Carl Lemcke

 

III. Die Lyrik.

 

 

Text
Editionsbericht
Literatur

 

In der epischen Dichtung erzählte uns der Dichter von der Aussenwelt, er selbst trat zurück. Er gab seine Anschauungen; die Begebenheiten und Dinge waren die Hauptsache; er war nur der Mund, der getreu und schön zu erzählen hatte. In der Lyrik dagegen tritt seine Persönlichkeit, seine Innerlichkeit voran; hier setzt er vor Allem seine eigenen Gefühle. Wenn es sich um Dinge der Aussenwelt handelt, dann ist es nicht die objective Beurtheilung, sondern seine besondere, subjective Auffassung, worauf es ankommt.

In der Lyrik hat das Menschen-Ich sich selbst gefunden; anfangs sich selber freilich nicht begreifend, singt und sagt es seine Gefühle, die sich kaum den allgemeinen unbegriffenen Zuständen, wie sie in den [561] Tönen sich ausdrücken, zu entringen vermögen. Es ist halb Ton, halb Sprache. Aber mehr und mehr, klarer und klarer erfasst es sich. Der traumartige Zustand ist nicht Bedingniss in der Lyrik. Der Menschengeist erkennt sich, und der Welt stellt er sich gegenüber. Es ist das Ich der Lyrik, was im Bewusstsein seiner Eigenart die Welt einsaugt und ausstrahlt, es ist der Geist, der die Welt von sich aus umfasst, die Seele, drin sie sich spiegelt. Vom gleichsam unbewussten Stammeln der Empfindung bis zu diesem subjectiven klaren Begreifen des Lebens, der Welt geht die Lyrik. Das Subject setzt zu höchst sein Ich darin gegen das All.

Das Gebiet ist gross; es wäre ein vergebliches Bemühen, es genau bestimmen, eintheilen und beschreiben zu wollen. Wir sahen überdies schon, wie es unmöglich ist, feste Gränzen zu setzen. Aussenwelt und Innenwelt bestimmen einander; oft ist nicht zu entscheiden, wo jene oder diese in der Art vorherrscht, dass wir von einer epischen oder von einer lyrischen Erzählung reden müssen. Der Dichter kann Alles bis auf seine Empfindungen wegwerfen, aber er kann auch nur mit Dingen reden, um doch nur von sich zu sagen, oder doch stets seine Empfindungen dabei durchklingen zu lassen. Und ebenso kann er beide durcheinander fliessen lassen.

Der Lyriker spricht also durchgehends von sich. Nach den gewöhnlichsten Erfahrungen des Umgangs schon kann man ermessen, wie leicht dieses Vorstellen der Subjectivität gefährlich wird. Es muss Einer schon viel in seiner Persönlichkeit zu bieten haben, muss uns innig fesseln können, wenn wir mit dieser Geltendmachung seiner Subjectivität uns zufrieden finden sollen. In der Erzählung verzeihen wir eher dem Dichter; er ist oft durch den Stoff gewissermaassen entschuldigt. Wir sagen uns, dass der Stoff nun einmal nicht anders sei, so dass weniger interessante Stellen nicht übergangen werden durften, um die wichtigen zu verbinden, und so geben wir den Thatsachen weit eher Schuld, als dem Erzähler. Aber wer uns mit seinem Ich kommt, dem gestehen wir keine solche Entschuldigung zu. Er soll uns in Frieden lassen mit dem, was uns nicht besonders gefällt. Hier hat gleichsam Jeder für den Hausbedarf. Kraft, Tiefe des Gefühls, dann aber im Allgemeinen Kürze – das könnte man als nothwendig schon auf diesem, trivial zu nennenden Wege erkennen. Ist irgendwo Gedrängtheit, Con[562]centrirung nöthig, so in der Lyrik. Das Schwächere, die verbindenden Mittelempfindungen müssen heraus. Wir kennen das alles ganz genau; wir empfinden ja selbst. Die Thatsachen, welche der Epiker erzählt, können wir nicht errathen; eine ganz andere mag geschehen sein, als wir vermutheten, aber wie der Epiker schon mit seinen Erklärungen zurückhalten musste, weil wir die ebensogut anstellen können, so darf der Lyriker noch weniger jeden Fuss breit der gewöhnlichen Wege des Empfindens, Denkens u. s. w. uns vertreten wollen. Er hat in allen solchen Fällen vom Bedeutenden zum Bedeutenden zu gehen. Er ist langweilig, wenn er genau sein will. Er muss gleichsam in Sprüngen gehen; er hat nicht Fuss vor Fuss zu schieben, um in verkehrter Weise Zusammenhang geben zu wollen. Er darf nicht vergessen, dass wir mitdichten, mit ihm gehen und für die kleineren Schritte Manns genug sind, sie selbst allein zu machen. Er giebt uns den bedeutenden Standpunkt, die Richtung, und führt uns nun von einer schönen oder mächtigen Aussicht zur andern; unterwegs soll er uns nicht die Stufen vorzählen. Gleichsam in sich abgerissene, wie zusammenhangslos erscheinende Gedichte, welche in diese Art gehören, entzücken uns darum; sind sie wahr, so sind sie doch einheitlich, ganz, nur dass wir die Mitdichter sind, welche diese Einheit herstellen, wobei wir selbst dichterische Freude empfinden; wir eilen vom Gedanken zum Gedanken; ihre Wahrheit lässt uns nicht irregehen; sicher, gehoben, selbstthätig kommen wir beim nächsten an; wie im Fluge geht es weiter; wir fühlen kaum die Erde unter unseren Füssen. Aber wenn uns ein Lyriker so auf der Landstrasse der Gefühle Schritt vor Schritt dahin schleppt, wozu brauchen wir einen solchen Gesellen! Fort mit ihm! Sind wir denn stumpf? sind wir blind? Haben wir nicht selber Herz und Nieren? Was soll uns dieser Pedant! diese Droschkenklepperei der Empfindungen!

Aus demselben Grunde, dass der Lyriker von sich spricht, hat er sich andererseits sehr in Acht zu nehmen, dass er mit diesem Ich nicht aufdringlich wird. Es hängt dies innig mit dem Vorhergesagten zusammen, soll aber hier noch näher ins Licht gesetzt werden. Der Lyriker wird uns nicht blos leicht in Langweile bringen, wenn er ungeschickt ist, sondern er kommt auch leicht in die Gefahr, uns zu beleidigen. Die Arroganz und der blinde Egoismus stehen ebenso gerne hinter dem Von-sich-reden, wie Kindlichkeit und auch wohl die Albern[563]heit, welche von sich Sachen auskramt, weil sie nichts besseres weiss. Die Arroganz aber – wie breit macht sie sich zu Zeiten in der Lyrik! – verletzt wenigstens die Verständigen. Die Masse freilich lässt sich wohl dadurch imponiren und in der fadesten Weise hänseln oder misshandeln. Kindlichkeit ist angenehm, aber Egoismus verdient den tüchtigen Gegensatz unseres Ichs, um ihm heimzuleuchten, und mit Albernheit soll man keinen Umgang pflegen und sie sich nicht aufnöthigen lassen. Ein guter Epiker braucht hauptsächlich interessanten Stoff, dann klaren Blick und schöne Sprache. Ein guter Lyriker aber muss vor allen Dingen selbst eine interessante Persönlichkeit sein; seine seelischen Fähigkeiten, sein Herz, sein Geist, das kommt hauptsächlich in Betracht. Es versteht sich, dass er da weder von einem pedantischen Schulmeister oder Geldmacher oder Philister, noch von einem beschränkten Katechismuslehrer, weder von einer ängstlichen Grossmutter, noch von einem Institutmädchen seine Beurtheilung zu empfangen hat. In vielen Fällen kommt freilich der Lyriker überhaupt nicht unter eine directe Beurtheilung. Die rein subjective Lyrik braucht keinen Hörer, wie etwa die Epik einem Hörer gilt; sie sagt nicht Anderen, nur sich selbst; sie singt ihr Leid, ihre Freude. Ob es Andere hören, sie kann nichts dafür; sich selbst nur auszusprechen, in Worte zu fassen, was das Herz bewegt, das ist ja der einzige Zweck.

Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer,
Ich finde sie nimmer und nimmermehr.

Wer das hört, schweige. Es ist nicht für ihn; es ist ein Geheimniss, was nur sich selbst die Seele verräth. Ein Tropf, wer das belauscht hat und plump eingreifen will!

Und wo die Seele zu einer anderen spricht, da ist es ja diese, der sie sich vertraut.

Der Strauss, den ich gepflücket
Grüsst dich viel tausend mal!
Ich hab mich oft gebücket,
Ach wohl ein tausend mal,
Und ihn an's Herz gedrücket
Wie hunderttausend mal!
                                        (Blumengruss von Göthe.)

Und so singt sie auch und fragt Dich nicht, was Du dazu sagst. Kannst Dich wegwenden, brauchst es nicht zu hören. Oder singe selbst, [564] wenn Du Lust hast; jeder hat hier ein gleiches Recht. Hier geht Einer über die Haide und singt:

Sah ein Knab' ein Röslein stehn,
Röslein auf der Haiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell es nah zu sehn,
Sah's mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Haiden.                                 (Göthe.)

Und wenn dort eine Schaar Burschen um den Tisch sitzt und stimmt au:

Hier sind wir versammelt zu löblichem Thun,
Drum Brüderchen!   Ergo bibamus.
Die Gläser sie klingen, Gespräche sie ruhn,
Beherziget Ergo bibamus.                             (Göthe.)

und Dir's nicht gefällt, so magst Du das Maul schief ziehen und sauer sehen. Aber die Burschen denken nicht an Dich, werden sich auch nicht viel um Dich kümmern.

Und hörst Du einen Sänger, der mit seiner Gottheit spricht – er spricht nicht für Dich. Siehst Du ihn zum Himmel schauen und hörst Du dann seine Worte, gehe bei Seit' und schweige, störe ihn nicht. Begreifst Du ihn nicht, Du hast wohl Schuld; miss ihn nicht mit Deinem Maass:

Wenn der uralte
Heilige Vater
Mit gelassener Hand
Aus rollenden Wolken
Segnende Blitze
Ueber die Erde sä't,
Küss ich den letzten
Saum seines Kleides,
Kindliche Schauer
Treu in der Brust.                             (Göthe.)

Willst Du aber mit ihm rechten, wo er wie ein Titane sich erhebt, wahrlich Deiner nicht gedenkend, so bist Du thöricht:

<Bedecke> Deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst,
Und übe, dem Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen Dich und Bergeshöhn;
Musst mir meine Erde
Doch lassen stehn,
Und meine Hütte, die Du nicht gebaut,
Und meinen Heerd,
Um dessen Gluth
Du mich beneidest.                             (Göthe.)

[565] Hier kannst Du nur im Allgemeinen, nie persönlich Dein Urtheil fällen, sonst aber Dich zu ihm stellen, wie es Dir beliebt. Doch sobald Du siehst, dass der Lyriker an Dich, den Hörer, denkt, dass er Deine Empfindungen durch irgend welche Mittel und Finten treffen will, dann sei auf der Hut. Lass nicht plump in Dich und Deine Regungen greifen, so wenig Du es dem Dichter darfst. Es giebt nichts Trostloseres, als zu sehen, wie Lyriker mit ihren Empfindungen operiren in bestimmten Absichten, wie sie die Seele des Hörers gleichsam zu ihrem Stichblatt machen, auf welchem sie ihre Stösse nach Belieben aufsetzen und verkreiden können.

Natürlich setzt sich jeder Dichter, der seine Gedichte dem Publicum überreicht, der Kritik aus; auch die zartesten Regungen seines Innern verfallen ihr, aber nur der ästhetischen Kritik, worauf hier durch das Gesagte hingewiesen worden ist. Da wo er absichtlich in Anderer Seele, Ansichten u. s. w. eingreift, kommen natürlich auch andere Rücksichten in Betracht, da z. B., wo er sein eigen Ich in einer Weise vordrängt, dass man weniger die dichterische Triebkraft als die Eitelkeit des Autors sieht, die ganz gewöhnlichen Maassnahmen des Lebens, durch welche man dergleichen Hochmuth zurückweist.

Man sieht, welche Freiheiten der lyrische Dichter hat, aber auch, welche Gefahr er leicht dabei läuft. Er wirkt durch die Subjectivität. Ist sie nicht edel, ungewöhnlich kräftig und tief in ihren Empfindungen, ist der Geist nicht umfassend und durchdringend, kurz fehlen ihr aussergewöhnliche Eigenschaften, so fehlt überhaupt die lyrische Berechtigung, Andre mit sich unterhalten zu wollen. Man lese darüber Schillers Kritik über Bürger, aus welcher wir hier einige Sätze citiren: "Mit Recht verlangt er (der gebildete Mann) von dem Dichter, . . . dass er im Intellectuellen und Sittlichen auf einer Stufe mit ihm stehe, weil er auch in Stunden des Genusses nicht unter sich sinken will. Es ist also nicht genug, Empfindung mit erhöhten Farben zu schildern, man muss auch erhöht empfinden. Begeisterung allein ist nicht genug; man fordert die Begeisterung eines gebildeten Geistes. Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese muss es also werth sein, vor Welt und Nachwelt ausgestellt zu werden. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft, ehe er es unter[566]nehmen darf, die Vortrefflichen zu rühren. Der höchste Werth seines Gedichtes kann kein anderer sein, als dass es der reine vollendete Abdruck einer interessanten Gemüthslage, eines interessanten vollendeten Geistes ist. Nur ein solcher Geist soll sich uns in Kunstwerken ausprägen; er wird uns in seiner kleinsten Aeusserung kenntlich sein, und umsonst wird, der es nicht ist, diesen wesentlichen Mangel durch Kunst zu verstecken suchen."

Die Lyrik in ihren so verschiedenen, bald zum Epischen, bald zum Dramatischen neigenden, dann auch aus der Dichtung überhaupt herausweisenden, gewöhnlich aber zum Lyrischen gerechneten Arten zeigt die verschiedensten Formen. Im Allgemeinen kann man aber sagen: ihrer Leidenschaftlichkeit des Gefühls, worauf sie basirt ist, entspricht eine bewegte Form. Die Epik soll einen gleichmässigen Erzählungston haben, in demselben freilich die nöthige Freiheit, den Ereignissen durch Lebhaftigkeit, Kraft oder Langsamkeit u. s. w. Rechnung zu tragen. Die Leidenschaft als solche aber verlangt eine entsprechende bewegte Form. So sahen wir früher schon, wie die Lyrik in ihren Versreihen aus einem Versmaass ins andere umsetzt und nicht gern in Jamben, Trochäen, Dactylen allein sich entwickelt. Die Griechen hatten diese Form der Bewegung. Wir wenden im Lyrischen wohl auch dasselbe Princip an, bilden kürzere oder längere Reihen, dann helfen wir uns aber unter Umständen durch den Reim und seine Verstärkungen, durch die Versetzungen und Verschlingungen, welche er bietet.

Es schleicht ein zehrend Feuer
Durch mein Gebein,
Mein Schatt' ist mir nicht treuer
Als diese Pein.
Ich höre die Stunden ziehen
Trüben Gesichts,
Sie kommen, weilen, fliehen –
Und ändern nichts.                     (Geibel: Meiden.)

Wie der Reim durch sein Eintreffen oder Aussetzen bewegt, dafür aus Julius Grosse's Gedichten:

In der Mondnacht auf den Lindenbaum
Bin ich gestiegen;
Schauernde Wipfel rauschten leise kaum
Im Windeswiegen.
[567] Der Baum bis hoch zu ihrem Erker blüht,
Sie noch zu schaun entbrannte mein Gemüth,
Kam doch kein Schlaf den heissen Sinnen –
Und rings die Vögel aus ihrem Traum
Flogen aufgestört von hinnen.

Hier setzt Versmaass, Reihe und Reim unruhig um. Der Reim der vorletzten Reihe greift noch einmal wieder zurück; wir meinten ihn verklungen, da kehrt er wundersam wieder und stellt sich unruhig zwischen die beiden letzten Reihen.

Wir kommen zur Strophenbildung. Sie wird oft nur wenig hervortreten, wir sehen sie aber dann auch wieder nothwendig im Lyrischen geboten. Da wo Gedanke sich ebenmässig an Gedanken reiht, wird ebensowenig eine besonders scharfe Gliederung verlangt, als dort, wo Thatsache an Thatsache gestellt wird. Genug wenn hier für das Singen oder Sagen in passenden Abschnitten Abschlüsse des Sinnes und Verses zusammen eine strophenähnliche Gliederung geben. Dort aber, wo ein Gedanke in seinen einzelnen Theilen sich als ein Ganzes aufbaut und innerhalb eines grösseren Ganzen sich fest zusammen schliesst, mit eigenem Anfang, Steigerung und Abschluss, dort ist auch eine ihm entsprechende Strophenbildung nothwendig. Sie kann in der verschiedensten Weise geschehen. Wir sehen z  B. in der Stanze den Doppelreim die dreifach im Reim sich durchschlingenden Versreihen schliessen. Bald muss ein dreifacher Reim die Betonung geben, bald werden eine oder mehrere Reihen, jene wohl ohne Reim – die sogenannte Waise – in ungewöhnlicher Kürze, Länge u. s. w. eingeschoben.

Nach Corinthus von Athen gezogen
Kam ein Jüngling, dort noch unbekannt.
Einen Bürger hofft er sich gewogen,
Beide Väter waren gastverwandt,
      Hatten frühe schon
      Töchterchen und Sohn
Braut und Bräutigam vorausgenannt.
                                      (Göthe: Braut von Corinth.)

Sehr häufig geschieht diese Strophenbildung auch durch das Zurückgreifen auf ein und denselben Gedanken. Es wird derselbe Refrain gebracht, der durch das ganze Gedicht wiederkehrt. Natürlich muss er der Auszeichnung werth sein. Hören wir Mirza Schaffy (Fr. Bodenstedt):

[568] Beut die Liebe dir Bedrängniss?
Scheuche lächelnd Angst und Pein!
Denn erfüllt muss das Verhängniss
Meines stolzen Herzens sein!
     Ob ich sinne, ob ich suche,
     Keine Andre kann ich lieben:
     Denn so steht's im Schicksalsbuche
     Mir urzeitlich vorgeschrieben.

Was auch der Dichter thut, er muss das schüchterne Mädchen lieben; was auch dieses beginne, vor Allen soll sie ihn lieben, denn beiden, "steht's im Schicksalsbuche so urzeitlich vorgeschrieben."

Eigenthümlich ist die persische Behandlung dieses Zurückgreifens im Ghasel. Zwei Versreihen bringen gereimt einen sinnigen Gedanken. Dieser Reim nun geht durch das ganze Gedicht. Wie die Lilie fest im Grunde stehend hin- und herschwankt, so wiegt sich der Gedanke immer auf denselben Reim zurück; so das sinnige Bild des ghaselenreichen Platen. Doch nehmen wir wieder Mirza Schaffy zur Hand:

Verbittre dir das junge Leben nicht,
Verschmähe, was dir Gott gegeben nicht!

Verschliess' dein Herz der Liebe Offenbarung
Und deinen Mund dem Trank der Reben nicht!

Sieh, schönern Doppellohn als Wein und Liebe,
Beut dir die Erde für dein Streben nicht!

Drum ehre sie als deine Erdengötter,
Und andern huldige daneben nicht

Werfen wir einen Blick auf verschiedene Arten der Lyrik. Voran nennen wir hier das Lied.

Aber wie ihn fassen, diesen Erguss der Seele, von dem der Sänger selbst nicht weiss, wie er entsteht, wie er wird! Ich denk', wir ziehen einmal mit wackeren Gesellen, ob Einer darunter etwas auf dem Herzen hat. Mitten im Wald und auf der Haide, da singt er's dann schon, wenn's auch nicht immer klingt nach allen Regeln. Horch: es ist noch ein junges, verschämtes Blut:

Dort oben auf jenem Berge,
Da steht ein hohes Haus,
D'rein gehen alle Morgen
Drei hübsche Fräulein aus.

Die erst', die ist mein' Schwester,
Die ander' ist mir gefreund't,
Die dritt', die hat kein' Namen,
Die muss mein eigen sein.
      (Volkslied, wie die folgenden.)

[569] Und da hebt ein Anderer an:

Insbruck! ich muss dich lassen,
Ich fahr' dahin mein' Strassen,
In fremde Land dahin.

Aber wild Volk ist dabei. Weg mit den Milchbartsweisen und mit der Traurigkeit. Ein schön Lied von der Schlacht von Pavia, das klingt anders:

Was woll'n wir aber heben an,
Ein neues Lied zu singen,
Wohl von dem König aus Frankenreich,
Mailand, das wollt er zwingen.

Oder jetzt nur gleich das Lied der Landsknechte, wenn wir durchs Dorf ziehen. Da schaun die Mädel zum Fenster 'naus und der dicke Pfaff steht unter der Thür:

Ei werd' ich dann erschossen,
Erschossen auf breiter Haid,
So trägt man mich auf langen Spiessen,
Ein Grab ist mir bereit;
So schlägt man mir den Pumerlein Pum,
Der ist mir neunmal lieber,
Denn aller Pfaffen Gebrumm.

Merk' nur auf; es ist zu allen Zeiten dasselbe, damals hundert Jahr, zweihundert Jahr später und heut zu Tag. Lieb' im Herzen, einen Becher Wein, und eine kecke That – und wer will, mag's Volk belauschen; dann singt es die Lieder, die uns in's Herz greifen, die alten, alten und immer neuen Lieder mit ihren schönen Weisen und Worten. Und wer recht freie Ohren hat und ein rechtes Herz für sein Volk, der soll versuchen es ihm nachzusingen, wie unser Göthe. Fragen darf man es dazu nicht, aber hören zur rechten Zeit. Will aber Einer wissen, was dazu gehört: Gefühl von Leid und Lust im Busen, etwa einen lieben und fernen Schatz, ein Herz für die Natur, für den Himmel mit all' den Sternen, die da gehn, für die Erde mit ihren Blumen, für den Wald mit seinem Grün und Vogelruf, für die blühende Linde und die Frau Nachtigall und die Quellen, die da fliessen, und den Wind, der da weht und den Wolken, die da ziehen aus der Heimath herüber. Oder sonst Freude an einem kühlen Trunk:

[570] Der liebste Buhle, den ich han,
Der liegt beim Wirth im Keller,
Er hat ein hölzern Röcklein an
Und heisst der Muskateller.

Wenn das Alles nicht hilft, soll er noch obendrein in den Krieg ziehen und etwas erleben. Das soll' er nur wieder sagen; der alte grimmige Knebelbart, der neben ihm reitet, wird's ihm schon lehren, wie er's anfängt:

Prinz Eugenius, der edle Ritter,
Wollt dem Kaiser wied'rum kriegen,
Stadt und Festung Belgarad.
Er liess schlagen einen Brucken,
Dass man kunt hinüberrucken
Mit d'r Armee wohl für die Stadt.

– – – – – – – –

Prinz Eugenius wohl auf der Rechten
Thät als wie ein Löwe fechten
Als General und Feldmarschall.
Prinz Ludewig ritt auf und nieder:
"Halt't euch brav, ihr deutschen Brüder,
Greift den Feind nur herzhaft an!"

Prinz Ludewig, der musst aufgeben
Seinen Geist und junges Leben,
Ward getroffen von dem Blei;
Prinz Eugenius ward sehr betrübet,
Weil er ihn so sehr geliebet,
Liess ihn bringen nach Peterwardein.

Wer's so nicht lernt, der lernt's nicht. Kein Professor kann's ihm sagen. Einige Wege sind ihm wohl noch anzugeben, z. B. dass er's bei einigen Liedern mache, wie der Hase. Grad' aus, grad' aus, aber husch, nun einen Satz bei Seit und auf einer andern Flucht, schliesslich aber schon wieder in's alte Nest. Oder wenn er von seinem Schatz singt, dann um Himmelswillen nur verschwiegen, denn:

Die Dornen und Disteln, die stechen gar sehr,
Die alten Weiberzungen, die stechen noch mehr –

und da muss er thun, als wenn's gar kein bestimmter Schatz wär, aber wenn er die Nachtigall hört, der kann er's sagen, und wenn er's Wasser [571] fliessen sieht, dem darf er thalab einen Gruss mitgeben und mit dem Falken sollen seine Wünsche fliegen, aber wenn er seinen Schatz trifft, dann – soll er nicht singen, sondern fein still sein.

So das Volkslied. Gleich ihm, nur je nach den besonderen Sphären des Geistes, in welchen der Dichter sich bewegt, verschieden, entstehen alle guten Lieder. Tiefes Gefühl bewegt die Seele und lässt alles Schöne, Süsse, Kräftige, Traurige u. s. w. heraufwogen, so dass Schönes sich zum Schönen ordnet. Der Dichter sucht und wählt dann nicht; magnetisch zieht seine Empfindung das ihr Zusagende, zieht Eins das Andere aus allen Anschauungen und Empfindungen an sich heran. Er weiss selbst oft nicht, wie das Lied entsteht. Er kann die Stimmung dafür nicht wecken; sie kommt und geht wohl, ohne dass er sie halten kann. Die Bildung des Volksliedes ist nur in der Art vom sogenannten Kunstliede verschieden, dass bei ihm ein aus dem Gedächtniss nachsingender Sänger die ihm fehlende Reihe oder Strophe ergänzt oder ohne Weiteres im lebendigen Gefühl eine neue Idee einschiebt. Das vollständig herausgearbeitete Gedicht des Kunstpoeten verträgt dies seltener; dann kommt auch die feste Art der Ueberlieferung hinzu. Sie geschieht durch das gedruckte und gewöhnlich nur gelesene Wort. Das durch mündliche Ueberlieferung verbreitete Lied wird in der angegebenen Weise vielfach verändert, erweitert, verkürzt. Allmälig sichten sich dann wohl die verschiedenen Singarten und nur das Beste bleibt stehen; oft aber kommt auch dabei das widersprechenste Zeug zusammen, indem ganz verschiedene Reihen verschiedener Strophen und Dichter zusammengeworfen werden, so dass auch die kräftigste Phantasie keine Einheit in dem bunt und willkürlich durcheinander gewürfelten Gemisch findet. Nur durch Vergleichung der Varianten vermag man dann noch den eigentlichen Sinn zu finden.

Die Gebiete, auf welche diese Lyrik sich gerne bewegt, sind hier nicht weiter zu characterisiren. Nur das soll bemerkt werden, dass die Liebe, die Nachtigall, die Rose u. s. w. denn doch nicht die einzigen Objecte für eine lyrische Subjectivität sind, wie man nach manchen Lyrikern vermuthen könnte.

In diesem Gefühlslied zieht der Dichter die Aussenwelt, so weit er sie ergreift, in seine Subjectivität der Art hinein, dass er beide frei durcheinander webt. Aehnlich geschieht dies im Dithyrambus; nur ist [572] hier der gesteigertste Grad der seelischen Bewegtheit. Ein grosser Gegenstand verlangt den entsprechenden Ausdruck. Alles Kleinliche, Reizende, sogenannte Gemüthliche ist darin ausgeschlossen. Auch eine starke Bewegung im sprachlichen Ausdruck ist, wie schon früher gesagt worden, durch den Inhalt bedingt.

Die Ode, weitumfassend wie sie ist, hat Anlass zu vielen Bestimmungen gegeben. (Siehe ausser Vischer, Carriere u. A. E. Pfaff's interessante Schrift: Zur Lyrik des Horaz). Der Character der Ode wird meistens aus ihren epischen Elementen, ihrer Objectivität abgeleitet. Woher aber diese Objectivität? Die Ode entsteht durch die Hingabe des Dichters an ein – diese Hingabe verdienendes, hohes – Object. Der Dichter singt nicht über Etwas, sondern singt Etwas oder zu Etwas empor. Im Dithyrambus lässt sich die Phantasie gehen; in ihrer eigenen Gewalt und schönen Bewegtheit gefällt sie sich gleichsam; wie trunken schwärmt sie. Im Hymnos und in der Ode ist sie concentrirter auf ihren Gegenstand. Indem sie seine Schönheit, Grösse u. s. w. oder die Verhältnisse, in welcher er sich befindet hervorhebt, erzählt sie uns gleichsam von ihm. Daher das epische Element.

Wir fanden schon in der Ode ein erzählendes Element. Ein solches, mit Trauergefühlen untermischt statt mit der subjectiven Bewunderung, findet sich in der eigentlichen Elegie.

Die reine Ballade ist episch. Nun nimmt sie aber lyrische Bestandtheile auf, oder sie geht in den ausgebildeteren dramatischen Ton über, wo die Figuren ohne eine weitere Bindung, als sie in der Handlung liegt, einander redend gegenübertreten. Was die von der Ballade häufig schwer zu unterscheidende Romanze betrifft, so mag der Unterschied aus dem in der Romanze mehr subjectiv gefärbten Ton der Erzählung zu erklären sein, wenn man nicht nach der Form allein unterscheiden will. Der dem Spanier in der Erzählung geläufige dreimalige Trochäus mit Assonanz giebt für die Romanze die eigentliche, uns aus dem Spanischen überkommene Form. Wir pflegen hauptsächlich die Ballade und Romanze darauf anzusehen, ob ein mehr oder weniger volksthümliches Element in ihnen hervortritt. Die mehr cavaliermässige, wie noch vom Ritterthum angeflogene, gewählte Weise der südlichen Völker auch in der Volksdichtung, erscheint uns in dieser fremder, weniger episch natürlich; auch sie ist für uns romantisch. Dass unsere germanischen, [573] derberen Weisen an Tiefe und Kraft jene Vorzüge aufwiegen, aber auch aufwiegen müssen, sei hier nur nebenbei bemerkt.

Für die rein epische Ballade ward schon im Epos der König von Thule angeführt. Die dramatische Behandlung liebt die englische und schottische Balladendichtung. Hier der Anfang einer Ballade dieses Stils von Moritz Graf Strachwitz:

"Graf Douglas presse den Helm in's Haar,
Gürt' um dein lichtblau Schwert,
Schnall an dein schärfstes Sporenpaar
Und sattle dein schnellstes Pferd!"

"Der Todtenwurm pickt in Scone's Saal,
Ganz Schottland hört ihn hämmern,
König Robert liegt in Todesqual,
Sieht nimmer den Morgen dämmern!" –

Sie ritten vierzig Meilen fast
Und sprachen Worte nicht vier,
Und als sie kamen vor Königs Pallast,
Da blutete Sporn und Thier.

Das rein Erzählende stellt, auch wo es innerlich noch so dramatisch bewegt ist, nie Redende ohne eine vom Dichter gegebene Verbindung: "Da sagte er" u. s. w. neben einander. Diese dramatische Ballade thut dies in einer Weise, dass wir oft die Sprechenden kaum auseinander zu halten vermögen und auch die wichtigsten Ergänzungen hinsichtlich des Fortgangs der Handlung selbst machen müssen. So z. B. in dem bekannten: "Dein Schwert, wie ist's von Blut so roth, Edward, Edward!"

Oft ist es sehr schwierig, Balladen zu classificiren und anzugeben, worin ihr mehr objectiver oder subjectiver Ton liegt. Wir fühlen häufig mehr das Walten der dichterischen Subjectivität, als dass wir ihn genau anzugeben wüssten. Es drückt sich aus in der ganzen Art und Weise, wie der Dichter die Erzählung anfasst, ordnet, was er herausgreift und hervorhebt und was er verschweigt. Der echte Epiker scheint Alles zu geben, was er weiss; er sagt das in Worte zu Fassende. Dabei steckt er ganz in seinem Stoffe und spricht nur aus diesem heraus. Der Erzähler subjectiverer Art sucht die höchste Objectivität, aber er stellt dazu sein Object vor sich hin, untersucht es und betrachtet es. Er steckt [574] nicht in der Handlung, sondern ist ein kühlerer Betrachter, achtet darum auf viele, namentlich seelische Züge, oder setzt sie voraus und sagt sie uns, welche jener nicht erzählt und nur durch die Handlungen selbst vermuthen lässt.

In den herrlichen Erzählungen, Balladen und Romanzen Schillers findet man meistens diese subjectivere Behandlung. Aus ihrem epischen Ton neigte er sich übrigens in den einen mehr zur lyrischen, in den andern mehr zur dramatischen Weise.

Er liebt in der Gegenwart zu erzählen:

      "Der König spricht es und wirft von der Höh" u. s. w.

          "Und munter fördert er die Schritte
          Und sieht sich in des Waldes Mitte" u. s.  w.

Der Gebrauch des Präsens belebt häufig, aber macht auch wohl unruhig. Es erzählt weniger, als es schildert, malt. In der Erzählung bringt es leicht eine eigenthümliche Wirkung hervor. Wir schauen uns nach dem Erzähler um; grade weil er sich anscheinend aus dem Spiel lassen will und so thut, als ob wir Alles selbst sehen, werden wir auf ihn aufmerksam. Hat er uns vorher in die höchste Mitleidenschaft durch seine Erzählung gebracht und geht er dann wohl ins Präsens über, so ist das ein Anderes. Dann sehen wir nur das Bild; andernfalls aber blicken wir zu leicht nach dem Erklärer des Bildes, welcher uns sagt: seht, jetzt thut der das, jetzt jener dieses. Statt objectiver zu machen, macht eine solche Weise die Erzählung subjectiver.

Die Fülle der Lyrik nach ihren verschiedenen Arten zu bestimmen, ist Aufgabe der Poetik. Wir haben hier nur noch auf ein grosses Gebiet aufmerksam zu machen, das namentlich seit Schiller für uns gewonnen ist oder das man zu gewinnen sucht. Es ist die von Melchior Meyr, Carriere u. A. sogenannte Gedankenlyrik. Es ward schon oben gesagt, wie die Poesie einerseits an die Unbestimmtheit der Tonkunst, andrerseits an das Gedankenreich hinanreicht. Sie kann wie jede Kunst und mehr als alle andern noch in die Nachbargebiete hinüberschweifen. Wann das Gedankenhafte beginnt, ist schwer zu bestimmen, namentlich da hier die reinste Lyrik wohl verwirrend einwirkt, indem wir bei ihren Empfindungen ja anscheinend ebenfalls keinen Körper, keine Vorstellung mitbekommen. Aber hier sind wir durch unsere Mitleidenschaft (Sym[575]pathie im weitesten Sinne) selbst der Gegenstand. Wo hört nun diese Mitleidenschaft auf und beginnt das Ergreifen des Gedankens durch den Gedanken allein, ohne dass wir uns selbst in der Vorstellung erfassen? Da wo die Vorstellung aufhört, hört die eigentliche Dichtung auf; es mögen Gedanken in Verse gebracht sein, poetisch sind sie nicht mehr. Nun muss die Dichtung die grossen Ideen ihrer Zeit verarbeiten, wenn sie sich auf der Höhe halten will und nicht in den Augen der Gebildeten zú einem Spiel für die Wallungen einer Knaben- und Jugendzeit herabsinken soll. Neuen, grossen Wahrheiten des Gedankens eine solche dichterische Verkörperung zu geben, gehört natürlich zum Schwierigsten, ja, so lange der Dichter und die Zeit mit dem Inhalt, seiner Wahrheit, Schwierigkeit u. s. w. zu ringen haben, gehört eine völlige poetische Bewältigung zu den Unmöglichkeiten. Nichtsdestoweniger ringen diese Ideen nach Ausdruck. Vermag ein grosser Dichter sie zu bewältigen, dass man ihnen die Gedankenschwere und Abstraction nicht mehr anmerkt, so ist dies das Höchste, was er seiner Zeit bieten kann. Aber auch wo er es nicht ganz vermag, wo er zu sehr mit dem Inhalt ringt, wo er die allgemeinen Begriffe nur mehr hinter Personificirungen allgemeinster Art versteckt, als er sie zu beleben weiss, auch da wird man ihm natürlich noch entgegenjauchzen. Alle Gebildeten namentlich werden sich für ihn regen. Sein Unternehmen ist gross; die Anstrengung, welche er zu machen hat, ist ungeheuer. Diese Arbeit des Bahnbrechens verdient Bewunderung. In dieser Weise war Schiller thätig, die neuen Eroberungen auf dem Gebiet des Denkens auch für die Poesie zu gewinnen. Namentlich zu Anfang greift er dabei – immer grossartig und bewunderungswürdig – über die Gränzen hinaus. Idee und Bild sind bei ihm nicht Eins. Der Gedanke sucht sich den Körper, findet aber oft nur eine ziemlich leere Vorstellung, durch welche das Begriffsgerüste ziemlich deutlich hervorblickt. Nichtsdestoweniger zählen solche Gedichte durch die Grösse, Macht und Kühnheit der Ideen, dann durch die dichterische Bewältigung, wie er, Schiller, es doch vermochte, zu den herrlichsten Erscheinungen. Wer macht es ihm, selbst da, wo seine Kraft nicht ausreichte, in der Weise nach? Welchen neuen Schwung hat er gegeben, welche neuen Bahnen gebrochen! Aber Muster sind diese Gedichte darum nicht. Die Idee überwiegt darin die Vorstellung; die Harmonie zwischen Inhalt und Erscheinung fehlt. Schiller selbst wusste das [576] und arbeitete mit seiner ganzen Kraft, dem Mangel abzuhelfen. Zum Vergleiche betrachte man etwa seine "Künstler" und seine "Glocke", wie er der Vorstellung zu Hülfe zu kommen, die Rechte und Bedingnisse reiner Poesie zu wahren sich bestrebt hat. – Eine Behandlung, wie wir sie etwa in den "Künstlern" sehen, ist nun freilich verführerisch für den Denker mit poetischem Talent. Grade deswegen ist aber mit um so mehr Entschiedenheit darauf aufmerksam zu machen, wie in ihr nicht das richtige, geschweige das höchste Princip der Dichtung zum Ausdruck kommt. Die philosophische Poesie bewegt sich in einer, für die Dichtung gefährlichen Weise an den Gränzen und jenseits der eigentlichen Gränzen. Die Gedankenschwere darf da nicht verlocken. Die volle lebendige Vorstellung bleibt Hauptaufgabe der Dichtung. Auch hier liegen freilich wieder manche der bedeutendsten, grossartigsten Weisen hart an den Gränzen. Doch brauche ich dafür nur an das erinnern, was über die gleichen Fälle in der bildenden Kunst und in der Tonkunst gesagt worden. Hier kann fast die sämmtliche Lyrik Schillers dafür als Beispiel genannt werden.

Dasselbe gilt von den dichterischen Werken der Beschaulichkeit. Wer könnte uns schöner mit den Worten der Weisheit erfreuen, als der ältere Dichter, dem Welt und Leben das Buch waren, das stets vor seinen Augen lag, der wie Niemand die Herzen und den Lauf der Dinge zusammen erforscht hat. Der ältere Dichter wird sich darum hauptsächlich zu dieser Poesie hingezogen fühlen. Giebt er die goldne Lehre in goldnem Gefäss, so ist das vortrefflich. Gedanke und Dichtung sind ja alsdann vereint, wie es verlangt worden. Ich brauche dafür, um von andern Völkern auch hier abzusehen, nur an Schillers und Göthes derartige Schöpfungen zu erinnern. Fehlt das ästhetische Element oder ist es schwach, so werden wir uns, wenn das ethische vortrefflich ist, nicht sehr darum bekümmern. Wenn dieses in eine äussere poetische Form, z. B. in Verse, gebracht worden, so wird das ihm niemals einen Werth nehmen, eher wird die präcise, der Ueberlieferung so günstige Form des Verses seinen Werth noch erhöhen. Freilich poetischer Werth ist damit nicht gewonnen, dass ein Spruch der Weisheit etwa metrisch erklingt. Solche versificirte Gedanken als höchste Poesie hinstellen, ist durchaus verkehrt. Sie gehören einfach in andere Gebiete. Bei wirklich poetischer Weise ist hier aber vor Einem zu warnen. Das Alter, [577] der ewige gute Nestor, hält leicht alle seine Worte für Gold und mag keins opfern, weil unter Umständen doch ein jedes seine gute Stelle finden könnte. Er vergisst, dass die Jugend nicht so durchaus thöricht ist und da wird es bei seinen Ermahnungen und Weisheitssprüchen ihr wohl in Einem wieder gleich: beide meinen, nicht genug sagen zu können.

Für die weiteren Unterscheidungen – z. B. des Naiven, des Sentimentalen, des Classischen, Romantischen u. s. w. – in der Dichtung fehlt bier der Raum. Auch in die Gegenwart zu greifen, ist hier nicht verstattet, um an ihren Sängern und Dichtern, wie z. B. an einem Emanuel Geibel, Bodenstedt, Lingg, Freiligrath, Grosse, Schäffel u. A. die lyrischen Richtungen und Bestrebungen unserer Zeit zu zeigen, oder die Wirkungen der früheren Dichtergenerationen auf unsere Tage nachzuweisen.

Die deutsche Lyrik blüht noch; es hat damit keine Noth. Sie wird auch den Frost der jetzigen Zeit gut überstehen, der hoffentlich nur dazu beigetragen hat, sie zu kräftigen.

 

 

 

 

Erstdruck und Druckvorlage

Carl Lemcke: Populäre Aesthetik.
Leipzig: Seemann 1865, S. 560-577.

PURL: https://hdl.handle.net/2027/wu.89054191895
URL: https://books.google.de/books?id=-eU1AAAAMAAJ

Die Textwiedergabe erfolgt nach dem ersten Druck (Editionsrichtlinien).

 

 

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