Eine Rezension zu Lara Rüter "Gedichte" Entfesselung des Astralen - Lara Rüters Gedichte brechen aus der Zeitlichkeit

(von Andreas Blume)

Ulf Stolterfoht, Lektor des 26. open mikes im Berliner Heimathafen Neukölln, lobt die Lyrikerin Lara Rüter für ihr Form- und Strukturbewusstsein, das sie mit dem radikal Subjektiven und Eigenständigen verbinde. Dann folgt ihre fünfzehnminütige Lesung. Es wäre deutlich verfehlt, wenn nun versucht würde, nach dem Narrativ oder Anhaltspunkten zu suchen, um letztlich das, was die Gedichte evozieren könnten, analytisch auflösen zu wollen. Deswegen sind folgende Ausführungen als eine, von vielen möglichen Lesarten und somit als Anregung der Auseinander­setzung mit gegenwärtiger Lyrik zu verstehen.  

Impulse, die Rüter gibt, sind Körperlichkeit, Tod und deren Entgrenzung. In dem dreiteiligen Gedicht „meningen“ wirkt der Körper wie ein Gefängnis, der genauestens anatomisch beschrieben dasteht und „darin geht nichts verloren, bevor man es nicht schlachtet [Enjambement] aus den Schläfen rinnt“. Davon losgelöst manifestiert sich ein lyrisches Ich, das sich fragt: „wo befind ich mich das ich sehe [Enjambement] wie ich mich sehe? gespiegelt?“ Die Diskrepanz zwischen dem eigenen Körper und dem lyrischen Ich, von dem es sich auch in „mary shelley’s kniestrumpf“ entfremdet, expliziert das daraus resultierende Dilemma: „auch wenn ich deutlich seufze, erlöst mich niemand“. Insgesamt mutet die Atmosphäre der Gedichte morbid an, worin nach Juror Steffen Popp jedoch das Frische liegt: „Die Texte unternehmen Expeditionen zwischen diesen beiden posthumen, vielleicht auch posthumanen Zuständen und führen – paradox genug – dabei sehr ins Lebendige.“

Besonders anschaulich, und das mag dem subjektiven Empfinden des Rezensenten geschuldet sein, wird das Leben in „berufung, in gängen nach feierabend“. Die Lyrikerin arbeitet sich mit einer avantgardistischen Sprachästhetik an der Entfremdung des Individuums im Büroalltag ab. In drei Strophen, die als Phasen bezeichnet werden, wird der Arbeitsalltag im Büro kapitalismuskritisch in den Blick genommen und als neoliberalistischer Konkurrenzzwang entlarvt. Verwunderlich scheint daher die Überschrift, bei der man alles andere als das nachfolgende Treiben des lyrischen Ichs erwartet, und die somit karikativ vor Augen führt: Nach dem Feierabend ist vor dem Feierabend. Die drei Phasen wirken wie zeitliche Markierungen eines Arbeitszyklus. Formal­ästhetisch auffällig ist, dass mit jeder Strophe die Anzahl der Absätze abnimmt, wie die Arbeitskraft, die bis zur Neige ausgeschöpft wird und nichts hinterlässt als einen „geschröpfte[n] widerhall“. Der kontinuierlichen Ausbeutung wird zumindest in der ersten Phase noch der Konjunktiv des Hoffens entgegengesetzt, der einen Ausgang aus der Endlosschleife des Alltags in Aussicht stellt: „vielleicht ist es gar kein neonrohr, das wir sehn […] vielleicht sehn wir nur lebhaft routerlichter tanzen […] z.b. updates möglicher ausgänge“. Sich der Erschöpfung bewusst, ist das bloße Funktionieren das einzig schutzgebietende Kredo des lyrischen Ichs vor dem Arbeitgeber, denn „aneignung richtet den wolf“. Gleichzeitig werden in diesem rationalisierten Arbeitszyklus auch menschliche Züge wahrgenommen, wenn Angewohnheiten beschrieben werden wie „aprikosen kostende lippen, [die] obszön an kernen nippen“. Beschrieben wird eine Situation, die jeder kennt, der schon einmal mehrere Stunden stillsitzend auf den Computer starrte. Zudem deutet sich mit dem Hinweis auf das Obszöne ein scheinbarer Gegensatz zur Arbeitswelt und zugleich die tiefe Verbindung zwischen Obszönität und Neoliberalismus an. Der Begleitschaden des unentwegten Arbeitens ist sodann die Unfähigkeit, „freihaben nicht ertragen“ zu können. Stattdessen ist das lyrische Ich ständig getrieben von notorischer Unruhe und der Angst entlassen zu werden. Der zweite Teil der zweiten Phase wirkt surreal, weil er sich einzig auf die Verflüssigung des lyrischen Ichs beschränkt, aber dennoch den Adrenalinrausch genauestens beschreibt, der bei drohender Entlassung freigesetzt wird: „da strömen versprecher lang, […] in nasse orgasmen, klitsch klatsch gegen das beben“. Übrig bleibt am Ende des Zyklus ein abgerichtetes lyrisches Ich, über das sich der Abteilungsleiter hermacht wie Geier die „aasen […], was noch übrig“ und das gequälte Dasein beendet: „mein körper verlässt mich“. Mit der kontradiktorischen Aussage wird noch einmal verstärkt, was alle Gedichte Rüters ausmacht: Die Entgrenzung des lyrischen Ichs.

Am Ende bleibt ein Rest, bei dem sich mit den Worten Steffen Popps zurecht gefragt werden darf: „Wer ist hier das Fossil? Man selbst? Oder der Text, der sich selbst durchaus archaisch gebärdet und als Anachronismus in den Blick nimmt?“ Rüter greift mit der kapitalistischen Arbeitswelt ein modernes Phänomen auf, welches sich auch in unserer spätmodernen Zeit weiter fortsetzt und damit deutlich macht, dass der stetig steigenden Rationalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft vielleicht nicht mit Vernunft beizukommen ist, aber ganz sicher mit dem sprachlichen Spiel der Lyrik.

Lara Rüter: Gedichte. In: 26. open mike. Internationaler Wettbewerb junger deutschsprachiger Prosa und Lyrik. München: Allitera Verlag 2018. S. 140-150.