Charakteristika des Werks

Olgas Raum

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Thematische Aspekte zu Olgas Raum [ ↑ ]

Dramatisierung politischer Persönlichkeiten ohne Dokumentarismus
In ihrer dramatischen Frühphase weist Dea Loher mit ihrem ersten Stück Olgas Raum (1992) und ihrem dritten Stück Leviathan (1993) ein ausgeprägtes Interesse an sehr unterschiedlichen weiblichen Persönlichkeiten innerhalb zentraler Ereignisse der deutschen Geschichte auf. Trotz der zeitlichen Distanz zeigt sich auch hier, dass ihr Interesse Figuren verhältnismäßig ‚naher‘ Geschichte gilt: Frauen des 20. Jahrhunderts. So beruht Olgas Raum auf der Biografie der deutsch-jüdischen Kommunistin Olga Benario, auf die Loher während eines längeren Brasilienaufenthalts aufmerksam wurde. Das Stück selbst handelt von Olgas jahrelanger Haft in Brasilien und Deutschland, die mit ihrer Ermordung in der nationalsozialistischen Tötungsanstalt Bernburg Anfang der 1940er Jahre endet. Dea Loher rückt in ihrem Text insbesondere die Spannung von Erinnern und Foltern in den Vordergrund.

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Formale Aspekte zu Olgas Raum [ ↑ ]

‚Kühle‘ Sprache ohne Psychologisierung
Im Allgemeinen lässt sich die Dramen- und auch Prosasprache Dea Lohers als ‚kühl‘ und lakonisch, die – ganz im Sinne der lyrisch anmutenden Optik vieler Stücke – sehr künstlerisch verdichtet erscheint. Charakteristisch für die Figurenrede der Loher‘schen Dramen ist außerdem, dass sie sich einer Psychologisierung gegenüber stets verweigern. Als Loher während eines Interviews darauf angesprochen wurde, antwortete sie: „Interessant ist ja nicht, wenn einer Amok läuft, weil er als Kind geschlagen wurde und damit nicht fertig wird, sondern wenn er Amok läuft, obwohl es ihm ganz hervorragend geht oder weil er es ganz einfach wissen will“ (Kuhn im Gespräch mit Loher 1998, 18-22, hier: 21).

Versartige Textanordnung und rhythmisches Sprechen
Eine zentrale Eigenart von Lohers sprachlicher Gestaltung sticht dem Leser ihrer Stücke ins Auge, sobald er den Dramentext an einer beliebigen Stelle aufblättert. Nicht in allen Veröffentlichungen (z.B. Olgas Raum, Blaubart – Hoffnung der Frauen, Manhattan Medea wurden konventionell gesetzt), aber bei vielen ihrer Stücke sind die einzelnen Sprechpassagen der Figuren nicht in gewöhnlichen Sätzen abgedruckt. Vielmehr erinnert deren Satzspiegel optisch sehr stark an Lyrik, da der Text in Form freier Verse angeordnet ist. In der Umsetzung auf der Bühne wird dadurch die ursprüngliche syntaktische Struktur des Textes durchbrochen, sodass die konventionelle Satzmelodie außer Kraft gesetzt wird. Den Schauspielern wird durch diese Zerstückelung in einzelne Textteile somit ein äußerst rhythmisches Sprechen vorgegeben, das je nach Verteilung der einzelnen Satzbestandteile ganz unterschiedliche Wirkungen hervorrufen kann. Neben unterschiedlichen sinnmodifizierenden Möglichkeiten kann diese Art des Sprechens, besonders im Hinblick auf Wiederholungen, ganz grundlegend Ausdruck der Sprachlosigkeit und der Überforderung der Figuren sein, sich zu artikulieren. In der radikalsten Ausprägung dieser Versanordnung verwendet Loher, mit Ausnahme der kursiv gesetzten Regieanweisungen, die sie mit einem Punkt versieht, keinerlei Interpunktion. Zwischen den Extremen eines völlig konventionellen Textabdrucks (Beispiel Olgas Raum) und einer auf Interpunktion verzichtenden Versform (Beispiel Am Schwarzen See) gibt es verschiedene Abstufungen, deren Prinzipien mitunter kaum zu durchschauen sind (Beispiel Manhattan Medea). Hinzu kommt, dass viele der untereinander angeordneten Verse und Versfragmente auch hintereinander zusammengesetzt keine normsprachliche, geschlossene, syntaktische Einheit bilden, da Dea Loher diese sehr oft durchbricht. Gründe für diese Durchbrechung können in der Annäherung an eine umgangs- und alltagssprachliche Sprachverwendung liegen. In besonders ausgeprägten Passagen bewirkt dieser Umgang mit Sprache jedoch gerade die Künstlichkeit, die den antinaturalistischen und antimimetischen Anspruch ausweist.

Beispiel: Auszug aus Am Schwarzen See (S.10)

JOHNNY Zu viert

ELSE Und wir sind sehr höflich

     Johnny und ich sind

     extra gut angezogen und höflich

Pause.

     Davor hab ich gedacht

     sehr steif wird das sicher werden

     oder so gezwungen heiter

     Ich sage Johnny sage ich

     lass und das kurz machen

     bitte

Alle vier lachen ein bisschen, angestrengt.

[…]

Beispiel: Auszug aus Tätowierung (S.125)

[…]

OFEN-WOLF Ist das der Blumen-Heini

     Was

     Hat mir der diesen Giftstaub

     ins Haus geschickt

     Blumenausdünstung

     faulige       

     wochenlang

     und kommt mir jetzt

     mit Familienverhetzung

     Was

PAUL Statt sie schützend über

     ein Kinderleben zu halten

     was einem anvertraut ist

[…]

Kontrastierung der Dialog- mit Monologpassagen
Im häufigen Einsatz von Figurenmonologen lässt sich eine weitere essentielle Charakteristik konstatieren. Schon in ihrem ersten Stück Olgas Raum greift Dea Loher darauf zurück. Die sich in vielen der nachfolgenden Stücken fortsetzende Kombination aus Dialogen und Monologen ermöglicht eine Erweiterung der Perspektiven, die das Stück auf die jeweiligen Figuren wirft. Zum einen sind hohe Monologanteile mit einer gewissen Künstlichkeit verbunden, wodurch Distanz zur Illusion des Bühnengeschehens entsteht. Darüber hinaus leistet diese Technik des Perspektivwechsels aber auch ihren Beitrag zu Lohers Verweigerung gegenüber leichtfertigen Schwarz-Weiß-Darstellungen innerhalb der Figurenkonstellation.

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Pressespiegel zu Olgas Raum [ ↑ ]
Die Uraufführung von Dea Lohers erstem Stück, Olgas Raum, wird positiv, aber dennoch verhalten aufgenommen. Brita Janssen von der Westfälischen Rundschau (10.8.1992) spricht von einem formal straffen Aufbau des schwierigen Themas durch Loher, das von Yves Jansen dicht in Szene gesetzt worden sei. Im Handelsblatt (14./15.08.1992) erkennt Hans Berndt Lohers Absicht, „eine zwielichtige Frauengestalt des 20. Jahrhunderts der Vergessenheit zu entreißen“ und lobt insbesondere die straffe Regie Jansens, welche die undeutlichen Grenzen von Täter und Opfer überzeugend herausarbeite. Ihre Sprache, „in der Poesie und akademischer Ausdruck sich mischen“, sei dagegen nicht immer passend. Werner Schulze-Reimpell schreibt im General-Anzeiger (24.08.1992), dass die „überzeugende Aufführung“ dem Zuschauer durch die dargestellte Brutalität des Regimes einiges zumute. Er entnimmt dem Text einen aktuellen Bezug, der „auf jüngste Erfahrungen mit Folterregimen in Lateinamerika“ verweise, wodurch zwei thematische Bezüge gelungen verwoben seien. Der Regisseur habe dem eher konventionell gearteten Stück „mit Hilfe seines Bühnenbildners Reinhard Wolff eine geschickte Überhöhung“ gegeben.
Als Andreas Kriegenburg Olgas Raum 1998 in Hannover inszeniert, halten viele Kritiker seine Umsetzung für eine dem Text nicht gerecht werdende Interpretation. Petra Kohse nennt die Inszenierung in der Tageszeitung (03.03.1998) eine „B-Produktion“, in der es „zu vielen mühsam technischen Szenen“ gekommen sei. Ludwig Zerull vom Tagesspiegel (04.03.1998) bemängelt insbesondere Kriegenburgs konsequente Ignoranz gegenüber dem historischen Hintergrund des Stücks. Er verschweige den Text geradezu, wodurch das Stück zur Dauervorführung der Folter der Frau durch den Mann verkommen sei. In der Berliner Zeitung  (03.03.1998) geht Andreas Schäfer so weit zu behaupten, dass die enge Zusammenarbeit von Loher und Kriegenburg nichts als ein einziger, großer Fehler sei. Dabei wirft er der Autorin Oberflächlichkeit in der Gestaltung ihrer Figuren vor: „Das Problem des Stückes ist, daß es gewissermaßen vor sich selbst zurückschreckt, denn das Thema schreit nach Psychologie, aber ins Psychologische, in die Eingeweide und in den Morast der Figuren will und traut sich die Autorin nicht hinein“. Kriegenburg seinerseits, so Schäfer, gelinge es in seiner Inszenierung nicht, den Text zu retten: „Anstatt gegen die läppische Metaebene des Stücks anzuarbeiten, bleibt Kriegenburg auf ihr sitzen und macht das Stück schwächer als es ist. Anstatt sich zu konzentrieren auf die feinen Machtverstrickungen, vertändelt er das Thema in einem panoramaartigen Effektehagel“. Eine Ausnahme innerhalb dieser negativen Stimmen bildet Ralph Hammerthaler von der SZ (03.03.1998): „Kriegenburg sucht immer das Tier, die Triebe im Menschen, er spielt mit Lauten und Bewegungen, doch noch nie war das Ergebnis so konzentriert“.

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Forschungsspiegel zu Olgas Raum [ ↑ ]
Birgit Haas liest Olgas Raum insbesondere vor dem Hintergrund des epischen Theaters, in dessen Tradition Lohers Stück stehe. Darunter versteht sie jedoch keineswegs die bloße Adaption brechtscher Verfremdungstechniken und -effekte, sondern eine Annäherung und zugleich bewusste Abgrenzung gegenüber Brechts epischem Theater. Haas misst in ihrer Untersuchung vor allem dem Moment der Erinnerung eine essentielle Bedeutung in Olgas Raum bei: Die Bühne werde zum „Gedächtnisraum“ (Haas, 2006, 95). Protagonistin Olga erinnere in Form des dramatischen Erinnerns an ihre Geschichte, wodurch Loher eine Gegengeschichte zur offiziellen Geschichtsschreibung liefere und derjenigen eine Stimme verleihe, die eigentlich als Besiegte keine besitze (Vgl. Haas, 2006, 96-98). Dabei bewege Olga sich nicht nur in der Opferrolle, sondern stehe durch Reflexion und Kommentierung „zugleich über und ‚neben‘ dem Schicksal, das ihr widerfährt“ (Haas, 2006, 96). „In einer brechtschen Verdopplung tritt Olga zum einen als Olga, zum anderen als Olga-Figur auf, sie wechselt ständig zwischen beiden Spielebenen. Der drohende Bewusstseinsverlust Olgas wird vom Publikum als geistiger Tod miterlebt, zugleich aber durch die Selbstreflexivität in eine kritische Distanz gerückt.“ (Haas, 2006, 98 f.). Nach Brechts Verständnis der Historisierung seien somit die historischen Fakten sowohl als gegenwärtig als auch als vergangen dargestellt. „Trotzdem vermeidet Loher jeglichen Realismus: Die episodische Szenenfolge, die V-Effekte, die Monologe und Selbstbespiegelungen zerstören die Bühnenillusion und präsentieren das Geschehen aus einer ästhetischen Distanz.“ (Haas, 2006, 96). Die Entscheidung Lohers, den Ausgang bereits im ersten Monolog vorwegzunehmen, lenke die Aufmerksamkeit des Zuschauers ganz im Sinne von Brechts Dramatik ausschließlich auf das ‚wie‘, auf die bevorstehende Entwicklung (Vgl. Haas, 2006, 96).
Formal sieht Haas in der Szenenbenennung die Spiegelung der zunehmenden geistigen Verwirrung Olgas. Während die Szenen des Stücks zunächst konsequent Zusätze wie Inventio, Accusatio und Negatio tragen, werde die festgefügte Struktur im Fortgang absichtlich durchbrochen, womit „nicht der kunstvolle Aufbau einer rhetorisch durchgestalteten Rede, sondern ihr Zerfall, bedingt durch die mentale Desintegration durch die Folter“ (Haas, 2006, 97) gezeigt werde. Die Spannung des Stücks lebe letztlich vom „Offenlegen der Abweichungen zwischen persönlicher Erinnerung und kollektivem Gedächtnis“ (Haas, 2006, 102). Es stelle auf selbstreflexive Art und Weise die Frage nach der Entstehung und Vermittlung geschichtlicher Überlieferung (Vgl. Haas, 2006, 102).

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Tätowierung

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Pressespiegel zu Tätowierung [ ↑ ]
Christian Schröder von der Tageszeitung (18.10.1992) zeigt sich beeindruckt von der Uraufführung und lobt dabei sowohl den Text als auch die Inszenierung: „In karger Sprache schildert das Stück das Beziehungsgeflecht aus Angst und Abhängigkeit, das die Familienmitglieder aneinander bindet“ und nähere sich seinem Thema auf behutsame Weise an. Regisseur Thomas Hollaender habe ein beklemmendes Kammerspiel geschaffen, in dem die Gewalt des Vaters auf subtile Weise beständig spürbar bleibe.
Die zahlreichen späteren Inszenierungen von Tätowierung, bspw. in Oberhausen (1993), Freiburg (1994), Hannover (1997), Solothurn (1997), Basel (1998) und Augsburg (2001), erfahren überwiegend positive Besprechungen. Michael Schmitz von der WAZ (19.01.1993) und Andreas Roßmann von Theater heute (03/1993) sprechen der Oberhausener Inszenierung ihr Lob aus und sehen in der Arbeit von Regisseurin Friderike Vielstich die adäquate Umsetzung für Lohers Text. Generell äußern Rezensenten jedoch durchaus Kritik an der Textgrundlage. Dabei loben sie zum Teil im Gegenzug umso mehr die jeweilige Regiearbeit, die die Schwächen des Stücks auffangen könne (Dirk Schümer, FAZ, 15.1.1997 und Dorothee Hammerstein, Badische Zeitung, 19.12.1994). Wiederholt trifft die Autorin der Vorwurf, das heikle Thema nur oberflächlich angerissen und nicht konsequent zu Ende geführt zu haben. So schreibt Dorothee Hammerstein, die in diesem Punkt mit Bernd Conrads in der Grau Zone. Zeitschrift für neuere Literatur (02.02.1995) übereinkommt, in der Badischen Zeitung (19.12.1994): „Wenn aber eine Autorin schon unbedingt ein Thema ‚aufgreifen‘ muß, sollte sie wohl doch ihrer Sache etwas bohrender nachgehen, als Loher das tut“. Auffällig ist zudem, dass Lohers Text in Zusammenhang mit Franz Xaver Kroetz, Werner Schwab und Rainer Werner Fassbinder gebracht wird (Dorothee Hammerstein, Theater heute, 03/1998 und Otto Heuer, Rheinische Post, 19.01.1993).

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Forschungsspiegel zu Tätowierung [ ↑ ]
Die Forschungsbeiträge zu Lohers zweitem Bühnenstück wählen zunächst unterschiedliche Zugangsweisen. Haas (2006) und Kapusta (2011) weisen in ihren Auseinandersetzungen aber dennoch im Hinblick auf die Betrachtung des Volksstücks und des Epischen Theaters Schnittmengen auf.
Birgit Haas deutet Tätowierung vorwiegend vor dem Hintergrund einer kritischen Gender-Performanz, die auch Kapitalismuskritik impliziere, und zeigt sowohl Parallelen zum epischen Theater als auch zum Volksstück auf: „Im Anschluss an Fleißer und das neue Volksstück à la Kroetz betont Loher die Aggression, die aus der familiären Enge und Engstirnigkeit resultiert.“ (Haas, 2006, 238.) Vor allem in formaler Hinsicht stehe Tätowierung in der Tradition Brechts, was sich bspw. in den kurzen Szenentiteln, die jede eindeutige Aussage verweigern, manifestiere (Vgl. Haas, 2006, 238). Darüber hinaus verschränke die verfremdende Kombination aus Dialogen, Monologen und selbstreflexiven Passagen das brechtsche Theater mit einem materialistisch-feministischen Denkansatz: „Ausgestellt wird, auf welche Weise das Gender-System sich selbst unter sozial verqueren Bedingungen erhält.“ (Haas, 2006, 239). Am Beispiel der Figur der Mutter zeigt Haas auf, dass Loher die Frauen des Stücks keineswegs nur in still leidenden Opferrollen belässt, sondern den „Übergang vom Dahinvegetieren zur geistigen Menschwerdung“ (Haas, 2006, 241) vorführe. Zudem befreien die selbstreflexiven Monologe die Töchter zeitweise aus ihrer passiven Objektrolle und lassen sie – zumindest sprachlich – auch als Subjekte agieren (Vgl. Haas, 2006, 243 f.). Darüber hinaus deutet Haas die Gestaltung des inzestuösen Verhältnisses zwischen Vater und ältester Tochter auch als unterschwellige Kapitalismuskritik: Indem Ofen-Wolf Anita Geschenke mache, werde der Inzest zu einer Art Dienstleistung. Letztlich ermögliche damit auch Anitas Gier nach Geld dem Vater die Kontrolle über seine eigene Tochter (Vgl. Haas, 2006, 243 f.).
Milan Pišl widmet seinen Beitrag den sprachlichen Eigenheiten in Tätowierung und beleuchtet deren Potential zur Vermittlung von Emotionen. Anhand konkreter Textbeispiele, insbesondere der – im Verhältnis größten – Redeanteile Ofen-Wolfs und Anitas, stellt Pišl die zentralen Momente und deren Wirkungen heraus. Grundlegend dafür ist zunächst der Befund, dass Dea Loher auf Interpunktion innerhalb der Figurenrede verzichte, sodass „[d]em Leser […] formal ausgelöste syntaktische Zusammenhänge präsentiert“ (Pišl, 2010, 45-63, hier: 46) werden. So korrespondiert Pišl zufolge beispielweise der Verlust emotioneller Ausgewogenheit mit der Verwendung von kurzatmigen, abgehackten und unvollständigen Satzkonstruktionen der Figuren (Vgl. Pišl, 2010, 45-63, hier: 48). Im Einzelnen konstatiert er den Gebrauch von Ausklammerung, Ellipse, Parenthese und Anakoluth als charakteristisch für Tätowierung und diskutiert deren Wirkung und Funktion im Hinblick auf die jeweilige Figur und Situation (Vgl. Pišl, 2010, 45-63, hier: 49-61). Zusammenfassend weist Pišl auf den hohen Mehrwert der formalen sprachlichen Gestaltung, genauer der Loherschen gesprochensprachlichen Konstruktionen, für die Wirkung des Textes hin, die nicht nur „als fundamentale Mittel für die Verstärkung und Steigerung der Aussagen […] dienen, sondern [z]ugleich […] die Kraft [besitzen] [,] die Äußerungsperspektive des schon Gesagten grundsätzlich zu ändern.“ (Pišl, 2010, 45-63, hier: 62).
Danijela Kapusta ordnet Tätowierung in den ‚neuen Realismus‘ bzw. ‚Neorealismus‘ des deutschen Gegenwartsdramas ein und konstatiert ein für diese Richtung charakteristisches Interesse am Thema Familie, wie es sich auch bei Marius von Mayenburg und Thomas Jonigk zeige (Vgl. Kapusta, 2011, 39 f.). Als zentrale Merkmale von Lohers Dramatik stellt Kapusta den Bezug zur Gegenwartswirklichkeit sowie die besondere Bedeutung der Figur (Kapusta spricht von einer Renaissance der dramatischen Person) heraus, hinter der die Handlung zurücktrete. „Lohers Figuren werden wesentlich mehr durch Monologe und Dialoge als durch konkrete Taten konstruiert […].“ (Kapusta, 2011, 42). Da die Sprache zum essentiellen Zeichensystem für die Konstruktion der Figuren werde, komme ihr eine handlungstragende Rolle zu. Formal zeichne sie sich insbesondere durch die Spannung aus alltäglicher und stilisiert-literarischer Sprachverwendung sowie durch die besondere Rhythmik der Versanordnung aus. Des Weiteren sieht sie im Aufgreifen der Familienthematik eine Anknüpfung an das kritische Volksstück, von dem sich Loher allerdings im Hinblick auf Vertreter wie Fassbinder, Sperr oder Kroetz durch die spezifische Sprache ihrer Figuren abgrenze, denn ihre Figuren seien in der Lage, sprachliche Äquivalente für ihre Verfassung zu finden (Vgl. Kapusta, 2011, 50). Wesentlich für ihr Stück und die Behandlung der Thematik sei der Verzicht auf eine Schwarz-Weiß-Darstellung, die festgefügte Täter-Opfer-Schemata vorgibt, woraus ein fundamentaler Unterschied zu Brecht folge: „Anders als die dialektischen Stücke Bertolt Brechts verweigern Lohers Theatertexte die Möglichkeit jeglicher Bestandsaufnahme oder ideologischer Positionierung der Autoreninstanz.“ (Kapusta, 2011, 41).

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Leviathan

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Thematische Aspekte zu Leviathan [ ↑ ]

Dramatisierung politischer Persönlichkeiten ohne Dokumentarismus
In Leviathan widmet sich Loher den prägenden Ereignissen der 1970er Jahre und setzt sich mit den Anfängen der Roten Armee Fraktion auseinander. Im Zentrum des Stücks steht Marie, der die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof als Vorbild diente. Leviathan zeigt die letzten inneren und äußeren Auseinandersetzungen einer Frau, bevor ihre endgültige Entscheidung fällt, den gewaltsamen Kampf für eine Gesellschaftsveränderung über alles andere in ihrem Leben zu stellen.
In beiden Stücken stehen folglich Persönlichkeiten im Mittelpunkt, die auf sehr unterschiedliche Weise in die Geschichtsschreibung eingingen und Teil des kollektiven Gedächtnisses sind. Entscheidend ist allerdings, dass Lohers Schreiben nicht auf die Rekonstruktion von Ereignissen zielt. Die Thematisierung dieser historischen Situationen verfolgt keinerlei dokumentarische Zwecke, es geht also keineswegs um die bloße dramatische Abbildung von Vergangenem. Loher wählt stattdessen eigene, potentielle Szenarien innerhalb der jeweiligen historischen Konstellation aus, auf deren Basis sie die denkbaren Handlungen und Gedankengänge ihrer Figuren entwickelt. Dieser Anspruch schließt jedoch nicht aus, dass sie für ihre Stücke dokumentarisches Originalmaterial verarbeitet. Im Unterschied zu Olgas Raum, wo Loher in Bezug auf das Leben der Protagonistin Olga Benario keine verfremdenden Umbenennungen und Änderungen vornimmt, zeigt sich ihre Ablehnung vom Dokumentartheater in Leviathan bereits daran, dass die Figuren, die fast alle realen RAF-Mitgliedern nachempfunden wurden, trotz aller offenkundigen Parallelen nicht die Namen ihrer Vorbilder tragen.
Anfang 2000 nahm sich Loher erneut der Biografie einer bekannten Persönlichkeit an. In Licht, ein Monolog, der nicht nur im Sprechtheater zu sehen ist, sondern im Jahr 2004 in Berlin auch als Oper uraufgeführt wurde, wählt Loher eine Hauptfigur, die vor allem durch ihre Rolle als Frau an der Seite eines berühmten Politikers bekannt wurde. Abweichend von Olgas Raum und Leviathan geht es in Licht nicht um die politische Aktivität dieser Frau, sondern um ein privates Schicksal: Die Krankheit und der damit verbundene Suizid Hannelore Kohls. Auch hier zeigt sich die Ablehnung eines dokumentarischen Charakters schon an der universellen Benennung der einzigen Figur des Stücks mit ‚Frau‘.

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Pressespiegel zu Leviathan [ ↑ ]
Die Uraufführung von Leviathan im Oktober 1993 ruft vorwiegend positive Kritikerreaktionen hervor. Hilke Veth berichtet in der Tageszeitung (05.10.1993) von einer „beeindruckenden Uraufführung des Stückes“, in welcher der zunächst sperrig anmutende Text in der Regie von Antje Lenkeit eine beachtliche Dimension gewonnen habe. Sie lobt auch die Unentschiedenheit in Leviathan, die in diesem Zusammenhang nur konsequent erscheine. Auch Andreas Rossmann zeigt sich in der FAZ (07.10.1993) angetan und unterstreicht den Anspruch Lohers, Ulrike Meinhof weder psychologisch noch politisch analysieren zu wollen. Vor allem die sprachlichen Eigenheiten haben bei ihm einen bleibenden Eindruck hinterlassen: „Die dichte, rhythmisierte Sprache hat die Wucht zur Tragödie“. In der NZZ (08.10.1993) bemängelt Frank G. Kurzhals die distanzierte Perspektivierung des Stücks und die Fokussierung auf ein Einzelschicksal, das zudem „fahl ausgeleuchtet“ sei. Werner Schulze-Reimpell spricht in der FR (13.10.1993) davon, dass Antje Lenkeit die Vorlage gemäß der Vorgaben zu einer Party verfremdet habe und das Ensemble „[i]m engen Korsett der enorm konsequenten Regie“ besonders sprachlich überzeugt. Im Tagesspiegel (21.10.1993) übt Christoph Funke Kritik an zu wenig individuellen Figuren, die nur Transporteure von Ideologie seien, spricht Lohers „klare[r], sinnlich kräftige[r] rhythmisierte[r] Prosa“ aber dennoch sein Lob aus.
Auch bezüglich späterer Inszenierungen erfährt Lohers drittes Stück positive Resonanz. So schreibt Florian Malzacher in der FR (01.03.2005): „Dea Lohers Leviathan ist trotz seiner strengen Ästhetik psychologisch dicht – und zugleich ein schnörkelloses, dialektisches Lehrstück: pointiert, präzis, direkt“. Dieter Bartetzko zeigt sich in seiner Besprechung der gleichen Inszenierung in der FAZ (01.03.2005) völlig begeistert. Es handele sich um achtzig atemlose Minuten, in denen Leviathan bis zum Schluss einen bemerkenswerten Sog entfalte: „Zwei, drei Sätze geben Marie Kontur, ein Schicksal, eine Persönlichkeit und der Schauspielerin Sascha Icks Gewicht“. Ein Kritikpunkt, der auch in Besprechungen nachfolgender Inszenierungen wiederkehrt, betrifft Lohers Vernachlässigung des historisch-politischen Hintergrunds (Wolfgang Platzeck, WAZ, 21.5.1994 und Rolf Spinnler, Stuttgarter Zeitung, 07.05.1999).

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Forschungsspiegel zu Leviathan [ ↑ ]
Für Lohers Arbeit an Leviathan macht Julian Preece Der Baader-Meinhof-Komplex (1985) von Stefan Aust und Die bleierne Zeit (1981) von Margarethe von Trotta als die zwei zentralen Quellen aus (Vgl. Preece, 2007, 373-388, hier: 373). Loher folge diesen beiden Filmen nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in struktureller Hinsicht. Sehr augenfällig sei bspw. das Aufgreifen des Schwestern-Motives aus Die bleierne Zeit. „Lohers Grundeinfall besteht darin, eine Zeitlücke auszufüllen: Was machte Meinhof, als sie kurz nach der Befreiung Baaders plötzlich verschwand?“ (Preece, 2007, 373-388, hier: 374.) Eine wichtige Parallele zu von Trottas Film weise Leviathan auch darin auf, dass Maries endgültige Entscheidung vor allem als eine hochemotionale Reaktion auf eine konkrete Situation dargestellt werde: „Marie trifft ihre Entscheidung, um Wilhelm und ihren ehemaligen Mann zu ärgern und um Karl zu imponieren. Mit Argumenten und sachlichen Überlegungen hat dies nichts zu tun.“ (Preece, 2007, 373-388, hier: 377.) Die Alleinstellungsmerkmale des Textes sieht Preece zum einen in der Fokussierung der RAF-Akteure der ersten Stunde, insbesondere – wenn auch im Text verfremdet – Ulrike Meinhofs, der im Vergleich zu anderen RAF-Mitgliedern wie Baader und Ensslin wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden sei. Zum anderen bestehe die entscheidende strukturelle Differenz gegenüber anderen Verarbeitungen des Stoffes darin, dass das Stück gewissermaßen mit einer Aufbruchsstimmung, in der noch alles offen scheine, schließe (Vgl. Preece, 2007, 373-388, hier: 379). Aus diesem Grund könne Leviathan auch nie eine wirkliche Tragödie werden. Resümierend halt Preece fest, dass die Autorin einerseits die These stark mache, dass die führenden RAF-Mitglieder ihren persönlichen Krisen entflohen, indem sie in den ‚Untergrund‘ gingen. „Andererseits liefert sie eine entpolitisierte Figurenkonstellation für die postideologischen Neunzigerjahre.“ (Preece, 2007, 373-388, hier: 387).
Birgit Haas fokussiert in ihrem Beitrag über Leviathan vor allem die dramentechnische Konfrontation von Innen- und Außenperspektive, insbesondere der Protagonistin Marie, die durch den Wechsel von Dialogen und chorischen Passagen, die einen verfremdenden Effekt des Aus-der-Rolle-Tretens bewirken, erreicht werde. Gerade mittels dieser kommentarlosen Gegenüberstellung, die produktive Widersprüche erzeuge, entziehe sich Loher – auch in Abgrenzung zu Brecht – einer moralisierenden Stellungnahme (Vgl. Haas, 2006, 130-132). „Die Geburtsstunde der RAF wird nicht logisch-modellhaft aufgerollt. Vielmehr resultiert aus dem Aufeinandertreffen von Innen- und Außenperspektive eine Unvereinbarkeit von oral history und offizieller Geschichtsschreibung, […].“ (Haas, 2006, 130).
In sprachlicher Hinsicht konstatiert Haas, dass das Sprachmaterial von Loher nicht nur einfach aus den damaligen Debatten übernommen und montiert, sondern den Figuren ebenfalls verfremdet in den Mund gelegt worden sei (Vgl. Haas, 2006, 129 f.). Dadurch stelle es sich selbst in Frage und entlarve die Phrasendrescherei der damaligen Zeit: „Die parataktische Reihung, die Betonung der Konjunktion ‚und‘ sowie die Wiederholungen erzeugen einen stotternden Effekt, gleich einer fehlerhaften Platte mit Sprüngen und Rissen […].“ (Haas, 2006, 131). Darüber hinaus setze das Stück die Kritik der RAF an der ‚faschistischen‘ Informationsweise selbst auf sprachlicher Ebene um, indem es mitunter bewusst lückenhafte Informationen liefere (Vgl. Haas, 2006, 131 f.). Gleichzeitig beziehe der Text aber keineswegs Stellung für die terroristische Seite, da auch ein verzerrter Bezug auf die sprachlichen Eigenheiten der RAF, die von Misanthropie zeuge, Vorbehalte vermittle (Vgl. Haas, 2006, 137). Marie und ihre Schwester Christine seien buchstäblich als Sprachrohre der Gruppe zu betrachten, da sie „die Parolen nur wiedergeben, ohne sie zu reflektieren“ (Haas, 2006, 139). Die Frage nach der Legitimation des bewaffneten Kampfes bleibe aber letztlich absichtlich unbeantwortet (Vgl. Haas, 2006, 142).

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Fremdes Haus

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Formale Aspekte zu Fremdes Haus [ ↑ ]

Zusammenarbeit zwischen Dea Loher und Andreas Kriegenburg

Im Jahr 1995 beginnt mit der Inszenierung von Fremdes Haus die Zusammenarbeit zwischen Dea Loher und Andreas Kriegenburg. Der 1963 in Magdeburg geborene Regisseur kommt über seine Tischlerausbildung zum Theater, erhält ab 1984 seine ersten Regieassistenzen in Zittau und Frankfurt Oder, ist bis 1996 fester Regisseur an der Volksbühne Berlin und geht anschließend als Hausregisseur ans Staatstheater Hannover. Hier hat er schon zuvor die Uraufführung von Fremdes Haus übernommen. „Er fand in der kleinen, scheinbar sozial-realistischen Geschichte zwischen Exil-Jugoslawen und Deutschen eine große Liebesgeschichte mit großen verzweifelten schönen Momenten“ (Börgerding 2007, 333-345, hier: 336). Nach dieser Inszenierung raten einige Kritiker, Kollegen und Freunde der Autorin von einer weiteren Zusammenarbeit mit Andreas Kriegenburg ab, weil er ihren Text „verstellt, verbaut und überlagert“ (Khuon, 1998, 9-16, hier: 12) habe. Doch Dea Loher hält an ihm als Regisseur für ihre Stücke fest: „Kriegenburg war und ist mein Wunschregisseur. Wir haben beide die Schnauze voll von dem postmodernen Orientierungslosigkeitsgefasel, das die gesellschaftliche Funktion des Theaters letztlich auf Null setzt, weil es wurscht ist, was gespielt wird, [h]auptsache der Betrieb läuft“ (Kuhn im Gespräch mit Loher 1998, 18-22, hier: 21 f.). Darauf angesprochen, dass Andreas Kriegenburg als „wilder Regieberserker“ (Börgerding 2007, 333-345, hier: 333) dafür bekannt sei, Stücke so zu inszenieren, dass man sie auf Anhieb kaum wiedererkenne, weist Dea Loher diese Einschätzung entschieden zurück: „Das stimmt nicht. Kriegenburg macht zwar nicht im herkömmlichen Sinn texttreue und quasi-natürliche Inszenierungen, aber er hat ein ungeheuer waches, genaues und einfühlsames Gespür für die Atmosphäre eines Stückes, die Stimmungen der Szenen und die Konstellationen und Spannungen zwischen den Figuren. Das kann er auf der Bühne umsetzen, auch und gerade wieder unter wirklich penibler Berücksichtigung des Textes“ (Wille im Gespräch mit Loher 1998, 212-223, hier: 220).
Somit setzt sich ihre Zusammenarbeit fort. Andreas Kriegenburg übernimmt in den darauffolgenden Jahren die Regie für die Uraufführungen von Blaubart - Hoffnung der Frauen (1997) und Adam Geist (1998). Für das erste der beiden Stücke entsteht der Text erst während der Proben mit den Schauspielern. Dies stellt für die Autorin eine neue Herausforderung dar: „Ich wusste gar nicht, ob ich das kann, ob ich so schnell schreiben kann, ob etwas auf der Bühne passiert, was ich verwenden kann, ob das alles überhaupt geht. Es war für mich dann sehr produktiv, weil auch die Schauspieler erstaunlicherweise ziemlich enthusiastisch mitgearbeitet haben“ (Wille im Gespräch mit Loher 1998, 212-223, hier: 219). Für Andreas Kriegenburg war die intensive Zusammenarbeit mit einer Autorin insgesamt vollkommen neu: „Es ist das erste Mal, daß ich mehr als einmal ein Stück von einem Autoren mache. Mehrmals an einer Autorin oder einem Autoren zu arbeiten und sich so in den Sprachgestus einzugraben und darin auch heimisch zu werden, macht die Arbeit überraschenderweise immer schwerer, es wird mühseliger, eine eigenständige Phantasie gegenüber dem Text zu behalten und Entdeckungen in der Sprache, oder aber auch in der Erzählweise zu machen“ (Koepp im Gespräch mit Loher 1998, 169-178, hier: 169).
Im Jahr 1999 geht Andreas Kriegenburg als Regisseur nach Wien und die Inszenierungen von Dea Lohers Theaterstücken Manhattan Medea (1999), Klaras Verhältnisse (2000) und Der dritte Sektor (2001) übernehmen andere Regisseure. Doch während dieser kurzen Auszeit bleibt der Kontakt bestehen. Die Autorin schreibt für Andreas Kriegenburgs Wiener Abschiedsprojekt Dantons Tod/ Der Auftrag sogar den Text Die Schere, welchen er als einleitenden Monolog dem Stück voranstellt (Vgl. Börgerding 2007, 333-345, hier: 337).
Im Herbst 2001 kommen die Autorin und der Regisseur, welcher zu dieser Zeit Oberspielleiter am Thalia Theater in Hamburg ist, zu einem ausgesprochen experimentellen Projekt – Magazin des Glücks – wieder zusammen. Hierfür verfasst Dea Loher insgesamt sieben völlig unterschiedliche Texte: Licht (erzählt von einer sonnenallergischen Politikergattin), Hände (thematisiert Handikaps durch Handprothesen), Deponie (dreht sich um einen Müllfahrer, der einer Frau begegnet, die verzweifelt etwas auf einer Müllkippe sucht), Hund (eine Hommage an Giacometti, erzählt von einem hinkenden Dieb sowie einer alten Hure), Sanka (berichtet nach einem authentischen Fall aus Polen von Notärzten, die ihre Patienten sterben lassen, um sie an Bestattungsunternehmen zu verkaufen), Samurai (dreht sich um einen Pförtner, der sein Leben riskiert, um zu vertuschen, dass er zum ersten Mal verschlafen hat) und einen Popsong namens Futuresong (Vgl. Börgerding 2007, 333-345, hier: 339). Diese Texte erhält Andreas Kriegenburg aber nicht gebündelt, sondern in erreichen alle sechs Wochen ein Teil vom Magazin des Glücks. Somit hat Dea Loher sechs Wochen für das Schreiben eines Textes und sobald sich ein Manuskript in Kriegenburgs Briefkasten befindet, hat dieser drei Wochen für Besetzung, Bühne und Kostüm und eine Woche für die Proben. Die Idee für dieses Verfahren stammt von Kriegenburg selbst, der auf diesem Weg Dea Loher, welche normalerweise mit Recherche ca. ein Jahr pro Stück benötigt (Vgl. Wille im Gespräch mit Loher, 212-223, hier: 222), zum offeneren und schnelleren Schreiben bewegen will (Vgl. Börgerding,2007, 333-345, hier: 338). Er selbst improvisiert ebenfalls mit unterschiedlichen Formen, lässt Hannelore Kohl in Licht von einem Mann darstellen, verwendet ausgefallene Kostüme in Hände, spielt in Deponie mit Wiederholungen, inszeniert Hund in französischer Film-Noir-Ästhetik, gestaltet Sanka als Trash-Spektakel und setzt den Futuresong als Popvideo mit allen Beteiligten in Endlosschleife und kleinem Livekonzert um (Vgl. Börgerding 2007, 333-345, hier: 339 f.). Eine Spielzeit lang nehmen sich die Schriftstellerin und der Regisseur Zeit, um herauszufinden, was unter erheblichen Zeitdruck an Ausdrucksformen beim Schreiben und Inszenieren möglich ist. Alle Teile zusammen werden im Juni 2006 in einer langen Nacht im Thalia Theater in der Gaußstraße gezeigt (Vgl. Börgerding 2007, 333-345, hier: 339 f.).
Alle weiteren Dramen Dea Lohers werden ebenfalls von Andreas Kriegenburg uraufgeführt, wobei die Autorin mit ihren Texten hohe Ansprüche an den Regisseur stellt. So steht er bspw. bei Unschuld (2003) und Das Leben auf der Praça Roosevelt (2004) vor der Problematik, dass diese Stücke sehr monologisch geschrieben sind. Bei letzterem kommt außerdem hinzu, dass die Figuren in diesem Stück zum Teil auch in Wirklichkeit existieren, wodurch angesichts der realen Schicksale die Zuschauer leicht zu Voyeuren hätten werden können (Vgl. Börgerding, 2007 333-345, hier: 342). Die Arbeit an Quixote in der Stadt (2005) wiederum zeigt, dass Dea Loher und Andreas Kriegenburg wie schon bei Blaubart-Hoffnung der Frauen (1997) und Magazin des Glücks (2002) immer wieder auch Experimente wagen und Grenzen überschreiten. Denn hierbei entsteht ein szenischer Abend, der sich zwar auf Dea Lohers „Quixote-Material“ stützt, allerdings ergänzt werden muss, da es sich dabei nicht um ein fertiges Stück handelt. Diese Ergänzungen entstehen in gemeinsamer Arbeitsteilung von Dea Loher, Andreas Kriegenburg und dem Musiker Laurent Simonetti. Dies bedeutet, dass nicht nur die Schriftstellerin Texte verfasst, sondern auch Andreas Kriegenburg schreibt und bei Arrangements mitentscheidet. Umgekehrt ist Dea Loher an szenischen Entscheidungen beteiligt, während Laurent Simonetti Lohers Texte vertont und Songs mit der Band, Kriegenburg und den Schauspielern entwickelt (Vgl. Börgerding 2007, 333-345, hier: 343).
Solche experimentellen kollektiven Schaffenprozesse zeigen zwar immer wieder Differenzen auf und bergen die Gefahr des Scheiterns in sich, enthalten aber auch das Potential der Weiterentwicklung. Somit besteht das „Dreamteam Loher-Kriegenburg“, von dem Ulrich Khuon sagt, dass „[b]eide […] weniger eine rückhaltlose gegenseitige Bewunderung und widerstandsloses Ausgeliefertsein [verbindet] als vielmehr ein Lebensgefühl“ (Khuon 1998, 9-16, hier: 12), bis heute.

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Pressespiegel zu Fremdes Haus [ ↑ ]
Die Pressebesprechungen zur Uraufführung von Fremdes Haus sind überwiegend von Diskussionen über die erstmalige Zusammenarbeit von Dea Loher und Andreas Kriegenburg bestimmt. Dem Regisseur eilt der Ruf voraus, Theatertexte vorrangig nach seinen eigenen Vorstellungen umzusetzen. So mutmaßt Thomas Thieringer in der SZ (16./17.9.1995): „Andreas Kriegenburg mit der Uraufführung von ‚Fremdes Haus‘ zu betreuen hieß, daß man dieses Stück so wie es geschrieben wurde, am Schauspiel Hannover nicht sehen wollte“. Tatsächlich urteilen Kritiker wie Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel (17.09.1995): „Ausstellen tut er [Kriegenburg] ausschließlich seine Regieeinfälle. Von der Story zeigt er so gut wie nichts. Vom Start weg beweist er, daß er dem Text misstraut, richtet er hin, bevor er leben läßt“. Henning Rischbieter attestiert Kriegenburg in Theater heute (01/1996) ein regelrechtes Desinteresse am Stücktext und schließt mit seinem Fazit: „die Uraufführung eines Textes, der es wohl lohnt, ist noch frei“. Darüber hinaus gerät von Jan Schulz-Ojala im Tagesspiegel (17.09.1995) auch die Art und Weise der nicht werkgetreuen Umsetzung in die Kritik: „Was von solchen Inszenierungen bleibt, sind Schauwerte. Halbnackte Frauen, umgekippte Sofas, Männer barfuß in Eisenwannen, an die Wand geworfene Cocktailgäser – MTV Ästhetik“. Dem entgegen steht das Bild Kriegenburgs als „Retter“ des Textes von Dea Loher, welchen Ursula Bunte in der Berliner Zeitung (05.10.1995) als „überwiegend spröden“ und „eher rabiaten Text“, wenn auch mit „Passagen von bemerkenswerter sprachlicher Dichte und Schönheit“ ansieht. Kriegenburg habe nach ihrer Auffassung mit seinem Fokus auf die Körpersprache der Schauspieler und unter Einsatz von Musik die „Vorlage in schlagkräftige Bilder gebracht“ und laut Martin Krumbholz in der Stuttgarter Zeitung (29.09.1995) das Stück davor retten wollen „altmodisch“ zu sein. „Davor muß man die Autorin in Schutz nehmen", so Werner Schulze-Reimpell im Rheinischen Merkur (22.09.1995). Alles in allem könne Dea Loher seiner Meinung nach „mit der Uraufführungs-Inszenierung zufrieden sein, obwohl sie sich ihr Stück sicher anders vorgestellt hatte“.
Die folgenden Inszenierungen in Mainz (1996), London (1997), St. Gallen (2000), im Kölner Bauturm-Theater (2000), im Kölner Schauspielhaus (2008) und in Stuttgart (2008) werden im Allgemeinen sehr unterschiedlich besprochen. Auffällig ist jedoch, dass einigen Regisseuren der Text Dea Lohers nicht zu genügen scheint. So heißt es in der FR (Unbekannter Autor, Eigener Ton, 19.11.1996) über die Mainzer Umsetzung: „Herrmann Schein, Gastregisseur aus Magdeburg, traute dem Text allein nicht. Er setzte auf wildes Körperspiel, Tanzereien und viel Geschrei“. Ebenso ist in der Rezension von Rainer Hartmann im Kölner Stadt-Anzeiger (17.10.2000) über die Inszenierung von Regisseur Michael Dick im Kölner Bauturm-Theater die Rede von „ausufernde[n], heftige[n], sogar wuterfüllte[n] Bewegungen“ als „Körperausdruck, der sich verselbstständigen kann gegenüber dem was da gesagt wird“ sowie insbesondere von „Schrei und Verzweiflungsgesten“ am Ende des Stückes, die der Kritiker als übertrieben ansieht. Ganz im Gegenteil dazu fehlt laut Tobi Müller in der NZZ (20.03.2000) der Inszenierung von Peter Schweiger im Stadttheater St. Gallen die Veranschaulichung, da dieser Fremdes Haus „als reines Konversationsstück“ begreifft. Daher empfindet der Rezensent die Schweizer Erstaufführung als einen „Abend mit der Anschaulichkeit eines gelesenen Kochrezeptes“. Wesentlich besser schneiden die jüngsten Inszenierungen am Kölner und Stuttgarter Schauspielhaus ab. So lobt Dorothee Krings in der Rheinischen Post (05.02.2008) die „souveräne […] Leichtigkeit“ der Kölner Inszenierung von der jungen Regisseurin Jette Steckel und deren Fähigkeit, „mit einfachen Mitteln […] Atmosphären und Örtlichkeiten zu bestimmen“, wenngleich auch Christian Bose im Kölner Stadtanzeiger (04.02.2008) moniert, dass Jette Steckel „dem Ensemble [in der Ausarbeitung ihrer Figuren] zu wenig Bandbreite“ gelassen habe. Über die Stuttgarter Umsetzung von Fremdes Haus im Theater im Depot findet Tim Schleier in der Stuttgarter Zeitung (22.09.2008) schließlich ausnahmslos positive Worte. Er zeigt sich v.a. von der „ruhigen, überaus sorgfältigen, fast immer punktgenauen Inszenierung von Annette Pullen und den formidablen Darstellern“ überaus begeistert. Dies sei der Grund, weshalb das Stück von Dea Loher, welches Schwächen, v.a. in seiner „Vorhersehbarkeit der Ereignisse“ aufweise, dennoch als „eindrucksvoll und absolut sehenswert“ bezeichnet werden könne.

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Forschungsspiegel zu Fremdes Haus [ ↑ ]
Fremdes Haus wird von Birgit Haas vor allem auf seine Thematik des „Aufeinandertreffen[s] von individueller und kollektiver Geschichte“ (Haas, 2006, 106) analysiert. Von zentraler Bedeutung sind für sie daher zum einen die Auseinandersetzungen über die Vergangenheit zwischen den mazedonischen Flüchtlingen Risto und Jane und zum anderen die Rahmung des Stücks durch Prolog und Epilog mit Anklängen von Mythen über die Entwicklung Mazedoniens, die sich laut Haas auf mehrere Punkte im Stück beziehen lassen. (Vgl. Haas 2006, 105-109).
Durch die Weigerung Ristos, der v.a. von Jane als heroischer Widerstandskämpfer gegen das kommunistische Regime verehrt wird, über die Vergangenheit zu sprechen, stelle Loher in ihrem Stück den „Widerstreit von Erinnern und Vergessen, die oral histoy und die Frage der Wahrheit, wobei sich persönliche und offizielle Erinnerung miteinander vermischen“ (Haas, 2006, 105 f.) aus. Jane, der schließlich erfährt, dass der vermeintliche Held Risto Janes Onkel Goce für die eigene Freiheit an die Kommunisten verraten hat, stößt zunächst auf ein „dichtes Netz an Lügen und Geschichten“ (Haas, 2006, 106). Damit unterstreiche „Fremdes Haus, den starken mazedonischen Bezug zur oral histoy“ (Haas, 2006, 106), welcher Mazedonien durch „das Fehlen einer offiziell-einheitlichen Version der mazedonischen Historie, die über viele Jahrhunderte lang nicht aufgeschrieben wurde“ (Haas, 2006, 106) zugesprochen wird. Schließlich offenbare sich anhand der Mythenbildung um Risto als Helden die Unzuverlässigkeit und subjektive Einfärbung der mündlichen Überlieferung (Vgl. Haas, 2006, 108). Darüber hinaus werde anhand des Schuldeingeständnisses Ristos, worin er zugibt, sein Leben gegen das Goces eingetauscht zu haben, deutlich, dass der Einzelne im Geschichtsverlauf keine passive Rolle einnimmt (Vgl. Haas, 2006, 110 f.). Haas sieht in dem analytisch angelegten Drama Lohers ein politisches Theater (Vgl. Haas, 2006, 11). Es gehe um das Verhältnis des Individuums zur Geschichte sowie um dessen Verantwortung gegenüber der Geschichte: „Überliefertes wird nicht einfach hingenommen.“ (Haas, 2006, 111).

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Blaubart – Hoffnung der Frauen

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Thematische Aspekte zu Blaubart - Hoffnung der Frauen [ ↑ ]

Bearbeitung und Aktualisierung ‚klassischer‘ europäischer Stoffkomplexe
Als dritter roter Faden, der sich in Lohers Dramenwerk erkennen lässt, bleibt schließlich noch die Verarbeitung solcher althergebrachter Stoffe zu nennen, die bereits unzählige Schriftsteller zur Auseinandersetzung herausgefordert haben. Als ein Beispiel für dieses hochgradig intertextuelle Verfahren ist die Arbeit mit Mythen- und Märchenstoffen anzuführen. In Blaubart – Hoffnung der Frauen (1997) bspw. aktualisiert Dea Loher die jahrhundertealten Versionen um den berühmten Frauenmörder. Sie stellt einen (emotional) überforderten Schuhverkäufer ins Zentrum ihres Stücks, der unter dem Druck weiblicher Projektionen zum Massenmörder wird. In Lohers Blaubart-Version wird Heinrich Blaubart letztlich in einer Art Erlösungsakt von einer Frau getötet.

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Formale Aspekte zu Blaubart - Hoffnung der Frauen [ ↑ ]

Erzählende Figuren
Einen Sonderfall stellt die Uraufführung von Blaubart – Hoffnung der Frauen dar. Für diese Inszenierung wurden zwei unterschiedliche Schauspieler für den Protagonisten eingesetzt, um einen linear erlebenden und einen rückblickend erzählenden Blaubart auf der Bühne zu zeigen. Das Regiekonzept sah vor, dass der zurückblickende Blaubart seinem ‚vergangenem Ich‘ begegnen und sogar ins Geschehen eingreifen konnte.

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Pressespiegel zu Blaubart – Hoffnung der Frauen [ ↑ ]
Blaubart – Hoffnung der Frauen entsteht als ‚work in progress‘. Loher schreibt die Szenen in Kooperation mit dem improvisierenden Ensemble des Bayerischen Staatsschauspiels. Hinsichtlich der Uraufführung sind die Rezensenten geteilter Meinung, wobei die kritischen Stimmen überwiegen. Anke Dürr, die die Proben begleitete, zieht im Spiegel (24.11.1997) jedoch eine positive Bilanz. Sie lobt insbesondere die genaue, karge Sprache des Stückes: „Wie eine gewiefte Zeichnerin bildet sie [Dea Loher] mit einer einzigen präzisen Linie mehr Charakteristisches ab als ein Kolossalmaler mit wuchtigem Pinselschwung“. Ganz im Sinne Lohers verweigere sich zudem auch Kriegenburgs Regie leichtfertigen Oppositionen. Sie bezeichnet die Aufführung als „eine Séance von merkwürdigen, exakt choreographierten Gesten und Bewegungen“. In der Süddeutschen Zeitung (28.11.1997) zeigt sich Joachim Kaiser ernüchtert über die Uraufführung: Er kritisiert vor allem die Regie Kriegenburgs, der mangels Disziplin in „einem Steinbruch fabelhafter, greller, überschäumender, überflüssiger, einander erwürgender Einfälle“ zum Mörder des Textes geworden sei. Trotz der fabelhaften Schauspielerinnen komme es so zu „einer quälend ausführlichen Mammut-Folge von masochistisch schmerzverliebten ‚misogynen‘ (sprich: frauenverachtenden) Momenten und Etüden". Gerhard Stadelmaier übt in der FAZ (28.11.1997) harsche Kritik an der Kooperation. Der Protagonist sei so dürftig gezeichnet, dass er auf der Bühne fast übersehen werde. Darüber hinaus liefern die Schauspielerinnen lediglich ihr „Orgien-und-Hysterien-Pensum“ ab, was weder überwältige noch rühre. „Und wenn die Vorstellungen der Schauspielerinnen über Liebe und Tod und Leidenschaft in das Stück miteingegangen sind, dann sagt das Ganze auch viel über den Gefühls- und Intelligenzhaushalt deutscher Stadttheaterangestellter“. Reinhard Wengierek von der Welt (28.11.1997) zufolge haben Loher und Kriegenburg das Potential des Stücks verspielt: „Der feminine Trip nach höchster Lust und Unbewußt, arg hysterisch aufgemischt, zeitigt zwar manche Komik, aber halt meistens Kopfschmerzen bei den beiden nur schwach virilen Blaubärten. Und auch beim Publikum“. Auch Cornelia Niedermeier von der Berliner Zeitung (28.11.1997) sieht in Blaubart – Hoffnung der Frauen eine misslungene Kooperation: „Obwohl in gemeinsamer Arbeit entstanden, leben Dea Lohers Text und Andreas Kriegenburgs – drei immer längere Stunden währende – Inszenierung beziehungslos nebeneinander her“. Darüber hinaus äußern sich Ursula Hübner im Handelsblatt (28./29.11.1997) und Petra Kohse von der Tageszeitung (29./30.11.1997) ebenfalls negativ über die Uraufführung, die Resultat einer verfehlten Zusammenarbeit sei. Vor allem habe sich Loher zu stark Kriegenburgs Vorstellungen untergeordnet. Ausnahmen bilden Peter Michalzik von der FR (02.12.1997) und Sigrid Löffler in der Zeit (05.12.1997). Mit Formulierungen wie „Loher kann solche Seelentätigkeit in Dialoge fassen, die – zumindest stellenweise – zum Pointiertesten gehören, was für das deutsche Theater heute geschrieben wird“ lobt Michalzik nicht nur Lohers Sprache überschwänglich, sondern er würdigt auch explizit die Zusammenarbeit: „Tatsächlich ist diese Theaterehe eine glückliche Verbindung. Kriegenburg inszeniert nicht am Text entlang und bleibt doch bei ihm“. Sigrid Löffler sieht die Einführung einer Blaubärtin als besondere Neuerung des Stücks an und äußert sich ebenfalls positiv über die Zusammenarbeit von Autorin und Regisseur: „Allemal erstaunlich, mit wieviel Zeter und Mordio der Regisseur Kriegenburg den innersten Leerraum von Lohers Stück zuzuwirbeln imstande ist. Unentwegt wird uns gezeigt, wo der Blaubartl den Most holt. Es gibt kein Geheimnis, aber das wird immerhin furios gelüftet“.

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Forschungsspiegel zu Blaubart – Hoffnung der Frauen [ ↑ ]
Gebündelt betrachtet, setzte sich die Forschungsgemeinde mit Dea Lohers fünftem Theaterstück im Hinblick auf die Darstellung von Geschlechterrollen und -verhältnissen und den Genderaspekt auseinander. Birte Giesler hebt in ihrem Beitrag über Blaubart – Hoffnung der Frauen besonders die vielfältige Intertextualität des Textes hervor, weshalb sie auch von einem Pasticcio spricht, das aus widersprüchlichem Material zusammengefügt sei (Vgl. Giesler, 2005, 77-93, hier: 77). Das Verweben der intertextuellen Bezüge wie z.B. aus Perraults Blaubart-Märchen, Oskar Kokoschkas Drama Mörder, Hoffnung der Frauen sowie allgemeiner und spezifischer Elemente anderer Märchen (bspw. das Schuhmotiv aus Aschenputtel und die Zahl Sieben), lasse durch Verzerrung und Übertreibung eine groteske Komik entstehen, die stereotype Schemata unterlaufe. Giesler bezeichnet die Figuren als ein „Palimpsest aus ‚Vor-Bildern‘“, weshalb die Konstellation und auch die Handlung in eine ironische Distanz gerückt seien (Vgl. Giesler, 2005, 77-93, hier: 81). Sowohl auf Figuren- als auch auf Handlungsebene sieht Giesler des Weiteren Parallelen zu Bertolt Brecht und Ödön von Horváth.
Auch Brigitte E. Jirku unterstreicht das subversive Moment des Stücks hinsichtlich stereotyper Geschlechterdarstellungen: „Blaubart und die Frauen leben keine klar gezogenen Geschlechtergrenzen mehr. Loher löst die Geschlechterdifferenz in der Sexualität und Macht scheinbar auf; Frau und Mann übernehmen bei dem Thema Gewalt und Sexualität auswechselbare Positionen ein […].“ (Jirku, 2007, 69-81, hier: 78). Nichtsdestoweniger sei es die Frau, die sich zuletzt wieder freiwillig unterordne und diejenige, die unvollständig erscheine: „Die Frau scheint den Mann zu brauchen, da Weiblichkeit noch immer durch den Mangel definiert ist: Alle Frauen in Blaubart kennzeichnet physischer oder psychischer Mangel.“ (Jirku, 2007, 69-81, hier: 78). Jirku zufolge habe Blaubart die Gleichheit der Geschlechter zwar verinnerlicht, könne daraus aber keine Konsequenzen ziehen. Die von den Frauen heraufbeschworene, überholte Männlichkeit Blaubarts „führt […] zu einem Sich-leiten-Lassen, bei dem alte Handlungsmuster ohne wirkliche Tiefenbedeutung wieder an die Oberfläche dringen.“ (Jirku, 2007, 69-81, hier: 79). Rettung erwarte die Frau bei Loher nicht mehr durch männliche Hilfe, sondern durch ihr selbstbestimmtes Handeln: „Das Ende bei Loher demaskiert den Mann als Gott, als Hoffnungsschimmer. Offen bleibt, ob es eine Erlösung gibt.“ (Jirku, 2007, 69-81, hier: 80). Die Hoffnung der Frauen bestehe letztlich darin, Blaubarts nicht vorhandenes Geheimnis zu akzeptieren (Vgl. Jirku, 2007, 69-81, hier: 81).
Monika Szczepaniak stellt in ihrem Aufsatz Lohers Blaubart – Hoffnung der Frauen Oskar Kokoschkas Mörder, Hoffnung der Frauen kontrastierend gegenüber und legt den Fokus dabei vor allem auf die von anderen Blaubart-Versionen stark abweichenden Charakteristika des Protagonisten. Loher inszeniere die „männliche Oppressionslage, Schwäche und Erlösungsbedürftigkeit“ (Szczepaniak 2007, 103-112, hier: 107). „Der maskulinen Kraft des modernen Mannes bei Kokoschka steht Schwäche, emotionale Einöde, Einsamkeit und Bindungslosigkeit des postmodernen Blaubarts gegenüber. Dea Loher zeigt einen Blaubart-Mann ‚ohne Eigenschaften‘.“ (Szczepaniak 2007, 103-112, hier: 109). So ergebe sich die Spannung zwischen der Mittelmäßigkeit Blaubarts und seiner durch die Frauen imaginierten Rolle als Hoffnungsträger und Erlöser, in der er letztlich versage. Loher stelle die Gefahren dar, der sich Frauen preisgeben, die die Vorstellung einer vollkommenen Liebe verfolgen. Der weibliche Sieg sei gleichzusetzen mit dem Abschied weiblicher Träume von der absoluten Liebe (Vgl. Szczepaniak 2007, 103-112, hier: 108 f.).
Birgit Haas betrachtet Blaubart – Hoffnung der Frauen, das sie auch in der Nachfolge Perraults und Kokoschkas sieht, in ihrem Beitrag vorrangig hinsichtlich des Einsatzes von Verfahren des epischen Theaters Brechts. Der Rückgriff auf solche Verfremdungseffekte (z.B. das Aufbrechen der einseitigen Perspektiven durch Selbstreflexionen in Monologen, die Vorwegnahme des Endes, die inhaltsandeutende Benennung der Szenen, die Dekontextuierung des historischen bzw. märchenhaften Protagonisten) rücke das Bühnengeschehen nicht nur in eine gewisse Distanz, sondern mache aus dem Stück eine „Travestie, eine ‚traurige Komödie‘“ (Haas, 2006, 247). „Die hastige Unwahrscheinlichkeit, in der sich die Begegnungen entfalten, verleiht den Gewaltakten einen komödiantischen, fast slapstickartigen Zug.“ (Haas, 2006, 250). Haas zufolge bestehe die Funktion des Stücks in der Darstellung gesellschaftlich bedingter Machtstrukturen (Vgl. Haas, 2006, 248). „[…] Blaubart [stellt] zwar die Ideologie der Gender-Differenz aus, bietet diese aber durch die formalen Brüche – Monologe, Selbstkommentare, Komik etc. – zugleich als Objekt der Kritik an.“ (Haas, 2006, 251).

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Adam Geist

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Thematische Aspekte zu Adam Geist [ ↑ ]

Bearbeitung und Aktualisierung ‚klassischer‘ europäischer Stoffkomplexe
In Adam Geist hingegen finden sich motivische Bezüge zu biblischen Stoffen: Schon der Name des Protagonisten lässt Konnotationen zu Adam als ersten Menschen in der Schöpfungsgeschichte zu. Darüber hinaus wird das Stück als Passionsgeschichte bezeichnet. So lassen sich die 21 Szenen des Stückes gewissermaßen als ‚Leidensstationen‘ Adams sehen, in denen er nach dem Tod seiner Mutter in immer fragwürdigere Milieus gerät und zum Vergewaltiger, Dieb, Stricher, Totschläger und Mörder wird. Alles, was er liebt, zerstört Adam. Innerhalb des Stückes lassen sich zahlreiche biblische Anspielungen, wie bspw. die Überschriften Trost, Gebete und Gnade finden. Allerdings endet das Stück bezeichnenderweise nicht mit Gnade, sondern Adam erhängt sich nach seinem Abschiedsmonolog. Während der Leidensweg von Jesus Christus in seiner Auferstehung mündet, bleibt in Adam Geist nur Resignation und Suizid, wodurch die Hoffnung auf Erlösung erlischt.
Resümierend lässt sich festhalten, dass durch alle Stücke hindurch insbesondere Fragen nach Schuld, Macht, Gewalt, Opfer- und Täterschaft aufgeworfen werden. Innerhalb der Stücke stellen die Figuren sich und anderen elementare Lebensfragen. Dea Lohers Schreiben kann daher allein aufgrund der Wahl ‚unbequemer‘, zum Teil sogar tabuisierter, aber in jedem Fall schwieriger Themen als gesellschaftskritisch charakterisiert werden. Entscheidend ist in diesem Kontext allerdings, dass Loher sich hinter dem Aufwerfen der jeweiligen Problematiken völlig zurückzieht und keinerlei Parteinahme beansprucht. Loher nimmt sich in ihren Stücken als auch in ihrer Prosa ausnahmslos hochgradig problembeladener Figuren an. Glückliche und sorglose Menschen bieten für das schriftstellerische Programm Lohers keinen Reiz. In einem Interview antwortete sie auf die Frage, ob es denn nicht auch ein bisschen fröhlicher ginge: „Alles andere wäre für mich verlogen. Ich kenne nicht besonders viele glückliche Menschen, um ganz ehrlich zu sein. Das ist meine Sicht der Welt“ (Wille im Gespräch mit Loher 1998, 212-223, hier: 223). Selbst Figuren, die gegen den negativen Verlauf ihres Lebens aufbegehren, gelingt es nicht, sich der Katastrophe zu entziehen. Zwar lassen die Texte durchaus Platz für vereinzelte Momente der Komik, doch letztendlich bleibt der Blick auf die Leben der Figuren ein pessimistischer. In den meisten Texten bleibt der Ausgang offen, die für Lohers Texte sehr charakteristische Statik der Verhältnisse erhalten. Lösungen werden nicht geboten, in keinem Fall schließt ein Text mit einem Happy End. Loher sieht darin jedoch keinen Ausdruck von Hoffnungslosigkeit: „Eine Utopie als unerfüllbaren Wunsch kann man gar nicht verlieren. Davon erzählen doch meine Stücke dauernd, von dem Traum von einer gerechteren, glücklicheren Welt“ (Wille im Gespräch mit Loher 1998, 212-223, hier: 223).

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Pressespiegel zu Adam Geist [ ↑ ]
Die Uraufführung von Adam Geist unter der Regie von Andreas Kriegenburg in Hannover muss neben einzelnen positiven Stimmen, wie der Einschätzung Gottfried Kriegers in der Stuttgarter Zeitung (02.03.1998), welcher die Inszenierung als „großes Theater“ beschreibt, harte Kritik hinnehmen. Vor allem die Länge der Inszenierung fällt bei den Rezensenten fast durchweg negativ ins Gewicht. So schreibt Mechthild Lange in der FR (04.03.1998): „[D]ie Inszenierung auf vier Stunden zu strecken, hieß den Text weidlich überstrapazieren“. Damit einhergehend wird mangelndes Durchhaltevermögen des Regisseurs in seiner Bearbeitung des Textes von Ralph Hammerthaler in der SZ (03.03.1998) festgestellt: „Nach der Hälfte der vierstündigen Aufführung verklumpt die Phantasie, schwindet die Kraft. Kriegenburg ist jetzt weder für noch gegen den Text, er hängt eine Szene lustlos an die andere und hofft, daß er so durchkommt“. Auch Barbara Burckhardt von Theater heute (04/98) empfindet die, wenn auch insgesamt „intelligent formalisiert[e]“ Art der Inszenierung stellenweise so „[a]ls habe Kriegenburg das gehäufte Elend des Dea Loher-Szenarios nicht mehr ertragen können [und so] flüchtet er sich, je länger der vierstündige Abend währt, immer häufiger in den szenischen Kalauer und auch am Text vorbei, in den wortwörtlichen“. Dea Lohers Stücktext an sich wird zwar von Friedemann Krusche in der Welt (04.03.1998) als „sprachmächtiges, klug disponiertes Stationendrama“ angesehen, doch stellt es hingegen für Andreas Schäfer von der Berliner Zeitung (03.03.1998) „eine enttäuschende, hochdramatische Totgeburt“ dar. Er sieht im Aufzeigen eines ganzen Lebens nur den Vorwand, sich nicht auf Einzelheiten einlassen zu müssen und fällt das vernichtende Urteil: „[D]aß die Autorin bei Tankred Dorst, dem Großmeister des kunsthandwerklichen Nichtsagens studiert hat, ist auf jeder Seite zu spüren“. Auch wenn für Dirk Schümer von der FAZ (03.03.1998) zumindest in den lakonischen Schilderungen sozialer Katastrophen noch Lohers Talent aufblitz, kritisiert er ebenfalls, dass sie ihren Blick zu weit schweifen lasse und dabei auf genaue Schilderungen verzichte: „Statt mit ihren präzisen sprachlichen Mitteln die Tragik einer Gossenexistenz auszuleuchten und sich auf überschaubare Schauplätze und Personengruppen zu beschränken, mußte hier gleich die ganze Welt erklärt werden.“ Während Dea Loher für Barbara Burckhardt mit ihrer „lyrisch verdichteten, pathosgeladenen Sprache bisweilen nur haarscharf am Kitsch vorbei schrammt“, entgehe sie laut Dirk Schümer dem „sauren Kitsch“ nicht. Seiner Meinung nach gehe das „zähe Stück“ in seinem „überflüssigen O Mensch!-Pathos […] vollends den Bach hinunter“. Sein Fazit: „[Z]uwenig Adam und zu viel Geist“.
Dennoch titelt die Presse drei Monate später: Dea Loher erhält für „Adam Geist“ den Mülheimer Dramatikerpreis. Im Zuge der 23. Mülheimer Theatertage wird Dea Loher für ihr Stück von der Jury mit dem zu dieser Zeit mit 20 0000 Mark dotierten Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet, welcher nicht die Inszenierung, sondern den Text prämiert. Mit fünf zu einer Stimme kann sie sich letztendlich gegen das vom Publikum favorisierte Ein Sportstück von Elfriede Jelinek durchsetzen, obwohl, wie Rolf C. Hemke in der SZ (08.06.1998) schreibt, Adam Geist „nicht als großer Wurf gefeiert [wurde], den es nun zwingend zu prämieren gegolten hätte.“ Arnold Hohmann spricht in der Westfälischen Rundschau (06.06.1998) über die Vorführung des Stücks bei den Mülheimer Theatertagen sogar von dessen „Erduldung“ und sieht „Zumutung“ als eines der Kriterien der Jury für ihre Entscheidung an. Für die Jury zählte jedoch, so Rolf C. Hemke in der SZ (08.06.1998), dass Loher eine „unmittelbar sinnhaft erfahrbare Geschichte geschrieben“ hat und sie lobt die Autorin, dass sie sich „getraut [hat] ein ‚Passionsstück‘ zu schreiben, das mit seiner ‚barocken Dramaturgie‘ das Theater ganz bewusst überfordere“.
Noch im selben Jahr findet eine Neuinszenierung von Adam Geist in Mannheim unter der Regie von Erich Sidler statt, der laut Ralph Hammerthaler von der SZ (20.10.1998) ganz im Gegenteil zu Andreas Kriegenburg lediglich die Essenzen des Stücks herausdestilliere und auch nach Michael Buselmeier von Theater heute (01/99) auf „entschiedene Verknappung, Stilisierung, ja auf groteske Übertreibung des Spiels“ setze. Es folgt die Karlsruher Inszenierung (1999) von Peter Schroth, die hingegen eine starke Banalisierung der vertrackten Figur Adams zeige (Jürgen Berger, Theater heute, 07/99,). In Krefeld (2000) lautet das ambivalente Urteil zur Inszenierung der Regisseurin Friderike Vielstich in der Rheinischen Post (28.03.2000) von Dirk Richerdt: „Wer sich in der Pause davonstahl, verpasste nicht allzu viel, obwohl der Regisseurin mit ‚Adam Geist‘ ein imposanter, von eindringlichen Bildern strotzender Theaterabend gelungen ist.“ Zur Berliner Inszenierung von Gabriele Heinz im theater 89 heißt es in der Welt (Unbekannter Autor, Unterm Tisch: Dea Lohers Adam Geist im Theater 89, 22.05.2001) resümierend: „Auch wenn die Suche des Adam Geist nach Erleuchtung erfolglos bleibt – das Theater 89 hat dieses Stück der Dramatikerin erhellend und voll Geist inszeniert.“ Von der Frankfurter Fassung (2002) unter der Regie von Sandra Strunz zeigt sich Eva Behrendt in Theater heute (04/02) beeindruckt: „Staunend hechelt man ihnen und ihren Bildern hinterher, die Augen aufgerissen, den Unterkiefer auf die Brust geklappt.“ Ein ganz besonderes Projekt stellt die Inszenierung von Dino Mustafic in der ausgebrannten Nationalbibliothek in Sarajevo (2005) dar. Florian Malzacher von Theater heute (02/05) zeigt sich begeistert von der Idee des Ortes. Ihm scheint „Lohers an Parzifal angelehnte Geschichte von einem jungen Mann, der auf der Suche nach dem Sinn des Lebens immer wieder mit beiden Füßen in der Gewalt stecken bleibt, der immer Täter und Opfer und Opfer und Täter zugleich ist, geradezu für diesen Ort geschrieben – nicht nur weil Adam Geist schließlich konkret als Söldner im Bosnienkrieg landet“. Die jüngste Inszenierung findet am Wiener Akademietheater (2009) unter der Regie von David Bösch statt. Als „Star“ wie ihn Barbara Petsch in der Presse (08.09.2009) bezeichnet, inszeniere er das Stück nach ihrer Auffassung „krass, gut“ und bediene sich, laut Eva Maria Klinger auf nachtkritik.de (06.09.2009), „spielerisch verschiedener Stile. Er mischt epische Elemente des Brecht-Theaters mit brutalen Szenen à la Quentin Tarantino und kann dabei wahrhaft poetisch vom Unglück eines Ausgestoßenen erzählen“.

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Forschungsspiegel zu Adam Geist [ ↑ ]
In der Untersuchung des mehrfach ausgezeichneten (Mülheimer Dramatikerpreis, Jakob-Michael-Reinhold-Lenz-Preis, Gerrit-Engelke-Preis) Stücks Adam Geist widmete sich Birgit Haas vornehmlich dessen Intertextualität.
Denn „in der Figur Adam Geist überschneiden sich zahlreiche Außenseiter der Literatur: Jesus Christus, Parzival, Büchners Woyzeck, und Brechts Kragler aus Trommeln in der Nacht“ (Haas, 2006, 143), so Haas. Darüber hinaus ist für sie auch Horváths Sladek der schwarze Reichswehrmann für das Stück von Bedeutung und in Bezug auf die Figur des Indianers Karl sieht sie Anspielungen auf Frischs Biedermann und die Brandstifter in Lohers Text eingebunden (Vgl. Haas, 2006. 143 f.). Sowohl in der dramatischen Form als auch in der Figurengestaltung und Fabel stellt sie Bezüge zu den Figuren fest. So verweise das Stück in seiner Kürze und Skizzenhaftigkeit bspw. auf Büchners Fragment Woyzeck und in den Szenentiteln und Chören sieht Haas Anleihen an Brecht (Vgl. Haas, 2006, 143 f.). Vor dem Hintergrund von Woyzeck und Trommeln in der Nacht lasse sich außerdem der Name Adam Geist bezüglich der Religion lesen, die in den Dramen von Büchner und Brecht nur noch in Bezug auf Engstirnigkeit und Dummheit vorkomme (Vgl. Haas, 2006, 147). Denn er drücke „nochmals die Zerrissenheit des Individuums zwischen metphysischer und säkularer Geschichte aus: In der Hauptfigur ist dieser Widerstreit personifiziert“ (Haas, 2006, 147). Ebenso sieht Haas in der Szene der Vergewaltigung und Ermordung des Mädchens durch Adam Anklänge an Woyzeck, aber auch an Lenz von Büchner. So fließe darin „die Wut Woyzecks über Maries Untreue [...] mit der geistigen Verwirrtheit von Lenz zusammen“ (Haas, 2006, 148). Darüber hinaus sei Woyzeck und Adam gemein, dass ihr Wahnsinn auf den sozialen Umständen basiere: Woyzeck kann aufgrund von Überarbeitung nicht für Marie da sein und die Anstellung Adams verhindert dessen Besuch bei seiner totkranken Mutter (Vgl. Haas, 2006, 151). Die Verbindung zu Horváths Sladek sieht Haas darin, dass beide – Adam und Sladek – in eine ausweglose Situation geraten und versuchen, das Gute zu tun und für ihre Überzeugung einzustehen, aufgrund mangelnder Bildung dazu aber nicht in der Lage sind (Vgl. Haas, 2006, 150). In dem zynisch-abgeklärten Schlussmonolog Adams blitzt für sie außerdem etwas vom kühl-distanzierten Nicht-Revolutionär Kragler Brechts durch, der ebenfalls um das Leben betrogen wurde (Vgl. Haas, 2006, 150). In Adams Unverständnis gegenüber der Gesellschaft zieht Haas schließlich Parallelen zu Lohers eigenen unterdrückten Figuren, wie Olga, Fadoul oder Concha. Insgesamt sieht sie in den intertextuellen Bezügen aber keinen Hinweis auf eine postmoderne Collage, sondern attestiert Lohers Adam Geist einen individuellen und politischen Sinn (Vgl. Haas, 2006, 153).
Christine Künzel betrachtet Adam Geist unter dem Gesichtspunkt der Umsetzung des Themas Gewalt mit Blick auf Adams „Oszillieren zwischen Opfer- und Täterposition“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 361). In der ersten Szene werde Adam als „mustergültiges Opfer struktureller Gewalt präsentiert“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 361), dem nur der „Ausweg in die Gewalt, sprich in eine ‚Verbrecherkarriere‘ […] bleibe“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 362). Damit werde ihm auch die Verantwortung für sein weiteres Handeln weitestgehend entzogen (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 362). Auch die Friedhofsszene unterliege einer Mechanik, wonach diese mit der Vergewaltigung und Ermordung des Mädchens enden müsse (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 362). Daher sieht Künzel in Bezug auf das Thema Gewalt die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit bzw. Schuldfähigkeit Adams als zentral an. (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 362). Adam werde in der Friedhofsszene sowie in der Szene mit dem Kettensägenmassaker als Triebtäter dargestellt, der nicht in der Lage sei, sich anders zu verhalten, womit die Möglichkeit alternativer Verhaltensweisen nicht berücksichtigt werde (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 363). Jedoch inszeniere Loher die Gewalt nicht ausschließlich als „schicksalhafte Naturgewalt“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 363), sondern variiere ihre Konzeption von Gewalt, sodass diese „zuweilen zum Subjekt des Geschehens erhoben [wird], dass sich der verschiedenen Akteure – hier insbesondere Adams – nur bedient“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 363). Dies mache den Protagonisten zum Objekt der Handlung, wodurch ihm keine Schuld zuzuschreiben sei (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 364). Insgesamt lasse sich Künzel zufolge die Position Lohers zum Thema Gewalt jedoch innerhalb des Stücks kaum ausmachen. Einerseits suggeriere sie Adams Unzurechnungsfähigkeit und Schuldunfähigkeit, andererseits mache sie anhand der Szenen Madonna und Gnade deutlich, dass Adam sich seiner Verantwortung bewusst ist (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 364). Somit erscheine Adam Geist sowohl als Täter als auch als Opfer (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 367).
Für Andreas Gürtler und Angela M. C. Wendt liegt der Ansatzpunkt ihrer Untersuchung von Adam Geist in der Idee des frühen Schillers vom Theater als „moralische Anstalt“, mit welcher Gürtler und Wendt zufolge Loher sich selbst in Verbindung gebracht habe, die aber auch von Rezensionen und Interpretationen zu ihrem Werk aufgegriffen werde (Vgl. Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 349). Gürtler und Wendt sind der Auffassung, dass die Überlegungen Schillers auf „die Gegenwartsautorin Dea Loher nicht anwendbar sind“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 347). Dies zeige sich zunächst daran, dass die religiösen Bilder in Adam Geist keine sinnstiftende Wirkung mehr hervorbringen, während Schiller die Bühne als „wirkungsmächtigstes Medium der Moral“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 349) betrachte (Vgl. Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 348 f.). Das Stück nehme die Heilsgeschichte geradezu zurück. Gott sei hier eine Leerstelle (Vgl. Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 349 f.). Außerdem finde bei Loher keine Verurteilung des Täters statt, wie es Schiller in seinem Konzept zum moralischen Theater fordere (Vgl. Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 353). So stellen Gürtler und Wendt fest: „Sie [Loher] will für Adam Geist beim Zuschauer Verständnis erwecken und verurteilt ihn gerade deshalb nicht. Es geht ihr vielmehr darum, die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu erkennen und damit die Gründe für Adam Geists Gewalttaten zu klären.“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 353) Dies bedeute aber nicht, dass Loher „wie Brecht aus der Position des Wissenden schreiben“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 353) wolle.

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Manhattan Medea

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Thematische Aspekte zu Manhattan Medea [ ↑ ]

Bearbeitung und Aktualisierung ‚klassischer‘ europäischer Stoffkomplexe
Darüber hinaus nimmt sich Dea Loher in Manhattan Medea (1999) des berühmten Mythos um die Bruder- und Kindsmörderin Medea an und überträgt ihn in das New York der Gegenwart. Jason und Medea sind nun illegale Flüchtlinge aus Osteuropa, die vor allem ihre gemeinsam erlebte Not im fremden Land aneinander gebunden hat. Loher erweitert den Stoff außerdem um zwei neue Figuren: den doorman Velazquez und den tauben Transvestiten Deaf Daisy. Als sehr charakteristisch für solche Bearbeitungen Lohers erweist sich insbesondere der subversive Umgang mit gängigen Darstellungen von Geschlechterrollen und -identitäten. Auf einer berühmten literarischen Vorlage beruht außerdem das Stück Quixote in der Stadt. Hier wird der Don Quijote-Stoff von Miguel de Cervantes (Anfang des 17. Jahrhunderts) aufgegriffen und aktualisiert.

Pressespiegel zu Manhattan Medea [ ↑ ]
Die Uraufführung von Manhattan Medea im Oktober 1999 zieht überwiegend kritische Reaktionen auf Text und Regiekonzept nach sich. In der FAZ (25.10.1999) zeigt sich Ulrich Weinzierl, der von „Provinz in des Wortes schlimmster Bedeutung“ schreibt, ausgesprochen ratlos über den Sinn der Aufführung. Für ihn bleibe die Frage nach dem ‚Wozu‘ ohne schlüssige Antwort. Auch Hartmut Krug erachtet die Aufführung in der Welt (25.10.1999) als gescheitert: „Kein starkes Stück der Autorin ist diese deutsch-balkanische US-Medea. Und die in Zusammenarbeit mit dem Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin entstandene Grazer Uraufführung deckt die Schwächen des Stücks erst richtig auf“. Gottfried Krieger moniert in der Stuttgarter Zeitung (27.10.1999) das verfehlte Regiekonzept: „[…], der realistische Anstrich, den ihnen [den Figuren] die Inszenierung verleiht, ist jedoch kein guter Einfall“. In der SZ (28.10.1999) zieht Uwe Mattheis die Bilanz einer „werktreuen Verpfuschung“. Der Regisseur liefere eine unkommentierte Reihung und verlange von seinen Schauspielern etwas, das sie unverdient an den Rand der Lächerlichkeit bringe. Christoph Funke vom Tagesspiegel (02.11.1999) charakterisiert die Uraufführung eher wertungsneutral als „[…] eine auf szenische Effekte völlig verzichtende, mitunter hörspielhaft karge Aufführung, die emotionale Steigerungen bewusst der Musik überlässt“. In der Berliner Zeitung (04.11.1999) spricht Roland Koberg von einem „Inszenierungs-Fake“. Er wünscht dem „Stück, das ein gut geschriebenes und annehmbar gebautes Stück mit eigentlich kräftig gezeichneten Figuren ist“, eine neue Aufführung. In Theater heute (12/1999) übt Franz Wille dagegen deutliche Kritik an Lohers Text: „Moderne Mythen laufen Gefahr, ihre Opfer mit archaischer Kraft in blutige Klischees zu stürzen.“ Zu einer Tragödie sei das Stück durch die Regie und die Schauspieler geworden, was das zeitweise Abgleiten in „eine traurige Farce“ jedoch nicht ausschließe.

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Forschungsspiegel zu Manhattan Medea [ ↑ ]
Resümierend betrachtet, legen die zu Manhattan Medea erschienen Beiträge den Fokus auf die Darstellung Medeas als einer im Mythos gefangenen Figur sowie auf die Bedeutung des doorman und des Transvestiten, den beiden von Loher hinzugefügten Figuren.
Stephanie Catani beschreibt Medea – in Kontrast zu Christa Wolfs Protagonistin – als eine Figur, die sich bereits mit ihrem mythologischen Schicksal abgefunden hat und sich ohne Widerworte darauf beruft. Daraus zieht sie den Rückschluss einer resignativen Aussage des Dramas, die die Möglichkeit einer Innovation des Stoffes leugne (Vgl. Catani, 2007, 316-332, hier: 326 f.). „Loher zeigt eine Medea, die der Möglichkeit, die Vergangenheit zu überwinden, eine klare Absage erteilt.“ (Catani, 2007, 316-332, hier: 327). Diese Unüberwindbarkeit beziehe sich entsprechend auch auf das Paar Medea Jason. Barry Murnane weist außerdem noch daraufhin, dass selbstreferentielle Bezüge zu dem Eindruck führen, Medea wisse selbst um ihre literarische Herkunft und ihre ‚lange Vergangenheit‘ mit Jason, wodurch sich Lohers Transformation im Stück selbst zum Inhalt mache (Vgl. Murnane 2010, 295-318, hier: 312-314). „Die Medea-Tradition insgesamt wird zur unentrinnbaren tragischen Schicksalsinstanz dieser spezifischen Medea.“ (Murnane 2010, 295-318, hier: 314). Darüber hinaus halten Birgit Haas und Barry Murnane aber auch die Bedeutung des kapitalistischen Systems für entscheidend. „Ursache des Unglücks ist die kapitalistische Denkart, verkörpert durch Jason und den Schwiegervater in spe, den Sweatshop-Bos […].“ (Haas 2006, 257). Murnane liest Manhattan Medea als eine Tragödie der Wirtschaft. Bei den aktualisierten Lebensumständen Medeas und Jasons sowie der Verwandlung Kreons in einen Sweatshop-Boss handele es sich um „eine bewusst reflektierte Übersetzung des außerdramatischen Tragödiendiskurses der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Tragik auf die Bühne“ (Murnane 2010, 295-318, hier: 316).
Antje Roeben macht darüber hinaus noch den hohen Stellenwert von Erinnerung und Vergangenheitsbewältigung innerhalb des Stückes stark, da dieser Zusammenhang entscheidend für den endgültigen Bruch zwischen Medea und Jason und damit auch für den Kindsmord sei (Vgl. Roeben, 2008, 93-101, hier: 94 f.). Haas geht ebenfalls auf diesen Aspekt ein: Ihre gemeinsame Geschichte ist hier auch eine Frage der Wahrnehmung, des Sehens: „Durch die Widersprüche in den Erinnerungen des Ehepaars ergeben sich Brüche, die ein einheitliches Bild negieren.“ (Haas, 2006, 255). In diesem Kontext hebt Catani hervor, dass es „keineswegs Erinnerungen an eine ehemals große Liebe, sondern Erinnerungen, die auf gemeinsame Gewalt und Schuld rekurrieren“ (Catani, 2007, 316-332, hier: 327) seien.
Außerdem weist Roeben (wie auch Wogenstein) daraufhin, dass – im Unterschied zu anderen Bearbeitungen – Medea nicht allein als schuldbeladene Mörderin präsentiert werde, da Jason seine Mutter tötete und Medeas Bruder den Tod ihres ungeborenen Kindes forderte (Vgl. Roeben, 2008, 93-101, hier: 100).
Der Figur des doorman Velazquez, der die Malerei seines berühmten Vorbildes nachahmt, wird in Verbindung mit der auf der Bühne inszenierten Verwandlung des Gemäldes eine mythenreflexive- und -kritische Funktion zugeschrieben. Sebastian Wogenstein sieht dadurch „die Frage nach dem Kopieren, der Wiederholung und neuerschaffenden Variation“ (Wogenstein, 2007, S. 298-315, hier: 313) aufgeworfen. Für Haas „befindet sich nicht die Tragödie um Medea, sondern die Herstellung von Kunst im ‚goldenen Schnitt‘“ (Haas, 2006, 259). Catani bezeichnet den doorman als „poetologische Schlüsselfigur“. „Sein künstlerischer Selbstentwurf mündet in einer zentralen Reflexion über Kunst und ihre mythenpoietischen Möglichkeiten: […].“ (Catani, 2007, 316-332, hier: 328). Catani zufolge ist Velazquez die Gegenfigur zu Medea, da sie in ihrem besiegelt geglaubten Schicksal verharre, während er die Arbeit an einer vorhandenen Tradition als Neuschöpfung und letztlich Original behaupte. In diesem Punkt geht Inge Stephan mit Catani überein. Sie leitet daraus allerdings nicht nur eine kritische Sicht auf die Figur Medea, sondern auch einen kritischen Blick auf das Verständnis vom Mythos als etwas Unveränderliches ab (Vgl. Stephan 2005, 95-110, hier: 108). Haas sieht in der Maler-Figur noch stärkeres Potential: „Das Stück befreit sich dadurch von den Fesseln der Tradition, und zwar in jeder Hinsicht: Aus einem Abbild kann in der Nachdichtung nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich etwas völlig Neues hervorgehen.“ (Haas, 2006, 259 f.). Auch Barry Murnane hält die Verwandlung des Gemäldes für ein Zeichen der Verwandlungsfähigkeit des Medea-Mythos (Vgl. Murnane 2010, 295-318, hier: 310). Da die Familiengeschichte Stephan zufolge als Parabel auf eine auf Gewalt basierende Gesellschaft gelesen werden könne, lasse sich aus dieser Mythenkritik trotz des Kindsmords eine weitergehende Hoffnung ableiten: „Die Kunst – in diesem Fall die Malerei – kann aufgrund ihrer verändernden Kraft die Starre von Verhaltensmustern, Gesellschafts- und Geschlechterordnungen spielerisch aufbrechen.“ (Stephan 2005, 95-110, hier: 109).
Die Figur Deaf Daisy, ein Transvestit, wird als „Figur der Überschreitung“ wahrgenommen, die den kulturell-gesellschaftlichen Code wiederhole und zugleich unterlaufe (Vgl. Wogenstein, 2007, S. 298-315, hier: 307). Es handele sich um einen „neutralen Beobachter […], der die Gender-Differenz sozusagen in seiner eigenen Person destruiert.“ (Haas, 2006, 264). Haas weist außerdem daraufhin, dass die Wahrnehmung beider Figuren zu einer Art Verdopplung der Tragödie führe, die das Geschehen in eine gewisse Distanz rücke: „Dies ergibt sich erstens durch die Wahrnehmung der Velaquez-Figur [sic], die alles aus der Sicht des Malers kommentiert, zweitens durch den Transvestiten Deaf Daisy, der das Geschehen als Schauspiel wahrnimmt und sich daran ergötzt.“ (Haas, 2006, 258).

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Klaras Verhältnisse

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Pressespiegel zu Klaras Verhältnisse [ ↑ ]
Über die Besprechungen der Uraufführung von Klaras Verhältnisse lässt sich zunächst sagen, dass keiner der hier berücksichtigten Kritiker den Stücktext Dea Lohers und die Inszenierung von Christina Paulhofer lobt. Sie plädiern entweder für das eine oder das andere. Einzelne sprechen sich sogar gegen beide aus. So schreibt Karin Cerny in der Berliner Zeitung (03.04.2000): „In Dea Lohers jüngstem Stück gibt es nur wenige Szenen, die gut funktionieren“. Vor allem kritisiert sie den hohen Monologanteil, in dem die Figuren sich selbst erklären: „Das Stück liegt sozusagen auf der Couch und analysiert sich selbst. Für Geheimnisse ist absolut kein Platz, freizügig und ungefragt breiten die Figuren in kleinen referatartigen Monologen aus, was mit ihnen los ist.“ Auch die Inszenierung findet bei ihr keinen Anklang. Die Regisseurin Christina Paulhofer wisse „nicht so recht etwas anzufangen mit dem Text“. Und die Lebendigkeit, um die es im Stück gehe, sei in Paulhofers Inszenierung „völlig gestrichen, die Figuren [erscheinen Cerny nur] monochrom und kalt“. Ähnlich vernichtend urteilt Ulrich Weinzierl in der FAZ (03.04.2000) über das Stück und seine Uraufführung. Auch er moniert, dass die Figuren sprachlich zu viel über sich selbst Preis geben: „Dies füllt gut zwei Stunden und nimmt den Figuren jede psychologisch überzeugende Dimension.“ Er hält die Aufführung für „oberflächliche Theaterei“ und resümiert: „Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Zumindest nicht so fabelhaft uninteressant, wie uns Dea Loher und Christina Paulhofer glauben machen wollen.“ In anderen Kritiken hingegen wird Dea Lohers Stück weitaus positiver besprochen. „Loher ist mit Klaras Verhältnisse ein vielschichtiges politisches Zeitstück gelungen, das jenseits des tagespolitischen Geplänkels Kernfragen unseres Lebens thematisiert, in dem es eben keine Gebrauchsanleitung für das Glück gibt“, heißt es von Wolfgang Reiter in der Welt (04.04.2000). In der Presse (Unbekannter Autor, Wie man eine blendende Satire mit viel Aufwandstück verschenkt, 03.04.2000) wird es sogar als „boshaftes Meisterstück“ bezeichnet. Die Regisseurin sei es, welche das Stück mit ihrer Inszenierung „hinrichte“. So wird in der Presse kritisiert, dass Paulhofer sich vorwiegend zahlreicher Effekte, wie bspw. eines brennenden Bügeleisens, bediene und daher die Inszenierung lediglich so wirke, „als hätte eine Regisseurin gemeint, sie müsse die vielen Möglichkeiten einer Staatsbühne ‚abarbeiten‘“. Cornelia Niedermeier weist in der Tageszeitung (02.04.2000) außerdem darauf hin, dass es „für die im Wesentlichen ungekürzte Wiedergabe der Monologe […] einer Inszenierungsidee [bedarf], die die Trennung der Sprachebenen aufnimmt“. Diese fehle bei Paulhofers Inszenierung. Auch Reinhard Karger ist in der Stuttgarter Zeitung (12.04.2000) der Auffassung, dass für die langen Monologpassagen „eine ganz andere Erzählperspektive [hätte] gefunden werden müssen“. Stattdessen wird laut Karger aus Lohers Stück unter der Regie Paulhofers ein „steife[s] Aufsagetheater“, welches ihn zu dem Schluss kommen ließ: „Lohers Stück hätte eine dramaturgisch schlüssigere Umsetzung verdient.“ Im Kontrast dazu stehen die Aussagen der Kritiker von der SZ, der Zeit und dem Tagesspiegel. So urteilt C. Bernd Sucher in der SZ (03.04.2000): „Der Text ist ein Debakel. Keines ist Christina Paulhofers Inszenierung.“ Sie nähere sich dem Stückentwurf ganz spielerisch, nehme „ganz leicht, was Dea Loher schwer erdacht, schwer gemacht“ habe, so Sucher. Für ihn bleibe Loher „entsetzlich ernst“, während Paulhofer sich „vorsichtig [über die Figuren mit ihren Problemen] lustig“ mache. Das sei „Lohers Rettung“. Als solche sieht auch Andres Müry von der Zeit (06.04.2000) die Inszenierung der Regisseurin. Denn seiner Meinung nach gelingt es ihr, die im Stück enthaltenen komischen Ansätze auszubauen und so eine bloße Neuauflage von Botho Strauß‘ Groß und klein, mit dem Klaras Verhältnisse in vielen Kritiken vergleichen wird, zu verhindern. Denn „Klara (Judith Hofmann) bekommt anstelle des abendländischen Herzens einen hochtourigen Comedy-Motor eingepflanzt“. Ebenso zeigt man sich im Tagesspiegel (Unbekannter Autor, Sechs Personen suchen eine Liebe, 05.04.2000) von der Inszenierung, statt von der Vorlage begeistert: „Regisseurin Christina Paulhofer versteht es überzeugend, Dea Lohers Versuchsanordnung […] von ihrem steifen Erklärungscharakter zu befreien. Sie unterlegt das Geschehen mit atmosphärischen Hintergrundgeräuschen und verhilft ihm zu einer fast musikalisch strukturierten Bewegtheit und theatralischen Leichtigkeit.“ Selbst die Streichung des Stückschlusses, der vorsieht, dass Klara sich umbringen möchte und von einem Chinesen gerettet wird, wird im Tagesspiegel als guter Eingriff in Lohers Vorlage angesehen. So heißt es: „Anders (und richtiger) als in der Buchfassung […] endet das Stück in Wien mit offenem Schluss: zwischen hoffnungsfroh und hoffnungslos.“
Weitere Inszenierungen finden u.a. in Zürich (2000), Hamburg (2000), Darmstadt (2001), Bonn (2002), Paris (2004), München (2004) und Lüneburg (2013) statt. Doch fällt mit Blick auf die Kritiken bei vielen Folgeinszenierungen auf, dass Lobeshymnen auch hier meist ausbleiben. So bemerkt Barbara Villiger Heilig von der NZZ (16./17.12.2000) bei der Inszenierung des Intendantenduos Crescentia Dünsser und Otto Kulka im Züricher Theater Neumarkt, dass sich die Aufführung „nach einem leichtfüßigen Auftakt immer angestrengter von Bild zu Bild arbeitet“ und „gewisse Klischees leider […] zünftig plattgewalzt werden“. Auch die im Jahr darauf folgenden Vorführung von Lohers Text in der Inszenierung von Dünsser und Kulka im Finale der Mülheimer Theatertage wird in den Ruhr Nachrichten (Unbekannter Autor, Vertändelt vertrödelt, vertan, 12.06.2001) kritisiert: „Fast zwei Stunden lang Zustandsbeschreibungen, statt gelebter Zustände. Wahrhaft schlimme Verhältnisse.“ Als regelrechter Verriss kann die Rezension Blasse Blumen von Dirk Fuhrig in der FR (23.04.2001) über die Inszenierung von Thomas Janßen am Staatstheater Darmstadt benannt werden. Darin spricht Fuhrig davon, dass Janßen das Stück „uninspiriert auf die Bühne“ bringt. Er moniert vor allem, dass der Regisseur „wenig Mühe darauf verwendet, die Figuren zu konturieren. Nur selten wirken die Bilder scharf umrissen, leuchtet darin etwas von einer Idee, der Idee des Stückes gar, auf“. Ähnlich ergeht es der Bonner Inszenierung in den Kammerspielen Bad Godesberg unter der Regie von Beat Fäh. Dieser schenkt die Presse zwar verhältnismäßig viel Beachtung, allerdings ebenfalls mit überwiegend negativen Urteilen. Ulrich Deuter kritisiert in der SZ (16.12.2002) auf metaphorische Weise: „Klara ist ein Buchstabengeschöpf, getippt von ihrer Autorin Dea Loher, und aus diesem relativ trockenen Substrat hat Beat Fäh keine heiße, kräftige Suppe gekocht, was durchaus möglich gewesen wäre, sondern er hat es aufs Papier seiner Inszenierung geschüttet, um es dort auseinander und damit in Bedeutungslosigkeit zu ziehen.“ Darüber hinaus diagnostiziert er Fäh‘s Inszenierung Beliebigkeit, die Langeweile schaffe. Rainer Hartmann unterstellt der Regie im Kölner Stadtanzeiger (16.12.2002) sogar „sich wichtig zu machen durch interpretatorisches (Über-)Treiben“. Im General-Anzeiger (16.12.2002) wirft Hans-Christoph Zimmermann Fäh außerdem vor, dass seine Figuren „so langsam zwischen Ernst und Absurdität hin und her [changieren], bis man keine Regung mehr für bare Münze nimmt“. Damit stimmt auch Gudrun Norbisrath in der WAZ (17.12.2002) überein und kritisiert außerdem, dass der Regisseur auf „modischen Murks und verkrampfte Theatralik“ setze. Deutlich positiver fallen die Kritikerurteile bspw. zur Regiearbeit von Stephan Rottkamp in den Müncher Kammerspielen aus. Denn Thomas Thieringer von der SZ (13./14.03.2004) ist der Auffassung, dass Rottkamp zwar fast keine Chance habe, Leben aus dem „spröden Text“ zu gewinnen, „aber er nutz[t]e sie“. Nach einem „äußerst zäh[en]“ Start, wurde, seiner Meinung nach, „die Aufführung richtig schön und fast zu gewichtig für diesen Text“. Marion Ammicht spricht in der FR (13.03.2004) von Stephan Rottkamp sogar als „virtuose[n] Textbearbeiter“ und hält seine Idee für die Kulisse, welche aus unterschiedlich nutzbaren Papiertapeten besteht, für „großartig“. Allerdings scheitert „das Klara-Experiment an diesem Abend letztendlich“ für sie, aufgrund der „faden Type[n]“, weil der Regisseur mit seinem Konzept seinen Schauspielern „jeglichen Witz“ nehme.  

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Forschungsspiegel zu Klaras Verhältnisse [ ↑ ]
Im Mittelpunkt der Betrachtungen von Birgit Haas zu Klaras Verhältnisse stehen die in diesem Stück hervortretende Komik in Verbindung mit der Tragik sowie der Bezug zu Brechts epischen Theater, insbesondere durch die von Haas konstatierte Thematisierung der brechtschen Dramatik innerhalb des Stücks.
Haas zufolge werfe Loher mit ihrem Stück über die erfolglos arbeitsuchende Klara einen „verschmitzten, zugleich jedoch kritischen Blick auf die Gesellschaft.“ (Haas, 2006, 154). Denn trotz der in diesem Stück auffallend komischen Elemente entstehe kein banaler Klamauk, sondern hinter der komischen Fassade werde der Blick auf die menschliche Tragödie freigegeben (Vgl. Haas, 2006, 154). Haas stellt fest: „Das Stück ist also tragikomisch in dem Sinne, dass beide Elemente vertreten sind, ohne dass eines von beiden die Oberhand gewinnt.“ (Haas, 2006, 155). Dies versteht sie als eine brechtsche Sichtweise, da Brecht die Trennung der Genres für unproduktiv halte (Vgl. Haas, 2006, 155). Das Tragikomische des Stückes sieht Haas z.B. in der Art und Weise, in welcher es Klaras vergebliche Versuche Geld zu verdienen vorführt: Von der technischen Redakteurin, die falsche Gebrauchsanleitungen verfasst, um das Unternehmen zu sabotieren, gerät Klara zur schlecht bezahlten Babysitterin, die für zusätzliches Geld Blutspenden geht und ihren Körper für medizinische Versuchsreihen zur Verfügung stellen will, bis hin zur Prostituierten, als welche sie ungewollt schwanger wird und sich deshalb versucht umzubringen, wobei sie jedoch durch einen unwahrscheinlichen Zufall von einem chinesischen Essensverkäufer gerettet wird (Vgl. Haas, 2006, 157). Es handle sich bei Loher um keine oberflächliche Komik, die automatische Lacher hervorrufe, sondern sie resultiere aus den Widersprüchen und Brüchen im Stück (Vgl. Haas, 2006, 163 f.). Haas ist der Auffassung: „Mit Klaras Verhältnisse knüpft Loher an Brechts Versuchen an, die Komödie mit dem epischen Theater zu verbinden, damit sie nicht in pure Unterhaltung abgleitet. Sie schließt sich Brecht an, der nicht nur das ‚Allgemein-Menschliche‘ als ahistorisch ablehnt, sondern auch das ‚Ewig-Komische‘.“ (Haas, 2006, 163). Haas stellt darüber hinaus allerdings ebenfalls fest, dass Loher das epische Theater Brechts in ihrem Stück parodiert (Vgl. Haas, 2006, 161). Sie weißt in ihrer Abhandlung in Bezug zur der Szene, in der Elisabeth ihr „Herz“ in Form eines Gummiherzens Tomas vor die Füße wirft, daraufhin: „Die betont selbstreflexive Situation im Stück ironisiert das Modell der Straßenszene [von Brecht], in der es um die Verdopplung der Haltung des Akteurs geht.“ (Haas, 2006, 161). Durch die übertriebene Darstellung des Herzschmerzes von Elisabeth und den Streit um ein wertloses Gummiherz, woraus wiederum Komik resultiere, werde auf ironische Weise ein Grundelement der brechtschen Dramatik zur Schau gestellt (Vgl. Haas, 2006, 162-164). Somit überschreite Lohers Stück „die Grenzen der epischen Spielweise, indem es die Vermischung der Realitätsebenen im Stück um das Darstellen von Brechts Dramatik ergänzt“ (Haas, 2006, 164).

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Der dritte Sektor

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Dea Lohers Dritter Sektor, ursprünglich unter dem Titel Anna und Martha erschienen, wird am Hamburger Thalia Theater in der Gaußstraße unter der Regie von Dimiter Gottscheff uraufgeführt. Die Reaktionen darauf fallen sehr unterschiedlich aus. Während Ulrich Fischer in der Saarbrücker Zeitung (18.05.2001) Der dritte Sektor als Lohers „bislang bestes Stück“ bezeichnet und sogar von einer „Repolitisierung des deutschen Gegenwartsdramas, die aufhorchen lässt“ spricht, hält Ralph Hammerthaler von der SZ (18.05.2001) es für einen „kleinen Text“, welchen Gottscheff „in komischen Nummer zu retten“ versuche. Dies gelinge ihm jedoch nicht, da „man am Ende nicht mehr als den Eindruck bekommt: alles wurscht“. Außerdem weist er kritisch daraufhin, dass Loher für ihre Figur Xana bei Büchner das Sterntaler-Märchen aus dem Woyzeck „geklaut“ habe. Für Fischer hingegen zeigt Loher sich in ihren Anspielungen auf Büchner, aber auch auf Beckett und Genet als „Kennerin der europäischen Dramen-Geschichte“. Doch auch Ulrike Kahle vom Tagesspiegel (21.05.2001) sieht die auffallenden Anleihen an bekannten Stücken eher negativ: „Ein verbrauchter Stoff, aus dem Loher trotz ihrer kraftvollen Sprache keinen neuen Funken schlägt. Und den Regisseur Dimiter Gottscheff mit seiner stilisierten Umsetzung noch schwächt.“ Auch Eberhard Rathgeb urteilt negativ in der FAZ (18.05.20001), dass der Regisseur das Stück mit „mondfahlem sozialen Ernst“ inszeniere und Stefan Grund bemängelt in der Welt (18.05.2001), dass Gottscheff durch zu hohem Aufwand und zu vielen Effekten „zu einer dem Text unangemessenen Handlung“ gelange. Er „will mehr und erreicht weniger“, so Grund. Im Rheinischen Merkur (Unbekannter Autor, Hamburg Thalia Theater: „Der dritte Sektor“ von Dea Loher, Autor 25.05.2001) heißt es sogar, dass Gottscheff das Stück „umbringe“. Ganz im Gegenteil dazu argumentieren Frauke Hartmann in der FR (19.05.2001) und Klaus Witzeling in der Tageszeitung (19./20.05.2001). Zwar behandle Gottscheff mit seinen Streichungen, Zusammenfassungen und Umschreibungen „Lohers Text nicht sonderlich ehrfurchtsvoll“, dennoch hebe der Regisseur mit seinen Veränderungen die Stärken des Stückes hervor, so Hartmann. Insbesondere betont sie die Vollendung „der wunderbaren Wortbilder“ Lohers durch die Regie. Ebenso sieht Witzeling in der Uraufführungsinzenierung, dass Gottscheff Lohers kraftvolle Worte „zum Fliegen und zielsicheren Treffen“ bringe.
Im Jahr 2013 wird das Stück unter dem Titel Anna und Martha. Der dritte Sektor vom Projekttheater Vorarlberg unter der Regie Susanne Lietzows neu inszeniert. Das Projekttheater gastiert damit nach der Premiere, auch am Wiener Theater Nestroyhof Hamakom und am Kleinen Theater in Salzburg. Vor allem die Schauspielkunst der zwei Darstellerinnen Maria Hofstätter und Martina Spitzer, welche das eigentliche Vier-Personen-Stück allein bestritten, werden in den Rezensionen fokussiert. Geradezu „beängstigend real“ gelangen, laut Christa Dietrich von den Vorarlberger Nachrichten (21.01.2013), den Schauspielerinnen ihre Darstellungen in einer „äußerst geglückten Reanimation“ des Stückes. Nach Norbert Mayer von der Presse (20.02.2013) halte Hofstätter als Martha „das Kunstwerk in Balance“, welches zur Übertreibung neige. Darüber hinaus attestiert er beiden Protagonistinnen trotz der Anleihen an Stücken wie Genets Zofen „genug Eigenleben, um zu entzücken“. Ebenso sieht Dagmar Ullmann-Bautz von Kultur, der Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft (20.03.2013), die beiden als „absolutes Dream Team“, welches es verstehe, „die Zuschauer in ihren Bann zu ziehen“. Über die Arbeit der Regisseurin resümiert Kai Krösche in der Wiener Zeitung (21.02.2013): „Mit wenigen Mitteln und sich auf das scharf konturierte Spiel der Schauspielerinnen konzentrierend, gelingt Lietzow eine intensive und mitreißende Interpretation des beunruhigenden Textes.“ Völlig begeistert von dem „beeindruckende[n] Text, [den] überzeugenden Schauspielerinnen sowie [der] einfallsreiche[n] Regie“, spricht er der Neuauflage von Lohers Der dritte Sektor eine „(alp-)traumhafte[…] Sog[wirkung]“ zu.

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Forschungsspiegel zu Der dritte Sektor [ ↑ ]
In ihren Ausführungen zu Der dritte Sektor legt Birgitt Haas ihr Augenmerk auf dessen sozialkritischen Inhalt in Kombination mit den intertextuellen Bezügen des Stücks. Sie untersucht es auf die Verwendung von Mitteln des epischen Theaters, entdeckt aber auch Verweise auf das absurde Theater und zeigt Anspielungen zu Büchner, Brecht, Becket, Genet, Bernhard und Heiner Müller auf (Vgl. Haas, 2006, 165).
Das Stück, welches die „Freiheit des Individuums bzw. seine Unterdrückung“ (Haas, 2006, 167) zur Debatte stelle, zeige Haas zufolge in Gestalt der Bediensteten Anna, Martha, Meier Ludwig und Xana „Unterdrückte im doppelten Sinne: Erstens: der SED-Diktatur, zweitens der Chefin Frau Bierbaum“ (Haas, 2006, 165). Im Mittelpunkt stehe jedoch „die Ausbeutung der Arbeitskraft durch die ‚Herrin‘ sowie der Warencharakter der Kommunikation“ (Haas, 2006, 165). Doch auch unter den Unterdrückten herrsche keine Gleichheit, sondern eine Hackordnung, angeführt von der Köchin Martha. Hierin sieht Haas eine Übereinstimmung mit Genets Zofen, erkennt im tyrannischen Verhalten der Bediensteten untereinander aber auch die Nähe zur Figurenkonstellation des absurden Theaters, bei welchem sich die gesellschaftlichen Randfiguren gegenseitig bekämpfen (Vgl. Haas, 2006, 166 f.). Des Weiteren sieht Haas in Lohers „Geschichtsdrama ohne Handlung“ (Haas, 2005, 167) durch das fast ausschließlich stattfindende Leiden und gegenseitige Zufügen von Schmerzen unter den Bediensteten einen Verweis auf Becket, in dessen Stücken die Unterprivilegierten ihre Frustration am jeweils Schwächeren ausleben, statt sich gegen die Gewaltstrukturen zu solidarisieren (Vgl. Haas, 2006, 167). Darüber hinaus zieht Haas, aufgrund des fast regungslosen Wartens der Figuren, den Bezug zu Beckets Warten auf Godot. So stellt sie fest: „Ähnlich wie bei Becket können sie nicht anders als reden und ausharren.“ (Haas, 2006, 168). Doch auch „Brechtsche Kunstgriffe sind im ganzen Drama präsent“ (Haas, 2006, 172). So zeige sich bspw. in Szene 18 – in der sowohl Anna als auch Martha Xanas Worte von den Lippen ablesen und jeweils laut aussprechen, da Xana nicht mehr reden kann – mithilfe des Verfremdungseffekts, der sich aus der Wiederholung der Worte ergibt, die Kritik an der Bevormundung der beiden gegenüber Xana (Vgl. Haas, 2006, 172). Eine farcehafte Übertreibung des V-Effekts finde außerdem innerhalb des Stücks statt, indem der Chauffeur, als „armer Hund“, laut Regieanweisung von seinem Hund verkörpert werden soll und dabei der Satz „dargestellt von seinem Hund“ bei jeder Nennung wiederholt wird (Vgl. Haas, 2006, 175). Insgesamt stelle Loher in ihrem Stück „das kapitalistische Wesen der Arbeit heraus, die Ausbeutung und ihre entmenschende Wirkung, welche schließlich in der Entzweiung der Unterprivilegierten unter sich endet.“ (Haas, 2006, 177). Sie zeige, dass selbst der Wegfall der Chefin als „Unterdrückerin“ keinen Umbruch mit sich bringt (Vgl. Haas, 2006, 177). Somit liest Haas Der dritte Sektor letztendlich als „leise resignierte Absage [Lohers an den] marxistischen Glauben, dass sich mit den materiellen Verhältnissen auch die Denkweisen verändern lassen“ (Haas, 2006, 177).

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Unschuld

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Formale Aspekte zu Unschuld [ ↑ ]

Erzählende Figuren
In Unschuld hingegen spricht bspw. der eigentlich im Koma liegende Herr Mirrador das Publikum direkt an und gibt so Hintergrundinformationen aus der Vergangenheit, die ihm in der laufenden Handlung verwehrt bleiben. Außerdem findet sich in diesem Stück der besondere Fall, dass Figuren (Bingo und Vito) mitten im Dialog plötzlich in der dritten Person von sich selbst sprechen und auf diese, zu sich selbst Distanz aufbauende und auf sich selbst schauende Weise, erzählend die eigenen Gedanken und Handlungen kommentieren.

Beispiel: Auszug aus Manhattan Medea (S.56 f.)

MEDEA […] Mein Bruder sagt Warum Ist sie anders Das geht die vierte Nacht so Die nächste Nacht noch und der Sack ist leer. Jason sagt Wir werden für sie hungern. Mein Bruder sagt Ich hungere für niemand mehr seit ich die Küste meines Landes zuletzt gesehen Das ist mein Schwur. Er reißt das Brot aus meiner Hand. Jason sagt Schwein Mein Bruder Es gibt keinen Grund Jason Sie ißt für zwei Mein Bruder Feines Paar Das sagt ihr jetzt Jason Nicht dein Geschäft Mein Bruder Wir sind zu dritt auf dieses Schiff gegangen Wir werden dieses Schiff verlassen zu dritt […]

Verwendung ,sprechender‘ Namen
In vielen ihrer Stücke gibt Dea Loher ihren Figuren sprechende Namen. Dies dient der Reflexion des Bühnengeschehens, welches durch Verwendung solcher Bezeichnungen „je nach Drama relativiert, verdoppelt oder lächerlich“ (Haas 2006, 41) gemacht wird. So heißt bspw. der Spießer in Klaras Verhältnisse Gottfried, die Diabetikerin in Unschuld Frau Zucker oder im Stück Das Leben auf der Praça Roosevelt die Zahlensprecherin einer Bingohalle Bingo. Ein weiteres Beispiel findet sich in Tätowierung: Darin tragen die Figuren Spitznamen wie Ofen-Wolf und Hunde-Jule, wodurch Bezug auf ihre Berufe genommen wird und zugleich ihr Charakter karikiert wird. Dadurch wird auch die Komik, welche Dea Lohers Stücke trotz der komplexen und überwiegend negativ besetzten Grundthemen durchzieht, unterstützt.  

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Pressespiegel zu Unschuld [ ↑ ]
Dea Lohers Unschuld in der Inszenierung von Andreas Kriegenburg am Hamburger Thalia Theater löst sowohl regelrechte Begeisterungsstürme, als auch absolut vernichtende Urteilsäußerungen seitens der Presse aus. „Großartig“, lautet Stefan Grunds Urteil in der Welt (13.10.2003) zur Uraufführung des Stückes. Seiner Meinung nach habe das „erprobte Team Loher & Kriegenburg“ mit Unschuld „einen neuen Höhepunkt der Gegenwartsdramatik“ erarbeitet. „[E]ine[s] der schönsten Dramen der letzten Zeit“, schrieb Peter Michalzik in der FR (18.10.2003). Ebenfalls beeindruckt äußert sich Michael Börgerding im Theater heute-Jahrbuch (2003): „Dea Loher scheint angekommen zu sein. Sie verfügt über die Mittel, ihre Geschichten so zu erzählen, wie sie erzählt werden müssen.“ Mit regelrechter Euphorie lobt Christine Dössel in der SZ (14.10.2003) die Arbeit von Loher und Kriegenburg. So schreibt sie über das Werk der Autorin: „Unschuld ist ihr wahrscheinlich bester, dichtester, privatester und zugleich welthaltigster Text, eine poetische Elegie von sprachlicher Schönheit und Kraft, getragen von dunkler Wehmut ebenso wie von sarkastischem Grimm.“ Kriegenburg, als „ideale[r] Regisseur“, habe dieses Stück „bravourös“ zur Uraufführung gebracht. „Wie er spielerisch alles Schwere leicht macht und aus dem Daseinsunglück der Figuren ein Theaterglück zaubert, ist eine inszenatorische Meisterleistung“, so Dössel. Beeindruckt zeigt sie sich außerdem von dem gelungenen hochnotkomische[n] Balanceakt zwischen Tragödie und Farce“ und dem Wechsel „[l]eise berührender Szenen“ mit „hinreißenden Slapsticknummern“. Die Leichtigkeit der Inszenierung imponiert auch Willy Theobald von der Financial Times Deutschland (13.10.2003). Dem Ensemble und der Regie gelingt nach seiner Auffassung „ein leichtfüßiges poetisches Märchen aus Licht, Schatten, Projektionen und Musik“, das das Publikum „verzaubere“, wenngleich das Stück selbst ihn nicht überzeugt. Ganz und gar nicht verzaubert zeigt sich Irene Bazinger in der FAZ (13.10.2003), weder von Lohers Stück noch von Kriegenburgs Inszenierung. Als „dürftige […] Kolportage trockene[r] Boulevard-Lesefrüchte [mit] feuchtfröhlich-süßliche[n] Erbaulichkeiten“ und „dubios-dreiste Klischeefolge“ bezeichnet sie Unschuld. „Alles taucht auf, doch nichts bewegt“, resümiert Bazinger. Und diesem Prinzip folgend lasse Kriegenburg „das Ensemble unverbindlich, aber gefällig, ausgefeilt, aber nichtssagend drei Stunden eifrig Schaum schlagen“. Der vom Stücktext überzeugte Peter Michalzik fügt in der FR (18.10.2003) als weiteren Kritikpunkt zur Inszenierung hinzu, dass Lohers „dialogische Qualitäten“ unter der Regie von Kriegenburg verschwänden, weil er „Textflächen“ inszeniere. Darüber hinaus fragt Barbara Burckhardt in Theater heute (12/03) im Hinblick auf die Inszenierung: „Wo ist Lohers Traurigkeit geblieben und ihre kleine Hoffnung auf Güte?“ Denn Kriegenburg drücke sich vor dem „abgründig melancholischen Realismus“ in Lohers Unschuld. Somit zieht sie das Fazit: „Kriegenburgs panische Angst vorm Kitsch garantiert auch diesmal einen gelungenen Theaterabend. Von Schuld und Sühne, Hoffnung und Versagen will er allerdings lieber nicht zuviel wissen.“
Von den nachfolgenden Inszenierungen in Köln (2004), Freiburg (2006), Kassel (2010), Berlin (2011), Münster (2013) und Bremen (2013) findet vor allem die Berliner Inszenierung von Michael Thalheimer am Deutschen Theater Anklang in der Presse. Mit einem neuen, raueren Ton inszeniere Thalheimer laut Anke Dürr auf Spiegel online(30.09.2011), Dea Lohers Unschuld. Christine Wahl vom Tagesspiegel (30.09.2011) hebt v.a. die „genaue Textarbeit“ und das „[s]ouverän[e] [U]mschiffen […] jedwede[r] Pathosfalle“ durch den Regisseur und sein Ensemble hervor. Iris Alanyali von der Weltlobt: „Das Stück ist komprimiert, das Timing perfekt, das Erstarren in Posen und Verweilen in Sprechblasen angemessen komisch und ironisch.“ Das Problem der Inszenierung sei aber, dass sie nicht berühre. Sie sei „[n]ur immer sehr ‚interessant‘. Und vor allem: sehr mechanisch“. Dirk Pilz von der NZZ (04.10.2011) hält die Inszenierung aber insgesamt für eine „geglückte Erstbegegnung“ des Regisseurs mit der Dramatikerin.
Für Schlagzeilen sorgt außerdem die zwei Jahre später erfolgte Inszenierung von Alexander Riemschneider am Bremer Theater. Der Spiegel online (30.09.2013) titelt: Autorin untersagt Inszenierung ihres Stückes. Dea Loher und ihr Verlag werfen dem Theater „massive Urheberrechts- und Vertragsverletzungen“ sowie „mangelndes Bewusstsein für dramaturgische Verantwortung“ vor, weil die Figur Ella in dieser Inszenierung gestrichen wurde. Dadurch fehle „die tragende Struktur“ und der „Sinnzusammenhang des Stücks“ sei nicht mehr gegeben, so Dea Loher laut Spiegel online. Daraufhin einigen sich das Bremer Theater und der Verlag der Autoren darauf, dass Ella wieder in das Stück integriert werden muss. So heißt es schon am 01.10.2013 auf Spiegel online: Die „Unschuld“ kommt in Reinform zurück.

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Forschungsspiegel zu Unschuld [ ↑ ]
Birgitt Haas sieht in Unschuld „eine Reflexion der post-postmodernen Gesellschaft“ (Haas, 2006, 197). Sie untersucht das Stück sowohl auf Mittel des modernen, brechtschen Theaters als auch auf filmische Ausdrucksweisen und fokussiert in ihrer Analyse den Effekt der dadurch entstehenden Unschärfen.
Das Grundthema des Stücks liegt für Haas in der philosophischen Frage nach dem Sinn des Lebens in der heutigen Welt (Vgl. Haas, 2006, 201). In einzelnen Geschichten werde die Situation der Figuren Elisio, Fadoul, Absolut, Rosa, Franz, Frau Zucker, Frau Habersatt, Ella und Helmut „kurzzeitig erhellt“ (Haas, 2006, 208). Dies geschehe innerhalb einer filmischen Struktur mit Hilfe harter Schnitte. Inspiriert von der künstlich vereinfachenden Filmästhetik, wie sie von den Dogma 95-Regisseuren entwickelt wurde, betone Loher in Unschuld Brüche und Leerstellen (Vgl. Haas, 2006, 197 f.). So konstatiert Haas: „Brüche, Begrenzungen und Unsicherheiten ergeben sich durch die mit harten Szenenwechseln ineinander verwobenen Handlungsstränge, durch die unterschiedlichen und jeweils individuell begrenzten Blicke, die die einzelnen Figuren auf die politischen Gegebenheiten werfen.“ (Haas, 2006, 198). Durch die Schnitte zwischen den Szenen und die dramatisch präsentierte Sichtweise der Figuren werde die Positionierung des Zuschauers gelenkt, ohne dass dieser das Geschehen im Ganzen überblicken könne. Der Einsatz der Mittel des brechtschen Theaters breche die Führung des Zuschauerblicks jedoch auf (Vgl. Haas, 2006, 201). Denn Loher wolle ein nicht-illusionistisches Theater bieten, weshalb bspw. auch die Figuren durch das Schaffen von Distanz verkünstlicht werden (Vgl. Haas, 2006, 205). Auf sprachlicher Ebene erfolge dies vor allem in der häufigen Unterbrechung der Dialoge durch erzählende Kommentare. Dadurch erhalte der Zuschauer zusätzliche Informationen über die Figur, um sich in kritischer Auseinandersetzung ein Urteil bilden zu können. Die somit ausgestellte Künstlichkeit verhindere die Identifikation mit den Figuren (Vgl. Haas, 2006, 205-207). Während Haas in seiner Form dem Stück Anleihen des epischen Theaters zuspricht, sieht sie in seiner Aussage jedoch eher die Nähe zum absurden Theater, da „die Menschen immer wieder die Sinnfrage stellen, die das Universum jedoch mit Schweigen quittiert.“ (Haas, 2006, 2010). Loher vermeide in Unschuld eine klare geschichtsphilosophische Position. Mit Blick auf die Einzelschicksale der Figuren lasse sich keine eindeutige Aussage ableiten. Das Stück stelle lediglich die Gegenpole des Denkens vor und spiele sie gegeneinander aus (Vgl. Haas, 2006, 216). Haas zufolge entstehen durch die episodische Struktur und Verfremdungseffekte letztlich Unschärfen: „Die Übergänge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Schuld und Unschuld werden fließend.“ (Haas, 2006, 218).
Der Fokus Christine Künzels richtet sich in ihrer Betrachtung von Unschuld auf das Thema Gewalt. Zum einen bezieht sie sich dabei auf die Form des Selbstmords als Gewalt gegen sich selbst, und zum anderen auf die Gewalt als Mittel zur Erlangung gesellschaftlicher Aufmerksamkeit (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 366). So werde der Selbstmord „als eine unsichtbare Form der Gewalt, als Gewalt ‚von innen‘“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 366) innerhalb des Stückes dargestellt, ohne nach Ursachen zu fragen. Lediglich als innerer Trieb, als „Todestrieb“ werde der Selbstmord begriffen (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 366). In Künzels Untersuchung der Gewalt „als Mittel zum Einsatz im Kampf um gesellschaftliche Aufmerksamkeit“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 366) verweist sie ebenfalls auf einen Selbstmörder, der sich von einer Autobahnbrücke stürzen möchte. Denn in diesem Fall unterstelle der Chor der Autobahnfahrer dem Selbstmörder das „Motiv des Sich-zur-Schau-Stellen-Wollens“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 366). Darüber hinaus nennt Künzel aber auch Frau Habersatt als passendes Beispiel für diese Funktion von Gewalt, da sich diese aufgrund von Beachtung und soziale Nähe als Mutter von Verbrechern ausgebe (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 366).
Andreas Gürtler und Angela M. C. Wendt analysieren Unschuld unter der Prämisse aufzeigen zu wollen, dass Loher, die selbst den Bezug zu Schillers Idee des Theaters als „moralische Anstalt“ herstelle, dieses Konzept gerade nicht umsetze. Denn hier werde keine Moral vorgeführt oder verkündet (Vgl. Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 358). Gürtler und Wendt zufolge werde stattdessen dargestellt wie sich alle Figuren „mehr oder weniger schuldig an ihren Mitmenschen“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 356) machen und sie „unschuldig-schuldig in ihren höllischen Paradiesen“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 356) leben. Sie verdeutlichen dies am Beispiel der illegalen Flüchtlinge Elisio und Fadoul, die zunächst eine Frau beim Ertrinken beobachten und solang über ihre Rettung diskutieren, bis es zu spät ist und sie sich somit schuldig machen (Vgl. Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 356). Selbst in der „moralisch gute[n] Entscheidung“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 357) Fadouls, in der später folgenden Handlung des Stücks, der blinden Bartänzerin Absolut mit Hilfe gefundenen Geldes eine Augen-OP zu zahlen, sehen Gürtler und Wendt auch niedere Beweggründe. Sie konstatieren: „Der Impuls zu helfen ist jedoch nicht nur moralisch motiviert, sondern auch sexuell, so dass altruistisches und egoistisches Handeln zusammenfallen.“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 357). Fadoul wolle sich lediglich zum „heldenhaften Ritter“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 357) stilisieren, wodurch er wiederum am „Ideal schuldig“ (Gürtler/ Wendt, 2007, 346-359, hier: 357) werde. 

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Das Leben auf der Praça Roosevelt

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Formale Aspekte zu Das Leben auf der Praça Roosevelt [ ↑ ]

Chorisches und kollektives Sprechen der Figuren
Ein weiteres formales Merkmal der Loher‘schen Dramatik besteht im Einsatz chorischer Passagen, in denen Loher die Stimmen einzelner Figuren durch simultanes Sprechen eines Textes zu einem Kollektiv verschmilzt. Auf diese Weise kann das Bühnengeschehen kommentiert bzw. dem Zuschauer können Hintergrundinformationen geliefert werden. Beispiele finden sich u.a. in Leviathan (vgl. Szene 2, Chor zur Befreiung) und in Das Leben auf der Praça Roosevelt (vgl. Szene 22, Chor der stummen Zeugen). Darüber hinaus arbeitet sie auch mit einem Verfahren, das an dieser Stelle in Abgrenzung zum chorischen als kollektives Sprechen bezeichnet werden soll. Es meint, dass Textpassagen einer ganzen Figurengruppe zugewiesen werden und diese nicht gleichzeitig, sondern abwechselnd nacheinander sprechen. In ausgeprägter Form findet sich dies im Stück Das letzte Feuer. Neben den üblichen Sprechrollen sieht Loher große Textpassagen für das sogenannte ‚Wir‘ vor, dessen Text ausdrücklich – so die dem Text vorangestellte Anmerkung – aufgeteilt in Einzelstimmen gesprochen werden soll. Eine herausragende Bedeutung kommt diesem ‚Wir‘ zu, da sich die Figuren durch den dem Rollenkollektiv zugewiesenen Text selbst beschreiben und kommentieren. Darüber hinaus sprechen die Figuren das Publikum mitunter direkt an, wodurch noch zusätzliche Brechung der Bühnenillusion erzeugt wird.

Beispiel: Auszug aus Das letzte Feuer (S. 3, in: Theater heute)

Hier sehen Sie

Die Eltern des getöteten Kindes

Die Eltern des verunglückten Kindes

Die Familie des Unglücks

Ludwig und Susanne Schraube

Und das ist die Mutter von Herrn Schraube

Schraube, Rosmarie

Verwitwet

Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium

Lebt bei ihrem Sohn seit zwei drei

Und wird von der Schwiegertochter versorgt

Gepflegt

Betreut

Na was eben so anfällt

Was Alzheimer verlangt

Wird von Susanne erfüllt

Mit Fürsorge

Wir zeigen Ihnen nicht

Wie die Nachricht vom Tod ihres Kindes

Die Eltern erreicht

Kein Schrei

Kein Schock

Nix Hysterie

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Pressespiegel zu Das Leben auf der Praça Roosevelt [ ↑ ]
Für die Arbeit an Das Leben auf der Praça Roosevelt, welches ebenfalls unter der Regie von Andreas Kriegenburg am Thalia Theater in Hamburg uraufgeführt wurde, hat Dea Loher vor Ort in São Paulo recherchiert. Mit ihrem Computer werden Loher die Manuskripte zum Stück in Brasilien allerdings gestohlen, sodass sie eine neue Fassung erst drei Wochen vor Probenbeginn fertigstellen kann. Laut Werner Schulze-Reimpell von den Ruhr-Nachrichten (09.06.2004) merke man den so entstandenen Zeitdruck dem Stück an: „Offenbar blieb keine Zeit, das ausufernde Manuskript zu raffen und zu konzentrieren.“ Dennoch liefern Loher und Kriegenburg für Frauke Hartmann von der FR (04.06.2004) mit einer „triumphalen“ Uraufführung des Stücks einen „neue[n] Beweis [ihrer] überaus produktiven Zusammenarbeit“. Auch Werner Theurich von Spiegel online (03.06.2004) zufolge bilden Loher und Kriegenburg „eine fast symbiotische Einheit und hoben Das Leben auf der Praça Roosevelt optimal aus der Taufe“. Das Spiel auf der Bühne lief seiner Meinung nach „mit größtmöglicher Präzision, höchst explosiv und zutiefst dramatisch“ ab. Insbesondere hebt er die Schilderung der Ermordung des Polizistensohnes hervor, welche er in ihrer „schauerliche[n] Länge und quälende[n] Genauigkeit“ mit Mel Gibsons Passion Christi vergleicht. Von dem Stück Lohers und seiner Umsetzung (man kann schon fast sagen: gewohnt) unbeeindruckt zeigt sich hingegen das Feuilleton der FAZ (04.06.2004) mit der Kritik Elend satt von Eberhard Rathgeb. Das Leben auf der Praça Roosevelt bestehe aus „Geschichten ohne Gesichter“, so der Kritiker. Es fehle an wirklichen Figuren, weil aus den Menschen durch ihr Elend bei Loher „nur Fälle“ werden. Auch die Dauer von drei Stunden sei übertrieben. So kommt Rathgeb das Stück „elend lang“ vor und er resümiert: „Nach den drei Stunden ist uns konsequenter Weise ganz elend zumute. Nicht, weil wir dank des Theaters an das Elend in der Welt denken mußten. Sondern, weil wir sehen, daß aus Elend ohne Gesicht und Geschichte nur ein greller Elendsbühnenfall wurde“. Doch auch Christine Dössel von der SZ (04.06.2004), die Unschuld noch über alle Maßen lobte, stellt Mängel bei der Inszenierung dieses Stückes fest. So empfindet sie es ebenfalls „mit drei Stunden episch breit und entschieden zu lang“. Außerdem urteilt die Kritikerin: „Der Rhythmus holpert, Szenen fransen aus, es gibt abrupte Brüche, und die Auftritte geraten nicht selten zur Nummer.“ Das Ende mit der Schilderung des Mordes hingegen ist auch für Dössel wieder ganz große Kunst: „Die Szene ist von jener bezwingenden Kraft, die unbeschönigt aus dem Leben schöpft.“
In Kriegenburgs Inszenierung gelangt Das Leben auf der Praça Roosevelt auch bei den Mülheimer Theatertagen 2005 zur Aufführung. Von diesem Auftritt zeigt sich die regionale Presse durchweg begeistert. Britta Humbold beurteilt in den Ruhr-Nachrichten (26.05.2005) den Auftritt als ein „intensives Theatererlebnis“. Margitta Ulbricht ist sogar der Auffassung, dass Kriegenburg hiermit ein „Meisterstück“ gelungen sei, „bei dem er die ganze Klaviatur der Theaterkunst“ bediene. Das „Zusammenspiel von Text und Regie“ überwältigt aber auch Katrin Pinetzki in der Westfälichen Rundschau (26./27.05.2005). Sie zieht das Fazit: „Das Stück lärmt und tut weh, es berührt – als reiner Text, und erst recht in dieser Inszenierung.“ 
Im selben Jahr kehrt Das Leben auf der Praça Roosevelt zurück zu seinem Ursprung. Zur Eröffnung der Kunst-Biennale in São Paulo wird es in der Inszenierung des Theaters Espaco Os Satyros, unter der Leitung von Rodolfo Garcia Vazquez aufgeführt und laut Michael Laages in Theater heute (10/05) von der lokalen Kritik als „Meisterwerk“ gefeiert. Der Einschätzung Laages zufolge spüre Vazquez noch deutlicher als Kriegenburg „den tief verzweifelten Heiterkeiten in Dea Lohers Text nach“, weshalb er mutmaßt: „So entspannt wie hier klang Loher vielleicht noch nie.“ Nur das Ende wirke in dieser Umsetzung noch finsterer. Vazquez inszeniere das Stück „mehr als Passion und weniger als Menetekel vom hingeschlachteten, verlorenen Sohn wie bei Kriegenburg, nicht kalt und sprachlos, sondern hoch emotional als Schrei der Verzweiflung, endet das Stück in Sao Paulo“, so Laages.
Zum Auftakt der neuen Intendanz von Michael Börgerding wird Das Leben auf der Praça Roosevelt auch am Bremer Theater von der Regisseurin Alize Zandwijk in einer Koproduktion mit dem Ro-Theater Rotterdam inszeniert (Bilder zur Inszenierung hier). Stefan Grund von der Welt (03.10.2012) beurteilt den Neubeginn für das Theater Bremen mit Lohers Stück sehr positiv. Auch Johannes Bruggaier von der Kreiszeitung (01.10.2012) schreibt im Hinblick auf die Inszenierung von einem gewagten, aber gelungenen Start für das Theater Bremen. Nicht ausschließlich negativ, aber differenzierter äußeren sich Micheal Laages vom Deutschlandfunk (01.10.2012) und Andreas Schnell auf nachtkritik.de (29.09.2012) zur Bremer Inszenierung. Laut Laages habe Zandwijk Lohers Text „vielleicht ein wenig schwergängig genommen, und zuweilen gelingt ihr auch nicht wirklich der Sprung vom erzählerischen Ton in die szenische Vision. Dafür zieht sie das Stück mit einiger Energie weg vom Lokalkolorit; Sao Paulo ist hier überall“. Schnell zufolge hätten der „Inszenierung ein paar gründliche Aufräumarbeiten gut getan“. Der ganzen Umsetzung unterliege eine „Zähigkeit, die sich zwischendurch nur selten und erst am Ende ganz verflüchtigt“. Doch der Schluss überzeugte auch hier. So attestierte Schnell ihm eine „enorme Wucht“ und spricht von einem „fulminanten Finale“.

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Forschungsspiegel zu Das Leben auf der Praça Roosevelt [ ↑ ]
Das Stück über „Arbeitslosigkeit und ihre Begleiterscheinungen“ (Haas, 2006, 219) analysiert Birgit Haas auf die Verwendung verschiedener, vor allem epischer Kunstmittel und hebt als zentralen Aspekt von Das Leben auf der Praça Roosevelt „Geschichten und das Erzählen von Geschichten“ (Haas, 2006, 226) hervor, wodurch es für sie zum Beispiel für eine oral history wird, die die „individuelle Ebene betont“ (Haas, 2006, 226).
Haas zufolge sei in diesem Stück im Vergleich zu Lohers früheren Werken „die Spannung zwischen der klaren brechtschen Form einerseits und den vielfach sich brechenden, überkreuzenden und keiner linearen Struktur folgenden Handlungslininen“ (Haas, 2006, 219) noch stärker erkennbar. Mittels eines Zoomeffekts hebe Loher die einzelnen Figuren aus der Menschenmenge heraus (Vgl. Haas, 2006, 220). Ansonsten bleiben sie „flüchtige, sich bewegende Punkte im dreidimensionalen Bühnenraum“ (Haas, 2006, 220). Den Haupthandlungen um Herr und Frau Mirador, ihren Sohn Raimundo, Vito, Bingo, Concha, und Aurora sind kurze Szenen mit Offenlegungen von Schicksalen weiterer Menschen zur Seite gestellt, die laut Haas die Funktion der thematischen Verdopplung der Schicksale der Protagonisten erfüllen (Vgl. Haas, 2006, 221 f.) Neben den Selbstkommentaren der Figuren (Vgl. Haas, 2006, 223) rufe außerdem v.a. die „Verdopplung der Perspektiven und de[r] Zerfall der Linearität, die sich in der Konstruktion der Fabel um Raimundo ergibt“ (Haas, 2006, 225), eine verfremdende Wirkung hervor. Besonders deutlich werde dies anhand der Darstellung seines Todes aus drei verschiedenen Blickwinkeln: die Beobachtungen des namenlosen Ehepaars, die Erzählung einer Stimme über den Fund seines Körpers und die Beschreibung der Zerstückelung seines Körpers durch den Chor der stummen Zeugen (Vgl. Haas, 2006, 225). Über die Geschichten der Figuren, welche nur in Ausschnitten präsentiert werden, soll Haas zufolge Geschichte als „individuell Erlebbares“ (Haas, 2006, 227) dargestellt werden. Sie konstatiert: „Das Stück demonstriert, dass Geschichte von Menschen gemacht und durchlebt, bzw. erlitten wird.“ (Haas, 2006, 227). Nach der Analyse von Haas präsentiere Loher somit „Gewaltstrukturen nicht als etwas Abstraktes und Unbegreifliches, das in den Alltag einbricht, sondern legt offen, dass Unrecht aus pervertierten Beziehungen resultiert.“ (Haas, 2006, 229).
Stefanie Hohmann fokussiert in ihrer Analyse das Thema Fremdsein in der Gesellschaft, welches nach ihrer Auffassung in besonderem Maße in Das Leben auf der Praça Roosevelt bestimmend ist (Vgl. Hohmann, 2006, 41-52, hier: 50). Denn neben der Arbeitslosigkeit sei das Leben der Figuren von Einsamkeit und Fremdsein geprägt. Deutlich werde dies v.a. an Maria, die sich mit einer selbst erschaffenen Figur in einem Computerspiel völlig identifiziert und darüber sich selbst verliert. Dies könne darin gedeutet werden, dass die Computerrealität Maria von sich selbst entfernt oder die gesellschaftliche Realität Maria entfremdet (Vgl. Hohmann 2006, 41-52, hier: 51 f.). Hohmann zufolge bieten aber auch die Beziehungen mit traditionellen Geschlechterrollen im Stück keinen Ausweg aus der Entfremdung und der Einsamkeit (Vgl. Hohmann, 2006, 41-52, hier 52). Die Kommunikation laufe beim Ehepaar Mirador nur über Monologe bzw. Erinnerungen ab und „Vito und Bingo finden nur in der Zerstörung des alten Lebens, in einer Utopie, zusammen.“ (Hohmann, 2006, 41-52, hier: 52). Aus der funktionierenden Kommunikation und gegenseitigen Unterstützung, welche Hohmann lediglich der Freundschaft von Concha und Aurora attestiert, zieht sie den Schluss: „Es müssen also zunächst alte Denkmuster und Geschlechterdifferenzen, die sich in Aurora auflösen, geschaffen werden, um das Fremde zu überwinden.“ (Hohmann, 2006, 41-52, hier: 52).
Christine Künzel untersucht Das Leben auf der Praça Roosevelt bezüglich des Themas Gewalt und findet hierbei „eine der explizitesten Gewaltszenen in Lohers Werk“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 367) vor: „die Schilderung der Ermordung und Zerstückelung des jungen Mirador“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 367). Die hier erfolgende Gewalt werde einem bestimmten Ort, der Praça Roosevelt, zugeschrieben. Allerdings konstatiert Künzel, dass die eigentlichen Täter anonym bleiben, da weder Anzahl noch Namen genannt werden, sondern lediglich das Pronomen „sie“ Verwendung finde. Das Messer erscheine aufgrund der Syntax zuweilen hingegen als Akteur der Handlung (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 367). Die aktive Rolle der Täter werde somit durch das Entpersönlichen der Täter als solche kaum wahrgenommen. (Künzel, 2007, 360-372, hier: 367 f.). Mit Blick auf das gesamte dramatische Werk Lohers spricht Künzel vom „allgemeinen Trend zur Viktimisierung“ (Künzel, 2007, 360-372, hier: 368), dem die Autorin in dieser Hinsicht folge (Vgl. Künzel, 2007, 360-372, hier: 368).

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