Katharina Hacker
Forschungsspiegel
Die Forschung hat sich mit dem Großteil von Hackers Romanen und Erzählungen bisher eher verhalten beschäftigt. Nur der Bestseller und Buchpreis gekrönte Roman Die Habenichtse wurde in der Forschung vielfach diskutiert.
Stadt
Bei Katharina Hacker finden sich durchaus typische Phänomene der Gegenwartsliteratur. Ein gängiges Sujet ist die ,Stadt'. So ist die Stadt immer wieder Mittelpunkt, zentraler Ort oder auch wichtiger Hintergrund für aktuelle Gegenwartsromane. Typisch für die junge ,Berlinliteratur' sind die literarischen Generationenbilder wie beispielsweise in Hackers Die Habenichtse oder Alix, Anton und die anderen und Die Erdbeeren von Antons Mutter. Susanne Ledanff stellt heraus, dass das Sujet der Stadt und das Berlin-Thema bei Hacker vor allem in Morpheus oder Der Schnabelschuh und Der Bademeister dominieren. „Hackers mythologisches Verfremden von Stadtimpressionen ist weit komplexer als ein loses Assoziationsspiel, das Mythologisches mit Motiven der Großstadt zusammenschließt.“ (Ledanff 2009, S. 447) So findet eine „poetische Umdeutung“ der mythologischen Figuren statt, die sich als melancholische ,Schatten' in der Großstadt wiederfinden. Christian Riedel nimmt ebenfalls Bezug auf Morpheus oder Der Schnabelschuh, in seinem Aufsatz Homer hat gelogen. Er bezieht sich hauptsächlich auf die erste Erzählung, Elpenor. In Homers Odyssee https://www.uni-due.de/einladung/index.php?option=com_content&view=article&id=127%3A4-4-odyssee&catid=39%3Akapitel-4&Itemid=55 ist Elpenor eher eine Verlierer-Figur, doch bei Katharina Hacker findet eine große Aufwertung der Figur statt. So zeichnet Elpenor bei Hacker gerade das monologisierende Erzählen aus – ganz im Gegensatz zum Original. Auch wenn er immer noch der Säufer ist, ein Obdachloser am Bahnhof, überblickt er den gesamten Figurenkosmos und ist sich seiner Fehler bewusst. (Vgl. Riedel 2011, S. 133) Auch in Der Bademeister, dessen Handlung in Berlin spielt, dominieren die „Schatten der Vergangenheit“. So ahnt der Bademeister neben „den Schatten der früheren Badegäste […] die dunkle Vorgeschichte des Orts.“ (Ledanff 2009, S. 450) Die auffällige „Verschachtelung von Zeit- und Handlungsebenen“ (ebd., S. 451) ist typisch für Hacker.
Das Thema Stadt, Urbanität und London als urbaner Raum werden in der Forschung auch immer wieder in Bezug auf Die Habenichtse besprochen und untersucht. Rüdiger Görner nimmt in seinem Aufsatz Die Le(h)(e)re der Fülle. London in Katharina Hackers „Die Habenichtse“, wie auch Ledanff, vor allem die Stadt in den Blick. Im Roman symbolisiert sie einen übervollen Hintergrund, allerdings keine Erfülltheit (vgl. Görner 2010, S. 234). London wird zum „urbanen Labyrinth“, Isabelle zur Gefangenen ihrer Umwelt, wodurch sie beinahe in ein Abhängigkeitsverhältnis mit dem Dealer Jim gerät, der „für die Gegenwelt zum smarten double income no kids-Milieu“ (ebd., S. 235), dem Isabelle und Jakob angehören, steht.
Erinnerungsdiskurse
Der Roman Eine Art Liebe wird vor allem als Erinnerungsroman diskutiert. Friedmar Apel zieht Parallelen zu Saul Friedländer http://www.dtv.de/autoren/saul_friedlaender_1357.html, dem der Roman gewidmet ist, und seinem autobiographischem Essay Wenn die Erinnerung kommt. Hacker will „von ihrem Lehrer ein Nachdenken über Erinnerung und Wissen gelernt haben“ (Apel 2006, S. 178). Apel stellt fest, dass bereits das dem Roman vorangestellte Motto Paul Ricoeurs, der herausstellt, dass das Nachvollziehen einer Geschichte ein schwieriger Prozess ist, die Geschichte aber dennoch annehmbar sein müsse, die Lektüre „für eine Reflexion über das Verhältnis von Erzählung, Geschichte und Verstehen“ (ebd., S. 179) eröffnet. Die „Erinnerungen der Überlebenden der Naziverfolgung“ sind den „Nachgeborenen geschenkt“ (ebd., S. 182) worden. Sie müssen versuchen sich die Geschehnisse vorzustellen und zu eigen zu machen, was Katharina Hacker laut Apel gut gelungen ist.
Auch Meike Herrmann betont den Erinnerungsdiskurs des Romans und stellt die Frage, wie die Zeitgeschichte in den Roman kommt. Doch die Ich-Erzählerin rekonstruiert die Erinnerungen Moshe Feins und das „Erzählmodell adaptiert vielmehr den Erinnerungsprozess und repräsentiert ihn zugleich: achronologisch, sprunghaft, assoziativ und stets gegenwartsgesteuert.“ (Herrmann, S. 253) Das erzählerische Mittel des Romans ist folglich eine „,Mimesis des Erinnerns', die Inszenierung und Nachahmung von Erinnerungsprozessen“ (ebd., S. 253). So wird der Roman selbst zu einem „Medium des Gedächtnisses“ (ebd. S. 254), indem er seine Entstehungsgeschichte mit erzählt.
Andrea Häuser macht den Aspekt des Jüdischen stärker und bezeichnet Hackers Roman als „Kain und Abels Erben“ (Häuser 2011, S. 280). Sie nimmt damit einerseits Bezug zum Buchcover, andererseits aber auch zu der Tatsache, dass der Roman die Geschichte einer Freundschaft und eines Verrats ist. Sie betont, dass der Roman eine Form von „Erinnerungsarbeit“ (ebd., S. 284) darstellt und zieht ebenfalls Parallelen zwischen Hacker und Friedländer, indem sie Textstellen nebeneinander stellt und vergleicht. Sie kommt zu dem Schluss, dass es vor allem die erfundenen Passagen sind, die aussagekräftig für den Roman sind (vgl. ebd., S. 295). Sie bezeichnet den Roman als eine „Poetik der Annäherung“ (ebd., S. 297), der sowohl eine deutsch-jüdische-, eine Shoah-, als auch eine Liebesgeschichte erzählt (vgl. ebd., S. 302).
Zeitroman/Generation(en)roman
Die Habenichtse (2006) haben weitaus mehr Beachtung in der Forschung erhalten, vor allem deshalb, da der Roman mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Er wird als Zeitroman gelesen, der die aktuelle Geschichte wiedergibt, insbesondere die 9/11-Katastrophe und die mit ihr einhergehende Empathie bzw. nicht-Empathie.
Corinna Schlicht wirft einen Blick auf Die Ohnmacht der Frauen in der Geschichte. So wird Geschichte meist von Männern erzählt, die sich selbst als die erinnernden Subjekte begreifen. Mit dem Ende des 20. Jahrhunderts entstehen immer mehr Romane, die die Geschichte aus weiblicher Sicht schildern und neu definieren. (Vgl. Schlicht 2008, S. 119 ff.) So ist der 11. September der Ausgangspunkt der Geschichte, weitere Terrorwarnungen sowie der Irak-Krieg spielen sich im Hintergrund ab. Darüber hinaus ist Jakob Anwalt für Restitutionsfragen, sodass er mit der vergangenen deutschen Geschichte arbeitet. „Geschichte erscheint so als ständige Neuregelung von Kapital und kultureller Identität als Frage von Raumbesitz und Erstanspruch auf bestimmte Orte.“ (Ebd., S. 139) Isabelle erlebt sich ohnmächtig gegenüber der Geschichte, sie gehört zu den Frauenfiguren, „die z.B. Judith Hermanns (Verlinkung Autorenlexikon) Debüt Sommerhaus, später bevölkerten; ,Sich-so-ein-Leben-vorstellen‘ heißt dort das Lebensmotto einiger jungen (Berliner) Frauen“ (ebd., S. 140). Schlicht kommt zu dem Schluss, dass Isabelle tief in ihrem Herzen eigentlich ihrer Ziellosigkeit entkommen will, die Hoffnungen Londons sich jedoch nicht erfüllen und sich so die Enttäuschungen des Lebens wiederholen.
Franz Fromholzer betrachtet ebenfalls vor allem die Figur Isabelle. Er bringt sie in Zusammenhang mit Walter Benjamins https://www.uni-due.de/einladung/index.php?option=com_content&view=article&id=140%3Apersonen-benjamin&catid=39%3Akapitel-4&Itemid=55 Engel der Geschichte, dem Flaneur und der messianischen Jetztzeit. Doch Isabelle ist ein ein geschichts- und erinnerungsloser Engel. (Vgl. Fromholzer 2008)
9/11 als Großereignis
Neben Romanen wie Bryant Park, von Ulrich Peltzer http://www.fischerverlage.de/autor/ulrich_peltzer/17382, oder Woraus wir gemacht sind, von Thomas Hettche http://www.kiwi-verlag.de/autor/thomas-hettche/1135/, zählt auch Die Habenichtse zu den deutschen 9/11-Romanen. Heide Reinhäckel stellt die Frage nach der Bedeutung der literarischen Orte dieser 9/11-Romane. In Die Habenichtse ist das Medienereignis 9/11, d.h., dass die ganze Welt das Einstürzen des zweiten Turmes und auch die springenden und in Panik fliehenden Menschen live vor dem Fernseher mitverfolgen konnte, vor allem eine Hintergrundszene (vgl. Reinhäckel 2009, S. 123). „Die Lady Margaret Road dient als Hauptschauplatz, in der sich die Biographien der ungleichen Paare kreuzen.“ (Ebd., S. 132) Doch zeichnen sich die Figuren alle durch eine besondere „soziale Kälte“ aus, sodass kein richtiger Kontakt und vor allem kein Mitgefühl, keine Empathie entsteht. Reinhäckel hält fest, dass Hacker „das Psychogramm einer Post-Nine-Eleven-Gesellschaft, die sich selbst am Nächsten ist“ (ebd., S. 133) entwirft. Darüber hinaus konstruiert der Roman mittels „eines realistischen, multiperspektivischen Erzählverfahrens […] die komplexe Gegenwart nach dem 11. September im Mikrokosmos menschlicher Beziehungen.“ (Ledanff 2012, S. 137) Der Roman erzählt vor allem von materieller und ideeller Armut, der sich mit dem Verweis auf die Zeitgeschichte als kritischer Sozialroman positioniert (vgl. ebd., S. 137).
Wim Peeters untersucht die Tatsache, „dass man ein dramatisches Großereignis nur nebenbei im Alltag registriert hat“ (Peeters 2009, S. 203) – wie es vielen Menschen ergangen ist, wie beispielsweise Fotografien zeigen – dass das jedoch tabuisiert ist. Die Gegenwartsliteratur knüpft jedoch an dieser Stelle an und formuliert die tabuisierten Themen, wie Hacker in Die Habenichtse. Die etwas naive und teilnahmslose Isabelle geht am 11. September Schuhe kaufen und denkt an die später stattfindende Party. Auch die Medienereignisse spielen im Roman eine Rolle: Isabelle überlegt sich, ob sie sich wegen des Irakkriegs einen Fernseher anschaffen soll. (Vgl. ebd., S. 214 ff.) „Es ist, als ob Isabelle sich ein erlösendes Ereignis herbeisehnt, das das Nebeneinander mit ihrem Mann im Londoner Alltag überblenden kann.“ (Ebd., S. 219)
Gewalt
Die Frage nach der Gewalt wird besonders von Andrea Leskovec in den Blick genommen. Ihrer Meinung nach ist Gewalt das zentrale Thema des Textes, da sie „als real existierende Bedrohung, als Grundtonus des Textes“ (Leskovec 2010, S. 160) vorherrschend ist. Zunächst beginnt die Gewalt mit den Terroranschlägen des 11. September, später gefolgt von den Terrorwarnungen, dem Irak-Krieg und auch von Jim, von dem eine unterdrückte Bedrohung ausgeht und mit dem eine Radikalisierung der Gewalt einhergeht (vgl. ebd., S. 162ff.). Isabelles Schuld ist das Ausbleiben von Reaktionen und irgendwelchen Empfindungen oder Handlungen, so erreicht der Roman seinen Höhepunkt in einem Gewaltszenario, in dem Jim Isabelle und Sara erniedrigt. Schlussendlich überfordert die Gewalt sowohl Täter wie auch Opfer und wird durch eine fehlende Erzählerinstanz auch auf den Leser übertragen (vgl. ebd., S. 164 ff.).
Auch Christian de Simoni thematisiert die ständige Bedrohungslage und die Nicht-Betroffenheit der Figuren in Die Habenichtse. So ist das, was Isabelle und die anderen Protagonisten „eben nicht ,haben', […] Betroffenheit.“ (Simoni 2009, S. 136) Demzufolge werden neben „die weltpolitischen Bemerkungen, Gedanken und Gespräche […] als Kontrast harmlose Gegebenheiten und Gegenstände des Alltags eingefügt.“ (Ebd., S. 135)
Globalisierung
Wilhelm Amann stellt heraus, dass in Hackers Roman „Lebensentwürfe unter Globalisierungsbedingungen thematisiert werden“ (Amann 2010, S. 209). So beleben Die Habenichtse das Genre des Gesellschaftsromans im Globalisierungskontext, auch wenn der mit dem Buchpreis ausgezeichnete Roman sich bisher nur schwer bei einem breiten Publikum durchsetzen konnte (vgl. ebd., S. 209 ff.). Die ständig wachsende Bedrohung sowie die steigende Überwachung können als Leitmotiv gesehen werden, doch Isabelle und Jakob leben weiterhin ihre ,Fassaden-Normalität' (vgl. ebd., S. 215). Die Lady Margaret Road ist das geographische Zentrum des Romans, an dem sich die verschiedenen Protagonisten und Handlungsstränge treffen. Hier „lebt eine globale Elite mit den Ausgeschlossenen Wand an Wand.“ (Ebd., S. 219) So weist der Roman laut Amann darauf hin, „dass angesichts des Spektakulären des ,11. September' die vielen unspektakulären Katastrophen aus dem Blickfeld geraten, die im Zuge der Globalisierung möglich geworden sind.“ (Ebd., S. 220)
Eine sozialwissenschaftliche Perspektive wirft Christian Sieg auf den Roman. Er nimmt Bezug auf die Migrationserfahrungen Isabelles und Jakobs und stellt ebenfalls heraus, dass der Roman „viele Probleme unserer globalisierten Welt“ (Sieg 2011, S. 41) aufgreift. Die Beiläufigkeit, mit der erzählt wird, spiegelt die fehlenden Emotionen und das gedämpfte Erleben der Figuren wider (vgl. ebd., S. 45). Doch laut Sieg ist es nicht die emotionale Kälte bei Isabelle, die sie die Augen vor der Kindesmisshandlung im Nachbarhaus verschließen lässt – wie einige Rezensenten schreiben –, sondern letztlich die psychische Überforderung (vgl. ebd., S. 43).
Liebe/Sexualität
Oliver Sill untersucht vor allem den Aspekt der Liebe und Sexualität in Die Habenichtse. Er vergleicht Isabelle und Jakob mit Ottilie und Eduard aus Johann Wolfgang von Goethes (Verlinkungen..Goethezeitportal, Text.) Wahlverwandtschaften und wirft auch einen vergleichenden Blick auf die beiden Romane, zwischen denen 200 Jahre liegen. Er schaut auch auf die vier Habenichtse (Isabelle, Jakob, Sara und Jim) und untersucht, was sie zu jenen macht. Er kommt zu dem Schluss, dass in Die Habenichtse weder die einzelnen Figuren noch die Gesellschaft ein Ziel haben, sondern nur eine leere Zukunft auf sie wartet. (Vgl. Sill 2009, S. 37 f.)
Sara Tigges untersucht mehrere Romane Hackers. Sie stellt die These auf, dass Hackers Figuren alle scheitern, sowohl an der Innen- als auch an der Außenwelt. So gibt es zum anderen immer wieder den Bezug zu historischen und politischen Phänomenen, z.B. den Schrecken der Naziherrschaft, der Stasiüberwachung oder den Terroranschlägen des 11. September. (Vgl. Tigges 2011, S. 73). Folglich entpuppt sich die Außenwelt für die Figuren als zerstörerisch und brüchig, insbesondere für Moshe (Eine Art Liebe) aber auch für Hugo (Der Bademeister), die beide Opfer von Fremdbestimmung sind (vgl. ebd., S. 74 f.). Die „Ohnmacht des Subjekts“ ist jedoch auch in Die Habenichtse von zentraler Bedeutung, da beispielsweise Isabelle und Jakob nicht empathiefähig sind, gerade weil oder obwohl die Schrecken des Terrors überaus präsent sind (vgl. ebd., S. 77). Darüber hinaus sind die Figuren einsam und auch die Beziehungen zu anderen geben keinen Halt (vgl. Isabelle und Jakob in Die Habenichtse, Alix und Jan in Alix, Anton und die anderen oder Anton und Lydia in Die Erdbeeren von Antons Mutter), „da für die Figuren kaum eine Möglichkeit besteht, einer anderen Figur nah zu sein.“ (Ebd., S. 79) Die „Brüchigkeit der eigenen Erinnerung“ (ebd., S. 81) zeigt sich vor allem in Eine Art Liebe und in Die Erdbeeren von Antons Mutter. Die Erinnerung stellt keine verlässliche Orientierung dar, da beispielsweise die Mutter, die an Demenz leidet, sowohl ihre Erinnerungen als folglich auch ihre gesamte Biographie verliert. Tigges kommt zu dem Ergebnis, dass Hackers Figuren der Innen- und Außenwelt ausgeliefert sind. Erste vermeintliche Lösungsansätze lassen sich ihrer Meinung nach jedoch sowohl in Die Habenichtse, Eine Art Liebe als auch in Die Erdbeeren von Antons Mutter finden. (Vgl. Ebd., S. 81 ff.)