Charakteristika des Werks

Wäldernacht

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Wäldernacht [ ↑ ]
Rothmanns erste Ruhrgebietsromane Stier (1991) und Wäldernacht (1994) haben ein ähnliches Prinzip und laut dem Autor kann Wäldernacht als die Fortführung von Stier gelesen werden (Jacobs im Gespräch mit Rothmann, 1995). In beiden Werken werden die Leser_innen mit einem Künstler konfrontiert, der sich an seine Kindheit zurück erinnert. Kindheit bedeutet hier die "harte Schule" des Ruhrgebiets der 60er und 70er Jahre, die beide Hauptfiguren durchlaufen mussten.
Kai Carlsen, der Ich-Erzähler aus Stier, lebt mittlerweile als Schriftsteller in Berlin, wo er sich auch auf der Handlungsebene der Gegenwart des Romans befindet. Selbstreflektierend und schreibend erinnert er sich nun zurück und schafft so eine zweite Handlungsebene. Auf dieser lässt er seine Kindheit aufleben, um am Ende mit dieser abschließen zu können.
Jan Marrée, die Hauptfigur aus Wäldernacht, hat sich bereits von der Kindheit verabschiedet. So scheint es zumindest, denn der Maler kehrt als Vierzigjähriger aus Berlin zurück ins Ruhrgebiet, in seine Heimat, der er bereits den Rücken gekehrt hatte, um in Berlin Künstler zu werden. An signifikanten Orten erinnert er sich zurück an das was war, und dem Leser werden auf diesem Wege Episoden aus Marrées Leben erzählt. Somit existieren auch in diesem Roman zwei Handlungsebenen. Nach und nach wird deutlich, dass Jan Marrées Kindheit noch näher ist, als es dem Ich-Erzähler vielleicht lieb wäre. An vielen Stellen wird zwar das sich im Zeichen des Strukturwandels verändernde Ruhrgebiet beschrieben, aber gleichzeitig der Stillstand in Jan Marrées eigener Entwicklung. So steht das Rad im Förderturm der Zeche Haniel still (vgl. Rothmann 1994, 17) und prompt wird der Heimkehrer vor dieser Kulisse mit „Marre hat Panne auf Karre“ (Rothmann 1994, 19), einem Spruch aus seiner Kindheit, begrüßt.
„Die Affinitäten beider Texte zum Genre des Bildungsromans sind offensichtlich“ (Krause 1996, 200). Doch während es sich bei Kai Carlsen um einen „positiven Bildungshelden“ (ebd.) handelt, der „ohne Skeptizismus oder Resignation“ (Goldammer 2010, 237) in die Zukunft schaut, treibt es Jan Marrée „aus seinem Berliner Atelier zurück in die provinzielle Enge des Ruhrgebiets“ (Krause 1996, 203). Die Vergangenheit, mit der er dort konfrontiert wird, verhilft ihm nicht zur Befreiung, da er sich nicht von ihr distanzieren kann. Ganz im Gegenteil: sie „erscheint bedrückend“ (ebd.). Auch die Gegenwart ist „grau und belanglos“ (ebd.) und für die Zukunft ist eine „persönliche Entwicklung kaum vorstellbar“ (ebd.).
Beide Hauptfiguren tragen Züge des Autors Ralf Rothmann, da dieser nach einer Maurerlehre ebenfalls früh das Elternhaus verließ und nach Berlin ging, wo er Schriftsteller wurde. Kai Carlsen scheint wie Rothmann in Berlin den Durchbruch zu schaffen. Jan Marrée hingegen kann als eine Projektion dessen verstanden werden, „was aus dem Schriftsteller Rothmann bei weniger Selbstbeharrung hätte werden können“ (Jacobs 1994).

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Milch und Kohle

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Milch und Kohle [ ↑ ]
Der dritte Ruhrgebietsroman Milch und Kohle (2000) weist Gemeinsamkeiten zu seinen Vorgängern auf. Der erfolgreiche Schriftsteller Simon kehrt aus Amerika nach (Oberhausen-) Sterkrade zurück, um seiner Mutter die letzte Ehre zu erweisen. In seiner Heimat wecken Landschaft, Gegenstände und Menschen Erinnerungen an seine Kindheit und Vergangenheit, weshalb man es auch hier mit zwei Handlungsebenen zu tun hat, wobei die Zeit des Erinnerns den Rahmen bildet. Jedoch verweist Milch und Kohle als einziger Roman nicht nur auf die Kindheit des Autors im Ruhrgebiet, sondern auch auf seinen Geburtsort in Schleswig. Im Handlungsgeschehen des Romans arbeitete dort nämlich Simons Vater als Melker. Als die Familie dann beschließt, nach Sterkrade zu ziehen, wird er Bergmann. Beide Berufe des Vaters lassen sich auch im Titel Milch und Kohle erkennen. Familie bedeutet wieder Enge und Tristesse. Die rauen Umgangsformen werden hier auf die Spitze getrieben, indem Familie nur noch als ein „sich gegenseitig generierendes Gewaltsystem“ (Erb 2011, 5) dargestellt wird. Der Vater verprügelt die Mutter, diese betrügt ihn mit seinem Kollegen, Vater und Sohn prügeln sich miteinander, man beschimpft und bestiehlt sich. Doch Simon ist wie Kai hoffnungsvoller als Jan. Der Tod seiner Mutter bedeutet für ihn sinnbildlich auch den Tod seiner Kindheit und er kann sich so von ihr lösen. Die buddhistischen und christlichen Elemente geben dem Roman einen „Offenbarungswert“ (Goldammer 2010, 291), der trotz der Unsicherheit in Bezug auf ein eindeutig positives Ende, nicht an ein Scheitern der Hauptfigur denken lässt.
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Forschungsspiegel zu Milch und Kohle [ ↑ ]
Im Fokus der Forschung stehen vor allem die Romane von Ralf Rothmann, die zu den Ruhrgebietsromanen gezählt werden. Die Themen- und Interessenschwerpunkte sind in erster Linie die religiöse Substruktur in seinen Texten und die Symbolik in seiner Sprache. In Bezug auf die Religiosität sagt Rothmann selbst, dass er „brachial katholisch“ (Richter im Gespräch mit Rothmann 2000b) erzogen worden sei und „bis zur Pubertät inbrünstig katholisch“ (ebd.) gewesen wäre. Das wiederum zeigt sich letztlich auch in seine Texten, in denen die Rede ist von einer „‚neue[n] Religiosität’, die am tief eingesenkten Kinderglauben anknüpft, ihn verändert und die mit der Hoffnung auf Trost und Kraft zur Lebens- und Sterbensbewältigung verbunden wird“ (Langenhorst 2009, 58). Die Symbolik kommt häufig in den viel verwendeten Gegensätzen wie schwarz und weiß, Licht und Staub, Milch und Kohle zum Tragen. Diese sind im Ruhrgebiet und in Rothmanns Texten allgegenwärtig und teilweise sogar Namensgeber für seine Romane (vgl.: Milch und Kohle, Junges Licht). Milch und Kohle sind „Kraftsubstrate“ (Wolbring 2011, 188) während das Licht in Rothmanns Texten primär auf Erkenntnismomente hindeutet (vgl. Wolbring 2011, 186). Darüber hinaus wird sich in der Sekundärliteratur einschlägig mit der Phase beschäftigt, in der sich Rothmanns Hauptfiguren befinden, der Adoleszenz. Sie wird als eine Übergangsphase beschrieben, in der sich diejenigen befinden, die nicht mehr Kind, aber auch noch nicht erwachsen sind.
Auch die Bedeutung von Heimat und Identität in Rothmanns Romanen wurde in der Forschung diskutiert. Das Ruhrgebiet wird stets als ein Ort „aus Angst und Enge“ (Klute 2005, 194) beschrieben und Heimat wird thematisiert, indem „das ihr innewohnende Fremde und Abgründige zutage [gefördert wird]“ (Heimböckel/Kluffer 2008, 368).

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Junges Licht

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Junges Licht [ ↑ ]
Als bisher letzter der Ruhrgebietsromane erscheint 2004 Junges Licht. Das erste Mal haben die Leser_innen es mit einem jungen Ich-Erzähler zu tun, der sich nicht an seine Jugendphase erinnert, sondern dabei ist, diese zu durchleben. Trotzdem verzichtet Rothmann nicht auf eine zweite Handlungsebene, die sich in diesem Fall durch die Erzählperspektive abhebt. Über Tage erzählt der zwölfjährige Julian von seinen Sommerferien und man wird Zeuge wie diese für ihn zu einem Weg von der Unschuld zur Erfahrung werden. Auf der anderen Handlungsebene erfährt man von einem Bergmann unter Tage, von seiner Arbeit und von den Gefahren, denen „der Mann“ (Rothmann 2004, 7) ausgesetzt ist. Dadurch, dass beide Ebenen nicht ineinander greifen, wird deutlicher als in den anderen drei Romanen dargestellt, dass im Ruhrgebiet zwei Welten existieren. Es gibt die Welt über und die unter Tage, und die Bergmänner arbeiten unter Tage für das Leben über Tage. So wird im Roman „die sommerhelle Ferienwelt kontrastiert durch Passagen, die vollständig unter Tage spielen“ (Schröder im Gespräch mir Rothmann 2004, S. 8). Julian erfährt über Tage von den Gefahren im Bergwerk nur durch die Erzählungen seines Vaters, doch seine Welt scheint genauso wackelig wie die finsteren Stollen. „[D]ie Tasse, der ein Henkel fehlt, der einäugige Teddy oder der zerbrochene Kaffeekannendeckel“ (Erb 2011, 10) sind Zeichen dafür, dass Julians Welt aus den Fugen geraten wird. Vermeintliche Freunde schlachten seine Kaninchen, von der Mutter und dem Lehrer wird er geschlagen und er erträgt die Nachstellungen des pädophilien Hausbesitzers Gorny. Während er anfangs vielen Dingen mit einer kindlichen Naivität begegnet, wenn er z.B. Marusha, die Nachbarstochter, fragt, „Bist du verletzt“ (Rothmann 2004, 60), als er sieht, dass sie ihre Periode hat, wird er im Laufe des Romans scharfsinniger. Er erkennt, dass Jonny Sex mit Marusha hat, er will die Sünden des Vaters beichten und somit Verantwortung für die Familie übernehmen.
So ist sie die ganze Zeit zu vernehmen, diese „leise Melancholie des Abschieds, des Abschiednehmen-Müssens von einer vergangenen, einer unschuldigen […] Welt, der unbeschwerten Welt der Kindheit“ (Zaborowski 2006, 521). Durch den abschließenden Umzug der Familie wird Julians Situation bildlich dargestellt. Er lässt die Wohnung und den in ihr verlebten Lebensabschnitt, seine Kindheit, zurück und so ist „[n]ach diesem Sommer […] nichts mehr wie es einmal war.“ (ebd.).

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