Forschungsspiegel

Identität
Ein zentraler Aspekt der Forschung über Francks Werk ist die Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Identität. So befassen sich mehrere Forschungsartikel aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Darstellung und Behandlung der Identitätsthematik. Susanne Krings nähert sich dem Debütroman Francks unter Einbeziehung von rollenspezifischen soziologischen Theorien Erving Goffmans (vgl. Krings 2012, S. 69). Sie arbeitet in ihrem Artikel heraus, dass die Hauptfigur des Romans ihre neue Rolle als Hotelbesitzerin nicht authentisch annehmen könne, da die zwangsläufige Übernahme der Rolle Dissonanzen erzeuge, die die versuchte Emanzipation der Hauptfigur scheitern lassen (vgl. ebd., 68ff). Helga Meise befasst sich in ihrem Artikel Orte und Nicht-Orte (Meise 2005) nur indirekt mit dem Thema Identität, da ihr Fokus auf den urbanen Raum Berlin gerichtet ist und auch die Werke von anderen Autoren mit einbezieht. Sie zeigt jedoch auf, dass die räumliche Struktur des Romans die Identitätsthematik berühre, indem sich die Protagonisten „zwischen Orten mit ‚Identität, Relation und Geschichte‘ und solchen ohne ‚Identität, Relation und Geschichte‘“ (Meise 2005, S. 128) bewegen.
Corinna Schlicht beschreibt in ihrem Text Geschlechterkonstruktion in der Gegenwartsliteratur die Skepsis zwischen der Schaffung der Distanz und der Reflexion von Körperlichkeit, da Körperlichkeit hier als ein konstitutives Element der Identität analysiert wird. Die Protagonisten nutzen die Körperlichkeit in den Geschichten dazu, um ihre eigene Existenz zu stabilisieren, indem sie durch Erfahrungen des Körpers ihrer Selbst gewiss werden. Allerdings führt die Distanz zum Leben zu Einsamkeit und Isolation (vgl. Schlicht 2004, S. 177/178). Alle Frauen sind und bleiben während der Erzählungen Außenseiterinnen. In eine ähnliche Richtung geht Anke Biendarra in Gen(d)eration next: Prose by Julia Franck and Judith Hermann (Biendarra 2004), indem sie die Frauenfiguren aus den Kurzgeschichten der Sammlung Bauchlandung analysiert. Diese scheinen vordergründig selbstständig und mitten im Leben stehend. Die Tiefenstruktur der Figuren verweise jedoch darauf, dass die nach außen hin erkennbare Souveränität nur als Maske dient, die das Innere zu verstecken versucht (vgl. Biendarra 2004, S. 214 ff). In Katharina Gerstenbergers Aufsatz macht die Autorin deutlich, wie die gesellschaftlichen Grenzziehungen und Herkunft die Identität der Figuren determinieren. Die Wichtigkeit des Anderen für die Stabilisierung der eigenen Identität wird in Corinna Schlichts Artikel Die Ohnmacht der Frauen in der Geschichte am Beispiel der Romane von Katharina Hacker, Annett Gröschner und Julia Franck verhandelt, in dem sie aufzeigt, dass die Subjektivierung von Helene (Die Mittagsfrau) erst dann fortschreitet, wenn sie von außen als Subjekt wahrgenommen wird (vgl. Schlicht 2008, S. 123 ff).

Sexualität/Körperlichkeit
Der omnipräsente Aspekt der Körperlichkeit in Francks Werken wird in der Forschung aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Stefanie Hohmann kommt in ihrem Aufsatz Ein Fest der Sinne – Weibliche Obsessionen in der Gegenwartsliteratur (2004) zu dem Schluss, dass junge Autorinnen, hier besonders Franck, das „Begehren aus weiblicher Sicht“ darstellen und somit einen neuen Typus von literarischen Frauenfiguren konzipiert habe, da die weiblichen Figuren wie Jägerinnen agieren und selbstbewusst die Rolle der Verführerin einnehmen (vgl. Hohmann 2008, S. 183). Es gibt keinerlei Einschränkungen bezüglich der Darstellung von Erotik, Körperlichkeit und Sinnlichkeit (vgl. ebd, S. 190), ein Aspekt der in Liebediener sehr deutlich wird. Albert wird zu Beylas Objekt der Begierde. Ihr Verlangen erlischt, sobald aufgedeckt wird, dass Albert als Callboy arbeitet. Die Rollen vertauschen sich und die Liebe verwandelt sich in Mitleid und Verachtung (vgl. Riegler 2008, S. 79). Beyla, die immer dachte, mit ihren Beobachtungen Macht über Albert zu erlangen, verfällt dadurch wieder der sozialen Entfremdung (vgl. Norman 2008, S. 237). Obwohl der Umzug von der Kellerwohnung eigentlich einen sozialen Aufstieg bedeutet, kann Beyla dies nicht gelingen, da die Wohnung im dritten Stock der „Schauplatz eines Vexierspiels von Aufstieg und Abstieg, Wahrheit, Täuschung und Schuld [wird], die die Individuen gleichsam unkenntlich zurücklässt“ (Meise 2005, S. 133). Auch Lucy Macnarb befasst sich in ihrem Text Becoming bodies: corporeal potential in short stories by Julia Franck, Karen Duve, and Malin Schwerdtfeger mit der Hinterfragung von Femininität, indem weibliche Körperlichkeiten neu interpretiert werden (vgl. Macnab 2006, S. 110). In den acht verschiedenen Geschichten in Bauchlandung - Geschichten zum Anfassen werden unterschiedliche Obsessionen aufgegriffen, zum Beispiel das Beobachten oder die Verführung durch Essen (vgl. Hohmann, S. 187), des Weiteren auch der Verrat an einer geliebten Person (vgl. Meise 2010, S. 262 ff.). Während sich in der Geschichte Bäuchlings wieder Realität, Phantasie und Wunschdenken zu verwischen scheinen, geht es in Für Sie und für Ihn um eine Frau, die ihren Nachbarn fast rund um die Uhr beobachtet und keinerlei Gefühl für dessen Privatsphäre übrig hat, sondern mit ihren Beobachtungen noch hausieren geht (vgl. Hohmann, S. 189 ff). Auch hier bemerkt man eine „ständige Präsenz von Körperlichkeit und Sinnlichkeit”(vgl. ebd.).

Diskurse der historischen und aktuellen Zeit
Katharina Grätz vergleicht Lagerfeuer mit Wolfgang Hilbings Roman Das Provisorium aus dem Jahr 2000. Im Vergleich beschreibt sie Lagerfeuer als eine „lebendige Form des Erinnerns“, sowie „ein Bewahren und Übermitteln vergangener Erfahrungen“ (Grätz 2006, S. 243). Beide Romane betonen „das Risiko des Grenzübertritts“ (ebd., S. 247) und entwerfen „den Zustand des Dazwischen“ (ebd., S. 248), denn „mit der Vergangenheit haben sie gebrochen, eine Zukunft zeichnet sich nicht für sie ab“ (ebd., S. 250). Das Lager entpuppt sich als „Spiegel des kalten Krieges“ und die Lagersituation sei ein „Schwebezustand der Grenzsituation“ (ebd., S. 248). Das Leben im Lager führt zur „vollständigen Desillusionierung“ und „vollständigen Entfremdung“ der Hauptfiguren (ebd., S. 250). Grätz kommt zu dem Schluss, dass die Verweigerungshaltung die einzige Form von Freiheit ist, die der Roman zulässt (vgl. ebd. S. 251). Somit haben die Figuren keine Gelegenheit, wirklich im Westen anzukommen. Stefanie Hohmann schlägt eine ähnliche Richtung ein und diskutiert in ihrer Untersuchung Literatur nach der Wende Julia Franks Roman Lagerfeuer zusammen mit den Romanen Simple Stories (Ingo Schulze 1999), Moskauer Eis (Annett Gröschner 2000) und dem autobiographischen Essay Meine freie deutsche Jugend (Claudia Rusch 2003) im Kontext der Nach-Wende-Literatur. Sie kommt zu dem Schluss, dass „diese literarischen Arbeiten von den jeweiligen Versuchen zeugen, dem Verschwinden von Lebensentwürfen, Lebenswirklichkeiten, eines Staates, einer Geschichte Herr zu werden und zugleich die Situation der Neuorientierung im Moment des Umbruchs und der Unordnung literarisch zu bannen“ (Hohmann 2005, S. 57). Julia Francks Roman Lagerfeuer erzählt vom Gestrandetsein nach der Wende, den zu überwindenden bürokratischen Hürden, die Teil des Kalten Krieges sind und dem damit verbundenen Misstrauen (vgl. ebd., S. 52). Darüber hinaus forschte auch Hannes Krauss an Francks Roman Lagerfeuer zusammen mit Brigitte Burgmeisters Romanen Unter dem Namen Norma (1994) und Pollock und die Attentäterin (1999) sowie Klaus Schlesingers Die Sache mit Randow (1996) und Trug (2000) und sortiert diese in die Kategorie Erinnerungsliteratur. Er spricht von Autoren und Autorinnen, die zum „Erzählen zurück fanden“ und sich mit „literarischen Mitteln an die Erkundung der neuen Verhältnisse“ wagten (vgl. Krauss 2008, S. 49). Julia Francks Lagerfeuer schafft es, „die Gemeinsamkeiten der Geschichte dieses Landes ins öffentliche Bewusstsein zu rücken“ (ebd., S. 52), welches eine der wichtigsten Leistungen der aktuellen Erinnerungsliteratur ist
Katharina Gerstenberger befasst sich in ihrem Aufsatz Fictionalizations: Holocaust Memory and the Generational Construct in the works of Contemporary Women Writers mit Francks Werk Die Mittagsfrau und beleuchtet die Aspekte Holocaust, Generationen-Konstruktion und Fiktionalität (vgl. Eisenblätter 2008, S. 175.). Sie arbeitet zum einen die Verweise auf den Holocaust heraus und zeigt zum anderen auf, „welche Bedeutung das Jüdisch-Sein für die Figuren hat” (vgl. ebd.). Pia Eisenblätter, welche auch den Gerstenberger Aufsatz bespricht, befasst sich mit dem zeitgeschichtlichen Kontext des Romans Die Mittagsfrau in ihrem Forschungsartikel Julia Franck - Die Mittagsfrau: Intertextualität und kulturhistorische Kontexte und macht bereits zu Beginn klar, dass dieser nicht nur als Handlungsrahmen fungiert, sondern sich “erheblich auf die Entwicklung der Figuren [auswirkt]” (ebd.). Dabei interessiert sich Eisenblätter vordergründig für die Verweise auf die Literatur der Zeit, da sie durch die erinnerungskulturelle Funktion der Literatur die Quelle für Franck selbst aufspüren und so die Struktur des Textes besser nachvollziehen kann.
In ihrem Forschungsartikel aus dem Sammelband Geschlechterkonstruktionen (2008) nähert sich Corinna Schlicht dem Roman Die Mittagsfrau aus einer diskursanalytischen Genderperspektive und fokussiert in ihrem Forschungsartikel die Darstellung der Ohnmacht der Frauen in der Geschichte (vgl. Schlicht 2008). Sie sieht Francks Roman als herausragendes Gegenstück zu den phalozentrischen Romanen, welche die Geschichte, gerade der Kriegsgeschichten, aus einer männlichen Perspektive darstellen. Die Mittagsfrau hingegen ist eines von mehreren Beispielen, die Geschichtsnarration aus einer weiblichen Perspektive her beleuchten. Dabei demontiere sie zu dem den Muttermythos, der “[...] als Erbe faschistoider Ideologien noch immer in unseren Köpfen herumspukt” (Schlicht 2008, S. 121).
Schlicht interpretiert Francks Werk als eine Form von Roman, an der Bewusstseinsgeschichte(vgl. Schlicht 2008, S. 125) ablesbar wird. Der Roman zeige auf, welche Diskurse der Zeit die Konstitution des Subjekts beeinflussen. An der Hauptfigur Helene wird deutlich, wie problematisch die Emanzipation der Frau in einer durch gesellschaftliche Stereotype erschaffenen frauenfeindlichen Welt ist. Schlicht zeigt auf, dass die Hauptfigur Helene, die keinerlei Ambitionen dazu besitzt, eine Mutter zu sein, durch Ausübung von Macht und durch persönliche Schicksalsschläge in die Mutterrolle gezwängt wird. Sie zeigt also auf, wie der gesellschaftliche Diskurs eine Rolle hervorbringt, die nachträglich als natürlich angesehen wird. Dabei arbeitet sie heraus, wie der Roman systematisch die konstitutiven Elemente eines Müttermythos aufdeckt und somit dekonstruiert (Schlicht 2008, S. 121).

Ort der Handlung – Städtebild – Berlin
Als Ort der Handlung wählt Julia Frank häufig Berlin aus, wie beispielsweise in Liebesdiener, Lagerfeuer und Die Mittagsfrau. Helga Meise stellt in ihrem 2005 erschienenen Aufsatz Orte- und Nicht- Orte bei Julia Franck, Inka Parei und Judith Hermann fest, dass Berlin als Schauplatz ihrer Erzählungen Julia Franks Nähe zu einer „Tradition weiblichen Schreibens“ (Meise 2005, S. 125) aufzeigt, da die Stadt Berlin in den 1920er und 1930er Jahren eine besondere (emanzipatorische) Bedeutung speziell für Schriftstellerinnen erlangte (Schlicht 2012). Jedoch solle man diese Meinung hinterfragen, da es eine Vielzahl an anderen Erklärungen gibt, wie die Tatsache, dass Julia Franck die längste Zeit ihres Lebens in Berlin verbracht hat und heute noch dort lebt.
Berlin wird eine große Anziehungskraft auf Künstler und Künstlerinnen nachgesagt. Sie ist die alte und neue Hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands. Für Florence Feiereisen steht Berlin in Francks Erzählungen stellvertretend für das Leben in Zeiten der Globalisierung, in einem Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach emotionaler Nähe und zwischenmenschlicher Distanz. Die Hauptfiguren in den Erzählungen „sehnen sich nach der Verbindung zweier Seelen, fliehen jedoch in ihre eigene Fantasiewelten und scheitern in der realen Welt an der eigenen Handlungsfähigkeit“ (Feiereisen 2006).
Ihr Roman Lagerfeuer ist für Grätz ein besonders gelungenes Beispiel der einzigartigen Mauer- und Grenzliteratur Deutschlands. Hier wird das Risiko des „Grenzübertritts“ (Grätz 2006, S. 247) dargestellt und es erfolgt eine Dekonstruktion des Mythos „goldener Westen“ (Vgl. Schlicht 2012). Die Texte erzeugen durch ihre Gegenwartsreferenzen ein realistisches und plastisches Bild der Stadt Berlin, da die im Text genannten Straßennamen und Orte tatsächlich existieren oder existiert haben.
Berlin wird realistisch dargestellt, in dem Orte explizit mit Straßenamen genannt und existierenden Geschäften und Cafés erwähnt werden. Eisenblätter streift in ihrem Aufsatz Julia Franck – Die Mittagsfrau: Intertextualität und kulturhistorische Kontexte immer wieder die Stadt-Thematik, etwa wenn sie intertextuelle Bezüge zu Das kunstseidene Mädchen herausarbeitet oder wenn sie sich direkt mit der Sozialstruktur und dem Stadtbilds Berlin beschäftigt. Sie arbeitet dabei die Unterschiede des Geschwisterpaares Helene und Martha in Bezug auf die Wahrnehmung der Stadt heraus. Während Martha dem Glanz der Stadt erliegt, verbleibt Helene in einer skeptischen Haltung gegenüber der Großstadt der 20er Jahre (vgl. Eisenblätter 2008, S. 179ff).

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