Forschungsspiegel

Gattungszuordnung - Adoleszensroman und -tale
Nicht zuletzt aufgrund des enormen Erfolgs von Ich und Kaminski und vor allem Die Vermessung der Welt setzen sich die Literatur- und Sprach- und Kulturwissenschaften – auch außerhalb des deutschen Sprachraums – mit den Texten Daniel Kehlmanns auseinander. Kehlmanns frühes Werk, insbesondere sein Debütroman Beerholms Vorstellung, wird in der Literaturwissenschaft für Untersuchungen zum Adoleszenzroman der 1990er Jahre im Zuge eines neuen Realismus nach 1989 herangezogen. Als Lesart wird hierbei etwa von Stefan Born die Identitätsbildung als Teil der Adoleszenz und ihr Gelingen oder im Falle von Beerholms Vorstellung ihr Nichtgelingen als zentrale Forschungsfrage herausgearbeitet. Adoleszenzromane „erzählen vom Versuch eines Individuums, sich eine Welt anzueignen, die ihm bislang noch unvermittelt und spröde entgegensteht“ (Born 2013, S. 97). Die Gattung verfolgt insofern ein „pädagogisches Anliegen“ (ebd.), als dass sie zur Nachahmung eines solchen Aneignungsversuchs inspirieren will. Kehlmann variiert nach Born Schemata des Entwicklungsromans, indem er einen gescheiterten Aneignungsversuch der Welt präsentiert, welcher sich nicht zur Nachahmung eignet: „So parodiert Kehlmann nicht bloß dogmatischen Fanatismus, sondern das Modell des Entwicklungs- und Bildungsromans gleich mit“ (Born 2013, S. 110). Die Gründe für das Scheitern der Individuation in Beerholms Vorstellung untersucht Born in einem weiteren Aufsatz. Es ist das „energische Festhalten an der Idee, die Welt sei durch allgemeine Vernunftvorgaben gestaltbar“, das die Entwicklung Arthur Beerholm verhindert. Durch den Roman wird ein „Weltzugriff ironisiert, der […] totalitäre Züge trägt“ (Born 2015, S. 270).
Im Vergleich zu traditionellen Geistergeschichten wie etwa denen Edgar Allen Poes, erkennt Markus Gasser in dem Werk Kehlmanns Charakteristika des tales im Sinne von Henry James. Vor allem Mahlers Zeit sei an diese angelehnt, nicht nur durch den Inhalt, auch formal: „[…] entwickelt aus einer einzigen Idee, für einen Roman zu knapp, zu lang für eine Kurzgeschichte, und tückisch leicht zugänglich“ (Gasser 2010, S. 38). So führe Kehlmann am Anfang der Geschichte das dieser zugrunde liegende „System gläserner Schönheit“ (ebd.) ein, welches der Physiker David Mahler untersuche und welchen in wiederkehrenden Details die Geschichte präge und die Leser*innen zum schaudern bringe.
Uwe Wittstock erkennt diese Entwicklung aus einer Idee auch in anderen Erzählungen Kehlmanns wieder, viele seien getrieben durch fundamentale, dennoch unbeantwortbare Fragen, etwa nach der tödlichen Willkür des Kosmos in Der fernste Ort, der rätselhaften Unendlichkeit gesehen in einander gegenübergestellten Spiegeln in den Gemälden Manuel Kaminskis in Ich und Kaminski, und der rätselhaften Natur der Zeit in Mahlers Zeit (vgl. Wittstock 2009, S. 164).

Postmoderne
Kehlmanns Texte der 2000er Jahre rufen das Interesse der unterschiedlichsten Forschungsrichtungen hervor. Besonders häufig setzt sich die Literaturwissenschaft mit Die Vermessung der Welt auseinander, häufig in historischer Perspektive. Gerhard Scholz etwa liest den Roman als prototypischen Text für einen postmodernen historischen Roman; dabei fragt Scholz nach dem Stellenwert von Vergangenheit und Gegenwart in der zeitgenössischen Literatur. Scholz geht von einer relativ weit gefassten Definition des postmodernen historischen Romans aus. Dieser „zeichnet sich weder durch eine bestimmte Form, noch durch ein bestimmtes Thema aus“, sondern sei vielmehr „eine Art Sprachspiel[…], um Vergangenheit zu erzeugen, Identität zu stiften und damit Handlungsspielräume für die Gegenwart zu erforschen“ (Scholz 2012, S. 22). Als Mittel postmodernen Erzählens macht Scholz die Ironie aus, welche „sich in jeder Faser der Gesamtaufbaus der Vermessung“ (vgl. Scholz 2012, S. 54) bemerkbar mache. Die Postmoderne zeichne sich durch eine „antitotalitäre Gesinnung“ (ebd.) aus. Diese setze sich aus einer „Vielfaltsfreundlichkeit“ (ebd.) sowie einer „Einheitsfeindlichkeit“ (ebd.) zusammen und äußere sich in Form „von Skepsis gegenüber allem, das versteckte Einheitsgedanken in sich tragen könnte“ (ebd.).

Sprache
Der Roman wird auch sprachwissenschaftlich untersucht. Etwa im strukturalistischen Vergleich von Die Vermessung der Welt mit dem Jugendroman Relax von Alexa Hennig von Lange. Dabei wird Kehlmanns Roman in die beiden sprachlich durchaus unterschiedlichen gestalteten Abschnitte 'Humboldt' und 'Gauß' aufgeteilt und bei diesen mit Hilfe der Feldermodell-Analyse Unterschiede in der Sprache ermittelt: „Die Zwischenstelle ist in Gauß (16%) am schwächsten besetzt. […] In Abgrenzung zu Humboldt finden sich hier keine Dialogszenen, sondern nur Konjunktoren (in fast allen Fällen 'und'). Die Nullstelle ist nicht gefüllt“ (George/Henkel 2014, S. 41). Die Junktionsanalyse verdeutlicht die Dualität der Figuren und kann als Indiz für die sprachliche Scheindistanz zwischen den beiden Figurendarstellungen gewertet werden (vgl. George/Henkel 2014, S. 44 ff.).

Magischer Realismus und Intertextualität
Viele ForscherInnen konzentrieren sich auf das in Kehlmanns extwelten häufige Vorkommen fantastischer Elemente, die z.T. dem magischen Realismus zugeordnet werden. In seiner Analyse Das Königreich im Meer – Daniel Kehlmanns Geheimnis beschreibt Markus Gasser beispielsweise den Roman Die Vermessung der Welt als „ein Buch der Wunder und der Geister“ (Gasser 2010, S. 84). Kehlmann „erzählt, wie wir uns selber glauben machen wollten, wir glauben nicht mehr an sie – wie wir mit dem Gewinn an quantifizierter Wirklichkeit unsere Träume beibehielten und vertieften und, allesamt heimliche Spiritisten, vor den Gittertoren der verborgenen Gärten stehen und Einlaß fordern“ (ebd.). In diesem Zusammenhang werden auch von Stefan Tetzlaff die Texte Kehlmanns untersucht. Dieser stellt die Eliminierung des Zufalls innerhalb des Realismus als eines der zentralen Elemente von Kehlmanns Werk dar: „Kehlmanns Texte erweisen sich damit als poetologisch, besonders hinsichtlich des in Frage stehenden Prinzips realistischen Erzählens. Der zentrale Gedanke einer Eliminierung des Zufalls entspricht auf der Ebene der Textur einer Überformung ins Allegorische, dem Konstruieren einer Parabel. Die Frage, die jeder der Kehlmann‘schen Texte, auch die 'Vermessung der Welt', verhandelt, ist, was mit einer Diegese, einem Narrativ und letztlich einer Textur geschieht, aus der das Kontingente eliminiert wird. Wie ist Realismus möglich, wenn die Ausnahmen von der Wahrscheinlichkeit berechenbar und für eine Art Weltformel transparent werden?“ (Tetzlaff 2012, S. 9).
In Pressegesprächen sucht Kehlmann selbst häufig die Nähe zu Autor*innen fremdsprachiger, vornehmlich lateinamerikanischer Literatur und nennt beispielsweise Jorge Luis Borges oder Gabriel García Márquez als literarische Vorbilder und Inspirationsquellen (vgl. Bichler 2013, S. 87). Vor allem Márquez gilt dabei als klassischer Vertreter des magischen Realismus Südamerikas. Joachim Rickes untersucht Kehlmanns Werke chronologisch unter der Leitfrage: „Was verbindet Daniel Kehlmanns Erzählen im Ganzen und im Einzelnen mit der modernen lateinamerikanischen Literatur?“ (Rickes 2012, S. 17). Dabei wählt er eine Lesart mit Bezug zur lateinamerikanischen Literatur wie beispielsweise bei seiner Analyse von Beerholms Vorstellung, für welche er das Gedicht Ajedrez von Jorge Luis Borges als Schlüssel zum „poetischen Zentrum des Werkes“ heranzieht und mit dem Intertext Kehlmanns Roman interpretiert (Rickes 2012, S. 27 ff.). Darüber hinaus arbeitet er unter anderem intertextuelle Verweise heraus wie am Beispiel von vier Nebenfiguren aus Die Vermessung der Welt: „Was für die Mehrzahl der Leser lediglich gängige Vornamen der spanisch sprechenden Welt sind, stellt für Kenner einen interpretatorischen Fingerzeig dar. Schließlich handelt es sich um die Vornamen von vier der bedeutendsten Erzähler der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur: Carlos Fuentes[…], Gabriel García Márquez[…][,] Mario Vargas Llosa und Julio Cortázar“ (Rickes 2012, S. 68-69). Auch für Kehlmanns sechsten Roman Ruhm wird Joachim Rickes in der lateinamerikanischen Gegenwartsliteratur fündig. So weist der Roman Die gläserne Grenze – Roman in neun Erzählungen von Carlos Fuentes außer dem gleichen Untertitel deutliche Parallelen zu Kehlmanns Ruhm auf. Rickes kritisiert jedoch einige Geschichten aus Die gläserne Grenze als „weniger geglückt“ und die Verflechtung der Erzählungen als „nicht annähernd so dicht und überzeugend gelungen wie in 'Ruhm'“ (Rickes 2012, S. 102-103).

Kehlmann als Marke der Gegenwartsliteratur
Neben den erzählten Inhalten wird vor allem die Relevanz von Kehlmanns Veröffentlichungen für die Gegenwartsliteratur und den Literaturbetrieb diskutiert. Neben weiteren Bestsellern der postmodernen Literatur wie beispielsweise Der Vorleser von Bernhard Schlink, wird etwa in der Monographie von Saskia Bodemer die Vermarktung von Die Vermessung der Welt mit besonderem Fokus auf einen internationalen Vergleich unter Heranziehen des englischsprachigen und chinesischen Literaturmarktes und den Einfluss der Wirtschaft auf die Buchmärkte der Gegenwart untersucht (vgl. Bodemer 2014, S. 311 ff.). Hierbei stellt Bodemer auch die Instrumentalisierung verschiedener Medien und das Timing der Veröffentlichung in einen Zusammenhang mit dem großen wirtschaftlichen Erfolgs des Romans (vgl. Bodemer 2014, S. 320 ff.).
In seiner Dozentur für Weltliteratur nähert sich Kehlmann gemeinsam mit Juliette Aubert, Konstantinos Kosmas und Bernhard Robben in einer literarischen Diskussion der Frage „Ist Kultur übersetzbar?“ und zieht hierfür seine persönlichen Erfahrungen im Rahmen der weltweiten Vermarktung und Übersetzung von Die Vermessung der Welt speziell für den asiatischen Sprachraum als Diskussionsgegenstand heran (vgl. Barner/Blamberger 2012, S. 39 ff.).
Auch die Person Daniel Kehlmann selbst wird zum Forschungsgegenstand. So spricht Klaus Bichler von einer Selbstinszenierung des Autors mittels umfassender Präsenz in den deutschsprachigen Medien. Er untersucht und kategorisiert Interviews von Daniel Kehlmann mit Hilfe der sozialen Feldtheorie des Soziologen Pierre Bourdieu mit dem Ziel einer Einordnung der habituellen Position des Autors (vgl. Bichler 2013, S. 71 ff.). Anschließend stellt Bichler auf Grundlage seiner Forschungsergebnisse unterschiedliche Thesen zu Kehlmanns medial inszenierter Persönlichkeit auf, welche noch einmal in drei Facetten zusammengefasst werden, die seine Positionierung im literarischen Feld beschreiben: „I. Der konservative, bürgerliche Autor. II. Der autonome Kritiker des Kunst- und Literaturbetriebs. III. Der Kritiker der modernen Kommunikationspraktiken“ (Bichler 2013, S. 95). Kehlmann grenze sich zudem bewusst von der aktuellen deutschsprachigen Autor*innenlandschaft ab, welche er ablehne, und versuche sich als Alternative zu präsentieren. Zudem versuche er sich als Kritiker der Medienlandschaft zu etablieren, mit dessen Mechanismen er gleichzeitig bewusst zu spielen vermag, um diese für seine eigenen Zwecke zu nutzen (vgl. Bichler 2013, S. 85 ff.). 

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