen die Leser*innen aus den vorherigen Erzählungen, sie tauchen in der Katholischen Jugendgruppe Martins und vor einem HotDog-Stand, an dem Eric vorbeiging, auf. Der T-Shirt-Aufdruck „bubbletea is not a drink I like“ (vgl. S. 128, 206 u. 303) wird immer wieder genannt. Da sich Iwan schwer verletzt in sein Atelier flüchtet, kann ihn niemand finden.
Martin und Iwan werden während ihrer Handlung vom Vater Arthur besucht, der, obwohl er seine Söhne so lange nicht gesehen hat, sie sehr gut versteht und ihre Lügen sofort durchschaut. Arthur Friedland tritt als Vermittler zwischen Figuren und Leser*innen auf, indem er die Söhne mit einer anderen Perspektive konfrontiert, einerseits im Gespräch, andererseits durch seinen eigenen Lebenswandel. Die Parallele der Reflexion über Autorschaft zu Leo Richter in Ruhm legt nahe, dass Friedland nicht nur der Autor des Geschichte in der Geschichte Familie ist, sondern auch des ganzen Romans F. Außerdem wird die Themenwelt Entscheidungen und Glück im eigenen Leben als zentral für einen Roman Friedlands An der Mündung des Flusses beschrieben. Das Leben des Protagonisten wird in zwei Varianten erzählt, je nachdem wie er sich in verschiedenen Situationen entschieden hat. Die zentrale Entscheidung, seine Familie zu verlassen und ein Leben als Autor zu beginnen, im Prolog von F dargestellt, rückt hierdurch in einen neuen Zusammenhang: Friedland schildert als Autor von F sein Leben ausgehend von dieser einen Entscheidung als Variante zu seinem wirklichen Leben. Eine metafiktive Auseinandersetzung mit der Geschichte ist also an jeder Stelle des Textes notwendig.
Der letzte Teil, wiederum aufgeteilt in drei Kapitel, setzt vier Jahre nach Iwans Verschwinden ein. Ein extradiegetischer Erzähler berichtet von Marie, Erics Tochter, die mit ihren Freunden über die offengebliebenen Handlungsstränge sinniert oder diese in Begegnungen mit anderen Figuren verknüpft. Ihr Großvater Arthur Friedland nimmt mit ihr Kontakt auf, trifft bei einem gemeinsamen Jahrmarktbesuch auf den Hypnotiseur Lindemann, der mittlerweile als schlechter Wahrsager arbeitet. Ihr Vater Eric spricht immer wieder davon, wie die Wirtschaftskrise, die niemand vorhergesehen habe, ihn gerettet habe, und Iwan wird nun für tot erklärt. In einem Gespräch mit ihrem Vater wird die Rolle Maries im Roman klar: „Wir waren Zwillinge. Das verstehst du nicht. Ich bin nicht nur ich, und er ist ... war nicht nur er. In gewisser Weise waren wir immer eine Person“ (S. 368). Sie vereinigt in ihrer Figur Charakterzüge sowohl ihres Vaters, denn sie beginnt, sich Menschen und Dinge einzubilden, als auch seines Zwillingsbruders, so hat sie heimlich angefangen zu zeichnen­ und stellt damit diese eine Person dar, die Iwan und Eric als Doppelgänger verkörpert haben.
Für die Deutung des Titels F legt Kehlmann einige Spuren: der Nachnamen der Protagonisten Friedland, der Roman im Roman Familie, der allumfassenden Lebensentwurf Fälschung und das vorherbestimmte Fatum.

» Autor*innenstartseite

Thematische Aspekte zu F [ ↑ ]

Identität und Lebensentwürfe
Das Auseinandersetzen mit den Themenfeldern Identität und Lebensentwürfe stellt sich in Kehlmanns Textwelten auf zwei verschiedene Weisen dar: einerseits werden Lebensentwürfe starr verfolgt, auch wenn die Figuren ambivalente Gefühle und Gedanken zu diesen äußern; andererseits gibt es einen plötzlichen Aufbruch in ein neues Leben. Den meisten Figuren in Kehlmanns Texten ist eine unglückliche Ausgangssituation gemeinsam, sei es eine unheilbare Krankheit, ein Theologiestudium, welches sich als falsch für die Person erweist oder kein Erfolg im Beruf, ihnen allen ist die Mittelmäßigkeit eines Bürgers der Mittelschicht anzumerken. Kehlmann zeigt verschiedene Varianten der Bewältigung dieses Unglücks, Flucht aus dem Alltag, Leben in einer Lüge oder ein heimliches Doppelleben und stellt diese in Zusammenhang mit Schicksal und freier Gestaltung des eigenen Lebens.
Am deutlichsten zeigt Kehlmann diesen Kontrast im Roman F. Der Vater Arthur Friedland verlässt plötzlich seine Familie, um Schriftsteller zu werden, ausgelöst durch ein Gespräch mit einem Hypnotiseur, während seine Söhne in Leben verharren, die sie auf die eine oder andere Weise unglücklich machen. Kehlmann bietet also zwei Arten des Umgangs mit einem unglücklichen Leben an: Flucht oder Verharren. Die Flucht und den darauf folgenden Neuanfang bewertet er durch Erfolg und Glück der Figur positiv, das Verharren in einem unglücklichen Leben schildern die Figuren aus ihrer Perspektive negativ. Zugleich wird in diesem Roman das Problem der Identität bei dem Zwillingspaar Eric und Iwan aufgezeigt, die sich manchmal selbst nicht voneinander unterscheiden können und deren Gespräche miteinander sich für beide anfühlen wie Selbstgespräche (vgl. F, S. 208). Dieses Doppelgänger-Motiv zeigt sich im Roman auch an der Figur Martin, der sich nach einem Beinahe-Unfall kurzzeitig verdoppelt, in Überlebenden und Überfahrenen. In Ruhm ergreift die Figur Ebling die einmalige Gelegenheit, sich als Ralf auszugeben und fängt ein geheimes zweites Leben parallel zu seinem eigentlichen an. Die Figur des Abteilungsleiters führt sogar ein Doppelleben mit zwei verschiedenen Frauen, er erklärt diese als „Verdopplung des Lebens“ (S. 183). Und auch in der Vermessung der Welt fasst Humboldt den Entschluss, sich auf eine gefährliche Reise zu begeben, diesmal allerdings, um genau den Erwartungen seiner Erziehung zu entsprechen. Ebenso bietet Kehlmann eine Identität in Zusammenhang mit Religion an: In F steht der Priester Martin auf der einen Seite, jemand, der den Lebensentwurf des Priesters vollkommen erfüllt, ohne an Gott zu glauben, und auf der anderen Seite Arthur Friedland, sein Vater und auch seine Söhne Eric und Iwan, die mit dem Judentum, dem sie eigentlich angehören, nichts anzufangen wissen. Die Identifikation mit einer Religion und der gleichzeitig damit verbundenen Kultur bietet Kehlmann als Lebensentwurf an, lässt seine Figuren diesen jedoch nicht oder nur unglücklich leben.

Kommunikation
Kehlmann bedient sich in seinem Werk verschiedener Formen der Kommunikation. Waren es in der Vermessung der Welt noch Briefwechsel, die Einblick in die Gedanken der Figuren gegeben haben, spielt in Beerholms Vorstellung das Telefon und in Ruhm und F das Mobiltelefon eine wichtige Rolle, bei letzteren vor allem in Bezug auf die Möglichkeit eines Doppellebens. Auch stellen die Kommunikationsmittel einen Bezug zur zeitlichen Umgebung der Figuren her. Eine kritische Sichtweise kommt durch die Eric Friedland in F hinzu, der an einer Art Verfolgungswahn vor Überwachung durch Kameras und dem Abhören seiner Telefonate leidet. Die dialogische Form treibt Kehlmann in seinen Romanen auf die Spitze, wenn er seine Figuren einem regelrechten Verhör unterzieht. In F beispielsweise treibt das Gespräch mit dem Hypnotiseur Lindemann Arthur Friedland dazu, sein ganzes Leben zu hinterfragen.

Männlichkeit
Die Identitätsproblematik Männlichkeit findet sich in Kehlmanns Textwelten immer wieder. Die Protagonisten, fast alle Männer, reflektieren über ‚typische Männlichkeit’ und die eigenen Entsprechung dazu meist in Form von Rechtfertigungen.
Das Verhältnis zur Mutter stellt einen Aspekt dar: Im Roman F wächst Martin als Einzelkind bei seiner alleinerziehenden Mutter auf. Auch als Erwachsener besucht er seine Mutter täglich und beschreibt die Stunden als „friedlich und hell, sie sind die schönsten des Tages“ (S. 117). Der positive Bezug des Protagonisten trotz des Wissens um seine kontroverse Wirkung (er bemerkt den abfälligen Blick seines Bruders Eric) greift die Tendenz Kehlmanns, alternative und individualistische Handlungsweisen als bessere Alternative zu einem konformen aber unglücklichen Leben herauszustellen. Der Mathematiker Gauß in Die Vermessung der Welt ist ebenfalls eng mit seiner Mutter verbunden und bereut nach ihrem Tod, nicht mehr Zeit mit ihr verbracht haben zu können.

Wirklichkeit und Einbildung/Wahrnehmung
In seinen Texten bedient Kehlmann sich verschiedener Formen von Wahrnehmung und Wahrnehmungsverlusten. So tauchen als Motiv Geister in F und Die Vermessung der Welt auf und lassen für die Figuren Wirklichkeit und Einbildung verschwimmen. Die Ursache dazu liegt entweder in der Krankheit einer Figur oder aber dem Einfluss von Drogen und anderen bewusstseinsverändernden Substanzen.

Spiegel und Spiegelungen
Die Figuren Kehlmanns begegnen häufig ihren Spiegelbildern; das kann verschiedene Wirkungen haben. Der übergewichtige Martin in F nutzt diese etwa Betrachtung zu Reflexionen über sein Äußeres: „Oft hatte ich vor dem Spiegel gestanden und mich mit kühler Wut vergewissert, dass ich nicht schlecht aussah“ (S. 65).

» Autor*innenstartseite

Formale Aspekte zu F [ ↑ ]

Metafikation
Eine spezielle Form der Metafiktion verwendet Kehlmann mit Metalepsen: Er durchbricht die aus dem Kino bekannte vierte Wand zum Leser, lässt die Grenzen von Text und Wirklichkeit des realen Lesers verschwimmen. In F wird der Plot des Romans Mein Name ist Niemand von Arthur Friedland erklärt, das Zitat „du, jawohl du, und das ist keine rhetorische Wendung, dass also du nicht existierst. Du meinst, du liest das hier? Selbstverständlich meinst du das. Aber das hier liest keiner“ (S. 87), spricht so die Leser*innen von F an, die sich im gleichen Zuge über die Realität der Figuren im Buch und der eigenen auseinandersetzen. Der Erzähler erklärt, diese Erkenntnis sei reine Mathematik: „Die Welt ist nicht so, wie sie aussieht. Es gibt keine Farben, sondern Wellenlängen, es gibt keine Töne, sondern schwingende Luft, es gibt eigentlich auch keine Luft, sondern verkettete Atome im Raum, wobei ‚Atome' ja auch nur ein Wort ist für Energieverschlingungen ohne Form und festen Ort, und was ist überhaupt Energie?“ (S. 87). Die Theorie des Physikers Mahler in Mahlers Zeit über die Zeit, die es eigentlich nicht gebe und von ihm durch seine Erkenntnis überwunden werden könne, regt in gleicher Weise die Leser*innen zu eigenen Überlegungen an.

Wechsel der Erzählperspektive und verwobene Handlungsstränge
Nicht nur der Wechsel der Erzählperspektiven, auch die unterbrochene Chronologie in den Erzählungen ist für Kehlmanns Werk charakteristisch. Baut er die Schilderung der Erlebnisse von Humboldt und Gauß in Die Vermessung der Welt noch parallel auf den Klimax des gemeinsamen Zusammentreffens auf, wird die Erzählung über die drei Brüder in F schon komplexer, die zudem von einem Roman im Roman unterbrochen wird. Der Wechsel zwischen heterodiegetischem und homodiegetischem Erzähler, sogar des Erzählmediums in Ruhm, einem Blogeintrag von Mollwitz, prägt diesen Erzählstil. Dabei benutzt er wiederkehrende Personen oder Gegenstände, um die Erzählstränge zusammenzuhalten. Dieses Phänomen verwendet Kehlmann auch Romanübergreifend, so hat beispielsweise der Protagonist aus Beerholms Vorstellung einen Cameoauftritt in F: "Er hieß Arthur wie mein Vater und beherrschte Kartentricks, wie ich sie noch nie gesehen hatte." (S. 104). Ebenfalls begegnet der Kunstkritiker Sebastian Zöllner, Protagonist in Ich und Kaminski, Iwan als alter Bekannter bei einer Zugfahrt. Vermutlich ist dies ein früherer Sebastian Zöllner als in Ich und Kaminski – er schreibt gerade eine Kritik für die Abendnachrichten –, da er am Ende von Ich und Kaminski sein Leben als Kunstkritiker hinter sich lässt und von seinem vermeintlichen Erfolg, einer Biografie über Manuel Kaminski und der ewigen Konkurrenz zu seinem Kollegen Hans Bahring, ablässt. Auch Leo Richter in Leo Richters Porträt schreibt eine Reisereportage für die Abendnachrichten, Kehlmann macht diese Zeitung zu einem übergreifenden Medium in seinem Erzähluniversum.

» Autor*innenstartseite

Pressespiegel zu F [ ↑ ]
Der Familienroman F wird weitgehend positiv besprochen, in vielen Fällen sogar überschwänglich gelobt. Keine Rezension kommt jedoch ohne einen Verweis auf Kehlmanns erfolgreichsten Roman Die Vermessung der Welt aus, welcher immer wieder als Messlatte angelegt wird. Im Mittelpunkt stehen Kehlmanns Erzähltechnik, das Spiel mit Metaebenen und Vorausdeutungen und die von einer Vaterfigur ausgehende Handlung.
Besonders der zynische Humor, der eine subtile Gesellschaftskritik möglich mache, verleihe Kehlmanns Roman ein spannendes Grundgerüst. Richard Kämmerlings sieht diese Kombination als besonders herausragend: „Es ist beeindruckend, wie ‚F’ mit jeder Veränderung der Perspektive an Rasanz und Dichte gewinnt. So nah kamen sich philosophischer Roman und Pageturner noch nie“ (Die Welt, 28.08.2013).
Die Parallelen zu anderen Werken der deutschsprachigen Literatur seien signifikant, die Namensverwandtschaft mit Schillers Wallenstein, eigentlich Herzog von Friedland, sei nicht zufällig (Die Welt, 28.08.2013). Judith von Sternburg beschreibt den Anfang der Geschichte als Anfang einer Novelle, die in ihrem „wahrlich zum Klassiker aufstrebenden Eröffnungssatz“ (Frankfurter Rundschau, 30.08.2013) deutlich an Thomas Manns Mario und der Zauberer angelehnt sei.
Adam Soboczynski, der auch das Porträt über Daniel Kehlmann in Leo Richters Porträt geschrieben hat, beginnt seine Rezension erneut mit einem Porträt, um dann Kehlmanns „Familienroman ohne Vater“ (Die Zeit, 23.08.2013), den „negative[n] Bildungsroman“ im Kontext der Motive Schicksal und Wahrnehmungsveränderung zu loben. Entstanden sei ein „großartiges Spiegelkabinett der Ich- und Sinnsuche“, lobt auch Jens Dirksen (Der Westen, 29.08.2013).
F wird außerdem international besprochen, Joseph Salvator lobt die Übersetzung von Carol Brown Janeway in der New York Times als „subtly yet masterly constructed puzzle cube of a new novel“ (New York Times, 31.10.2014), dessen verwobene Handlungsstränge den Charme des Textes ausmachen („three elegantly intertwined chapters“, ebd.).
Kristina Maidt-Zinke lässt auch Kritik an dem „komplexen Familien- Illusions- und Schicksalsroman“ anklingen und resümiert: „Dass die Doppelbödigkeit dennoch konstruiert wirkt und flach bleibt, könnte daran liegen, dass die F-Frage ihn [Kehlmann, Anm. d. Verf.] nicht wirklich beschäftigt, weil für ihn die Welt längst vermessen ist. Die magische Täuschungskraft der Literatur funktioniert anders. Aber auch Taschenspielertricks haben ihren Reiz“ (Süddeutsche Zeitung, 01.09.2013). Einzig und allein die Rezension von Sebastian Hallekehle fällt durchweg negativ aus. Unter dem Titel F wie Firlefanz kritisiert er die Einfallslosigkeit Kehlmanns, Nachrichten als Inspiration für seine Geschichten zu verwenden (beispielsweise die Anspielungen auf den Tod Dominik Brunners und die Finanzkrise 2008), und beschreibt die Handlung als „erzählerische Zirkustricks“ ohne Inhalt (Spiegel, 29.08.2013). Stefan Höppner hingegen erkennt „bewusst gesetzten Leerstellen“ im Text, die diesen „unbedingt lesenswert“ machen (literaturkritk.de, 08.10.2013). Andreas Breitenstein sieht Kehlmann sogar auf Augenhöhe mit alten und neuen Meistern (etwa Flaubert und Nabokov), mit seinem Konzept aus Radikalität als Form und Intelligenz als Programm habe er sich seinen Platz als „Jungstar in den hohen Kreisen der Weltliteratur“ gesichert (Neue Züricher Zeitung, 07.09.2013).

» Autor*innenstartseite