Mehr als "Reden zum Fenster hinaus".
Zur Relevanz öffentlicher Kommunikation für den privaten Konsens.
 

Plenardebatten des Deutschen Bundestages sind nichts weiter als "Reden zum Fenster hinaus"*. So die allgemein übliche Sicht von Wissenschaftlern und kritischen Bürgern auf die öffentlichen Sitzungen des Deutschen Bundestags. Anstelle der transparenten Debatte, bei der die Bürger teilhaben könnten am demokratischen Entscheidungsprozess, verkündeten die Politiker in stilisierten Scheingefechten nur noch, was vorher hinter verschlossenen Türen beschlossen worden sei. Ein Leichtes wäre es, durch Beobachtung der Kommunikationsprozesse im Plenarsaal diese Urteile zu bestätigen, doch verfolgt dieses Buch ein anderes Ziel: Die Bestätigung der These, dass aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht Plenardebatten "mehr sind als Reden zum Fenster hinaus, dass sie im Gegenteil wichtige innerparlamentarische Funktionen erfüllen".

Im Verlauf der Argumentation wird dabei gezeigt, dass die weithin übliche Sicht auf Plenardebatten auf bestimmten Vorurteilen beruht, nämlich der Vorstellung von einer vollkommen freien, idealen Wechselrede, die für den Beobachter transparent sei. Diese müsse nach allgemeiner Ansicht im Plenarsaal verwirklicht werden.

Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht kann es diese freie Wechselrede jedoch nicht geben, zudem würde sie auch nicht der besseren Verständigung dienen, weder im Plenarsaal, noch in der Alltagskommunikation. Zur weiteren Argumentation werden Plenardebatten nicht länger als Sonderfall öffentlicher Kommunikation betrachtet, sondern mit Prozessen der Alltagskommunikation zusammengeführt, um zu generellen Aussagen über Abläufe und Funktionsweisen von Kommunikationsprozessen zu gelangen. Die Grundlage und Voraussetzung eines jeden Kommunikationsprozesses bildet demnach ein gemeinsamer Konsens, den Sprecher und Hörer miteinander teilen, aufbauen und gegenüber einem Dritten, einer Öffentlichkeit, immer wieder prüfen und bestätigen. Dieser Konsens setzt die Grenzen einer jeden kommunikativen Handlung fest, sowohl im Plenarsaal, als auch in der Alltagskommunikation. Während die Abgeordneten in Bundestagsdebatten ständig ihre "Gemeinsamkeit der Demokraten" sowie weitere Konsense der Fraktionen und Untergruppierungen vor einer breiten Öffentlichkeit überprüfen, sind es auch im Alltag Stilisierungen wie Rituale und floskelhafte Redewendungen, die den Konsens der Menschen bestätigen.

Sichtweisen und Erklärungen aus Linguistik und Politologie werden im ersten Teil des Buches anhand eines reichen empirischen Materials aus Plenardebatten verschiedener Jahrzehnte erläutert. Im Anschluss an Überlegungen des Kommunikationswissenschaftlers Gerold Ungeheuer erfolgt dann eine Einführung in die kommunikationstheoretische Sichtweise und Theoriebildung. Unter diesem neu gewonnenen Blickwinkel werden im Folgenden die Vorurteile vorher dargestellter Theorien über Plenardebatten aufgedeckt. Durch die anschließende Zusammenführung der Kommunikation im Bundestag mit der Alltagskommunikation ergeben sich am Ende neue Erklärungspotentiale für Gruppenkommunikationsprozesse und ihre Herstellung und Bestätigung von Gruppenkonsens.

Im letzten Teil der Arbeit wird versucht, dem Begriff des Konsenses noch näher auf die Spur zu kommen. Dies gelingt anschaulich durch die kommunikationstheoretische Analyse des Dramas "Who's afraid of Virginia Woolf?" von Edward Albee. Sowohl die kommunikative Konsensbestätigung als auch der schmerzhafte Bruch des Konsenses werden hier am Ende greifbar.

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* Burkhardt, Armin (1995): "Zwischen Diskussions- und Schaufensterparlamentarismus. Zur Diagnose und Kritik parlamentarischer Kommunikation - am Beispiel von Zwischenfragen und Kurzdialogen." In: Dörner, A./Vogt, L. (Hrsg.): Sprache des Parlaments und Semiotik der Demokratie. Studien zur politischen Kommunikation der Moderne. Berlin/New York: de Gruyter Verlag: 73 - 106: hier: 78