Projekt: Dezentralisierte Lohnfindungssysteme in der EU: Zur betrieblichen und nationalen Operationalisierung des Leistungsprinzips und ihren Auswirkungen auf tarifliche Auseinandersetzungen (LoFi-EU)

Projektbeschreibung

Worum geht es? (Problemstellung und Forschungsgegenstand)

Die kooperative Sozialpartnerschaft auf Basis der Tarifautonomie von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in Deutschland gilt im internationalen Vergleich als Erfolgsmodell in der Aushandlung von Tarifverträgen zur Stabilisierung von Entgelten und Arbeitsmärkten. Es wird jedoch eine Krise des Flächentarifs, die Erosion der Arbeitgeberverbände und ein sinkender gewerkschaftlicher Organisationsgrad festgestellt. Zusammen mit der Tarifreform ERA (Entgeltrahmenabkommen in den Flächentarifverträgen der Metallindustrie) und mit der Tarifvertragsreform im öffentlichen Dienst (TVöD 2005, TV-L 2006) tragen diese Entwicklungen zu einer Dezentralisierung der Lohnfindung bei. Denn sowohl tarifliche Öffnungsklauseln als auch das neue tarifliche Entgeltraster sowie leistungsbezogene Entgeltanteile bedingen eine Verbetrieblichung der Aushandlungsprozesse. Eine so dezentralisierte Lohnfindung befördert individualisierte Auseinandersetzungen um eine tarifgerechte Eingruppierung.

Die Entwicklung der (tariflichen) Lohnpolitik in EU-Mitgliedsstaaten ist bei aller tarifpolitischen und strukturellen Heterogenität spätestens seit der Wirtschaftskrise 2007 von Dezentralisierung, oft in Anlehnung an das deutsche Modell, gezeichnet – ob dies ein genereller Trend der europäischen Entwicklung insgesamt ist, kann noch nicht abgesehen werden. Auch wenn die deutsche Begleitforschung zu den tiefgreifenden Tarifreformen und die einhergehende Individualisierung und Verbetrieblichung von Lohnverhandlungen, Eingruppierungsregelungen und Leistungsbewertungen umfangreich ist, wurden bisher keine Vergleiche zu anderen tariflichen Entgeltrastern und ihren Auswirkungen innerhalb der EU gezogen. Gerade angesichts einer zunehmenden europäischen Integration, die häufig von einem Unterbietungswettbewerb zur Standortsicherung geprägt ist, erscheint es erforderlich, die Konsequenzen einer Dezentralisierung in der Lohnfindung auszuloten, im Hinblick auf Transformationsmuster der Stabilität von Arbeitsmärkten, Fragen der Lohn- und Leistungsgerechtigkeit und damit der sozialen Akzeptanz und gewerkschaftlichen Antworten.

Die nationalen Tarifsysteme der EU-Mitgliedstaaten unterscheiden sich insbesondere hinsichtlich Mitgliederstärke von Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbänden, Prozedur der Lohnfindung und staatlicher Absicherung. Bei allen nationalen Besonderheiten müssen Lohn- und Leistungspolitiken der jeweiligen nationalen Tarifparteien jedoch auf den europäischen Rahmen Bezug nehmen. Sie müssen sich auf die in der EU gültigen Rechtsnormen beziehen, die zwar wenig sozialpolitische und keine tarifpolitische Regulierung aufweist, aber qua der EU-Institutionen starken Einfluss auf die nationale Tarifpolitik ausüben. Angesichts weitreichender Eingriffe zu Krisenzeiten könnte man von einer grenzüberschreitenden Lohnkoordinierung im Euroraum sprechen – allerdings nicht durch die Tarifpartner, sondern maßgeblich durch die so genannte Troika. Zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit sollten etwa Belgien, Spanien, Italien und Griechenland ihre Lohnverhandlungssysteme dezentralisieren, um eine betriebliche Unterschreitung kollektiver Lohnuntergrenzen zu ermöglichen.

 

Was wollen wir herausfinden? (Forschungsziele und Erkenntnisinteresse)

Generelles Ziel des Projektes ist es, tarifliche Dezentralisierungsprozessen in der EU integriert zu analysieren und deren Auswirkungen in den Blick zu nehmen. Die bisher in der Forschungslandschaft vernachlässigte Mesoebene der betrieblichen bzw. tariflichen Operationalisierung von dezentralen Bewertungs- und Entgeltsystemen soll anhand von kontrastierenden exemplarischen Fallbeispielen aus EU-Mitgliedsstaaten beleuchtet werden, um die Spannbreite der Ausgestaltungen im Rahmen der EU-Normen zu erfassen und insbesondere die Auswirkungen auf (leistungsgerechte) Entgelte und auf die Durchsetzungsmacht der Tarifparteien zu analysieren.

Vergleiche der Erkenntnisse zu Tarifreformen in Deutschland mit denen anderer europäischer Staaten sind insbesondere auf der Ebene tariflicher Lohnfindungssysteme äußerst selten. Diese verschiedenen Modi der Ausgestaltung des Leistungsprinzips und die (über-)betrieblichen Auseinandersetzungen darum im Angesicht von Krisenerscheinung und innereuropäischer Standortkonkurrenz zu analysieren, ist ein zentrales Ziel des Projekts. Außerdem soll eruiert werden, an welchen Gegenständen eine europäische Koordinierung in Lohnfindungssystemen angesichts der Dezentralisierung ansetzen muss und welche Rolle tripartistische Akteure sowie gesetzgebende und administrativer Instanzen darin spielen (können).

 

Wie gehen wir vor? (Forschungsdesign)

Die Auswahl der Länder für die Fallstudien erfolgt nach dem Prinzip maximaler Kontrastierung hinsichtlich des Wirkungs- und Dezentralisierungsgrads des nationalen Tarifrechts sowie der gewerkschaftlichen Stärke. Neben dem Vorreiter Deutschland, das keine national verbindlichen Tarifverhandlungen aufweist und dessen Tariflandschaft von multisektoralen Verhandlungen bei gleichzeitiger Durchsetzung von betrieblichen Bewertungssystemen geprägt ist, sollen Fälle in Griechenland, Spanien, Großbritannien und voraussichtlich Slowenien untersucht werden. In Griechenland ist die Dezentralisierung der Lohnfindungssysteme (Aufhebung der Günstigkeitsregelung) seitens der EU nahegelegt worden – zuvor gab es flächendeckend eine verbindliche Tarifwirkung und seit der Eurokrise 2009 zahlreiche Generalstreiks und Tarifkämpfe. Im postsozialistischen Slowenien ist im zentralen Tarifrecht eine breite Tarifwirkung bei gleichzeitiger gewerkschaftlicher Schwäche verankert, und in Spanien wird konstatiert, dass der europäische Einfluss noch gering ausgeprägt ist, obwohl das Land seit dem Verlust seines Status als Niedriglohnland durch die EU-Osterweiterung vor schwerwiegenden Problemen steht. Großbritannien rückt spätestens mit dem harten Brexit als aktueller Transitionsfall in den Blick arbeitsmarktbezogener Forschung.

Es handelt sich grundsätzlich um eine explorative Untersuchung. Zunächst wird aktuell die auf das jeweilige EU-Land bezogene Forschung systematisch analysiert; Dokumentenanalysen und Experteninterviews beleuchten die tarifliche und betriebliche Praxis genauer. Darüber hinaus ist vorgesehen, in allen fünf Ländern die betriebliche Anwendung der tariflichen Regelungen und insbesondere die Eingruppierungspraxis im Rahmen der tariflich-betrieblichen Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren qualitativ zu untersuchen. Eine ländervergleichende Perspektive wird im abschließenden dritten Untersuchungsschritt komplementiert durch Experteninterviews auf europäischer Ebene.