Himmelskörper

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Inhaltsangabe und Interpretationsansätze [ ↑ ]

In Tanja Dückers Roman Himmelskörper geht es um Eva-Maria Sandmann, die den Spitznamen Freia trägt. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, eine seltene Wolke für ihren Wolkenatlas zu fotografieren: Cirrus Perlucidus. Freia ist zwar unverheiratet, erwartet jedoch von ihrem Lebenspartner Christian ein Kind. Dies möchte sie zum Anlass nehmen, um ihrer Familiengeschichte näher auf den Grund zu gehen. Dabei erfährt sie, dass ihre Großmutter Jo sowie ihre Mutter Renate beinahe auf dem Flüchtlingsschiff Wilhelm Gustloff, das 1945 von den Russen abgeschossen wurde, mitgefahren wären. Bei der Wohnungsauflösung der verstorbenen Großmutter findet Freia, neben Fotos von Hitler, überdies wohlwollende Briefbotschaften, die ihre Großmutter an Hermann Göring gerichtet hat und muss auf diese Weise erfahren, dass ihre Großeltern Nazis waren.
Die verwobene Familiengeschichte wird aus der Ich-Perspektive, in diesem Fall aus der Sicht von Freia, berichtet. Der Roman ist in 24 Kapitel gegliedert und hat drei Handlungsstränge, die am Ende zusammengeführt werden. Der erste Handlungsstrang befasst sich mit der Entwicklung und Selbstfindung Freias. Von ihrer Kindheit über die Pubertät, in der sie sich mit ihrem Bruder Paul zerstritt, bis hin zur Findung ihrer Rolle als Frau in der Gesellschaft und der Ergreifung eines wissenschaftlichen Berufes, berichtet die Meteorologin nach und nach, wie sie zu der Person wurde, die sie jetzt ist. Der zweite Handlungsstrang befasst sich mit der Familiengeschichte, deren fester Bestandteil der Zweite Weltkrieg und die Vertreibung, beziehungsweise Fluchtgeschichte von Vertriebenen im Zweiten Weltkrieg, ist. Freias Mutter Renate wurde in Polen geboren und ist 1945 mit ihrer Mutter Jo sowie deren Schwester Lena auf einem Schiff nach Deutschland geflohen. Der dritte Strang der Handlung greift die Verarbeitung der familiären Vergangenheit durch Freia und ihren Bruder Paul auf. Der Roman behandelt unter anderem die Themen ‚Generationenkonflikt’, ‚Zweiter Weltkrieg und seine Folgen’ sowie ‚Meteorologie’. Die LeserInnen erfahren im Laufe der Erzählung ausschließlich, was Freia sieht und weiß. Sie springt in ihrer Erzählung wiederholt zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her. Das Gesamtbild der Familiengeschichte fügt sich aus diesem Grund, sowohl für Freia als auch für die RezipientInnen, erst am Ende des Romans zusammen.
Die für Freia wichtigen Personen, die auch im Roman eine zentrale Rolle spielen, werden gleich zu Beginn des Romans, in Form von Fotos, die Freia auf Reisen stets bei sich trägt, eingeführt. In dieser Situation wird an der Art, wie sie von ihrer Mutter spricht, sofort deutlich, dass sie zu ihr ein eher distanziertes Verhältnis hat, da sie ihre Mutter lediglich „Mutter“ nennt. Ihren Vater, ihre Großmutter sowie ihren Großvater nennt sie hingegen beim Vornamen. Erst, als das Bild ihrer Mutter aus ihrem Wolkenatlas fällt, nennt Freia ihre Mutter beim Vornamen. Außerdem hat sie das Foto ihrer Mutter erst nachträglich zu der Sammlung von Fotos, die sie regelmäßig auf Reisen bei sich trägt, hinzugefügt. Freia beschreibt ihre Mutter als: „menschliche Haltevorrichtung für niedliche lockige Kleinkinder“ (Himmelskörper, S. 13) und als beinahe unsichtbar. Zudem berichtet sie von ihrer Mutter: „Manchmal, wenn meine Mutter regungslos im Wohnzimmer vor ihren Strohblumen stand, übersah ich sie schlicht.“ (Himmelskörper, S. 15). Hier wird deutlich, dass Freias Mutter der beinahe durchsichtigen und nur schwer am Himmel zu entdeckenden Wolke Cirrus Perlucidus ähnelt. Freia sucht nach dieser Wolke, die im Wesen und im Übersehen-Werden ihrer Mutter gleicht, um ihren Wolkenatlas zu vervollständigen. So deutet der Roman mit Freias Suche nach einer fast durchsichtigen Wolke an, dass sie auch ihre Mutter zu ergründen sucht, beziehungsweise, dass sie nach einer emotionalen Verbindung zu ihrer Mutter sucht.
Freias Vater Peter steht im Kontrast zu Freias Mutter Renate. Er ist laut, steht gern im Mittelpunkt, trinkt, nascht und raucht gerne, ist also den Genüssen, die die Welt zu bieten hat, nicht abgeneigt. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass er fremdgeht. Freia erkennt als Kind nicht, dass sich hinter den Feen-Geschichten, die der Vater ihr erzählt, die Beichte einer Affäre steckt. Doch mit zunehmendem Alter lernt Freia, die Geschichten richtig zu deuten. Sie spricht Peters Namen während der Zugfahrt in Gedanken wie ein Stakkato aus und verdeutlicht so die Dynamik, die von ihrem Vater ausgeht. Sie sagt: „Pe-ter. Pe-ter. Pe-ter. Pe-ter, der Kopfschmerzen hat, den eine Wespe gestochen hat, der am Strand auf eine Qualle getreten ist“(Himmelskörper, S. 10).
Doch obwohl Peter immer wieder im Mittelpunkt des Familiengeschehens steht, ist die heimliche Herrscherin der Familie Johanna Bonitzky, Freias Großmutter. Sie wird zum Großteil im Haushalt und bei Verrichtungen im Haushalt beschrieben. Diese räumliche Beschränkung symbolisiert ihre geistige Immobilität, wie auch Frau Stepanova hervorhebt, da sie sich als „treudeutsch“ (Himmelskörper, S. 126) bezeichnet und auch nach Ende des Krieges noch an ihren ideologischen Nazi-Einstellungen festhält. Ihr Ehemann Maximilian, der nach dem Krieg aufgrund seines verlorenen Beines die Vormachtstellung in der Familie an seine Frau abgeben muss, wird nach seiner Heimkehr aus dem Krieg von allen nur noch Mäxchen genannt. Seine Machtlosigkeit gegenüber seiner Ehefrau wird durch den neuen verniedlichenden Spitznamen nochmals hervorgehoben. Das im Kriegsgeschehen eingebüßte Bein des Großvaters ist für die Kinder mit Geheimnissen umwoben, denn sie wissen zwar, dass der Großvater sein Bein im Krieg verloren hat, doch wie genau ‚Krieg’ definiert wird und was diesen auslöst oder ausmacht, wissen sie nicht. Freia erzählt: „[…] wir [stellten] verschiedene Überlegungen an wie Großvater denn wohl zu seinem Stumpf gekommen war. Den vagen Begriff ‚Krieg’ von dem die Eltern entweder mehr wußten, als sie sagten, oder selber nicht viel Ahnung hatten, wollten wir mit einer schlüssigen Geschichte füllen. […] Paul und ich waren uns nicht ganz sicher, ob ‚Krieg’ eher einen Ort oder ein Ereignis bezeichnete. Ganz sicher aber war Vollmond, als ‚Krieg’ passierte“ (Himmelskörper, S. 79).
Hier wird deutlich, dass die Kinder den Krieg mit etwas Märchenhaftem, Unwirklichem verbinden, da sich in Märchen bei Vollmond stets außergewöhnliche Ereignisse zutragen, die sich nicht auf logische Weise erklären lassen. Außerdem steht der Krieg in einer Reihe mit anderen sagenhaften Geschichten, die der Großvater und der Vater den Kindern erzählen. Darin gibt es unwirkliche Wesen wie „Silberlügenaale“ (Himmelskörper, S. 80), „Futterneidhaie“(Himmelskörper, S. 80) und „Grübelmonster“ (Himmelskörper, S. 80) die laut der Geschichten alle im „Bleichen See“(Himmelskörper, S. 80) wohnen, an dem Freia und ihr Zwillingsbruder Paul als Kinder regelmäßig spielen. Das nicht vorhandene Bein des Großvaters steht aber auch symbolisch für die Tatsache, dass der Krieg ein tabuisiertes Thema in der Familie ist. Wenn die Großeltern den Enkeln doch etwas vom Krieg erzählen, wirken die Geschichten, die sie vortragen, einstudiert. Die Enkel stellen keine Fragen, sondern wiederholen stets die gleichen Sätze, ähnlich einer Litanei in der Kirche. Kritische Nachfragen werden nicht geduldet. Wenn Mäxchen seinen Enkeln mehr vom Krieg erzählen will, schreitet seine Frau Jo alsbald ein und mildert die Geschichte ab. Freia berichtet:
„Die Geschichte ihrer Flucht kannte ich schon auswendig. Wie einen Weg, den man sehr oft abgeschritten ist, kannte ich fast jede Redewendung, jede sprachliche Ausschmückung. Und immer wieder gab es an den gleichen Stellen dieselben Streitigkeiten mit meiner Mutter, und immer wieder verstummte meine Mutter irgendwann resigniert und ließ Jo weiterreden“ (Himmelskörper, S. 98).
Hier wird deutlich, dass zwischen Freias Mutter Renate und Freias Großmutter eine konfliktreiche Spannung vorherrscht. Freias Mutter kommt jedoch gegen die Reden der Großmutter nicht an und zieht sich zurück. Dennoch halten die zwei Generationen in einer Sache zusammen: Sie berichten der dritten Generation, der Paul und Freia angehören, nicht aktiv von den tatsächlichen Ereignissen während der Flucht. Paul und seine Schwester Freia lauschen den Geschichten trotzdem gern.
Freias Verbindung zu ihrem Zwillingsbruder Paul ist in Kindertagen besonders eng. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass beide oft miteinander spielen, sondern auch an der Tatsache, dass beide in jungen Jahren lange Zöpfe tragen. Jo und Renate streiten zu Anfang häufig darüber, wer die Zöpfe der jungen Freia flechten darf. Erst als auch Paul längere Haare hat und für jede der Frauen ein Haarschopf zum Flechten und Kämmen vorhanden ist, legt sich der Zank in der Familie. Freias Vater ist jedoch nicht glücklich damit, dass sein Sohn Zöpfe trägt. So schneidet er ihm eines Nachts die langen Zöpfe ab. Freia fühlt sich in diesem Moment von ihrem Vater betrogen. Sie erzählt: „Ich schaute atemlos zu. Paul sah mit dem kurzen Mecki-Schnitt auf einmal so anders aus. So anders als sonst, so anders als ich. Mich überfiel Wut auf meinen Vater. Wie konnte er es wagen, ohne Paul, ohne mich, ohne Renate gefragt zu haben …?“(Himmelskörper, S. 65). Diese Szene verdeutlicht, wie hilflos sich Freia den Taten ihres Vaters als Kind ausgesetzt sieht. Der Vater versucht hier, seinem Sohn das gesellschaftlich genormte Bild von einem Jungen überzustülpen, das er selbst im Kopf hat. Um ihrem Bruder nach diesem Übergriff des Vaters auch äußerlich wieder ähnlicher zu sehen, schneidet sich Freia ihre langen Zöpfe ebenfalls ab. Renate verwahrt die abgeschnittenen Zöpfe ihrer Tochter in einer Schublade im Schlafzimmer auf.
Freias Zöpfe haben eine besondere Bedeutung für Renate und ihre Großmutter Jo. Die Zöpfe erinnern Jo an eine Zeit in ihrem Leben, die sie als „die glücklichste in meinem Leben“ (Himmelskörper, S. 62) bezeichnet. Damit referiert sie auf ihre Zeit bei der Hitlerjugend, wo es Sportveranstaltungen, Ausflüge und Feste gab, die zu Ehren Hitlers abgehalten wurden. Freia erzählt: „Meine Zöpfe brachten Jo dazu, von früher zu erzählen, ohne daß Paul und ich drängen mussten“ (Himmelskörper, S. 62) .Wird sie jedoch vor den Eltern dazu aufgefordert, mehr zu erzählen, lehnt Jo dies ab. Für Renate stehen die Zöpfe sinnbildlich für eine Verbindung zu ihrer Tochter. Denn während der Zeit des Flechtens, stand sie in engem Kontakt zu ihrer Tochter und konnte sie berühren, ohne ihr körperlich zu nahe zu treten.
Während der Pubertät kommt es zwischen Paul und Freia zu einem Zerwürfnis, da beide einen gemeinsamen Liebhaber haben – Wieland. Freia hat mit ihm ihr erstes erotisches Erlebnis und verliebt sich in ihn. Doch Wieland ist bisexuell und verliebt sich recht bald in Paul. Dieser erkennt, dass er schwul ist und gibt seinen Gefühlen nach, obwohl er weiß, wie sehr Freia an Wieland hängt. Eine Zeit lang sprechen die Geschwister daraufhin nicht miteinander. Doch Freia hält es nicht lange aus, ihren Bruder nicht an ihrem Leben teilhaben zu lassen und versöhnt sich alsbald mit ihm. Als Paul seinen Eltern erzählt, dass er mit Wieland, der bis dato nur als guter Freund der Familie bekannt ist, zusammen ist, teilt Freia Wieland einen verbalen Seitenhieb aus, den nur er versteht. Denn als ihr Vater fragt, ob sie den Mann kennenlernen könnten, der mit seiner Tochter geschlafen hat, erwidert Freia: „Nein, kannst du nicht, Peter, der Typ hat mich sitzenlassen und sich verpißt … der denkt keine Sekunde mehr an mich. Ist anderweitig beschäftigt“ (Himmelskörper, S. 235) .Dieser Seitenhieb an Wieland, der inzwischen Pauls Partner ist, verschafft Freia Genugtuung, wie sie für sich reflektiert: „Mein offener Angriff auf Wieland hatte mir gut getan“ (Himmelskörper, S. 236) .Die beschriebene Situation nutzt Freias Mutter Renate als eine der seltenen Gelegenheiten, ihren Mann in die Schranken zu weisen. Dieser beschwert sich nämlich schließlich darüber, dass er von Paul nun keine Enkelkinder zu erwarten habe. Renate steht daraufhin auf und wirft ihren Teller so voller Inbrunst auf den Tisch, dass er zerbricht. Daraufhin ruft sie: „Das – ist – ja– nicht – mehr – auszuhalten!“ (Himmelskörper, S. 236), woraufhin Peter zusammenzuckt und Freia bemerkt, dass Peter auch Angst vor seiner Frau haben kann. Laut Freia verbringen Wieland, Paul und sie von „diesem Tag an […] so viel Zeit zusammen wie in all den Jahren davor jeweils zu zweit“ (Himmelskörper, S. 236). Doch da Freia Wieland schon zuvor als einen unsteten Charakter entlarvt hat, ist sie nicht überrascht, als er auch ihren Bruder Paul verlässt. Dieser trauert ebenso lange wie Freia um die verlorene Liebe. Während der Trauerphase steht Freia ihrem Bruder bei. Dieses Ereignis bringt die Geschwister wieder näher zueinander, sodass „alles ein wenig wie früher“ (Himmelskörper, S. 242) ist.
Im Verlauf des Romans erfährt man, dass Freias Großmutter gestorben ist. Vor ihrem Tod war diese bereits sehr verwirrt. Freia gelang es in dieser Zeit, ihrer Großmutter zahlreiche Geheimnisse über die Flucht der Familie aus Gotenhafen zu entlocken. So erfährt sie zum Beispiel, dass ihre Mutter der Familie dazu verholfen hat, einen Platz auf dem Minensuchboot Theodor zu bekommen. Wieso Renate dies dazu bringt, sich schuldig zu fühlen, erfährt Freia jedoch erst später.
Beim Ausräumen des Hauses der Großeltern ist Freia entsetzt darüber, dass ihre Großeltern getrennte Kühlschränke besaßen und demnach zwar nach außen den Schein einer intakten Ehe gelebt, jedoch innerlich ein zerrüttetes Verhältnis hatten. Noch schwerer trifft Freia allerdings die Tatsache, dass sie alte Briefe und weitere Zeugnisse davon findet, dass die Großeltern Anhänger von Hitlers Nazidiktatur waren. Freia erbt nach dem Tod der Großmutter zusätzlich zu der Bernsteinkette ihrer verstorbenen Tante Lena aus Polen auch die Bernsteinkette ihrer Großmutter. Somit trägt sie zwei Erinnerungen an ihre polnischen Wurzeln mit sich herum, kann sich jedoch lange nicht entschließen, auch nur eine der beiden Ketten zu tragen. Stattdessen liegt eine der Ketten nach dem Ausräumen des Hauses schwer in Freias Tasche. In dieser Situation steht die Bernsteinkette, die Freia in ihrer Tasche erfühlt für das dunkle Familiengeheimnis, dem sie immer weiter auf die Spur kommt. Mit ihrem Bruder bespricht Freia die Vergangenheit der Großeltern und macht sich Gedanken darüber, welche Auswirkungen diese Vergangenheit auf ihr eigenes Leben und das ihres zukünftigen Kindes haben wird. Sie möchte sich selbst in die verstrickte Geschichte einordnen, um ihr Kind von der Bürde der Familie zu befreien. Freias Mutter nimmt sich, nachdem Jo und Mäxchen gestorben sind, das Leben. Den Grund hierfür hat Freia auf einer Reise mit ihrer Mutter nach Gotenhafen erfahren. Hier berichtet Renate ihrer Tochter, wie die Flucht der Familie aus Polen verlaufen ist. Freia erfährt, dass ihre Mutter von den Großeltern zur Denunziantin erzogen wurde und dass sie nur nicht auf dem zerbombten Flüchtlingsschiff Gustloff gelandet sind, weil Freia die Nachbarsfamilie als nicht treue Hitleranhänger denunziert hat. Diese Tat wirft Renate sich ein Leben lang vor, obwohl sie zum Tatzeitpunkt erst vier Jahre alt war. Ihre Scham darüber ist so groß, dass sie sich nach dem Geständnis das Leben nimmt. Renate folgt damit ihrem Vetter Kazimierz, der zeitlebens in Warschau lebte und ebenfalls den Freitod als einzigen Ausweg aus seinem von Depressionen geprägten Leben sah. Peter findet seine Frau am nächsten Tag in ihrem Bett vor. Sie hat über Nacht all ihre Besitztümer bereits aussortiert und auf die Straße gestellt. So erscheint es nach ihrem Tod so, als habe sie nie existiert, denn im Haus ist keine Spur von ihr zu finden. Sie scheidet demnach aus dem Leben, wie sie es gelebt hat: beinahe nicht existent.
Am Ende des Romans löst Freia nicht nur die geheimnisumwobene Vergangenheit der Familie auf und verhilft so ihrem Bruder und sich selbst zu einer Klärung. Sie findet auch die Wolke, nach der sie so lange gesucht hat und schafft es, ein Foto von ihr zu machen. Freia und ihr Bruder beschließen, die Erkenntnisse über die Familiengeschichte in einem Buch festzuhalten und so die Geschichte der Familie sowie die Geschichte des Krieges, soweit sie für beide zu entziffern ist, für die Nachwelt festzuhalten. Das Buch wollen die Geschwister Himmelskörper nennen. Damit referiert der Roman in der Erzählung auf sich selbst. Sowohl für die LeserInnen als auch für Freia und ihren Bruder schließt sich auf diese Weise ein Kreis. Denn, indem das Buch auf sich selbst referiert, wird deutlich, dass die Geschichte der Familie zwar aufgelöst, jedoch immer wieder neu betrachtbar ist. Anders als ihre Großeltern entschließt sich Freia demnach dazu, die Geschehnisse im Zweiten Weltkrieg nicht zu tabuisieren und zu Geheimnissen zu stilisieren, sondern offen anzusprechen. Auf diese Weise kann sie sich von ihren Familienmitgliedern distanzieren und dennoch mit ihnen verbunden bleiben.

Thematische Aspekte in Himmelskörper [ ↑ ]

Generationenkonflikt innerhalb der Familie
Tanja Dückers thematisiert die Tatsache, dass es innerhalb der Familien Bonitzky und Sandmann ein unausgesprochenes Konfliktpotential gibt. Immer wieder nimmt Freia als Kind wahr, dass der Großvater keine Einzelheiten über den Krieg erzählen darf, da die Großmutter es verbietet. Nach dem Krieg hat der Großvater nichts mehr in der Familie zu sagen. Großmutter Jo hat die Vormachtstellung in der Familie übernommen, nachdem ihr Mann versehrt aus dem Krieg heimgekehrt ist. Auch Renate darf von Seiten der Großmutter aus nicht viel von vergangenen Erlebnissen erzählen – und startet sie dennoch einen Versuch, wird es von Großmutter Jo so dargestellt, als ob sie damals noch zu jung war, um genau verstehen zu können, was geschehen ist. Die unausgefochtenen Konflikte in der Familie gären über Generationen immer weiter und können sich nicht auflösen, da sie nie ausgetragen werden. Freia gehört der dritten Generation ihrer Familie an. Sie kennt den Krieg nur aus Erzählungen von Großmutter, Großvater und Mutter oder aus dem Geschichtsunterricht in der Schule. Ihre eigenen Berührungspunkte mit dem Krieg sind also gering und sie muss sich auf die Erzählungen der anderen verlassen. Dennoch bekommen Freia und Paul die nie offen ausgetragenen Konflikte in der Familie indirekt zu spüren. Da Freia zu Beginn des Romans nicht genau fassen kann, worauf der Konflikt der Familie fußt, macht sie sich auf die Suche nach einer Lösung. Ihre Schwangerschaft nimmt sie zum Anlass dafür. Ihrer Ansicht nach muss sie jetzt, da sie ein neues Leben in sich trägt, mit der Vergangenheit aufräumen und „offene Fragen beantworten“ (Himmelskörper, S. 26) und sich selbst Klarheit über ihre familiäre Identität verschaffen. Erst durch das Klären der Vergangenheit kann sie zu sich selbst finden und neue Wege beschreiten, ohne von der unklaren Vergangenheit unterbewusst beeinflusst zu werden. Denn indem sie am Ende des Romans den Konflikt in der Familie erkannt und dem Thema auf den Grund gegangen ist, hat sie das Unbewusste an die Oberfläche ihres Bewusstseins geholt. Erst wenn dies geschieht, ist der Mensch in der Lage, Dinge zu verarbeiten.

Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen
Die Autorin geht thematisch auf die Folgen des Zweiten Weltkrieges ein. Dabei zeigt sie nicht nur, welche Auswirkungen das Kriegsgeschehen auf die Personen hat, die den Krieg direkt miterlebt haben – so wie Jo, Mäxchen und Renate – sondern auch auf die Folgen für die dritte Generation, die den Krieg nicht direkt miterlebt hat. Dieser dritten Generation, der sogenannten Enkelgeneration gehört Freia an. Sie erlebt schon als Kind, dass der Krieg in der Familie ein tabuisiertes Thema ist. Sie und ihr Bruder Paul denken sich märchenhafte Geschichten über den Krieg aus, da sie von ihren Großeltern und Eltern, auch auf Nachfragen hin, nur Andeutungen über den Krieg hören. Als Erwachsene findet Freia schließlich heraus, dass ihre Großeltern Nazis waren und dass Renate als Kind die Nachbarsfamilie beschuldigte, nicht mehr den Ideologien des Regimes zu folgen. Als Folge von Renates Beschuldigung können sie, Jo und deren Schwester den Platz auf einem sicheren Flüchtlingsschiff einnehmen und dem Krieg entkommen. Die Nachbarsfamilie hingegen muss an Bord des Schiffes Wilhelm Gustloff und geht später mit diesem Schiff unter. Damit trägt Renate die Schuld mit sich herum, dass die Nachbarsfamilie ums Leben kam. Gleichzeitig ist sie jedoch auch dafür verantwortlich, ihre eigenen Familienangehörigen gerettet zu haben. Doch die Schuld des Denunzierens und des Todes der Nachbarsfamilie lastet so schwer auf Renate, dass sie sich gegen Ende des Romans das Leben nimmt. Der Roman reflektiert also, dass ein auferlegtes Familientabu destruktiv wirkt, indem die Mutter, also die Vertreterin der 2. Generation, von der ersten Generation als Hüterin eines Familiengeheimnisses instrumentalisiert wird. Die Enkel haben nun die Wahl, dem Schweigegebot zu folgen und dies auch an ihre Kinder weiterzugeben oder – wie Dückers an den beiden Enkelfiguren vorführt – sich mit dem Geheimnis zu konfrontieren. Sie unternehmen letzteres und zwar schreibend, d.h. Dückers weist der Literatur genau diese (therapeutische)n Aufgabe zu, historisch gewachsenen, kulturelle und familiale Narrative zu hinterfragen. Freia schafft es schlussendlich, noch vor dem Tod ihrer Mutter, die Familiengeschichte zu entwirren. Dies gelingt ihr, indem sie der zunehmend dementen Großmutter Geschichten entlockt, die zuvor von ihr geheim gehalten wurden. Auch durch die Haushaltsauflösung der verstorbenen Großeltern erfährt Freia einige Details aus der Vergangenheit der Großeltern. Als Freia mit ihrer Mutter zu Besuch in Gotenhafen ist, dort, wo einst die Wilhelm Gustloff unterging, erzählt Renate ihrer Tochter, was damals am Hafen vorgefallen ist. Leider kann Freia nicht auf alle Fragen, die sie im Zuge der Familiengeschichte beschäftigen, eine Antwort finden. Die eine oder andere Lücke wird immer offen bleiben, da ihre beiden direkten Quellen – ihre Großmutter und ihre Mutter – am Ende der Geschichte nicht mehr leben.

Meteorologie
Die Autorin Tanja Dückers hat vor dem Verfassen ihres Romans detaillierte Recherchen auf dem Gebiet der Meteorologie betrieben, da ihre Hauptfigur Freia Sandmann eine studierte Meteorologin ist. So fallen in dem Roman immer wieder Namen von Wolkenformationen, die den meisten Lesern unbekannt sind, jedoch zum Nachforschen anregen. Den Wolken in Tanja Dückers Roman kommt eine symbolische Schlüsselrolle zu, denn immer wieder beachtet Freia Wolkenformationen am Himmel, die sie an bestimmte Situationen erinnern. Eine besondere Symbolik kommt der Wolke Cirrus Perlucidus zu, die Freia hofft, am Himmel zu entdecken, um sie für ihren Wolkenatlas zu verwenden. Diese Wolke ist halb durchsichtig und wird leicht übersehen – ebenso wie Freias Mutter Renate. Somit steht Freias Suche nach der Wolke für ihre Suche nach dem Geheimnis, das ihre Mutter umgibt. Ebenso, wie Freia versucht, ihre Mutter zu ergründen, versucht sie, die Wolke zu finden und ihre Sichtung auf einem Foto zu dokumentieren. Doch auch andere Wolkenformationen werden von Tanja Dückers erklärt. Sie stehen sinnbildlich für die vergängliche und für Freias ferne Lebensgeschichte der Familie, die den metaphorischen Himmel der Familienbeziehungen immer wieder trüben.

Formale Aspekte in Himmelskörper [ ↑ ]

Symbole und Metaphern: Bienen
Freias Großvater Mäxchen betreibt im hohen Alter eine Bienenzucht. Dies ist sein Versuch, wieder über etwas Herrschaft zu erlangen. Als Bienenzüchter muss er die Bienen versorgen und danach schauen, ob es ihnen gut geht. Er nimmt also im Leben der Bienen die Rolle ein, die Jo in seinem Leben einnimmt: die des Versorgers. Somit stehen die Bienen bildlich für Mäxchen selbst, da er auf Jos Hilfe im Haushalt angewiesen ist. Eine Person, die andere versorgt, ist die gebende Instanz in einer Beziehung. Der, der versorgt wird, ist abhängig von der Güte des anderen. Mäxchen nimmt die Bienen überdies zum Anlass, seinen Enkeln seine nationalsozialistische Ideologie näher zu bringen. Er vergleicht die Kuckucksbienen mit den Juden und meint, jedes Volk brauche einen Führer (vgl. Himmelskörper, S. 187). Die Aussagen des Großvaters verstören seine Enkel Paul und Freia.

Symbole und Metaphern: Tannen
Das Motiv der Tannen spielt in Tanja Dückers Roman Himmelskörper eine wiederkehrende symbolische Rolle. Zu Anfang beschreibt Freia ein Foto von Renate, auf dem sie vor dem Hintergrund großer Tannen auf einer Schaukel sitzt und das erste Mal nicht gekünstelt wirkt. Freia berichtet: „Sie [ihre Mutter] sitzt auf einer Schaukel, und ihre langen hellblonden Haare fliegen im Wind. Die Schaukel steht auf einer Art Anhöhe, ein Heer von dunklen Zwergtannen säumt den erdigen Platz, als wäre es ehrfürchtig vor meiner schaukelnden Mutter zurückgetreten“ (Himmelskörper, S. 13). Hier fungieren die Tannen als Zuschauer, da Freia ihnen durch das Adjektiv ‘ehrfürchtig‘ Menschlichkeit einhaucht. Obwohl Freia Renate sonst als sehr unscheinbare Frau beschreibt, die stets darauf bedacht ist, wenig Lärm zu machen, wird klar, dass sie in einem Moment, in dem sie sich nicht verstellt, etwas Ehrfürchtiges an sich haben kann. Dies mag auch ein Hinweis auf ihre Vergangenheit sein, in der sie ohne Rücksicht ihre Nachbarsfamilie verraten hat. Das Ausmaß ihrer Tat wird ihr zwar erst später bewusst, doch dieses Bewusstsein prägt Renates Ausstrahlung. Sie scheint sich selbst und das, was sie nach außen ausstrahlt, immerfort zu kontrollieren. Doch in Momenten, in denen sie ihre Selbstkontrolle vergisst, scheint ihre wahre Gestalt durch.
Die Tannen begleiten jedoch nicht nur Freias Mutter, sondern auch Freia selbst. Freia erinnert sich, dass sie auf der Zugfahrt von Polen nach Deutschland mit ihrem Jugendfreund Wieland ist und sich Folgendes abspielt: „Die nächsten Stunden schaute ich aus dem Fenster, wo wie ein düsteres Heer all die Tannen an mir vorbeiflogen, die Deutschland und Polen voneinander trennen und miteinander verbinden“ (Himmelskörper, S. 176). Diese Szene macht deutlich, dass die Tannen sowohl eine trennende als auch eine verbindende Wirkung auf Freias Leben haben. Die Tannen begleiten Freia auch, als sie Wieland mit ihrem Bruder Paul im Wald beobachtet. Sie folgt den beiden heimlich in den Wald und berichtet: „In der unendlichen Familie der Tannen hörte ich mein festes Schuhwerk wie Schritte eines Fremdlings“ (Himmelskörper, S. 204). Und weiter heißt es: „Ich lief noch zwischen den Tannen, als ich sie [Paul und Wieland] sah. […] Ich blieb zwischen den Tannen stehen. Mein Herz klopfte laut und langsam wie der Klöppel einer gewaltigen Glocke“ (Himmelskörper, S. 204). In dieser Sequenz begleiten Freia die Tannen wie stumme Vorboten eines nahenden Unheils. Zu Anfang werden sie sogar als „Familie der Tannen“ (Himmelskörper, S. 204) tituliert. In Anbetracht der Tatsache, dass Freias Familie sehr viel unausgesprochenes Konfliktpotential mit sich trägt und damit keinen Ort bietet, an dem sich die Angehörigen ausruhen und aufeinander verlassen können, scheint dieser Vergleich durchaus angebracht. Gleichzeitig verbindet der Leser mit der Erwähnung des Wortes ‚Familie‘ einen Ort der Geborgenheit. Dass Freia nun von ihrem Zwillingsbruder Paul, bei dem sie sich immer gut aufgehoben und geboren gefühlt hat, betrogen wird, unterstreicht die Anwesenheit der Tannen zusätzlich. Denn wie zu Beginn, als Freia das Foto ihrer Mutter vor dem Hintergrund zahlreicher Tannen in Händen hält, werden auch hier die Tannen vermenschlicht und verdeutlichen dem Betrachter die emotionale Komponente der Situation. Freia hat bereits auf einer Feier mit Freunden geahnt, dass sich zwischen Paul und Wieland eine besondere Beziehung anbahnt, da beide sich dort sehr intensiv in die Augen geschaut haben. Doch erst in dieser Situation, zwischen den Tannen, erkennt sie das wahre Ausmaß der Zuneigung zwischen den beiden Männern.

Symbole und Metaphern: Bernsteinkette
Die Bernsteinketten, die Freia von ihrer Großtante und ihrer Großmutter erbt, sind greifbare Zeugnisse der familiären Geschichte in Polen, da die bekannteste Fundregion von Bernstein in Polen liegt. Bernstein ist kein Stein, sondern versteinertes, fossiles Harz. Oftmals finden sich in Bernstein eingeschlossene Tiere oder Pflanzen. Damit steht der Bernstein symbolisch für die Geheimnisse der Familie Sandmann/Bonitzky, die Freia im Zuge des Romas aufdeckt. Freia selbst sagt dazu: „Plötzlich war ich Teil einer langen Kette, einer Verbindung, eines Konstrukts […]. Ich bekam wieder Angst vor dieser dicken, eingeschweißten Familienkette aus Schweigen, Totschlag und nochmals Schweigen, zu der ich nun für immer gehören würde. Über meinen Tod hinaus“ (Himmelskörper, S. 26). In diesem Auszug wird besonders deutlich, dass die Bernsteinkette als Sinnbild für die ‚Kette der Generationen‘ zu sehen ist.

Pressespiegel zu Himmelskörper  [ ↑ ]

Die Pressestimmen zu Tanja Dückers Roman Himmelskörper sind geteilter Meinung.
Wenig angetan von Himmelskörper ist beispielsweise Rezensentin Verena Meyer (Berliner Zeitung, 19.05.2003). Sie schreibt, Himmelskörper sei „eine Buch gewordene Anmaßung“, voller Banalitäten, Klischees und Halbwissen. Die Beziehung von Freia zu ihrer Familie rangiere laut Meyer auf dem Niveau von Fernseh-Soaps und Fünf-Freunde-Büchern. Auch Wolfgang Schneider (Neue Züricher Zeitung, 17.07.2003) gefällt der Roman von Tanja Dückers nicht. Schneider kritisiert, dass die Dialoge zwischen den Generationen "hölzern" wirken und durch die "politisch-korrekte Distanz", die Dückers zu den Flüchtenden wahre, komme dem Leser deren Leidensgeschichte nicht näher. Stefanie Peter (Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 25.04.2003) will nicht einleuchten, dass die damaligen Ereignisse "der Schlüssel zur Psychologie dreier Generationen" sein können. Zum anderen sei die Thematik nach Meinung der Rezensentin schlecht umgesetzt, denn die Geschichte bestehe aus "spannungslos aneinander gereihten Erlebnissen und Gemeinplätzen". Susanne Balthasar (Frankfurter Allgemeinen Rundschau, 14.06.2003 ) empfindet das Handlungsgerüst als eher dünn. Der Autorin mangele es laut Rezensentin an Fantasie und sie empfinde überdies, dass Dückers ihren Figuren das Recherchematerial nahezu unaufbereitet in den Mund gelegt habe.
Hansjörg Schertenleib bezeichnet den Roman in Die Weltwoche hingegen als „ein perfektes Buch“. Seiner Meinung nach ist der Roman um Freia und ihre verwobene Familiengeschichte „intensiver und lebenspraller“ als Tanja Dückers erster Roman Spielzone. Für ihn entfaltet die Autorin mit Himmelskörper einen „farbigen Bilderbogen“, der „dem Text ein poetisches Feuer“ einhaucht, das in der deutschen Gegenwartsliteratur seinesgleichen sucht. Ebenfalls sehr angetan von Tanja Dückers Roman Himmelskörper ist Saskia Heinemann (Deutschlandfunk, 25.06.2003). Die Rezensentin äußert sich wohlwollend darüber, dass Tanja Dückers sich der Aufarbeitung von vergangenen und prägenden Ereignissen gewidmet hat und dabei eine andere Sichtweise einnimmt, als ihr Literaturkollege Günter Grass. Dieser beschäftigt sich zeitgleich wie Tanja Dückers in seinem Roman Im Krebsgang mit der Thematik des Untergangs der Wilhelm Gustloff.
Doch Tanja Dückers macht in einem Spiegel-Interview klar, dass beide Romane nicht miteinander zu vergleichen sind, da beide Autoren mit einer unterschiedlichen Distanz an die Thematik herangehen. So sagt Tanja Dückers im Interview, dass „der Dialog der Großeltern- und der Enkelgeneration aufgrund der historischen und persönlichen Distanz leichter fällt, als zwischen Eltern und Kindern“ und sieht den nüchternen Blick der nicht unmittelbar Betroffenen als eine Chance. Außerdem fügt sie in einem Interview mit der Berliner Zeitung hinzu, dass Günter Grass eine andere Geschichte erzähle als sie. Bei ihm gehe es hauptsächlich um die Geschichte vor dem Untergang des Schiffes. Grass habe sich sehr mit dem Mord an der Person Wilhelm Gustloff, dem obersten Nazi in der Schweiz, befasst. Sie hingegen habe sich mit dem Einfluss der Taten eines verstorbenen Familienmitgliedes zur Zeit des Nazi-Regimes auf die Beziehungen von folgenden Generationen beschäftigt. Als weiteren, wesentlich wichtigeren Unterschied zwischen den beiden Romanen sieht Dückers die Tatsache, dass Grass die Deutschen, die mit der Wilhelm Gustloff untergegangen sind, mehr als Opfer betrachtet, als sie es tut. Sie sehe auch die grausamen Taten der Deutschen im Gesamtbild des Kriegsgeschehens und wisse, dass die Wilhelm Gustloff nicht als Flüchtlingsschiff gekennzeichnet war, sondern wie viele Militärschiffe einen Tarnanstrich besessen habe. Zudem seien an Bord des Schiffes neben Zivilisten auch über 1.000 Marinesoldaten gewesen.
Tobias Haberl (Titelmagazin, 20.02.2004 ) schreibt zusammenfassend, Tanja Dückers habe mit Himmelskörper „einen brisanten Stoff zur richtigen Zeit gewählt und ein äußerst gelungenes Erinnerungsbuch daraus gemacht.“ Haberl äußert sich ebenfalls zu der Tatsache, dass Tanja Dückers sich eines Stoffes angenommen hat, den Günter Grass in seinem Roman Im Krebsgang aufarbeitet. Der Rezensent meint, Tanja Dückers dürfe Günter Grass herausfordern und sie habe das Recht, Selbstbewusstsein zur Schau zu stellen, da sie präzise recherchiert und ihre Erzählperspektive geschickt gewählt habe. Christina Ujma (Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Juni 2007) meint, Tanja Dückers sei zu einer „intellektuellen Ausnahme ihrer Schriftstellerinnen-Generation“ geworden. In ihrem Roman Himmelskörper versuche die Autorin, deutlich zu machen, dass die junge Literatur nicht so „geschichtsvergessen und politikfern“ sei, wie allgemein angenommen.

Forschungsspiegel zu Himmelskörper  [ ↑ ]

Es findet sich eine breite Forschung zu Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper, jedoch nur wenig Literatur zu ihren anderen Büchern.
Jens Stüben analysiert Tanja Dückers’ Roman Himmelkörper im Zusammenhang mit Günter Grass’ Roman Im Krebsgang. Dückers zählt für ihn zu einer der wenigen Autor*innen, die den Fokus der Öffentlichkeit auf das Thema „Flucht, Vertreibung und Heimatverlust“ (Stüben 2006, S. 170) im Zweiten Weltkrieg gelenkt haben. Bemerkenswert sei außerdem, dass Dückers eine andere Sichtweise auf diese Geschehnisse aufgezeigt habe: „Diese dritte Generation hat Distanz genug, um nicht nur die deutsche Täterschaft zu thematisieren, sondern auch Deutsche als Opfer wahrzunehmen; um zur Kenntnis zu nehmen, dass es unter den Deutschen auch schuldlos Leidtragende gab, und anzuerkennen, dass diese Tatsache zur deutschen nationalen Identität gehört“(Stüben 2006, S. 171). Darüber hinaus liest Stüben den Roman zum Teil autobiographisch: „Wie bei wohl allen Romanen zum Thema ‚Flucht und Vertreibung’ gibt es auch hier – in einem weiteren Sinne – autobiographische Bezüge. ‚Tante und Onkel’ von Tanja Dückers verpassten die ‚Gustloff’ und flohen mit dem Minensuchboot“ (Stüben 2006, S. 177). Stüben nennt Himmelskörper ein „fiktionales Erinnerungsbuch“ (Stüben 2006, S. 177) und erkennt als zentralen Gegenstand des Romans „weniger d [n] Inhalt der Erinnerungen als de[n] Vorgang des Sich-Erinnerns im Medium Kommunikation, vor allem die transgenerationale Weitergabe des Erinnerten“(Stüben 2006, S. 178 ). Er stellt heraus, dass der Roman bild- und beispielhaft vorführt, „wie man mit der Bürde der deutschen Geschichte umgehen, das unliebsame Erbe annehmen und weitergeben kann, ohne mit ihm unausgesetzt konfrontiert und von ihm erdrückt zu werden. Das Erinnerungsbuch überliefert das Geschehene; es lässt sich öffnen, zuklappen und wieder öffnen“ (Stüben, S. 180).
Verena Abthoff bezeichnet Tanja Dückers Roman als „literarisch-historische Spurensicherung“ (Abthoff 2007, S. 21), die sich grundlegend von Vorgängergenerationen unterscheidet. Sie hebt hervor, dass es in Himmelskörper vordringlich um die Themen „Ungereimtheiten, Erinnerungslücken und Geheimnisse in Familiengeschichten“ (Abthoff 2007, S. 22) geht. Dazu zitiert Abthoff die Autorin, die über ihre Romanfigur Freia sagt: „Meine Enkelin ist im Vergleich zu seinen [Günter Grass] Figuren nüchterner […] und interessiert sich eher für die Taten oder unterlassenen Taten der Familienmitglieder“ (zit. n. Abthoff 2007, S. 23). Laut Abthoff ist die Kernaussage von Tanja Dückers` Roman, dass Erinnerung ein geeignetes Mittel zur Identitäsfindung ist und zur Bewältigung der Vergangenheit dienen kann. So sei laut Abthoff eine Aufarbeitung der Vergangenheit möglich und der Roman Himmelkörper sei ein Plädoyer „für das Erinnern und gegen die Verdrängung“ (Abthoff 2007, S. 32).
Birte Giesler vergleicht die Geschichte der Ich-Erzählerin in Himmelskörper mit einer Entdeckungsreise in die eigene Familiengeschichte, die verbunden ist mit der Suche nach der eigenen Identität. Sie geht darauf ein, dass der Roman die Spannung zwischen der „ersten und zweiten Generation, die sich in einer Erinnerungskonkurrenz befinden“(Giesler 2007, S. 290) aufgreift. Als zentrales Element für das in Freias Familie tabuisierte Thema des Zweiten Weltkrieges benennt Giesler das fehlende Bein des Großvaters. Auch den Rollenwechsel von Großmutter und Großvater spricht sie an. Giesler thematisiert auch, dass Großmutter Jo versucht, die wahren Begebenheiten zu Zeiten des Krieges zu verschleiern. Als „direkte Anbindung an die polnische Familiengeschichte“ (Giesler 2007, S. 295) tituliert Giesler die Bernsteinkette, die Freia trägt. Sie sieht darüber hinaus das Naturphänomen der Wolkenbildung als „Verhältnis von Natur und Kunst/Kultur. Wolken fungieren als Bild für die den Roman durchziehende Frage nach dem ’real’ Gegebenen.“ (Giesler 2007, S. 296 / 297) Giesler ordnet Himmelskörper dem Genre des Generationenromans zu, der „die Wirkmächtigkeit, die der Zweite Weltkrieg und die NS-Zeit auf die nachgeborenen Generationen haben“ (Giesler 2007, S. 300)darstellt. Dabei legt Tanja Dückers als Autorin das Augenmerk auf die „Medialität der Erinnerung sowie die Perspektivität und Interpretationsabhängigkeit von Geschichte. (Giesler 2007, S. 300)
Elena Stepanova thematisiert, dass eine Diskrepanz zwischen der geschichtlichen Annäherung an den Zweiten Weltkrieg aus der Sicht des Schulunterrichtes und aus der Sicht der Zeitzeugen besteht. Sie geht der Frage nach, wie der Krieg in Freias Familie behandelt wird und ob der Großvater als Opfer oder Täter angesehen werden kann. Stepanova sieht die Problematik, die Dückers aufzeigt darin, dass „die Großeltern stark in den Nationalsozialismus involviert waren, später aber gelernt haben, die politisch unkorrekten Dinge durch Selbstzensur zurückzuhalten“ (Stepanva 2009. S. 150)Für Stepanova ist das Interessante an Himmelskörper, dass verschiedene Perspektiven „auf den Krieg und die Vertreibung unter verschiedenen Generationen existieren“ (Stepanva 2009. S. 151).
Sabine Kallweit geht in ihrem Artikel detailliert auf Freias Mutter Renate ein, die als Vertreterin der ersten Nachkriegsgeneration ein besonderer Erinnerungsträger sei. Sie stellt heraus, dass Renate ebenso wie die Wolke, die Freia versucht, fotografisch festzuhalten, durchlässig und beinahe unsichtbar in ihrem Leben ist; Dückers zeigt diese Verbindung dadurch an, dass sie das Fenster- mit dem Wolkenmotiv verknüpft: „In der ältesten Motivbedeutung der Wolken stehen diese für die ‚Fenster des Himmels‘. Nur konsequent also, wenn die Autorin Fenster- und Wolkenmotiv gerade in Cirrus Perluscidus zusammenführt“ (Kallweit 2005, S. 182). Kallweit versteht Dückers Text als „sinnliche Geschichtsschreibung“ (Kallweit 2005, S. 183), in dem „Wolken als Geschichtsspeicher“ (Kallweit 2005, S. 186) fungieren und so einen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis liefern.
Michael Braun vergleicht die Erinnerungsromane von Günter Grass, Uwe Timm und Tanja Dückers miteinander und geht auf das Problem der Erinnerung primärer Augenzeugen ein. Er ist der Ansicht, dass die Wahrheit einer Erinnerung nicht nur von der Frage ihrer subjektiv-individuellen Authentizität abhängt, „sondern auch von ihrer Autorität im kollektiven Gedächtnis („politisch korrekte“ und „politisch inkorrekte“ Erinnerungen)“ (Braun 2009, S. 111) und weiter zitiert er Aleida Assmann: „Ob Erinnerungen wahr sind […] [hängt auch davon ab], ob sie in einem öffentlichen Kommunikationsraum erzählbar und akzeptabel sind.“ (Braun 2009, S. 110)Er resümiert, dass Tanja Dückers auf „ein neues Verständnis der deutschen Vergangenheit und auf ihre Einordnung in größere historische Kontexte“(Braun 2009, S. 110) abzielt.
Ewelina Kaminska analysiert die „Schicksale und Familienbande“ (Kaminska 2010, S. 153)der Familie Sandmann/ Bonitzky, der Freia angehört und deckt dabei ebenso wie Giesler auf, dass die Machtverhältnisse der Großeltern sich nach dem Zweiten Weltkrieg umgekehrt haben. Sie liest den Roman autobiographisch: „Die Erfahrungen der Erzählerin legen die Hypothese nahe, Tanja Dückers habe sich selbst porträtiert“ (Kaminska 2010, S. 158). Zudem stellt sie die These auf, dass Tanja Dückers „mit der Arbeit am ‚Gustloff‘-Stoff […] darauf aufmerksam machen möchte“, dass „die in der Katastrophe Untergegangenen nicht nur als Opfer anzusehen“ (Kaminska 2010, S. 159) seien. Die Autorin wolle vielmehr ein Bild zeichnen, das alle Seiten miteinbezieht – sowohl die Nazi-Seite, die nach dem Krieg nicht mehr offen ausspricht, was sie denkt, als auch die Enkelgeneration, die selbst recherchieren und Zeitzeugen befragen muss, um sich ein Bild machen zu können. „Himmelskörper ist ein Beweis dafür, dass Erlebtes und Recherchiertes einander nicht ausschließen, sondern ergänzen und parallel existieren können“ (Kaminska 2010, S. 160), resümiert Kaminska. Sie schließt mit den Worten, dass Tanja Dückers mit ihrem Roman nicht provozieren, sondern „neue Ausdrucksformen“ (Kaminska 2010, S. 160) präsentieren möchte.
Miriam Seidler beschäftigt sich in ihrem Artikel mit mehreren Gesichtspunkten. Vor allem geht sie aber auf die Opferdebatte ein, die durch die Romane Im Krebsgang und Himmelskörper angestoßen wurde. Sie selbst sieht „Romane als Experimentierfeld für gesellschaftliche Entwicklungen“ (Seidler 2010, S. 228), weshalb ihr die Form des Familienromans, wie Tanja Dückers sie gewählt hat, „besonders geeignet [scheint], einen Wandel von familienbezogenen Rollenmustern darzustellen“ (Seidler 2010, S. 228). Seidler analysiert die zentralen Problemstellungen des Romans, zu denen zum einen die Bedeutung der Genealogie, die als „Form der Erzählung von der Abstammung bzw. der Abfolge der Generationen in Tanja Dückers’ Roman auf mehrfache Weise thematisiert“ (Seidler 2010, S. 233) wird. Insbesondere stellt sie heraus, dass die Kinder den Krieg in erster Linie als Auslöser für den Alterungsprozess ihrer Großeltern ansehen und dass das fehlende Bein des Großvaters das Versagen der männlichen Kriegsgeneration symbolisiert. Ebenfalls angesprochen wird die Tatsache, dass Freia als erste Frau in der Familie ein uneheliches Kind erwartet und als erste Frau in der Familie eine Hochschule besucht. In Himmelskörper wird laut Seidler so das „Brüchigwerden traditioneller Familienrollen“ (Seidler 2010, S. 237) und die Suche nach einer eigenen Identität angesprochen. Seidler sieht in Freias Stammbaum eine Metapher für die Natürlichkeit der Zusammengehörigkeit der Familie. In der Bernsteinkette, die Freia von ihrer Tante erbt, sieht sie das Symbol für die Verbindung der Familienmitglieder auf zweifache Weise: 1. als Form des Zusammenhalts, 2. als Zwang zur Zugehörigkeit. Des Weiteren nennt sie als zentrales Merkmal eines Generationenromans die Ambivalenz des Umschlagens von Liebe in Hass. Seidler vergleicht Tanja Dückers’ Roman mit anderer Generationenliteratur und kommt zu dem Schluss, dass Dückers Chancen vergibt (vgl. Seidler 2010, S. 241), da sie sich mehr auf die „weniger ergiebige Pflege des Traumas“ (Seidler 2010, S. 241) der Kriegsgeneration konzentriert, als auf die Deutung der geschlechtlichen Verwirrung für die Gegenwart einzugehen.
Julia Freytag analysiert in ihrem Aufsatz den Generationenroman. Sie zieht dazu drei Autoren der 68er Generation, mit ihren jeweils zugehörigen Werken, heran: Dimitrè Dinev, Arno Geiger und Tanja Dückers. Freytag geht in ihrer Analyse des Generationenromans Himmelskörper vor allem auf den Aspekt der mündlichen Kommunikation ein. Sowohl Erzähltes als auch bewusst Nicht-Erzähltes lenken die Sichtweise der Enkel. Freias Großmutter habe die Geschichte der Flucht stets aus der Opferperspektive geschildert und durch das Auslassen bestimmter Inhalte das Familiengeheimnis bewusst verdeckt. Freytag hebt hervor, dass Freia sowohl ihren Großeltern als auch ihrer Mutter zugeneigt bleibt, nachdem sie deren Geheimnisse gelüftet hat. Die „literarische Inszenierung von Geschichtsrekonstruktion und Familiengeschichte [sei] selbstreferentiell […] und die toten Familienmitglieder [würden] schließlich zu fernen Himmelskörpern, von denen sich die Kinder distanzieren“ (Freytag 2010, S. 222), indem Freia und ihr Bruder ein Buch mit dem Namen Himmelskörper schreiben wollen. Abschließend hält Freytag fest: „Dückers Roman beschreibt, wie das familiale und kulturelle Erbe, die Weitergabe von familiärer und kollektiver Geschichte in der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte angenommen werden kann, ohne – zumindest für die dritte Generation – zu einer Erdrückung und Schuldverstrickung zu führen.“ (Freytag 2010, S. 222).

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Der längste Tag des Jahres

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Inhaltsangabe und Interpretationsansätze [ ↑ ]

In dem Roman Der längste Tag des Jahres von Tanja Dückers geht es um fünf erwachsene Geschwister, die getrennt voneinander und auf unterschiedlichen Wegen vom Tod ihres Vaters Paul Kadereit erfahren. Tanja Dückers widmet jedem der hinterbliebenen Kinder ein Kapitel in ihrem Buch und beschreibt, wie die Geschwister beim Erhalt der Todesnachricht auf diese reagieren. Mit jedem Kapitel erfährt der Leser mehr vom verstorbenen Vater und der vielschichtigen Familiengeschichte der Kadereits.
Das erste Kapitel des Buches heißt Der Schrank. Es ist Bennie, dem zweitjüngsten Sohn des verstorbenen Vaters, gewidmet. Er ist gerade mit seiner langjährigen Freundin Nana, die noch an ihrer Doktorarbeit sitzt, in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Bennie selbst ist seit seiner Kündigung nicht mehr als Journalist tätig, sondern betreibt mit einem Freund ein Atelier namens „Bennie und Clyde“ (Der längste Tag des Jahres, S. 12). Ein intern fokalisierter, extradiegetischer Erzähler schildert das Geschehen in diesem Kapitel aus der Sicht von Bennies Freundin Nana. Man erfährt vor allem etwas über Nanas Gefühle und Gedanken beim Erhalt der Todesnachricht. Bennies Gedanken werden hingegen nicht offen dargelegt. Stattdessen nimmt der Texte eine Beobachterposition ein, wenn beschrieben wird, wie Nana ihren Partner beim Erhalt der Todesnachricht wahrnimmt und wie er sich im Angesicht der Ereignisse verhält.
Die Todesnachricht erreicht Bennies Freundin als erste. Sie nimmt den Anruf von Bennies Schwester Sylvia entgegen und unterbricht dafür das gemeinsame Streichen eines Schrankes, den Bennies Eltern von ihrem Dachboden geholt und beiden geschenkt haben. Die Tatsache, dass der Schrank vom Dachboden der Kadereits kommt und nun in der Küche steht, die in helles Licht getaucht ist, ist symbolisch dafür, dass Geheimnisse der Familie, die im Dunkeln vergraben waren, durch das Ereignis des Todes nun an das Licht der Öffentlichkeit gelangen und sie schutzlos von allen betrachtet werden können. Dies lässt sich darin begründen, dass Bennie die Schranktür öffnet und den Geruch, der diesem entströmt, als den von „staubigem Holz, von Dachböden und Geheimnissen, von für immer Vergessenem und vergangenen Lebensabschnitten“(Der längste Tag des Jahres, S. 14) wahrnimmt. Der Erzähler nimmt dazu die Lichtverhältnissein den Blickt: „Die Sonne fiel direkter und greller als in ihrer alten Wohnung in die Küche, und Nana fühlte sich nicht wie bei ihrer ersten Wohnungsbesichtigung wohlig durchwärmt, sondern unangenehm bloßgestellt.“ (Der längste Tag des Jahres, S. 16).
Das Zusammenziehen von Bennie und Nana hat in erster Linie pragmatische Gründe: Sie wollen Geld sparen, da sie in Berlin „von der Hand in den Mund“ (Der längste Tag des Jahres, S. 27) leben. Dies lässt darauf schließen, dass beide tendenziell pragmatische Menschen sind, die ihre Handlungen nicht von Gefühlen beeinflussen lassen. Doch der Tod, den Nana mit folgenden Worten personifiziert: „Bennie sollte den Tod seines Vaters erst einmal ‚für sich allein haben’, ihm wenigstens einmal ganz kurz allein gegenüberstehen, diesem Tod seines Vaters, bevor sie ihn die restlichen Jahrzehnte ihrer Beziehung teilen, aufteilen und zerreden würden“ (Der längste Tag des Jahres, S. 16), löst in beiden diverse unkontrollierbare Gefühle aus. Nana wird unsicher und weiß nicht, wie sie reagieren soll. Sie, die „gern über einen ‚vollen Terminkalender‘“ (Der längste Tag des Jahres, S. 17) klagt und farbenfrohe Bilder malt, welche „ein geordnetes, diszipliniertes Chaos darstellen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 19), kann nun „nichts anderes tun, als zu warten und zu schwitzen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 17). Sie denkt an ihr verstorbenes Meerschweinchen Fridolin und ihren ersten festen Freund Jacques, der sie verlassen hat. Sie erinnert sich auch an den Beginn ihres Hyperventilierens, das sie als „Atmen gegen die Stille“ (Der längste Tag des Jahres, S. 18) tituliert. In Wahrheit ist es die Angst vor dem Kontrollverlust und die Angst vor dem Alleinsein, die sich bei ihrer Hyperventilation Bahn brechen. Doch Nana weint auch im Angesicht dieser unkontrollierbaren und endgültigen Situation des Todes nicht, da sie Weinen als Kapitulation und Kontrollverlust empfindet. Erst als auch Bennie telefonisch von seiner Schwester vom Tod des Vaters erfahren hat und er sie in den Arm nimmt, weint sie – und dies, obwohl sie der Ansicht ist, dass Bennie nun „eine zuversichtliche ‚starke‘ Frau an seiner Seite […] haben [müsste], die warmherzige Souveränität“(Der längste Tag des Jahres, S. 28) ausstrahlt. Als Bennie sich im Folgenden eine Zigarette anzündet und eingehüllt in Rauch auf dem gemeinsamen Bett sitzt, empfindet Nana ihn als begehrenswert, nicht als beschützens- oder bedauernswert. Dies zeigt, dass beide im Angesicht der Todesnachricht von ihren bisherigen Rollen abgewichen sind. Hat Nana Bennie zuvor so dargestellt, dass er eine „spielerische und phantasievolle Art“ (Der längste Tag des Jahres, S. 24) hat, so besticht er nun mit kühler emotionaler Distanz: Er weint nicht. Sie hingegen scheint seine nach außen hin fehlende emotionale Beteiligung aufzufangen und weint an seiner Stelle um den verlorenen Vater. Bennie hingegen will nicht mit seinen Gefühlen in Kontakt treten, denn als Nana mit ihm über seinen Vater sprechen möchte, legt er sich neben sie, um sie zu verführen. Nur über sexuellen Kontakt ist Bennie fähig, seinen Wunsch nach emotionaler und körperlicher Nähe auszudrücken. Er schläft nach dem Geschlechtsakt zum ersten Mal ein, ohne sich zuvor etwas anzuziehen, wie Nana überrascht feststellt. Seine Nacktheit steht symbolisch dafür, dass er der gesamten Situation schutzlos ausgeliefert ist und sich nicht mehr hinter seiner äußeren, spielerischen und phantasievollen Fassade verstecken kann.
Im Zuge von Nanas dahinfließenden Gedanken erfährt man, dass Bennie sich in seinem Heimatdorf in Fürstenfeldbruck, wo sein Elternhaus steht, anders verhält, als in seiner neuen Heimat Berlin. Nanas Gedanken streifen zudem die Tatsache, dass Bennies Elternhaus sehr dunkel ist, voller schwerer Möbel steht und insgesamt einen „höhlenartigen Eindruck“(Der längste Tag des Jahres, S. 21) vermittelt. Das hellste Licht kommt, laut Nana, von den unzähligen Terrarien, die Bennies Vater Paul im Wohnzimmer aufgebaut hat. Darin leben Reptilien unterschiedlicher Arten. Der Wüstenwaran Overlord ist eines dieser Tiere. Er hat Nana besonders beeindruckt. Pauls Vater, den Nana als „nicht unbedingt humorvoll“ (Der längste Tag des Jahres, S. 22) beschreibt und von dem sie angibt, dass „etwas durchaus Bezwingendes“ (Der längste Tag des Jahres, S. 24) von ihm ausgeht, erklärt ihr, dass Warane wechselwarme Lebewesen seien, die ständig die Kontrolle über ihre Körpertemperatur haben müssten, um in der Wüste überleben zu können. Paul sagt über den Wüstenwaran: „Er tritt nur dann aus seinem Versteck hervor, wenn eine bestimmte, für ihn noch ungefährliche Temperaturhöhe nicht überschritten wird“ (Der längste Tag des Jahres, S. 22). Nana denkt daraufhin, dass auch sie gerne ihre Umgebungstemperatur messen können würde. Dies ist metaphorisch dafür zu sehen, dass sich Nana wünscht, sie könne die Gefühle anderer Menschen messen und sich den Menschen erst öffnen, wenn sie sicher sein kann, dass sie sich nicht die Finger verbrennt, also nicht verletzt wird. Auch in diesem Kontext spielt das Thema der Kontrolle eine sehr zentrale Rolle.
Im Gegensatz zu dem Reich von Bennies Vater ist die Küche, in der Bennies Mutter enorm viel Zeit beim Kochen verbringt, heller und freundlicher. Nana erinnert sich jedoch, dass Bennies Mutter, außer in ihrer Küche, „sonst nicht viel Mitspracherecht hatte, was das Haus und seine Einrichtung“(Der längste Tag des Jahres, S. 22) betrifft. Nana erinnert sich außerdem, dass in Pauls Büro, das durch seine Chromregale und dunklen Aktenordner sehr maskulin wirkt, ein Bild von Bennies Großvater Gustav Kadereit hängt. Sie findet, dass „sein Blick […] den ganzen Raum“(Der längste Tag des Jahres, S. 23) beherrscht. Auch diese Tatsache ist symbolisch zu betrachten, denn der Tod des Großvaters im Krieg in Nordafrika scheint alle Familienbeziehungen zu überschatten und ihre Handlungen zu beeinflussen – besonders die Handlungen seines Sohnes Paul.
Nana merkt jedoch auch an, dass Paul und Bennie „eigentümlich) distanziert“ (Der längste Tag des Jahres, S. 24) miteinander umgegangen seien, obwohl beide beruflich gesehen eine ähnliche Erfahrung machen mussten. So wurde Bennie seine Stelle als Journalist gekündigt und Paul musste seine Tierhandlung aufgeben. Alles, was Paul in seinem erzwungenen Ruhestand bleibt, sind die Bienen, die er im Garten züchtet und die Reptilien, die er im Haus versorgen muss. Paul habe immerzu kritisiert, dass Bennie mehreren beruflichen Tätigkeiten gleichzeitig nachging und ihm „der Rahmen, das große Ganze“ (Der längste Tag des Jahres, S. 25) fehle. Sinnbildlich dafür steht die Tatsache, dass Paul von Chamäleons angetan ist, da Chamäleons ihre äußere Gestalt stets an ihre Umwelt anpassen können und somit ebenfalls keinen festen Rahmen besitzen. Nana bejaht Pauls Frage danach, ob sie Chamäleons mag. Dass Paul jedoch von den Wüstentieren angetan ist, überrascht im ersten Moment, denn ebenso wie ein Chamäleon seine Farbe der Umgebung anpassen kann, passt sich auch Bennie mit der Ausübung verschiedener Berufe, den Anforderungen des Lebens an. Doch Paul fokussiert sich nicht auf die Fähigkeit der Chamäleons, die Farbe wechseln zu können, sondern darauf, dass sie ihr sehr kleines Jagdrevier ein Leben lang nicht verlassen und „statt Kraft zu vergeuden und hier und da herumzuspringen […] auf ein ‚Talent‘ gesetzt“ (Der längste Tag des Jahres, S. 26) und auf diese Weise eine optimale Überlebensstrategie gefunden hätten. Dies macht deutlich, dass Paul seinen Sohn verkennt, da Bennie genau das lebt, was Paul bewundert. Doch Paul kann dies bei seinem Sohn nicht anerkennen. Nana rekapituliert, dass Bennie „gegenüber seinem eigenbrötlerischen, aber auch energisch wirkenden Vater […] nicht recht zur Geltung“ (Der längste Tag des Jahres, S. 27) kommt. Nanas Gedanken wandern auch zu David, Bennies älterem Bruder. Er ist der einzige, der noch Kontakt zu Thomas, dem jüngsten Sohn von Paul Kadereit, hat. Bennie hat zwei ältere Schwestern: Johanna, die Anna genannt wird, und Sylvia. Aus Nanas Perspektive wird das Geschwisterverhältnis aufgefächert: Sylvia und David kommen nicht miteinander aus und auch Anna hat Probleme mit Sylvia. Bennie, so meint Nana, verstehe sich mit beiden Schwestern gut. In Nanas Gedankengängen werden die ersten Beziehungsprobleme der Familie angesprochen, jedoch vorerst nicht vertieft. Nana widmet sich, als Bennie schläft, dem Aufräumen der neuen Wohnung. Ordnung in einer chaotischen Umgebung zu schaffen, bedeutet, wieder die Kontrolle über eine Situation zu erlangen. Nun wechselt die Erzählerperspektive kurz, es scheint, als beobachte Nana sich und ihre Handlungen selbst, denn es heißt: „Das einzige, was ihr jetzt half, war, Ordnung zu schaffen. Auspacken, einräumen, auspacken und einräumen. Ein und aus, ein und aus, und nur nicht zu viel auf einmal.“ (Der längste Tag des Jahres, S. 34). Das wiederholte Nennen von „ein und aus“ erinnert an die Situation, als sie nach dem erotischen Erlebnis mit Bennie, der nun schläft, im Bett liegt und wieder beginnt zu hyperventilieren. Auch in dieser Situation hilft es ihr, langsam ein und aus zu atmen, um die Kontrolle über ihre Gefühle zurück zu erlangen.
Das zweite Kapitel des Buches ist Bennies Schwester Sylvia gewidmet. Es heißt Die Fahrstunde. In diesem Kapitel begleitet der Leser Sylvia und ihre Tochter Miriam. Sylvia bezeichnet ihre eigne Tochter gedanklich als „fett“ (Der längste Tag des Jahres, S. 45). Beide sitzen bei einer unerlaubten Probefahrt in Sylvias Auto. Da Miriam erst 17 Jahre alt ist und noch keinen Führerschein besitzt, kann es für Sylvia und ihre Tochter gleichermaßen negative Konsequenzen haben, wenn sie in eine Polizeikontrolle geraten, da das Fahren ohne Führerschein für 17-Jährige zu der Zeit, als Tanja Dückers den Roman verfasste, noch nicht erlaubt war. Sylvia denkt darüber nach, dass Miriam nach Osteuropa, in die postkommunistischen Länder, reisen möchte, sobald sie ihren Führerschein hat. Dies steht jedoch im Gegensatz zu Sylvias vom Vater inspirierten Traum, nach Amerika zu reisen. Doch Miriam wendet sich von dieser Idee, die einst ihre eigene Mutter hatte, ab und scheint gegen sie und deren, vom Vater inspirierten, Träume zu revoltieren. Sylvia erfährt ebenso wie Bennie auf telefonischem Wege vom Tod ihres Vaters. Sylvia sitzt im Auto, als ihre Mutter Eva sie in Kenntnis über die Geschehnisse setzt, die zum Tod des Vaters geführt haben. Währenddessen versucht Miriam, einzuparken. Sylvias Sorge gilt nach Erhalt der Nachricht der Tatsache, dass sie die Nachricht ihrer Tochter beibringen muss – nicht jedoch, weil sie meint, dass ihre Tochter traurig über den Verlust des Großvaters wäre, sondern, weil sie „Angst vor Miriams mangelnder emotionaler Anteilnahme“ (Der längste Tag des Jahres, S. 40) hat. Sylvia unterdrückt ihre Tränen und denkt daran, dass sie Bennie als einzigen ihrer Geschwister wirklich gerne mag. Schließlich ist Miriam wieder auf einer Landstraße unterwegs und Sylvia lässt ihre Gedanken schweifen. Sie denkt an ihre Kindheit und daran, als sie an Pfeifferschem Drüsenfieber erkrankte. Sie erinnert sich, wie Paul sich damals sehr rührend um sie gekümmert hat. Da sie während dieser Krankheitsphase heftiges Fieber hatte und teilweise kaum bei Bewusstsein war, hatte sie sich schon damals mit dem Tod auseinandergesetzt. Für sie sei der Tod hell und heiß, wegen des hohen Fiebers, und „die Pforte zum Tod sei nicht wie in einem Verließ grau, sondern wild und bunt, voller Gesichter und Gespräche“ (Der längste Tag des Jahres, S. 43). Während Sylvia als Kind krank im Bett liegt, erzählt ihr Vater ihr ausführlich von der Wüste und den Lebewesen, die in ihr wohnen. Sylvia erinnert sich, dass sie nur trank, wenn ihr Vater anwesend war und dass ihr Körper zwar gesundwerden wollte, aber auch etwas Anderes in ihr anwesend war, „das nicht zurück zur Schule, zu den anderen Kindern, weg von ihrem Vater, fort von diesen geheimnisvollen Zwiegesprächen, nicht erwachsen werden wollte“ (Der längste Tag des Jahres, S. 44). Es liegt die Schussfolgerung nahe, dass Sylvia in dieser Zeit die Liebe ihres Vaters damit verknüpfte, dass sie Zuneigung und Aufmerksamkeit nur dann erlangt, wenn sie krank ist. Sie schlussfolgert also, dass jemand, der krank ist, ersehnte Aufmerksamkeit bekommt. In Folge des Drüsenfiebers entwickelt Sylvia eine Art Asthma. Diese dauerhafte Krankheit ermöglicht es ihr, nicht am Sport- und Schwimmunterricht teilnehmen zu müssen. Letzteres bringt sie überdies Paul noch näher, da er „Feuchtigkeit aller Art“ (Der längste Tag des Jahres, S. 44) hasst.
Im späteren Verlauf wird dieser Aspekt erneut von Sylvia aufgegriffen, denn als sie nach der Todesnachricht erste Tränen auf ihrer Wange spürt, gibt sie an, dass sie immer „eine leichte Abneigung gegen diese feuchte Berührung“ (Der längste Tag des Jahres, S. 45) verspürt habe. Tränen als ‚feuchte Berührung‘ zu bezeichnen, zeigt deutlich Sylvias Distanz zu ihren Emotionen. Ähnlich wie Bennie versucht sie, ihre Emotionen auf andere Weise zu kanalisieren. So wird sie beispielsweise ärgerlich auf ihre Tochter, die eine Vollbremsung machen muss, um einen Auffahrunfall zu vermeiden. Die Gedankenrede gibt unmittelbar Einblick in Sylvias Innenwelt: „Was bildete sich Miriam eigentlich ein? Brauchte sie auf niemanden Rücksicht zu nehmen? Sylvia fixierte ihre Tochter und dachte: So fett wie du war ich nicht mal im neunten Monat. Michael Moore könnte dein großer Bruder sein. So dummen Käse wie du erzählt niemand nach der Tagesschau. Du kannst ja nicht mal den Namen Heidemarie Wieczorek-Zeul richtig aussprechen. Und überhaupt: Weißt du überhaupt, was Faschos sind? Lern du erst mal vernünftig einzuparken, bevor du vom ‚Fascho-Staat‘ quatschst“ (Der längste Tag des Jahres, S. 45). Dies zeigt deutlich, dass Sylvia innerlich äußerst emotional beteiligt ist. Emotionen sind häufig in der Kindheit erlernt und verfestigt worden, weshalb viele Menschen, die als Erwachsene emotional werden, so reagieren, wie sie als Kinder reagiert hätten. Sylvia scheint hier wieder in ihr kindliches Schema zu verfallen. Sie betrachtet ihre Tochter mit Unverständnis, ohne besonderes Einfühlungsvermögen und beschimpft sie rücksichtslos – wenn auch nur in Gedanken. Ihre Reaktion ist ein Ausdruck tiefer Hilflosigkeit. Schließlich überwindet sie ihre aufsteigende Wut, unterdrückt diese und nimmt sich vor, ihrer Tochter von Pauls Tod zu berichten. Doch als Miriam nicht auf Sylvias einführende Worte reagiert, bricht sie ihren Versuch ab. Endlich zu Hause angekommen trifft Sylvia auf ihren Ehemann Jan. Sie entschuldigt sich bei ihm, da sie ihre Mutter anrufen möchte, erzählt ihm jedoch nicht, wieso, da sie ihm nicht den wohlverdienten freien Tag verderben möchte. Bevor sie zum Hörer greift, gibt sie an, dass sie sich vor niemandem so gehen lassen kann wie vor ihrer Mutter und dass sie ihre Eltern mit Geborgenheit in Verbindung bringt. In einem ruhigen Moment gibt sich Sylvia ihren Tränen hin, doch als sie Jan im Türrahmen wähnt, wischt sie sich ihre Tränen hastig weg. Des Weiteren gesteht sie, dass ihr stille, melancholische Momente Angst machen und dass sie beschützt werden möchte. Dieser Wunsch geht vermutlich auf ihre in der Krankheit erfahrene Zuneigung vom Vater zurück, da sie damals hilflos war und ihr Vater sich um sie gekümmert hat. Der Tod des Vaters hat sie erneut in eine hilflose Position gebracht. Doch diesmal muss sie sich selbst helfen. Ihre Selbsthilfe gleicht der Bennies, denn sie besteht vorerst darin, mit ihrem Ehemann zu schlafen, statt ihm zu sagen, was sie bedrückt. Sie vermeidet die unangenehme Situation, die das Übermitteln einer Todesnachricht mit sich bringt und zögert das Aussprechen einer unangenehmen Tatsache, die sie bedrückt, so lange heraus, wie es ihr möglich ist. Sie gesteht sich diese Vermeidungsstrategie auch selbst ein und meint, „dass sie [sich] schon seit jeher so verhalten […] [habe], als kleines Kind und auch mit achtzehn, als sie schwanger wurde: niemandem etwas davon erzählen, niemanden einweihen, damit es ‚nicht wirklich wahr ist‘“ (Der längste Tag des Jahres, S. 61). Mitten im Akt kommt ihr zwar der, wie sie selbst sagt „vergnüglich boshafte Gedanke“ (Der längste Tag des Jahres, S. 51), ihren Ehemann an der Schulter zu rütteln und ihm zu sagen, dass ihr Vater verstorben sei und sie jetzt nicht mit ihm schlafen könne. Letzten Endes tut sie jedoch nichts dergleichen, sondern lacht über ihre eigenen Gedanken, die sie jetzt als skurril und böse abtut. Im Anschluss an den Geschlechtsakt fühlt sich Sylvia Jan auf eine gewisse Weise überlegen, „als hätte sie den Schlüssel zu einem Geheimwissen, als wäre sie eine Eingeweihte und Jan nur ein gewöhnlicher, dem Schicksal ausgelieferter, ahnungsloser Mensch“ (Der längste Tag des Jahres, S. 49). Wieder tritt die Thematik des Geheimnisses in das Leben eines Kindes des verstorbenen Paul Kadereit. Seine Kinder sind umgeben von einem Geheimnis, das sie nicht ergründen oder zu fassen vermögen, erfreuen sich aber gleichzeitig an geheimem Wissen, das sie anderen voraushaben. Pauls Kinder verknüpfen demnach das Hüten von Geheimnissen mit Überlegenheit.
Im weiteren Verlauf der Geschichte möchte Sylvia beweisen, dass sie keine Unterstützung von anderen benötigt, um sich stärker zu fühlen. Diese Einstellung zeugt nicht von Selbstaufopferung, sondern von Selbstzerstörung. Erst durch den Schmerz und das geheime Wissen, das sie ihrem Mann voraushat, ist es Sylvia möglich, sich selbst vor allzu tiefen Emotionen zu bewahren. Durch Sylvias Gedanken erfährt der Leser nun auch, dass Paul die Bienenstöcke und die Wüstenechsensammlung eines Nachbarn übernommen hat und damit der Grundstein der Zootierhandlung des Vaters gelegt worden ist. Darüber hinaus führt Sylvia an, dass ihr Vater nicht wisse, dass sein Sohn Thomas bereits ein Kind habe oder wo dieser sich genau aufhalte. Sylvia ist bestrebt, alles Schlechte von ihren Eltern fern zu halten. Sylvias Schwester Anna hingegen ist Psychologin und möchte Dinge gern offen darlegen und besprechen. Laut Sylvia ist sie bestrebt „zwischen allen zu vermitteln und überall Konflikte zu lösen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 53). Doch die Konflikte in der Familie gehen dem Vater, laut Sylvia, lange nicht so nahe wie die zwangsweise Schließung seiner Tierhandlung. Für ihn sei die Insolvenz „in erster Linie […] persönliches Versagen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 56) gewesen. Sylvia stellt missbilligend heraus, dass Bennie, im Gegensatz zu seinem Vater, den Erfolg oder Misserfolg einer Geschäftsidee nie in seinem eigenen Verantwortungsbereich sieht. Ebenso wie Anna hat auch Sylvia zwei Kinder. Annas Kinder heißen Jonas und Janina. Sylvias Kinder heißen Miriam und Melanie. Beide Schwestern haben für ihre Kinder die gleichen Anfangsbuchstaben im Vornamen gewählt – wohlmöglich, um den Kindern das Gefühl von Zusammengehörigkeit zu vermitteln. Ein Gefühl, das Sylvia und Anna nicht mit ihren Geschwistern verbindet, da unter ihnen eine unterschwellige Rivalität um die Aufmerksamkeit des Vaters geherrscht hat.
Sylvia ist Fremdsprachensekretärin von Beruf. Obwohl sie aufgrund ihres Drüsenfiebers nicht nach Amerika reisen konnte, hat sie einen Beruf gewählt, in dem sie sich mit dem Reisen auseinandersetzen muss. Auf diese Weise hat sie einen Beruf gewählt, der sie immer an die Amerikasehnsucht des Vaters erinnert. Auf diese Weise versucht sie, die Zuneigung ihres Vaters zu gewinnen. Ihren Ehemann hat sich Sylvia unter anderem ausgesucht, da er „hinreißend erzählen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 58) kann, ebenso wie ihr Vater. Sylvia beschreibt Bennies Freundin Nana in einem kurzen Gedankengang „mit dicken Straß-Ketten [sic!] um den Hals, Klunkerringen an den Fingern und pechschwarz gefärbtem Bubikopf“ (Der längste Tag des Jahres, S. 59) und meint, dass Nana ihr nach anfänglichen Bedenken sehr sympathisch wurde, da diese sie auf einer Geburtstagsfeier bei einem Asthma-Anfall in den Garten begleitet und abgelenkt hatte. Mit diesen Erinnerungen sind auch Aspekte verbunden, die die politische Haltung des Vaters beleuchten. So erinnert sich Sylvia, dass ihr Vater Adolf Hitler immer nur „Herr Schicklgruber“(Der längste Tag des Jahres, S. 61) genannt habe. Für ihren Bruder David stellt dies die „zwanghafte Distanznahme“ (Der längste Tag des Jahres, S. 61) des Vaters dar.
Das dritte Kapitel in Tanja Dückers’ Roman heißt Im Garten und geht auf die Gedankengänge und Handlungen von Anna, der zweiten Tochter von Paul Kadereit, ein. Anna, die eigentlich Johanna heißt, ist mit Michael verheiratet und hat mit ihm zwei Kinder, Jonas und Janina sowie einen Hund namens Carlos. Im dritten Kapitel des Romans möchte Anna ihren Vater besuchen und ihm nachträglich zum Geburtstag, der am 6. Juni des Jahres stattfand, ein Paar neue Bergstiefel schenken. Der Leser erfährt, dass Anna, als sie ein Kind war, den Geburtstag des Vaters immer als „D-Day“ – wobei das „D“ für Daddy steht – bezeichnet. Nach ihrem Amerika-Aufenthalt, den sie an Stelle ihrer stets kranken Schwester antritt, erfährt sie, dass „D-Day“ ein militärischer Ausdruck ist, den das Militär benutzt, wenn für eine Operation noch kein genauer Tag feststeht. Dies steht symbolisch dafür, dass ebenso, wie der Vater für Sylvia auf der Gefühlsebene nicht greifbar ist, es auch sein Geburtstag und die damit eigentlich verbundenen Freuden nicht sind. Außerdem gilt der „D-Day“ im allgemeinen Volksmund als der Tag, an dem die Alliierten 1944 in der Normandie gelandet sind und sich der Krieg zu Gunsten der Amerikaner entwickelte. Dass Paul Kadereit, der sehr für die Amerikaner und Nordamerika schwärmt, genau an einem 6. Juni geboren wurde, scheint also beinahe eine schicksalhafte Fügung. Anna hebt in ihren Gedankengängen hervor, dass es der Traum ihres Vaters war, nach Amerika zu gehen und dass er von den Vereinigten Staaten nur positiv spricht. Bevor Anna vom Tod ihres Vaters erfährt, gerät sie mit ihrem Ehemann Michael in eine Diskussion darüber, ob und wie oft ihre Kinder in die Kirche gehen sollen. Anna ist dafür, dass ihre Kinder mit dem christlichen Glauben aufwachsen. Sie sagt: „Sie sollten doch wenigstens eine ungefähre Vorstellung vom Christentum haben, von den Wurzeln unserer Kultur.“ (Der längste Tag des Jahres, S. 71). Michael meint, dass sie mit den Kindern, um den kulturellen Hintergrund der Familie zu verstehen, auch „nach Auschwitz oder Weimar fahren“(Der längste Tag des Jahres, S. 71) können. Anna erwidert daraufhin nichts. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sowohl die Familiengeschichte der Kadereits als auch die gesamte deutsche Geschichte mit der Zeit, in der in Auschwitz Juden ermordet wurden, verbunden ist. Auch im späteren Verlauf, als Anna bereits vom Tod ihres Vaters erfahren hat und sich mit Michael darüber unterhält, ob die Kinder mit zur Beerdigung gehen sollten, sind beide Elternteile unterschiedlicher Ansicht. Anna möchte, dass ihre Kinder bei der Beerdigung dabei sind, Michael ist dagegen. Im Gegensatz zu ihr ist er der Kirche gegenüber sehr negativ eingestellt. Insgesamt denkt er, dass ihre Kinder zu sehr eingespannt sind und ihnen Termine aufgezwungen werden. Anna kontert, dass man Kindern etwas vorgeben muss, damit sie etwas lernen. Sie sagt auch, dass ihre Kinder nicht an Gott glauben müssen, aber etwas über das Christentum erfahren und einen Sinn in „gewissen Regeln und Ritualen erkennen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 72) sollen. Als das Gespräch auf das Thema der Taufe eines kleinen Mädchens geht, gesteht sie Michael, dass sie besondere Ereignisse gern offiziell und rituell feiert, weil es sonst „keinen Tag, keinen besonderen Ort, an dem sich alle versammeln, um diese Ankunft […] richtig zu feiern“(Der längste Tag des Jahres, S. 72) gibt. Hier zeigt sich, dass Anna Rituale und Regeln, die sie aus ihrer Kindheit gelernt hat, einfach übernommen hat, ohne diese zu hinterfragen. Sie ist nicht sehr gläubig, doch erwartet sie von ihren Kindern, dass diese sich mit dem Glauben, die ihre Eltern für die Kinder gewählt haben, auseinandersetzen. Sie revoltiert auch nicht gegen die ihr überlieferten Rituale, um zu zeigen, dass sie sich von ihren Eltern abgrenzen will, so wie es Miriam bei ihrer Mutter Sylvia tut, sondern möchte ihren Eltern gefallen. Dies tut sie, indem sie sich anpasst und nicht auffällt. Sie ist ein Musterbeispiel eines erwachsenen Kindes, da sie als Psychologin einen sehr angesehenen Beruf hat, eine Familie mit zwei Kindern und einen aus Spanien geretteten Hund besitzt. Sogar bei der Wahl ihres Nachnamens zeigt sie, dass sie eher zu ihrer eigenen Familie steht, als zu ihrem Mann und dessen Art, Dinge anzugehen, denn sie hat ihren Nachnamen behalten und nicht den Nachnamen ihres Mannes Michael Riese, der ebenfalls Psychologe ist, angenommen.
Anna ist schon auf dem Weg zu ihren Eltern, als ihr auffällt, dass sie die Bergstiefel, die sie ihrem Vater schenken möchte, gar nicht bei sich hat. Also fährt sie mit samt Kindern und Mann zurück zu ihrem Haus. Dort erfährt sie telefonisch vom Tod ihres Vaters. Ihre Mutter berichtet ihr, was geschehen ist. Daraufhin erzählt Anna, anders als Sylvia, sogleich ihrem Mann, was geschehen ist. Sie sinkt sie in Michaels Arme und beide landen schließlich mit den Kindern auf der Couch im Wohnzimmer, wo sich alle umarmen und gemeinsam weinen. Im Unterschied zu Sylvia ist Anna bereit, ihre Emotionen zu teilen und zu offenbaren. Da sie von ihrer Familie in dieser Situation aufgefangen wird, gewinnt sie der Situation dennoch etwas Positives ab: „So traurig und so schrecklich alles war: Anna würde nie vergessen, wie sie sich alle vier umarmt hielten“ (Der längste Tag des Jahres, S. 76)Bei diesem Gedanken geht Anna mit schlechtem Gewissen ihr Bruder Bennie durch den Kopf, den sie sehr lange nicht gesehen hat. Auch gibt sie an, dass sie nicht mehr genau wisse, „welche berufliche Misere ihren Bruder damals gerade eingeholt hatte“ (Der längste Tag des Jahres, S. 76f.), als sie ihn an Sylvias 40. Geburtstag zuletzt sah. Dies zeigt, dass Anna zwar vordergründig an ihrer Familie interessiert ist, aber keine wirklich tiefe Bindung zu ihren Geschwistern hat – ob sie ihnen positiv oder negativ gegenübersteht spielt dabei keine Rolle für sie. Als Anna und ihr Ehemann mit den Kindern zu Großmutter Eva fahren, meint Anna, dass Janina und Jonas ihren Großvater sehr bewundert hätten: „Auf unkomplizierte Weise [hätten sie] ein gutes Verhältnis zu ihm entwickelt, um das Anna manchmal ihre Kinder ein wenig beneidete“ (Der längste Tag des Jahres, S. 77). In ihrer Aussage offenbart sich, dass sie trotz ihres angepassten Lebensstils nie die Verbindung zu ihrem Vater hat aufbauen können, die sie sich wünschte. In einem Moment, in dem sie später allein in der Küche der Mutter steht, fühlt sie sich vom Sonnenlicht, das dort einfällt, „durchleuchtet und einer erst langsam zu ihr durchdringenden Wahrheit ausgesetzt“ (Der längste Tag des Jahres, S. 78). Die Furcht vor dem Alleinsein dringt in diesem Moment vollends in ihr Bewusstsein. Daraufhin greift sie zum Telefon und informiert ihren Bruder David vom Tod des Vaters. Der Leser erfährt jedoch nicht sofort, was Anna mit David bespricht. Dies wird erst im folgenden Kapitel, welches sich um David dreht, aufgeklärt. Dort erfährt man, dass Anna lediglich eine Nachricht auf Davids Anrufbeantworter hinterlassen konnte, in der sie ihn bittet, sich schnell zu melden. Zurück bei ihrer Familie wird dort, im Beisein der Kinder, über die Todesursache von Paul Kadereit gesprochen. Annas Mutter berichtet, dass er augenscheinlich an einem Herzstillstand und in Folge der Hitze des Tages an Kreislaufüberlastung in seinem Bienenhaus gestorben sei. Als Annas Kinder ihren eigenen Großvater im Gespräch als Leiche titulieren, fragt sich Anna wie „einem ein Mensch, den man geliebt hat, innerhalb von wenigen Minuten so fremd werden kann, dass man von ihm als ‚Leiche‘ redet“ (Der längste Tag des Jahres, S. 81). Später analysiert sie für sich, dass das Wort ‚Leiche‘ ein Distanzierungsversuch ihrer Kinder gewesen sei. Sie interpretiert, dass die Nennung des Namens einer Person immer einen menschlichen Zug gebe, doch das Wort ‚Leiche‘ sei ein erster „Schritt zur Entmenschlichung“ (Der längste Tag des Jahres, S. 81). Sie schlussfolgert, dass ihre Kinder zukunftsorientiert seien, fühlt sich aufgrund der Aussage der Kinder jedoch auf der emotionalen Ebene plötzlich sehr fern von ihnen und empfindet, dass sie in Gegenwart ihrer Kinder keine Berechtigung auf das Fühlen ihres Verlustschmerzes habe. Sie vermisst die Nähe zu ihrer Familie, die sie am Mittag auf der Couch mit ihnen empfunden hat. In Folge dessen kommt ihr ein Gedanke, den sie bereits zahlreiche Male hatte: Sie möchte alles hinter sich lassen und mit einer Freundin in San Francisco eine psychotherapeutische Praxis führen.
San Francisco liegt in Amerika. Scott McKenzie besingt in den 70ern mit seinem Lied San Francisco die hügelige Stadt in Amerika. Es ist ein Lied, das von Liebe und der Sehnsucht „gentle people“ zu treffen spricht. Annas geheime Phantasie kann also einerseits als Versuch gedeutet werden, ihrem Vater näher zu kommen, da er ein Amerika-Liebhaber war. Andererseits kann ihr Wunsch so ausgelegt werden, dass sie sich insgesamt nach Liebe und Zuneigung, wie in dem Lied San Francisco besungen wird, sehnt. Im Laufe des Kapitels fällt der Satz: „Kein Tag so lang wie dieser“ (Der längste Tag des Jahres, S. 84). Er verweist auf den Titel des Romans und weist gleichzeitig darauf hin, dass der 21. Juni, der Tag, an dem Paul Kadereit gestorben ist, der Tag im Jahr sei, an dem es am längsten hell ist. Dies ist wiederum ein Symbol dafür, dass an diesem längsten Tag, an dem die Sonne länger scheint, als an allen anderen Tagen, die geheim gehaltenen Gefühle der Familienmitglieder länger ans Licht treten, als sonst üblich. Sämtliche Gefühle, die sonst im Alltagsgeschehen unterdrückt werden können, werden an diesem Tag bloßgelegt.
Wieder zu Hause angekommen telefoniert Anna mit ihrer Schwester Sylvia. Beide kommen darin überein, dass sie Thomas, den jüngsten Bruder, über den Tod des Vaters informieren müssen. Anna meint, dass David am ehesten wüsste, wie Thomas zu erreichen sei und verspricht, sich mit David diesbezüglich in Verbindung zu setzen. Nach Beendigung des Telefonats erinnert sich Anna erneut an ihren Schüleraustausch in die Vereinigten Staaten und wie stolz ihr Vater damals auf sie gewesen sei. Er habe sich bereits vor ihrer Reise in die Vereinigten Staaten sehr intensiv mit ihr zusammengesetzt, um alles über die Stadt, in der ihre Gastfamilie lebte, in Erfahrung zu bringen. Außerdem sah er mit ihr damals amerikanische Serien wie Denver Clan an. Anna erinnert sich, dass ihr Vater während dieser Zeit das Geschäft ausnahmsweise vergessen und sich nur auf das aktuelle Geschehen konzentrieren konnte. Sylvias und Annas Abneigung füreinander mag während dieser Lebensphase entstanden sein. Denn da Sylvia aufgrund ihrer Krankheit nicht an einem Schüleraustausch teilnehmen und nach Amerika reisen konnte, übernahm Anna diesen Posten und erntete dafür viel Aufmerksamkeit von ihrem Vater. Interessant ist überdies, dass Anna ihren Vater stets „Daddy“ nennt. Sie verwendet also absichtlich ein amerikanisch-englisches Kosewort für ihren Vater, statt eines deutschen Kosenamens. Auch hier liegt der Schluss nahe, dass sie dies tut, um ihrem Vater näher zu sein und ihm, der Amerika so zugetan ist, zu gefallen. Anna bestätigt diese Vermutung, indem sie von der Zeit ihrer Amerikareise denkt: „Daddy hatte sich für alles interessiert; er war außergewöhnlich gesprächig und lachte über jedes ihrer Erlebnisse. Sie hatte sich ihm noch nie so nahe gefühlt wie in der Zeit ihrer wöchentlichen transatlantischen Telefonate.“ (Der längste Tag des Jahres, S. 88).
Durch Anna erfährt der Leser außerdem, dass die Familie ihres Vaters im Krieg ausgebombt worden ist und „alles bis auf den letzten Besteckkasten und das letzte Paar Schuhe verloren“ (Der längste Tag des Jahres, S. 89) hat. So lernt sie, dank ihrer Ausbildung zur Psychotherapeutin, ihren Vater mit anderen Augen zu sehen und „nachsichtiger über ihren Vater zu urteilen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 89). Sie denkt folglich mit einem „Gefühl von Traurigkeit“ (Der längste Tag des Jahres, S. 89) an ihren Vater, während David, Bennie und auch der jüngste Bruder Thomas ein sehr zwiegespaltenes Verhältnis zu ihrem Vater haben. Wieder in ihrem eigenen Haus angekommen, beschäftigt sich Anna mit Pauls Horoskop. Sie sucht in den Sternen eine Antwort auf ihre eigenen unbeantworteten Fragen sowie nach einem plausiblen Grund seines plötzlichen Todes. Damit zeigt Anna, dass sie die Verantwortung für das Handeln und Fühlen der Menschen auf Bereiche schiebt, die sie nicht kontrollieren kann. Sie wälzt somit die Verantwortung, die eigentlich in ihrem Bereich der Kontrolle liegt, auf andere Faktoren, die sie selbst nicht kontrollieren kann, ab – in diesem Fall auf bestimmte Sternenkonstellationen.
Im Anschluss wandern Annas Gedanken zu einer Klassenfahrt nach Florenz, die sie als Kind unternommen hat. Sie schildert ein Erlebnis, das damals großen Ekel in ihr hervorgerufen hat. Ein Junge aus ihrer Klasse hat sich während einer Busfahrt übergeben müssen und Anna hat ihn danach wiederholt mit Abscheu betrachtet. Ein weiteres Erlebnis, das zu Kindertagen ein Gefühl von Ekel in ihr hervorruft, ist, als ihre Tante Lieschen ihren linken Schneidezahn in einer violetten Heidelbeer-Rote-Beete- Suppe verliert: „Es war, als hätte ihre Tante, dieser so unglaublich kindliche Mensch, etwas von ihrer Unschuld verloren, als hätte sie ihr größtes und schmerzlichstes Geheimnis preisgegeben, nämlich, dass alle Lust auf Erden begrenzt ist und dass auch sie älter wurde. Wenn schon nicht im Geiste, dann im Körper“ (Der längste Tag des Jahres, S. 95).
Ebenso wie bei Sylvia ist auch bei Anna das Thema, das eines von Pauls Kindern beschäftigt, ein Geheimnis, das plötzlich preisgegeben wird. Seine Kinder betrachten es mit Abscheu, Geheimnisse offen zu legen und dadurch verletzlich zu werden. Diese Einstellung hat Paul den Kindern vermittelt, da er selbst stets ein Geheimnis mit sich führte, welches seine restliche Familie vielleicht erahnte, jedoch nie von ihm verifiziert wurde. Das Kapitel um Anna schließt damit, dass sie an ihre Kinder denkt und diese als treulos empfindet, doch gleichzeitig weiß, dass „dieser Gedanke ungerecht […] [ist]“ (Der längste Tag des Jahres, S. 96).
Das vierte Kapitel trägt den Titel Das Kopfkissen und ist Pauls Sohn David gewidmet. David ist Ende 30 und Schauspieler. Er bezeichnet sich selbst als „zu weich“ (Der längste Tag des Jahres, S. 101), da er seine „Anti-Familien-Phase nie sehr lange“(Der längste Tag des Jahres, S. 101) durchhält. Er wird von seiner Schwester Sylvia vom Tod des Vaters unterrichtet. Sie ruft ihn persönlich an, nach mehreren vergeblichen Versuchen und dem Hinterlassen von Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und erzählt ihm vom Geschehen des Tages. Da beide sich nicht sehr wohl gesonnen sind, fühlt David sich von Sylvia sehr schnell zurechtgewiesen und bevormundet. David erinnert sich im Anschluss an das Telefonat an seinen Vater und meint, dass er dieses „Sich-Vertiefen, dieses Ausblenden der Außenwelt“(Der längste Tag des Jahres, S. 103) von Paul haben müsse und dass Paul, ebenso so wie er selbst, einen „Suchtcharakter“ (Der längste Tag des Jahres, S. 103) gehabt habe. Als Beispiel dafür, dass Paul viel Energie in Kleinigkeiten stecken konnte, führt David Pauls Magazin über Bienenkunde an, welches der Vater selbst herausgegeben hat, bevor er Insolvenz anmelden musste. David merkt aber auch an, dass er sich „immer auf eine lähmende Weise unglücklich und einsam gefühlt“ habe, wenn er seinen Vater beim Beobachten der Tiere im heimischen Terrarium betrachtete. Die Obsession des Vaters für Wüstentiere macht David dafür verantwortlich, dass es ihm „in achtunddreißig Jahren nicht gelungen [sei], einmal neben seinem Vater [zu] sitzen und ein ‚Wir-Gefühl‘ […] zu empfinden“ (Der längste Tag des Jahres, S. 103). Kindheitserinnerungen suchen David heim und er erinnert sich, dass seine Mutter ihn, wenn er Albträume hatte, zurück ins Bett schickte mit der Begründung: „Die Geister kommen nur, wenn du Papa jetzt störst“ (Der längste Tag des Jahres, S. 104). Hier zeigt sich erneut, dass Davids Mutter stets darum bemüht war, ihren Ehemann vor Störungen zu bewahren und dass sie sogar ihre Kinder gezwungen hat, sich seinen Wünschen unterzuordnen. Aufgrund dieser erfahrenen Abgrenzung des Vaters hat David sich als Kind immer gewünscht, „in die Gedanken und Träume seines Vaters – wie ein Vogel, wie ein Fisch“ (Der längste Tag des Jahres, S. 104) – eintauchen zu können. Zwar, so erinnert sich David, habe Paul sich bei seinem jüngsten Sohn Thomas mehr Mühe gegeben, doch auch er musste sich oftmals anpassen. Mitunter saß er stundenlang gemeinsam mit seinem Vater vor den Terrarien und durfte sich nicht bewegen oder etwas sagen. Die gemeinsame Zeit mit dem Vater, um die David seinen Bruder auf der einen Seite so sehr beneidet, hat also auch seine Schattenseiten. Über seine Eltern sagt David, dass sie sich womöglich gut ergänzten, weil der Vater stets seinen eigenen Interessen folgte, diese an die erste Stelle stellte und andere dabei ausschloss. Seine Mutter hingegen „ordnete sich ihrem Mann und ihren Kindern (ganz zu schweigen von ihren Enkeln, die sie vollkommen verwöhnte) viel zu bereitwillig und gutmütig unter“ (Der längste Tag des Jahres, S. 105). David folgert, dass er aufgrund dessen niemals „irgendwo die richtige Mitte“ (Der längste Tag des Jahres, S. 105) finden konnte und fragt sich, ob Pauls Schufterei nicht die gesamte Familie tyrannisiert habe. Mit der nicht gefundenen Mitte ist wohl nicht nur die Mitte eines Erziehungsstils gemeint, sondern auch die eigene innere Mitte, eine Selbstsicherheit, die nur entstehen kann, wenn ein Kind klare Grenzen aufgezeigt bekommt, aber dennoch erfährt, dass es sich an einem liebevollen Erwachsenen orientieren kann.
Im Unterschied zu David lehnt Paul zu Lebzeiten Alkohol, Zigaretten und sogar Schokolade als Konsummittel ab, da ihnen etwas von „Muße und Faulheit“ (Der längste Tag des Jahres, S. 105) anhafte. Davids Theater-Premieren, so sinniert er, seien für ihn selbst immer von Bedeutung, da er bei Premieren stets das Gefühl erlebe, etwas freizusetzen. Es käme ihm dabei „auf diesen Moment der Öffnung und des Angenommen-Werdens [an]“ (Der längste Tag des Jahres, S. 106). Der Erzähler setzt hinzu: „Nach diesem Gefühl war er süchtig – und nach Ellens Körper“ (Der längste Tag des Jahres, S. 106). Hier deutet sich zum ersten Mal, später an weiteren Stellen, an, dass David seine Emotionen und seine Sehnsucht nach Anerkennung und Zärtlichkeit hauptsächlich über sexuelle Kontakte auszudrücken vermag. Darin gleich er seinem Bruder Bennie, der nach Erhalt der Todesnachricht mit seiner Freundin schläft sowie seiner Schwester Sylvia, die ihre wahren Emotionen unterdrückt und mit ihrem Mann schläft statt mit ihm über ihre Trauer zu sprechen. Davids Freundin Ellen ist ein Freigeist und beide können nicht mit- aber auch nicht ohne einander sein. So wie er sich einst seinem Vater unterordnen musste, passt er sich in der Beziehung zu Ellen ihren Vorlieben an. Doch der Sex ist ihm wichtiger, als alles andere, was die Beziehung zu Ellen ausmacht. Der Leser erfährt: „Ellens Körper war David heilig, ihr Körper der einzige Ort, auf der Welt, an dem er keine Sehnsucht mehr nach irgendetwas anderem hatte, ihr Körper der einzige Ort, an dem Erregung und Ruhe, Fernweh und Gefühl von Heimatlichkeit ineinander verschmolzen, ihr Körper sein einziger echter Bezugspunkt, seine Erdung, ihr Körper der einzige Ort, an dem er aufhören konnte zu träumen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 122).
Seine Gedanken verraten, wie innerlich zerrissen David ist und wie verloren er sich fühlt. Pauls Sohn stellt klar, dass sein Vater zeitlebens keineswegs voller Kritik war, was seine Arbeit als Schauspieler angeht. Nach jeder Premiere lobt er seinen Sohn überschwänglich und betont, er habe seine Sache gut gemacht. Seine Mutter jedoch kommentiert lediglich das Bühnenbild. Dies zeigt, dass sie bemüht ist, auf der oberflächlichen Ebene etwas Positives zu äußern, jedoch nicht in die Tiefe gehen will, um Konflikte zu vermeiden. Ebenso wie Bennie im ersten Kapitel, meint David über Tod seines Vaters, dass er ihn gerne noch „vieles gefragt“ (Der längste Tag des Jahres, S. 108) hätte. Die Tatsache, dass dies nun nicht mehr möglich ist, macht David fassungslos, zumal er seinen Vater für sehr gesundheitsbewusst gehalten hat. Er denkt an eine Begebenheit, die ihn und den Vater hätte näherbringen können: Er wollte eines Tages mit seinem Vater einen Cocktail namens „Desert“ (Der längste Tag des Jahres, S. 110) mixen. Da Paul ein Wüstenliebhaber ist, geht David davon aus, dass ihm die Idee des Cocktails mit dem Namen Desert, was übersetzt Wüste heißt, gefällt. Außerdem möchte er die Möglichkeit nutzen, um mit seinem Vater über seine berufliche Situation zu sprechen, die ihn gerade sehr belastet und so eine Gemeinsamkeit mit dem Vater finden, der gerade Insolvenz angemeldet hat. Doch Paul mag das Getränk nicht und sagt: „Das brennt einem ja die Kehle weg […] das ist wohl eher was für Künstler, ich bleib bei meinem Wasser“ (Der längste Tag des Jahres, S. 109). Die Ablehnung des Getränkes stellt für David gleichzeitig eine Ablehnung seiner Person dar. Paul möchte, denkt David, sich nicht mit ihm verbinden, möchte keine Emotionen mit seinem Sohn teilen.
Auch David weint nicht beim Erhalt der Todesnachricht und hält seine Emotionen zurück – ebenso wie Sylvia und Bennie. Statt sich seinem Kummer hinzugeben, macht er einen Dauerlauf durch ein bewaldetes Gebiet. Der Erzähler lässt den Leser wissen, dass es für David „außer Sex […] für ihn nichts [gäbe], was ihn derart von sich selbst befreien konnte, wie das Laufen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 112f.). Beim Laufen ekelt ihn der Schweißgeruch seiner Mitläufer an. Hier besteht eine Verbindung zu Anna, die sich ebenfalls im Angesicht eines Todesfalls an für sie ekelerregende Ereignisse erinnert. Ekel ist ein Gefühl, dass von jedem Menschen persönlich ausgeht. Es ist eine meist kulturell erlernte Einstellung, die einen Menschen dazu veranlasst, etwas ekelig zu finden. Anna und David verbindet, dass sie den Menschen, die etwas tun, was sie ekelhaft finden, nicht verzeihen können. Sie empfinden diesen Menschen gegenüber Abneigung. David rekapituliert kurz, dass er im letzten Jahr arbeitslos war und dass seine Schwester Anna, ebenso wie ihre Mutter „immer schön um Ausgleich bemüht“ (Der längste Tag des Jahres, S. 114) sei. Dennoch hält er ihr zu Gute, dass sie und Michael „durch ihre Kinder an Lockerheit und Lebensfreude“ (Der längste Tag des Jahres, S. 114) gewonnen hätten. Kurz geht David auch auf seinen Großvater Gustav Kadereit ein, dessen Vornamen er als Zweitnamen trägt. Er berichtet davon, dass sein Großvater im Krieg beim Wasserholen an einem Brunnen in Souk El Arba, in Nordafrika, erschossen worden sei. Er erwähnt auch, dass sein Vater, seine Mutter und Sylvia sich als „Demokraten und Pazifisten bezeichneten“ (Der längste Tag des Jahres, S. 116) und dennoch lieber daran glauben, dass Gustav Kadereit in einem heftig umkämpften Gebiet in einem Kampf gefallen sei. Dies zeigt deutlich, dass ein Teil der Familie unverschuldete und zufällige negative Einflüsse nicht gelten lässt, sondern ein Versagen nur dann zählt, wenn bis zuletzt gekämpft wurde oder äußere Einflüsse zum Versagen geführt haben. Hier sei wieder auf Anna verwiesen, die in der Konstellation der Sterne nach dem Grund für den Tod ihres Vaters sucht. Dies mag auch die Erklärung dafür sein, dass Paul sich immer wieder vorwirft, er habe die Schuld an der Schließung seines Geschäftes selbst zu tragen, denn es sind keine offensichtlichen äußeren Einflüsse, die Paul dazu veranlassen, Insolvenz zu beantragen, sondern schleichende, nicht beeinflussbare Faktoren. Pauls Mimik vergleicht David mit der eines Heimatliedersängers: todernst oder übertrieben gefühlsduselig. Paul scheint, wie David bereits zuvor geäußert hat, kein rechtes Mittelmaß zu finden, sondern zwischen Extremen hin und her zu pendeln.
Auf seiner Joggingtour trifft David eine wesentlich jüngere Frau namens Corinna, die ihren eigenen Vater ebenfalls vor kurzer Zeit verloren hat. David verschweigt ihr jedoch, dass sein Vater am heutigen Tag gestorben ist und erzählt ihr, dass er vor zwei Wochen gestorben sei. Beide überlegen, eine Rastmöglichkeit in einem Gasthaus, das Frühlings Erwachen heißt, aufzusuchen. Sie entschließen sich aber dann doch dagegen und landen auf einer Bank im Wald. Das gleichnamige Theaterstück Frühlings Erwachen von Frank Wedekind beschreibt die Irrungen und Wirrungen von mehreren Jugendlichen, die ihren sexuellen Trieben verfallen und unter dem Druck der Pädagogen stehen. So scheint dieses Gasthaus als eine Art Vorbote dessen zu sein, was sich als nächstes zwischen Corinna und David anbahnt, denn im Wald angekommen schlafen beide miteinander. Nicht, weil Corinna angibt, dass sie früher in David verliebt war, sondern, weil Corinna versucht, die Kontrolle über die Situation zu behalten und keine Emotionen zu zeigen. David erträgt diesen Kontrollverlust nicht. Als Corinna sich im Wald versteckt, wird er panisch, obwohl er sie wenige Minuten zuvor noch allein zurücklassen wollte. Darum schläft er mit ihr, lässt sie sogar zum Höhepunkt kommen, entscheidet sich aber dagegen, selbst zum Höhepunkt zu kommen. Zu Corinna sagt er: „Ich will nicht mehr“ (Der längste Tag des Jahres, S. 140). Und „Können wir jetzt gehen?“ (Der längste Tag des Jahres, S. 140). Corinna fängt daraufhin an zu weinen. David, der froh darüber scheint, endlich wieder die Kontrolle über die Situation zu haben, hilft Corinna, ihre „Söckchen und die Turnschuhe anzuziehen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 140). Er behandelt Corinna somit wie ein Kleinkind. Schließlich ist er sich sicher, dass er nicht Ellen, sondern Corinna betrogen hat, weil er sie dazu gebracht hat, sich vor ihm komplett gehen zu lassen, er jedoch kurz davor abgebrochen hat. Die gesamte Situation wirkt sehr skurril. Das Kapitel rund um David endet damit, dass er Ellen per SMS vom Tod seines Vaters berichtet.
Das fünfte und letzte Kapitel des Romans trägt den Titel Die Wüste und dreht sich um den jüngsten von Pauls Söhnen: Thomas. Er wird von seinen Geschwistern Tommy genannt. Auch dies ist eine Anspielung darauf, dass Paul Amerika zu Lebzeiten sehr zugetan war. Thomas ist nach einem sehr guten Abitur mit seiner Freundin Chantal aus Deutschland „geflohen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 203), wie er selbst sagt. Gemeinsam haben sie die Welt bereist und dabei verschiedene Wüsten durchquert. Unter anderem haben sie die Wüsten Negev, Sahara, Mamib und Atacama gesehen. In der Mojave Wüste in Kalifornien, Amerika, sind beide schließlich verblieben. Dort haben sie einen Sohn zur Welt gebracht, der inzwischen sieben Jahre alt ist. Thomas nennt Sami seinen „Wüstensohn“ (Der längste Tag des Jahres, S. 145). Er ist Chantal aus Liebe überall hin gefolgt – sogar in eine Sekte, die sich „Sun People“ (Der längste Tag des Jahres, S. 169) nennt. Die Mitglieder der Sekte lieben Zahlen und Fakten und sind gegen die Geschlechtertrennung. Aufgrund ihres „technoid-archaischen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 173) Weltbildes suchen die Mitglieder der Sekten oftmals Orte auf, die durch bestimmte Berechnungen und Bauweisen als besonders energetische Orte von den Sektenmitgliedern eingestuft wurden, um dort ihre Glaubenssätze auf Japanisch aufzusagen. Die Sektenmitglieder nennen diese besonders energetisch aufgeladenen Orte „Power Sites“ (Der längste Tag des Jahres, S. 172). Thomas hat sein gesamtes Vermögen in das Errichten einer solchen Power Site gesteckt, um Chantal zu imponieren. Ähnlich wie David hat sich Thomas eine Freundin gewählt, die ihren eigenen Kopf stets durchzusetzen vermag. Mittlerweile hat sie Thomas und ihren Sohn verlassen und einen Geliebten, der zu einer anderen Sekte, den „Ad Astras“ (Der längste Tag des Jahres, S. 179) gehört, gewählt. Thomas und Chantal treffen nur noch aufeinander, wenn Chantal zu den Treffen der Sun People kommt. Er selbst bezeichnet die Ad Astras als „crazy birds, die zuviel Drogen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 180) nehmen, aber Chantal scheint angetan von dem crazy bird Angus, mit dem sie nun zusammenlebt.
In diesem letzten Kapitel des Buches begleitet man Thomas auf seinem Weg zur Selbsterkenntnis. Dem Leser wird mit jeder Seite, mit der man Einblick in Thomas’ Gedanken bekommt, klar, dass er zwar von zu Hause geflohen ist, aber schlussendlich, wenn auch ungewollt, an einem Ort gelandet ist, den der Vater sich immer herbeigesehnt hat. Somit hat er es trotz der vielen Kilometer, die zwischen ihm und seinem Elternhaus liegen, nie geschafft, sich von zu Hause abzukapseln. Doch Thomas weiß nun, im Gegensatz zu seinem Vater, dass die „Geo-Heft-Romantik“ (Der längste Tag des Jahres, S. 157) seines Vaters nichts mit der Wirklichkeit in der Wüste zu tun hat. Er sagt, dass die Wüsten in Kalifornien nicht „biblisch, geheimnisvoll, menschenleer oder überraschend betriebsam“ (Der längste Tag des Jahres, S. 167) seien. Viel mehr erinnern sie ihn an einen „zugemüllten Hinterhof – in dem hin und wieder bemerkenswerte Kuriositäten zu finden“ (Der längste Tag des Jahres, S. 167) seien. Seinem Vater möchte er gerne sagen: „Papa, wenn du wüßtest, daß ich hier nicht einen Gecko, dafür aber bestimmt zehn verseuchte Seen, zwanzig Gefängnisse, fünfzig Müllkippen, hundert Autowracks und, last but not least: vier Tote gesehen habe“ (Der längste Tag des Jahres, S. 156). Zusätzlich fällt ihm auf, dass in der Wüste nichts heilig ist, „schon gar nicht die vorhandene ‚Ordnung‘“ (Der längste Tag des Jahres, S. 160). In der Wüste würde „alles angetastet“ (Der längste Tag des Jahres, S. 156). Die Miniaturwelten in den Terrarien des Vaters seien, einmal von ihrem Besitzer eingerichtet, künstlich und unverändert, doch in der realen Wüste habe nichts Bestand. Dies zeigt, dass Thomas’ Vater in einer Kunstwelt lebte, die er sich selbst geschaffen hat, um nicht mit der Realität in Kontakt treten zu müssen. Sein gesamtes Leben – sowohl das private als auch das berufliche – hat er auf diese Kunstwelt ausgerichtet. Thomas ist davor geflohen, wird von dieser Wüstenwelt jedoch wieder eingeholt, weil er seiner Freundin Chantal blind auf ihrem unvorhersehbaren Lebensweg folgt. Dass Thomas sich dabei genauso folgsam verhält wie zu Kinderzeiten, als er ruhig und gehorsam neben seinem Vater die Terrarien betrachten musste, fällt ihm erst auf, als er den Brief mit der Todesnachricht seines Vaters erhält. Mit der Todesnachricht beginnt für Thomas ein neues Kapitel in seinem Leben. Es wird ihm klar, dass Chantal nicht mehr zu ihm zurückkehren wird und dass er Sami allein wird großziehen müssen. Wie der Leser durch ein Telefonat von Thomas mit Bennie erfährt, erhält Thomas den Brief mit der Traueranzeige erst zwei Monate nach dem Tod des Vaters. Doch für ihn ist die Nachricht neu und er sieht sich mit der Tatsache konfrontiert, dass sein Vater Sami niemals kennengelernt hat. Zudem fällt Thomas auf, dass er das Geld, das er für den Bau der Power Site verwendet hat, seinem Vater hätte geben können, um die Insolvenz abzuwenden, die dem Vater so zusetzte, dass er sich gehen ließ und seine Herztabletten nicht mehr nahm. Thomas erinnert sich, dass er seinem Vater zu Beginn seiner Reise Bilder aus der Wüste übersandte. Der Kontakt zum Vater flaute jedoch im Laufe der Zeit immer weiter ab. Thomas bearbeitete damals die Bilder für den Vater, denn er wollte, dass sie besonders bunt und ansprechend auf ihn wirken. Hier zeigt sich, dass Thomas seinem Vater nicht die Illusion von dem Besonderen der Wüste rauben möchte, die er in seinen heimischen Terrarien aufrecht zu halten versucht. Thomas hat zu Beginn seiner Zeit in der Sekte die Ruhe genossen, die ihn umgab, wenn er die Glaubenssätze der Sun People ausspricht. Doch nun realisiert er, dass sein Leben in der Wüste nirgendwo hinführt. Der Leser erfährt: „Plötzlich schien es ihm vollkommen sinnlos, hier zu sein. Das Häßliche war ihm heilig gewesen, das Leere war nicht wirklich leer, sondern einfach ein Raum für ihn selber. Ausgefüllt mit seinen Gedanken und Träumen. Nie war die Wüste leer gewesen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 197).
Thomas realisiert nach dem Tod des Vaters außerdem, dass sein Vater „das stille Zentrum, die Gravitationsfläche, von der er sich abgestoßen hatte, in deren Kraftfeld er sich aber noch, wenngleich an dessen äußerstem Ende, befunden hatte“ (Der längste Tag des Jahres, S. 197), nun keinen Halt mehr für ihn bietet. Anders als Anna und Nana empfindet Thomas das Licht der Sonne in der Wüste zwar als kalt, aber er empfindet auch, dass es ihm Trost spendet, wenn er an seinen Vater denkt. Symbolisch steht dies dafür, dass Thomas mit der Offenlegung seiner Emotionen etwas Gutes verbindet – anders als seine Geschwister. Thomas hat es im Laufe seiner Wüstenzeit seiner Noch-Ehefrau Chantal gleichgetan und inzwischen eine Geliebte. Sie heißt Marita und kommt bemüht heimlich zu ihm in den Wohnwagen, um den siebenjährigen Sami nicht zu verärgern, denn Sami ist nicht sehr angetan von Marita. Thomas möchte Marita von seinem Vater erzählen, obwohl er zuvor vermieden hat zu viel von sich preiszugeben. Er überlegt, dass er ihr nicht von der Todesnachricht per SMS berichten möchte, denn für ihn gibt es „nichts Unpassenderes, als jemandem den Tod eines nahestehenden Menschen per Handy oder gar SMS mitzuteilen“(Der längste Tag des Jahres, S. 210).
Mit dieser Ansicht steht er im Kontrast zu David, der seiner Freundin Ellen per SMS vom Tod seines Vaters berichtet. Das letzte Kapitel des Buches schließt damit, dass Sami seinen Vater Thomas fragt, was die Phrase in der Todesanzeige „er ist nach einem erfüllten Leben zu unserem Herrn heimgegangen“ (Der längste Tag des Jahres, S. 211) bedeute. Die Phrase hat Sami der Traueranzeige entnommen, die Thomas zusammen mit einem Brief von seiner Mutter erhalten hat und die er ihm laut vorgelesen hat. Thomas erwidert auf Samis Frage: „Ich weiß es nicht“ (Der längste Tag des Jahres, S. 211). Er zeigt damit, dass er sich all dessen, was er glaubte zu wissen oder glaubte zu verstehen, nicht mehr sicher ist. Der Tod seines Vaters hat ihn von einer unsichtbaren Fessel befreit und ermöglicht ihm nun, seinen eigenen Weg zu gehen.
Anders als in Himmelskörper ist das zentrale Thema von Der längste Tag des Jahres nicht ein bestimmtes Ereignis im Zweiten Weltkrieg, sondern die Beziehungen einzelner Familienmitglieder untereinander. Doch auch diese Familie spürt die Folgen des Krieges und der Roman thematisiert dies immer wieder. Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen haben Spuren bei Vater Paul hinterlassen. Seine Erfahrungen im Krieg hindern ihn daran, liebevoll und offen mit seinen Kindern und seiner Frau umzugehen. Aufgrund des Krieges glorifiziert er zudem die Amerikaner und lebt seine Wüstenphantasien mit dem Aufstellen von kleinen Wüstenwelten in Form von Terrarien aus. Der Krieg hängt wie ein Schatten über den Beziehungen der Familie, der besonders sichtbar wird, als die Kinder die Todesnachricht des Vaters erhalten.

Thematische Aspekte in Der längste Tag des Jahres  [ ↑ ]

Zweiter Weltkrieg und Nachwehen
Die Familie rund um Paul Kadereit wird von dem Geschehen im Zweiten Weltkrieg sehr beeinflusst. Pauls Vater Gustav Kadereit wurde während des Krieges erschossen, Pauls Familie komplett ausgebombt. Als rettend empfand Paul wie so viele Deutsche zu der Zeit nach dem Krieg die Amerikaner, die aus seiner Perspektive Deutschland von den Nazis befreiten, für das Ende des Krieges sorgten und dafür, dass die Deutschen wieder etwas zu Essen bekamen. Viele amerikanische Soldaten teilten damals ihr Essen mit den Deutschen – vor allem mit den Kindern, die nur noch wenig oder gar nichts mehr besaßen. Sie brachten auch Neues mit nach Deutschland, wie z. B. das Kaugummi. Paul hat seine verherrlichende Kinderperspektive auf die Amerikaner nie abgelegt, obwohl der Krieg nicht zuletzt durch den Tod des Vaters seinen Tribut forderte. Paul bleibt sein Leben lang innerlich zerrissen, da die Amerikaner Retter und Angreifer zugleich waren.

Geheimnisse
Jedes von Pauls Kindern hat einen besonderen Bezug zu Geheimnissen. Besonders ausgeprägt stellt sich dies bei Sylvia dar. Sie fühlt sich ihrem Ehemann Jan überlegen, indem sie ihm nicht vom Tod ihres Vaters erzählt. Auch von ihrer frühen Schwangerschaft hat sie vor Jahren niemandem erzählt. Sie verheimlicht Informationen, damit sie das Gefühl hat, dass die Dinge, die man nicht erzählt, vorerst nicht wirklich wahr sind. Auch Pauls Geheimnisse, nämlich seine stets versteckten Emotionen, werden, in Form des Schrankes vom Dachboden der Kadereit-Eltern, thematisiert. Der Erzähler lässt den Leser gleich zu Beginn wissen, dass der Dachboden, von dem der Schrank stammt, voller Geheimnisse steckt.

Licht
Das Licht spielt in Tanja Dückers Roman Der längste Tag des Jahres eine zentrale Rolle. Vielfach werden das Licht und der Lichteinfall in dunkle Gebiete als ein Symbol des Positiven gedeutet. Tanja Dückers stellt jedoch mithilfe ihres Romans heraus, dass das Licht auch eine entblößende bzw. bloßstellende Wirkung haben kann. Sowohl Nana als auch Anna fühlen sich in der Küche, in der sie stehen, durch den Einfall des Sonnenlichts in den Raum durchleuchtet und einer „langsam zu ihr durchdringenden Wahrheit ausgesetzt“ (Der längste Tag des Jahres, S. 78).

Kontrollverlust
Ein großer thematischer Schwerpunkt in Tanja Dückers Roman Der längste Tag des Jahres ist die Angst vor dem Verlust der Kontrolle über das Geschehen in ihrem Leben, das alle fünf Kinder von Paul Kadereit plagt. Besonders bei seinem Sohn David ist der Drang danach, vor allem seine Emotionen kontrollieren zu können, sehr groß. Er geht sogar so weit, dass er mit einer Frau schläft, die er kaum kennt, nur um zu erleben, wie sie zum Höhepunkt kommt, während er mitten im sexuellen Akt abbricht und sagt, er wolle jetzt nicht mehr weiter machen. So hat er sie gedemütigt und das Machtgefälle, das zuvor zu ihren Gunsten zu kippen drohte, wiederhergestellt. Doch auch Pauls andere Kinder zeigen Ängste davor, die Kontrolle zu verlieren und Emotionen zu zeigen.

Einsamkeit
Pauls Kinder haben vermehrt Angst davor, einsam zu sein bzw., sich einzugestehen, dass sie einsam sind. Sehen sie sich dennoch diesen Situationen ausgesetzt oder realisieren, dass sie einsam sind, so wie David es nach der Todesnachricht seines Vaters tut, reagieren die Körper der erwachsenen Kinder mit äußerlich wahrnehmbaren Signalen. Sylvia hat beispielsweise eine Form von Asthma entwickelt. Sie hat während ihrer Krankheitsphase in Kindertagen gelernt, dass sie aufgrund ihrer Krankheit die Aufmerksamkeit und Zuneigung ihres Vaters bekommt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sylvias Asthma auf psychische Ursachen zurückzuführen ist, da in ihrem Kopf die Krankheit mit dem Erheischen von Aufmerksamkeit verknüpft ist.

Familie
Ein großer thematischer Aspekt in Tanja Dückers’ Roman Der längste Tag des Jahres ist die Familie. Sie beschreibt die Beziehungen der einzelnen Familienmitglieder sehr detailliert und verwebt ihre Geschichten aufwändig ineinander. Ihre Figuren sind vielschichtig und zeigen, wie sehr die Einzelschicksale einer Familie miteinander verwoben sind. Auch der Einfluss von negativen Einflüssen aus der Vergangenheit auf eine Familie wird in ihrem Roman über die Familie Kadereit thematisiert.

Formale Aspekte in Der längste Tag des Jahres  [ ↑ ]

Wiederholungen
Der Roman ist durchzogen von Wiederholungen, so wiederholt der Erzähler das Wort Daddy in dem Kapitel, in dem es um Anna geht, auf einer Doppelseite siebenmal. Auch, als Nana ihren Hyperventilierungs-Anfall hat, wird dieser durch die Repetition der Phrase „ein und aus“ auf der Textebene nachgestaltet; mit der Figur Nana ringen so auch die LeserInnen um Luft.

Ambivalenzen
Der Roman ist durch Ambivalenzen strukturiert. Im ersten Kapitel: denkt Nana beispielsweise, dass sie Bennie, während er raucht, geil findet. Im nächsten Satz meint sie jedoch, dass sie Raucher eigentlich hasse. Ebenfalls im ersten Kapitel beschreibt Nana, dass der Geruch der Holzlasur seit der Todesnachricht für sie mit dem Tod verknüpft sei. Später, als sie neben Bennie im Bett liegt und nicht einschlafen kann, wirkt der Geruch jedoch betörend auf sie. Auch David zeigt gegensätzliche Emotionen. Als er Corinna im Wald trifft und mit ihr redet, findet er sie erst zu dünn und sinniert, wie sehr er Ellens Körper vermisst. Doch nachdem sie sich ihm so darstellt, dass sie ihre Gefühle unter Kontrolle hat, wirkt sie auf ihn wie eine Fee, also wesentlich positiver. Feen werden in der Mythologie zwar auch sehr häufig sehr dünn dargestellt, diese Körperausgestaltung wird jedoch eher als zart und positiv angesehen.

Vergleiche
Der längste Tag des Jahres zeichnet sich durch seine vielen bildhaften Vergleiche aus. So fällt Anna auf dem Heimweg zu ihrem Haus der Himmel auf: „In gelbe und rosafarbene Wolkenbänder, die wie abgeworfene Schlangenhüllen am Himmel lagen, mischten sich Spuren von Hellblau und Violett“ (Der längste Tag des Jahres, S. 84). Hier werden Wolken mit Schlangenhüllen verglichen. Es wird deutlich, dass Anna an Schlangen denkt, da sie gerade von ihrem Elternhaus kommt und dort die Terrarien stehen, in denen zahlreiche von Pauls Reptilien leben zugleich ist in dem Bild der abgeworfenen Schlangenhülle aber auch die Überwindung des elterlichen Einflusses angedeutet.

Code-Switching
Tanja Dückers verwendet in ihrem Roman sowohl englische Vokabeln, die sie in ihre deutschen Sätze einwebt, als auch spanische Satzfragmente, die sie mit deutschen Worten in einen Satz einbindet. Thomas erzählt beispielsweise von einem „Schrott-Town“ (Der längste Tag des Jahres, S. 169) und von „Car-Gardens“ (Der längste Tag des Jahres, S. 171). Die zahlreichen englischen Vokabeln sind in den Text eingewoben und verdeutlichen so, wie sehr Paul Kadereit zu Lebzeiten an Amerika interessiert war und wie sehr das amerikanische Leben sein eigenes durchsetzt hat. Außerdem wird so die Atmosphäre, in der Thomas und sein Sohn leben – nämlich in einer Wüste in Amerika –zugänglicher und authentischer. Die spanischen Vokabeln erzielen denselben Effekt, denn Thomas und Sami werden im fünften Kapitel von einem spanischen Aufseher auf dem Gelände der CLUI, wo Thomas arbeitet, herumgeführt.

Farben als Symbolträger
Tanja Dückers beschreibt in ihrem Roman Der längste Tag des Jahres immer wieder Farben in all ihrer Kraft. Die Farben symbolisieren oder verstärken Gefühlsmomente, in denen sich die Kinder von Paul gerade befinden. Anna steht beispielsweise in der Küche ihrer Mutter und der Erzähler schildert: „Sie stand vor dem Fenster, das Sonnenlicht ließ die Limonadenflasche in ihrer Hand rot aufleuchten und hinterließ auf ihrer hellen Bluse tanzende Punkte“ (Der längste Tag des Jahres, S. 78). Als Anna nach dem Besuch bei ihren Eltern wieder auf dem Heimweg ist, fällt ihr der Himmel auf: „In gelbe und rosafarbene Wolkenbänder, die wie abgeworfene Schlangenhüllen am Himmel lagen, mischten sich Spuren von Hellblau und Violett.“ (Der längste Tag des Jahres, S. 84).

Pressespielgel zu Der längste Tag des Jahres  [ ↑ ]

Ähnlich wie in Himmelskörper beschäftigt sich Tanja Dückers auch in Der längste Tag des Jahres mit einer Familiengeschichte. Stephan Maus (Süddeutschen Zeitung, 23.03.2006) empfindet Tanja Dückers’ Roman Der längste Tag des Jahres in weiten Teilen misslungen. Lediglich das letzte Kapitel, welches in der Wüste spielt, gefalle ihm. Heike Runge (Die Tageszeitung, 16.0003.2006) bezeichnet den Roman als „formal ziemlich strenges Konstrukt“. Heike Runge sieht einen Nachteil darin, dass dem Rezipienten die gleiche Geschichte in verschiedenen Versionen fünfmal erzählt wird. In ihren Augen beginnt sich die Geschichte ab der dritten Wiederholung abzunutzen. Dückers episodenhafter und „pointierter Erzählmodus" könne den über „drei Generationen erzählten Stoff nicht mehr bändigen". Schade findet die Rezensentin, dass in Tanja Dückers’ Roman „manches bloße Behauptung“ bleibt und „manches Motiv nur angetippt, aber nicht ausgeführt“ wird, da sie die Figuren und ihre Geschichte durchaus interessant findet. Dorothea Gilde (Poetenladen, 28.02.2006) kann dem Roman nichts Positives abgewinnen. Sie fühlt sich getäuscht durch das Verlagsmarketing, welches den Roman mit einem Ausschnitt aus dem letzten Kapitel, welches ihr gut gefallen hat, beworben habe. Ihre erste Vorfreude schlägt, so beschreibt sie, allerdings in Enttäuschung um, als sie die restlichen Kapitel des Romans gelesen hat. Zusammengefasst bezeichnet Dorothea Gilde Der längste Tag des Jahres als den „totalen Nullblicker“, da sie der Autorin unterstellt, dem Rezipienten alles haarklein und mit vielen Adjektiven gespickt zu erzählen, jedoch keinen Raum für Interpretationen zu lassen.
Nur Ingeborg Harms (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.04.2006) scheint beeindruckt von Tanja Dückers Roman, fällt aber schlussendlich kein explizites Urteil.

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