Forschungsspiegel

Im Februar 1998 erscheint das Debüt Sommerhaus, später der damals 28-jährigen Judith Hermann im Fischer Taschenbuch-Verlag und niemand ahnt zu diesem Zeitpunkt, dass der Erzählband zu einem der größten Erfolge der jüngsten deutschsprachigen Literatur werden wird. So verkündet Marcel Reich-Ranicki im Literarischen Quartett (ZDF 30.09.1998): „Wir haben eine neue Autorin bekommen, eine hervorragende Autorin. Ihr Erfolg wird groß sein.“ Auch Helmuth Karasek spricht in derselben Diskussionsrunde über Judith Hermann vom „Sound einer neuen Generation“, den die junge Autorin einfange. Der erste Erzählband wird über 250.000 Mal verkauft und Hermann wird mit ihrem Erstlingswerk zur berühmten Autorin. Im Jahre 2003 erscheint dann Judith Hermanns zweiter Erzählband Nichts als Gespenster, der kurz nach seinem Erscheinen in den Bestsellerlisten landet und 2007 von Martin Gypkens verfilmt wird. Zwei Jahre später erscheint Hermanns dritter Erzählband Alice, für den die Autorin den Friedrich Hölderlin-Preis erhält. Hermanns neustes literarisches Werk ist der Roman Aller Liebe Anfang, der im Jahr 2014 erscheint. Hermanns Erzählungen wird ein von der Geschichte unberührter Ton nachgesagt. Sowohl im Feuilleton als auch in der Forschung findet sich die Einschätzung, dass es „in Hermanns Erzählungen und unter der Oberfläche der Texte um das [geht], was sich hinter der Alltagswelt verbirgt“ (Abthoff 2008, S. 73). Bei der Betrachtung der Forschungsliteratur zu Judith Hermann fällt auf, dass viele ForscherInnen Hermanns Texte unter den Kategorien Alltag und Identitätsproblematik lesen; erzählerlisch wird vielfach die Lakonie hervorgehoben; zudem wird Hermann mit der außerliterarischen und vielfach kritisierten Kategorie des Fräuleinwunders assoziiert, welcher von den Medien gegeben wurde. Zudem wird die zeitliche Konstruktion innerhalb der Kurzgeschichten und die Kommunikationslosigkeit der Figuren untereinander thematisiert.

‚Fräuleinwunder‘
Die Idee des ‚deutschen Fräuleinwunders‘ entstand eigentlich in den 1950er Jahren in den USA. Damit gemeint waren ursprünglich junge deutsche selbstbewusste moderne Frauen. Um die Jahrtausendwende wird dieser Terminus von Volker Hage in einer Spiegel-Rezension aufgegriffen und auf Autorinnen der deutschen Literaturszene bezogen (vgl. Caemmerer, Delabar, Meise 2005, S. 7f.). In diesem Kontext fügen die Autoren Caemmerer, Delabar und Meise an, dass „die Bezeichnung der beinah schon hilflose Versuch gewesen ist, das Gestrüpp der literarischen Neuerscheinungen zu lichten und handhabbar, bezeichenbar zu machen“ (Caemmerer, Delabar, Meise 2005, S. 10). Der Ausdruck diene demnach der Kategorisierung junger Autorinnen und ihrer Werke. Nikola Roßbach kritisiert diese Art der Gruppierung: „Eine Anzahl von Schriftstellern wird durch Ausblendung ihrer Unterschiede und Fokussierung weniger gemeinsamer Merkmale als ‚Gruppe‘ wahrgenommen, Schriftsteller ohne diese Merkmale werden ignoriert, mögen sie auch zahlenmäßig überwiegen, genauso interessant oder gar interessanter schreiben“ (Roßbach 2005, S. 191). Diese Merkmale sind Roßbach zufolge Weiblichkeit, äußerliche Attraktivität, ein Alter zwischen 20 und 30 Jahren und „erzählerische[…] Begabung“ (Roßbach 2005, S. 191).
Aufgrund der starken Medienresonanz von Judith Hermanns Texten adaptieren viele RezipientInnen den problematischen Begriff des ‚Fräuleinwunders‘ und nutzen ihn zur Beurteilung von Hermanns Texten. Sabine Burtscher führt entsprechend an, dass bei der Rezeption von Sommerhaus, später „die Persönlichkeit des Autors verstärkt in die Rezension [integriert wurde]“ (Burtscher 2002, S. 81), was an Hermanns auferlegtem „Image des schönen, melancholischen 'Fräuleinwunders'“ (Burtscher 2002, S. 81) gelegen habe.
Walter Delabar knüpft diesbezüglich in seinem Text Reload, remix, repeat – remember an Volker Hage an, der den Ausdruck in seiner Sammelrezension geprägt hatte, dass die Bezeichnung 'Fräuleinwunder' auch ein wichtiges Hilfsmittel für die Vermarktung von deutschsprachiger Literatur von Jungautoren in dieser Zeit darstelle (vgl. Delabar 2005, S. 237).Somit verbinden sich das Werk und das Bild der Autorin zu einem Gesamtkonzept, in dem „Jungautorinnen als wirtschaftliche Faktoren“ (Kocher 2005, S. 54) gelten, wie Ursula Kocher zu bedenken gibt.Jörg Döring  beschäftigt sich ebenfalls mit der Relation von AutorIn und Werk. Er befasst sich unter anderem mit der der Funktion von Paratexten, denn „nicht nur der Titel eines Buches, auch z.B. das Autorenfoto im Umschlagdeckel kann ein Eigenleben entwickeln“ (Döring 2005, S. 13). Seiner Meinung nach sei „die erstaunliche Wirkungsgeschichte der Bücher von Judith Hermann, die häufig genug – und zum Leidwesen der Autorin – als Klassenbeste des literarischen 'Fräuleinwunders' apostrophiert wurde, nicht zuletzt auf [diese] paratextuellen Effekte zurückzuführen“ (Döring 2005, S. 14). Brigitte Weingart merkt bezüglich des Pressefotos zu ihrem Debütbuch an, dass Hermanns „ungewöhnliche, etwas altmodische Schönheit und der Eindruck leichter Entrücktheit [dazu beitrugen], dass sich die Rezeption der Erzählungen mit den Projektionen auf die Autorin überlagerte“ (Weingart 2005, S. 151). Sie steigert die Annahme der Bedeutsamkeit der fotografischen Darstellung der Autorin bis hin zu der Frage, ob „womöglich diese Fotografie das eigentliche Meisterwerk [ist], ohne das Sommerhaus, später kein solches geworden wäre“ (Weingart 2005, S. 152).

Lakonie und Monotonie
Ein zentraler Aspekt in Judith Hermanns Texten ist die Lakonie und Monotonie des alltäglichen Lebens, die in all ihren Texten als Grundton vorherrscht. So reduziert Hermann ihren Text sowohl in Hinblick auf die Sprache als auch auf inhaltlicher Ebene durch gezielte Auslassungen bis auf ein Minimum, sodass die LeserInnen zum Lesen zwischen den Zeilen aufgefordert sind. Verena Abthoff merkt in ihrem Text Medienspektakel um das Fräuleinwunder – Die Rezeption der Erzählbände der Autorin Judith Hermann zu diesem Aspekt an, dass „in beiden Erzählbänden [Sommerhaus, später und Nichts als Gespenster] eine lakonisch-nüchterne Sprache [dominiert], die durch kurze Hauptsätze und eine parataktische Struktur gekennzeichnet ist“ (Abthoff 2008, S. 74). Hermann gelinge es demnach, durch den Einsatz von sprachlichen Mitteln eine Atmosphäre zu kreieren, welche dem Leser einen Einblick in den Alltag verschiedener Figuren gewährt: „Auf sprachlicher Ebene kommen somit die Eintönigkeit und Monotonie zum Ausdruck, die den Alltag vieler Protagonisten prägen“ (Abthoff 2008, S. 74).
Auch Wiebke Eden untersucht den Ton der Erzählungen. Sie kommt zu dem Schluss, dass „eine seufzende Melancholie das 'Sommerhaus' und seine Alltags- und Menschengeschichten [durchzieht]“ (Eden 2003, S. 37). Judith Hermann schreibe von Menschen und auch zeitlichen Abläufen, welche einerseits von einer stets präsenten und gleichzeitig vergänglichen Realität aber auch von Illusionen und Fantasien geprägt sei (vgl. Eden 2003, S. 36). Ursula Kocher, die über junge deutschsprachige Literatur sagt, dass deren Kennzeichen der Verzicht auf theoretischen Überbau und moralische Belehrung sei, stellt fest, dass sich die Werke Hermanns durch kluge Aussparungen, knappe Sätze und einen gestrafften Handlungsverlauf auszeichnen, die den LeserInnen die Möglichkeit zur Ergänzung selbst überlässt (vgl. Kocher 2005, S. 55). Hermann arbeite mit Verknappungen und komprimiere sprachliche Strukturen. Für Katja Stopka wird diese Erzählweise, die der Literatur Hermanns ihre Intensität verleiht, der Vorstellung Walter Benjamins gerecht, nach welcher es „die halbe Kunst des Erzählens [ist], eine Geschichte […] von Erklärungen freizuhalten“ (Stopka 2001, S. 109). Hermann erzähle mit größtmöglicher Genauigkeit, dränge den LeserInnen dabei aber nicht den psychologischen Zusammenhang des Geschehens auf (vgl. Stopka 2001, S. 163). Knappe und einfache Sätze beschreiben das Erlebte in einer nüchternen und unsentimentalen Art und Weise, die ohne Erklärungen und Rechtfertigungen auskomme (vgl. Stopka 2001, S. 163f). Kritsch hingegen betrachtet Antonie Magen die Aussparungen und Nüchternheit Hermanns: „Einigkeit herrscht auch weitgehend darüber, welche Bereiche ausgespart werden: Handlungen und Plots werden zugunsten von atmosphärischem Impressionismus negiert. Gesellschaftliche, soziale, politische und wirtschaftliche Zusammenhänge werden nicht beschrieben, geschweige denn analysiert“ (Magen 2006, S. 32f).
Ferner lässt sich auch die Thematik der Alltagsmuster in Judith Hermanns Werken anbringen, mit welcher sich unter anderem Scheitler auseinandersetzt. Hermanns Texte präge eine gewisse Erzählnaivität, um Alltagswirklichkeit zu beschreiben, wobei das Realistische „leicht ins Surreale, ins Märchenhafte umschlägt“ (Scheitler 2001, S. 78). Der/die LeserIn erhält kein konkretes Bild der Figuren oder der verschiedenen Kontexte der einzelnen Lebenssituationen. Vielmehr kreiert Hermann „Alltagsmuster, die von Beziehungsunfähigkeit und Kommunikationslosigkeit geprägt sind“ (Scheitler 2001, S. 78).

Zeitstrukturen
„[D]ie Untersuchung des Zeitgerüsts und der Erzählebenen zeigt, dass die Erzählungen sehr komplex sind“ (Abthoff 2008, S. 73). Wiebke Eden merkt an, dass „Judith Hermann von Menschen und Zeitläufen, von vorübergehender Wirklichkeit und bleiben Trugschlüssen“ schreibt (Eden 2003, S. 36). In Hermanns Erzählband Alice z.B. werden nahezu keinerlei Zeitangaben gemacht, lediglich an einigen wenigen Textstellen lassen sich zeitliche Bezüge finden. So lässt sich die Handlungszeit in Alice nur schwer eingrenzen, da sie zum Teil vierzig Jahre zurück in die Vergangenheit reicht, die Gegenwart im Text selber jedoch auf ungefähr ein bis zwei Jahre gesetzt werden kann. Damit bestätigt sich Verena Abthoffs These, dass sich die Behandlung von Zeitkonstruktionen in Hermanns Werken oft als schwierig gestaltet. „Während die Texte in Sommerhaus, später oftmals einen Zeitraum von mehreren Jahren umfassen, kreisen die Geschichten in Nichts als Gespenster häufig um wenige Tage oder Stunden“ (Abthoff 2008, S. 73). Hermann setzt demnach Zeitdehnungen und Zeitraffungen ein, um Geschichten aus der Vergangenheit ihrer Figuren zu erzählen und diese in Relation zu der behandelten Gegenwart zu setzen. Ricarda Dreier führt hierzu die Erzählung Rote Korallen an, da sich „die Geschehnisse in Russland ungefähr über einen Zeitraum von vier Jahren hin [ziehen] (Erzählte Zeit), durch Zeitraffungdaraus [aber] etwa acht Buchseiten (Erzählzeit) [werden]“ (Dreier 2005, S. 57). Brigitte Weingart spricht sogar von einer „märchenhaften Verschränkung der Gegenwart mit dem historisch entrückten Russland der Großmutter“ (Weingart 2005, S. 155) und lobt somit Hermanns Spiel mit Zeitkonstruktionen. Dieses wird ferner durch die Verwendung von sprachlichen Mitteln wie Ellipsen unterstützt, sodass Geschehnisse und Erfahrungen auf ein Minimum beschränkt werden. Durch diese stilistischen Mittel werde auch deutlich, „dass ein bestimmter Moment […] Anlass des Erzählens ist“ (Abthoff 2008, S.74). Auch in der Kurzgeschichte Sommerhaus, später ist die Protagonistin Magnus Schlette zufolge „dem Ticken der Uhr [ausgeliefert]“ und von der „Gleichförmigkeit der Zeit [geplagt]“ (Schlette 1999, S. 94). „Weder Raum noch Zeit werden genauer beschrieben noch die Figuren“ (Tanzer 2002, S. 169). Diese Vagheit in Hermanns Erzählungen werden kontinuierlich fortgeführt und halten „dem Leser […] immer wieder wesentliche Informationen [vor], warum die Dinge so geschehen wie sie geschehen“ (Stopka 2001, S. 154).

Identitätssuche
Der Themenkomplex der Identitätssuche wird bei der Betrachtung der Forschungsliteratur über Judith Hermanns Werke ebenfalls häufig behandelt. In Sommerhaus, später merkt Ricarda Dreier in ihrem Text Literatur der 90er Jahre in der Sekundarstufe II folgendes dazu an: „Die Protagonisten befinden sich auf einer ziellosen Suche nach Glück, und ihre Hoffnungslosigkeit drückt sich besonders in den Begegnungen mit anderen Menschen aus“ (Dreier 2005, S. 54). Uta Stuhr hebt hervor, dass „die Hermannschen Figuren erst dann atmen, fühlen, küssen und für einen Augenblick sogar wirklich glücklich sein können, wenn sie vom erdrückenden Ballast der Sinnsuche, von der anstrengenden Vorstellung, dem Leben eventuell einen Sinn abringen zu müssen, befreit sind“ (Stuhr 2005, S. 47). Diese „Suche nach Sinn konzentriert sich auf den Raum des rein Privat-Persönlichen“ (Stuhr 2005, S. 38).
So befinden sich die Figuren auf der Suche nach individuellem Glück, Hermann beschränkt sich aber darauf, diese Suche im expliziten Moment der Gegenwart darzustellen. Oft wird die Suche nach Identität und Glück aber auch anhand von Rückblicken in die Vergangenheit der Figuren behandelt wie zum Beispiel in Rote Korallen. Die Protagonistin lässt „im Erzählen ihrer Geschichte die Vergangenheit immer wieder aufleben und spürt ihr nach, um Antworten für ihr eigenes Leben zu finden“ (Dreier 2005, S. 55). Sabine Burtscher merkt an, dass „die Protagonisten […] auf der unbestimmten Suche nach etwas [sind], das sie selbst nicht genau benennen können, das sich jedoch im Text auf indirekte Weise mitteilt“ (Burtscher 2002, S. 81). Diese Suche würde sich durch ein anderes Leben oder durch erfüllte wahre Liebe verwirklichen. Doch Hermanns Protagonisten haben eine „permanente[…] Unwissenheit über die eigene seelische Verfassung“ (Stuhr 2005, S. 37) und stellen eine „Bestandsaufnahme nicht gelebten Lebens“ dar (Stuhr 2005, S. 51).

Kommunikationslosigkeit
Mit dem Themenkomplex der Identitätsproblematik geht der Aspekt der Kommunikationslosigkeit einher, da die Figuren oft nicht in der Lage sind, Emotionen bzw. Empathie und Kommunikationzu anderen Personen aufzubauen: „Die Beziehungen scheitern, bevor sie überhaupt ihren Anfang genommen haben“ (Dreier 2005, S. 54). Daraus resultiert ein „Beigeschmack letztendlich einsamer Zweisamkeit“ (Stuhr 2005, S. 49). „Die Zeichen einer grundsätzlichen Unmöglichkeit oder Unfähigkeit zur Kommunikation sind nicht zu übersehen […]“ (Stuhr 2005, S. 48). Eine  Äußerung hiervon sei, dass „die Figuren bei Judith Hermann keine wirklichen Gespräche miteinander [führen], sie reden vielmehr aneinander vorbei“ (Dreier 2005, S. 77). Deutlich wird dies in der Kurzgeschichte Diesseits der Oder die missglückte Kommunikation zwischen Koberling und Anna: „Die Verständigung kommt nicht zustande […]“ (Schlette 1999, S. 76).
Auch Verena Abthoff befasst sich mit der Problematik der Kommunikationslosigkeit in Hermanns Werken. Sie bestätigt Dreiers These, dass „eines der Hauptmotive die Unfähigkeit der Aktanten, miteinander zu kommunizieren, ihre Sprachlosigkeit und die Unzulänglichkeit der Sprache [sei]“ (Abthoff 2008, S. 73).
In der Erzählung Sommerhaus, später stehen sich nach Peter Bekes die Protagonistin und die Figur Stein konträr gegenüber: „In subtiler Andeutung, hat die Autorin Stein einen sprechenden Namen gegeben, der ja genau das andeutet, was allen Figuren der Erzählung fehlt: ein Fundament“ (Bekes 2005, S. 44). Gleichzeitig wird durch die Figur Steins „die Programmatik eines neuen Lebensentwurfes symbolisch manifestiert“ (Bekes 2005, S. 44). Dieser Aspekt fehlt den meisten ProtagonistInnen in Hermanns Texten und spiegelt das Problem der Identitätssuche adäquat wider. „Judith Hermanns Geschichten sind Geschichten über die Unmöglichkeit, ja über das Verweigern von Kommunikation, zwischen den Geschlechtern und zwischen den Generationen, und es sind Geschichten über die Leere“ (Tanzer 2002, S. 169).

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