Betriebliche Angebote zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Spannungsverhältnis von Geschlecht und Qualifikation

AutorIn
Weßler-Poßberg, Dagmar

Jahr
2013

Typ der Publikation
Thesis

Schlagworte
Ungleichheit, Arbeitsmarkt, Vereinbarkeit Sorgearbeit-Erwerbsarbeit

Internetseite
http://duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DozBibEntryServlet?mode=show&id=45620&XSL.ListKey=huv88foy&XSL.PageNr=

Datum des letzten Aufrufs
06.05.2014

Abstract
Im Rahmen der Geschlechter- und Organisationsforschung beleuchtet das Promotionsprojekt die Rahmenbedingungen betrieblicher Familienpolitik. Soziodemografische, ökonomische und wirtschaftsstrukturelle Veränderungen, Pluralisierung von Lebensmodellen und Familienstrukturen sowie Konsequenzen im bildungs- sozialpolitisch- und gleichstellungspolitischen Kontext bilden neue Herausforderungen das Verhältnis von Familie und Beruf zu ordnen. Unter den Zeichen des demografischen Wandels und des befürchteten Fachkräftemangels zeigt sich dabei eine hohe Aufmerksamkeit für die Erwerbskraftpotenziale gut qualifizierter Frauen und deren Vereinbarkeitssituation. In der Praxis setzen sich zunehmend Lösungsansätze für eine flexible Gestaltung der Schnittstellen zwischen den Domänen Familie und Beruf durch und scheinen sich in Form von Teilzeitmodellen, flexiblen Arbeitszeitmodellen und Mobilitätsangeboten wie Home-Office als Generallösung für eine gelingende Vereinbarkeit zu etablieren.

Diese Studie greift empirische Erkenntnisse auf, die einen unterschiedlichen Autonomiegrad für Beschäftigte, diese Flexibilität zugunsten eigener Grenzvorstellungen zu gestalten, nahelegt und berücksichtigt die bisherige Vernachlässigung gering qualifizierter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Daraus ergibt sich die Forschungsfrage, ob sich die bisherigen Konzepte betrieblicher Familienpolitiken und Vereinbarkeitsmaßnahmen in deutschen Unternehmen für alle Beschäftigtengruppen oder nur partiell als Chance für eine realisierte Balance von Familie und Beruf erweisen und, ob und wie durch sie alte und neue Ungleichheiten (re)produziert werden. Der Widerspruch zwischen einer zunehmenden Pluralität von Lebensformen, Familien- und Erwerbsmodellen und dem sich herausbildenden Flexibilisierungsparadigma wird mit der „Work/Family Border Theory“ von Susan Clark in die theoretisch begründete Annahme aufgenommen, dass eine flexible Gestaltung der Grenzen zwischen den Domänen aufgrund unterschiedlicher Identifikationsmöglichkeiten mit den Domänen nicht für alle Beschäftigten die richtige oder umsetzbare Form von Vereinbarkeit ist.

Die Wirksamkeit von betrieblichen Instrumenten wird somit an den Gestaltungsmöglichkeiten und Legitimationen unterschiedlicher Grenzformen gemessen. Organisationen werden zu diesem Zweck als vergeschlechtlichte Organisationen nach Acker und Wilz und als Arenen klassenspezifischer Tauschbeziehungen zwischen Beschäftigten und Führungskräften nach Erikson und Goldthorpe betrachtet. Empirisch wurde die Forschungsfrage in drei vergleichenden Fallstudien in Organisationstypen der Privatwirtschaft und des öffentlichen Dienstes verfolgt.

Durch das qualitativ und quantitativ angelegte Studiendesign konnten die unterschiedlichen Bedeutungen von verschiedenen Grenzqualitäten aus der Führungsperspektive und aus der Sicht von Beschäftigten erkannt sowie die deutlich geschlechts- und klassenspezifisch differenzierten Möglichkeiten begründet werden. Methodisch erwies sich dabei insbesondere die intersektionale Perspektive auf Strukturen, Identitätszuschreibungen und symbolischen Repräsentationen als erkenntnisreich, da letztlich die Widersprüchlichkeiten von Differenzierungskriterien innerhalb und zwischen diesen Ebenen Entwicklungspotenziale für die Weiterentwicklung der Vereinbarkeitsforschung und –Konzepte bietet. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass unterschiedliche Statusgruppen, Leistungsnormen sowie arbeits- und unternehmenskulturell verankerte Werte und dazu passende Identitätszuschreibungen an die Beschäftigten in den Organisationen unterschiedliche Formen der Grenzgestaltung zwischen den Domänen Beruf und Familie legitimieren oder ausschließen und dadurch in der Vereinbarkeitspolitik soziale Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern und innerhalb der Geschlechtergruppen (re-)produziert werden.

In allen drei Fallstudien findet sich jeweils eine Gruppierung von Beschäftigten, die im Fokus der Vereinbarkeitskonzeptionen steht, und eine Gruppierung, deren Vereinbarkeitsbedarf kaum wahrgenommen und berücksichtigt wird. Dabei wurde deutlich, dass Leistungsnormen und Verfügbarkeitserwartungen mit familienfreundlichen Leitbildern und Instrumenten in allen Statusgruppen wenig kompatibel sind, und Führungskräfte, die diese zugleich vertreten sollen, überfordern. Dies führt zu zunehmend diffusen und versteckten Verwertungs- und Verfügbarkeitserwartungen und zu segregierenden Prozessen, welche die Realisierung von potenziell familienfreundlichen Maßnahmenkatalogen konterkarieren und die Wirkung von Instrumenten der betrieblichen Familienpolitik nicht voll entfalten, verpuffen oder ins Gegenteil verkehren lassen.

Es zeigt sich, dass die Gestaltungsmöglichkeiten für flexible oder stabile Grenzen zwischen den Domänen von der angenommenen Zuverlässig der Arbeitsidentitäten und Loyalitäten der Beschäftigten abhängig sind, die sich darin abbilden. Ob und welche Grenzenformen als angemessen anerkannt oder oder als unpassend abgelehnt werden, wird danach bewertet, wie sie die Steuerungs- und Kontrollaufgaben der Führungskräfte in den verschiedenen Arbeitsbereichen unterstützen, erschweren oder irritieren. Unabhängig davon, wie autonom die Grenzen gestaltet werden können, wird aus der Gestaltung von flexiblen Grenzen tendenziell eine hohe Identifikation mit den betrieblichen Bedingungen und Leistungsbereitschaft gelesen, während stabile Grenzen stabile Geschlechterrollen signalisieren. Dabei wirken zwei Ausschlusskriterien in entgegengesetzte Richtungen: Zum einen stehen infolge des Strebens nach der Erschließung des qualifizierten Erwerbspersonenpotenzials wirklich hauptsächlich jene (weiblichen) Fachkräfte im Fokus, deren spezialisiertes Wissen und Fachkenntnisse sich im Sinne von spezifischem Humankapital als lohnenswerte Investition des Unternehmens erweisen sollen.
Die Konzeption der für diese Zielgruppe passenden Instrumente lässt sich operativ auf die Tätigkeitsmerkmale von niedrig qualifizierten Beschäftigten in der Regel nicht anwenden. Gleichzeitig wird keine Notwendigkeit hinsichtlich konzeptioneller Überlegungen um die Vereinbarkeitsmöglichkeiten dieser Beschäftigtengruppen durch andere Instrumente zu gewährleisten, ersichtlich, da sie als austauschbar gelten und im Gegenzug häufig in so hohem Maß auf das Erwerbseinkommen angewiesen sind, dass Vereinbarkeit auch aus ihrer Perspektive als nachrangig angenommen wird. Der Umgang mit den vorgefundenen betrieblichen Vereinbarkeitskonzepten prägt entweder durch flexible Grenzgestaltungen eine Anpassungen an weiterhin androzentrische Arbeitsidentitäten. Oder aber bestätigt in stabilen Grenzgestaltungsformen z.B. in Form von Teilzeitnutzung, die weiterhin zutreffenden Verteilungsnormen von Fürsorge- und Familienarbeit. Mit dem starken Fokus auf Frauen zeigen die bisherigen Konzeptionen von betrieblich unterstützter Vereinbarkeit wenig Wirkung um die vergeschlechtlichten Annahmen über das Idealbildes eines Arbeitnehmers, der bezahlte Arbeit vor allen anderen Tätigkeiten priorisieren kann, zu überwinden, sondern allenfalls Kraft, diese zu verschleiern. Dies impliziert die Diskriminierung jener Frauen aber auch Männer, die Vereinbarkeitsangebote nicht karriereorientiert einsetzen können oder wollen.

Zu diesem Zweck erweist sich Flexibilisierung als universeller Lösungsansatz als Ideologisierungsrisiko, da mit diesem in der Praxis in erster Linie qualifikationsorientierte Zielsetzungen und arbeitgeberseitige Interessen verfolgt werden und Geschlechterfragen in die weiterhin unsichtbare private Domäne verlagert werden können. Ansätze für die Entwicklung eines anderen Verständnisses von Vereinbarkeit liegen in der Aufarbeitung widersprüchlicher Zielsetzungen der Vereinbarkeit und den Umsetzungserfahrungen der Führungskräfte. Hier zeigt sich, dass die klassische Rollenverteilung der Geschlechter und damit einhergehende typische weibliche Nutzungsformen von Vereinbarkeitsmaßnahmen nicht zuletzt deswegen eine hohe Beständigkeit aufweist, weil sie eine gewisse Funktionalität und Zuverlässigkeit für die Führungskräfte aufweist. Wenn Frauen weiterhin Zuverdienerinnen bleiben und die Verantwortung für Familienarbeit tragen, können Männer weiterhin ausschließlich als Erwerbskräfte in Anspruch genommen werden.

Normbrüche von Frauen, die mit den Vereinbarkeitsmöglichkeiten ein Verfügbarkeitsmuster gestalten, dass keine Priorisierung der Fürsorgeaufgaben signalisiert, irritieren zwar familiäre Wertvorstellungen und Rollenbilder, verbleiben aber weiterhin in dem Kontext einer zu lösenden Frauenproblematik. Demgegenüber zeigen „Normbrüche“ von Männern, die deutliche Vereinbarkeitsansprüche erheben, das Potenzial die Austauschbeziehung zwischen Führungskräften und Beschäftigten zu irritieren und dadurch Führungskräfte zu einer Reflexion des Verhältnisses zwischen den Domänen Beruf und Familie anzuregen.

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