Mercator in der Duisburger Stadtgeschichte

Mercator - „Aushängeschild“ und „größter Bürger“ Duisburgs? Mercator in den Stadtgeschichten Duisburgs

An der Biographie Gerhard Mercators fällt unweigerlich auf, dass er etwa 40 Jahre – von 1552 bis zu seinem Tod 1594 – in Duisburg lebte und hier seine nachhaltig bekannten Werke erstellte. Nun stellt sich die Frage, ob und wenn ja, wie sich die Stadt ihres großen Einwohners erinnert.

An dieser Stelle soll auf Grundlage dreier ausgewählter Beispiele1 aus dem 19. und 20. Jahrhundert die Beschäftigung mit Mercator in der lokalhistorischen Literatur, den Stadtgeschichten, untersucht werden. Die Wahl fiel auf diese drei Werke, da Heinrich Averdunk 1894 die „erste, modernen Anforderungen an die Quellenkritik standhaltende Geschichte der Stadt Duisburg“2 verfasste und somit eine Grundlage für die Beschäftigung mit der Duisburger Stadtgeschichte legte. Günter von Roden stand mit seinem Werk, dessen zweite Auflage 1973 erschien, noch stark in der Tradition Heinrich Averdunks und seines Amtsvorgängers Walter Ring als Duisburger Stadtarchivar. Um auch eine von dieser Tradition unabhängige Stadtgeschichte zu beleuchten, wurde die nochmals einige Jahre später erschienene Abhandlung von Gertrud Milkereit aus dem Jahr 1986 ausgewählt.

Es zeigt sich, auch beim Blick in die Enzyklopädien und Lexika, dass es immer zeitbedingte Konjunkturen gab. Je nach Epoche und Umständen wurden verschiedene Aspekte aus dem Leben Mercators betont. Dies gilt für die Erwähnung Duisburgs als langjährigem Wohnort Mercators. Die Stadt wurde im 17. und 18. Jahrhundert nicht, oder allenfalls am Rande erwähnt. Zu dieser Zeit wurden die lokalen Gegebenheiten nicht besonders betont. Duisburg wurde zwar als Lebensort Mercators genannt, die Besonderheiten der Stadt, etwa die liberale Haltung des Herzogs von Jülich oder die geplante Universitätsgründung spielten keine Rolle. Dies änderte sich seit dem Ende des 19. und vor allem im 20. Jahrhundert, als man damit begann, häufiger lokal-regionale Bezugspunkte zu suchen und hervorzuheben.

In Duisburg gab es wiederholt Bemühungen, Mercator als Erinnerungsort zu etablieren. Diese Bemühungen dokumentieren, dass Mercator nicht aus sich selbst heraus für so einflussreich und erinnerungswürdig gehalten wurde, dass er seit dem 16. oder 17. Jahrhundert kontinuierlich als Erinnerungswert präsent war. Daher schien den Stadtvätern eine stetige Neubelebung seitens der Stadt Duisburg notwendig gewesen zu sein. Dies zeigt sich heute beispielsweise in den Bemühungen des Kultur- und Stadthistorischen Museums Duisburg, das anlässlich des 500. Geburtstags Mercators 2012 eine neue Konzeption der Mercator-Sammlung plant3. Auch die Stadt Duisburg widmet ihrem großen Einwohner im Rahmen ihrer Internet-Präsenz einen – wenn auch kurzen und recht versteckten – Eintrag, in dem sie einen knappen Abriss zu seinem Leben darbietet4. Auch auf Facebook5 findet man einen Eintrag zur Person Mercators.

Die Stadt bemüht sich, Mercator für sich zu beanspruchen. Dies geschieht zunächst über die Thematisierung der „Staatsbürgerschaft“ Mercators, der in Rupelmonde (im heutigen Belgien) geboren wurde. Es wird außer Acht gelassen, dass Mercator im 16. Jahrhundert lebte, in dem das Heilige Römische Reich Deutscher Nation noch bestand und die heutigen Staats- und Ländergrenzen somit noch nicht existierten. Mercator wird eigentlich als „Deutscher“, genauer als „Duisburger“ charakterisiert, da er in dieser Stadt die Hälfte seines Lebens verbrachte und dort unter anderem sein bekanntestes Werk, die Weltkarte von 1569 mit der nach ihm benannten Mercator-Projektion, entstand.

Mercator wird durchgängig als der „größte Bürger Duisburgs“ dargestellt, obwohl er, wie Averdunk bemerkte6, nicht einmal die Bürgerrechte besaß. Dies hinderte ihn jedoch nicht, in der Stadt zu seiner Zeit eine herausgehobene und privilegierte Stellung einzunehmen. Bei Milkereit wird dieser lokale Bezug noch verstärkt, indem sie wiederholt Mercators Wirken „hier“7 [d. h. in Duisburg] verankert und somit aus der Perspektive der Duisburger schreibt.

Um lokale Bezugspunkte zu schaffen, werden auch seine Lehrtätigkeit am 1559 gegründeten Gymnasium, sein Hauskauf in der Oberstraße 1558 (das Haus ist nicht erhalten, nur eine Plakette an dem Gebäude, das heute eine Berufsschule beherbergt, erinnert an Mercator) sowie eine möglicherweise in Betracht gezogene Professur an der Duisburger Universität – die allerdings letztlich erst 1655 feierlich eröffnet wurde – aufgeführt; letzteres wird als möglicher Grund für Mercators Umzug nach Duisburg diskutiert.

Auch Mercators Glauben und Konfession finden Beachtung. Gründe dafür sind sicherlich zum einen, dass dies bis heute ein Punkt ist, über den keine genauen Kenntnisse erlangt werden können, und zum anderen, dass Mercator 1544 wegen des Verdachts der Ketzerei mehrere Monate im Gefängnis saß und die religiöse Verfolgung in Rupelmonde als weiterer möglicher Grund für seine Übersiedlung nach Duisburg angesehen werden kann. Duisburg greift diesen Punkt aus Mercators Vita besonders heraus, denn so soll das in dieser Zeit unter dem Herzog Wilhelm V. „dem Reichen“ von Jülich-Kleve-Berg stehende Duisburg in der Rückschau als Ort der „religiöse[n] Freiheit“8 charakterisiert werden.

Heinrich Averdunk9 orientiert sich in seiner Lebensbeschreibung Mercators merklich am Lebensbericht Walther Ghims. Averdunk thematisiert Mercators Bikonfessionalität und Loyalitätskonflikte ausführlich, vermutlich mit seinem eigenen zeitgebundenen Hintergrund. Er verfasste seine Stadtgeschichte, während der Kulturkampf in Deutschland tobte und konfessionelle Fragen daher auch für ihn von großer Bedeutung waren.

Averdunk schildert auch die Bemühungen seiner Zeitgenossen, mit der Gründung eines Vereins und den Sammlungen für ein Mercator-Denkmal die Erinnerung an diesen wachzuhalten bzw. wieder zu wecken. Die Finanzierung dieses Projektes stellte die Initiatoren allerdings vor Probleme, da Geldsammlungen und Spendenaufrufe schon innerhalb der Stadt Duisburg nur zögerlich angenommen wurden und außerhalb Duisburgs nahezu keine Beachtung fanden. Daher konnte das Denkmal, für das bereits 1869 der Grundstein gelegt wurde, erst 1878 neben dem Rathaus enthüllt werden.10

Günter von Roden11 charakterisiert in seinen Ausführungen zu Mercator das 16. Jahrhundert, oder zumindest die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, bereits durch seine Kapitelüberschrift „Gerhard Mercator und seine Zeit“12 über eine einzige Persönlichkeit und lässt so alle anderen Entwicklungen der Zeit in den Hintergrund treten. Von Roden betont vor allem die bis in die heutige Zeit fortlebenden Errungenschaften Mercators, dessen Karten und Projektion nicht nur für die See-, sondern auch für die Luftfahrt nach wie vor von eminenter Bedeutung sind. Er rekapituliert auch die Forschungsdebatte über Mercators Staatsbürgerschaft und konstatiert, dass er letztlich „ein Mann ist, der dem gesamten Kontinent, ja der ganzen Welt gehört“13. Von Roden verweist ganz ausdrücklich auf die Biographie Ghims als wichtige Quelle zu Mercator14, womit er die Tradition Averdunks fortführt und keine sonderlich neuen Forschungen für diese Zeit anstellt. 

Gertrud Milkereit schreibt ihre Stadtgeschichte in der Zeit des Strukturwandels im Ruhrgebiet vom Sekundärsektor hin zum Dienstleistungssektor. Sie versucht in wenigen Worten die Bedeutung Mercators herauszustellen und betont seine starke Verankerung in der Stadt Duisburg und seine Verdienste für die Stadt, die vor allem mit dem Gymnasium verbunden sind.

Insgesamt zeigt sich in allen Textpassagen deutlich die Suche nach einem identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Kristallisationspunkt. Dafür war Mercator in doppelter Weise geeignet. Einerseits verkörperte er sowohl den Handwerker als auch den Gelehrten und bietet so für große Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit, sich mit ihm in Teilen zu identifizieren. Andererseits war Mercator nicht „vorbelastet“, indem er und sein Leben und Wirken durch eine Ideologie für deren Zwecke eingespannt und zweckentfremdet worden waren, wie der Nationalsozialismus Friedrich Nietzsche oder Richard Wagner instrumentalisierte.

In den Duisburger Stadtgeschichten findet sich nicht die bei anderen Textsorten festgestellte Reduzierung Mercators auf seine Projektion und eventuell noch den Atlas, sondern im Gegenteil eine neue Hinwendung zur „Person Mercator“. Diese Ausweitung des Blickwinkels erklärt sich auch aus dem lokalhistorischen Entstehungskontext der Texte, die möglichst umfassend an Mercator als großen Duisburger erinnern und eine umfassende Identifikationsfigur schaffen wollen.

Doch die beabsichtigte Initiierung eines sowohl lokal-regionalen als auch eines universellen „Erinnerungsortes Mercator“ wirkt sehr angestrengt und teils sogar krampfhaft und kann bis heute aufgrund der mangelnden Akzeptanz und Durchsetzungskraft Mercators als Erinnerungsort innerhalb und außerhalb der Stadt als gescheitert angesehen werden. Dieser Eindruck vertieft sich bei einem Blick in die Stadt selbst.

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1 Averdunk, Heinrich: Geschichte der Stadt Duisburg bis zur endgültigen Vereinigung mit dem Hause Hohenzollern (1666), Duisburg 1894; Roden, Günter von: Geschichte der Stadt Duisburg, Bd. 1: Das alte Duisburg von den Anfängen bis 1905, ²Duisburg 1973; Milkereit, Gertrud: Duisburg so wie es war, Düsseldorf 1986.

2 Von Roden, Geschichte, S. 1.

3 http://www.stadtmuseum-duisburg.de/ (abgerufen am 05.12.2011).

6 Averdunk, Geschichte, S. 707.

7 Milkereit, Duisburg, S. 14ff.

8 Averdunk, Geschichte, S. 705.

9 Heinrich Averdunk (1840-1927), Lehrer am Duisburger Gymnasium, 1872-1878 Stadtverordneter, 1902-1919 Leiter des Heimatmuseums, 1920 Ehrendoktorwürde der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

10 Averdunk, Geschichte, S. 713f.

11 Günter von Roden (1913-1999), deutscher Historiker und Archivar, zuletzt leitender Stadtarchivdirektor in Duisburg.

12 Von Roden, Geschichte, S. 312.

13 Von Roden, Geschichte, S. 312.

14 Von Roden, Geschichte, S. 315f.