Die Gedanken waren frei – doch sind sie es noch heute?

Eine Analyse zu Die Gedanken sind frei (EV: Ohne Warum. Sturm & Klang 2015)

Das Lied Die Gedanken sind frei von Konstantin Wecker, veröffentlicht im Jahr 2015 auf dem Album Ohne Warum, ist eine Weiterdichtung des gleichnamigen Volksliedes, das von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und Ernst Heinrich Leopold Richter im Jahr 1842 in der bis heute bekannten Version vorgelegt worden ist. Begründet durch die Aktualität der im Text behandelten Thematik wurde das Lied zahlreich umgedichtet und aktualisiert. Das Konzept der Gedankenfreiheit, das in der Vergangenheit vornehmlich Trost in Zeiten der Unterdrückung spenden sollte, wird in Weckers Version kritisch hinterfragt.

Die erste Strophe des Liedes übernimmt Wecker wörtlich aus der Version von Fallersleben und Richter. In der zweiten Strophe reflektiert Wecker die Gedankenfreiheit in der Vergangenheit, wobei er kontrastiert, dass die Menschen „trotz Knechtschaft und Tyrannei […] / stets lachen und scherzen“ (Wecker 2015) konnten. Aufgrund von zeitgenössischen Methoden, mit denen Gedanken manipulierbar sind, äußert Wecker in der dritten Strophe Zweifel an der Freiheit der Gedanken. In der nächsten Strophe werden die „Bedenken“ expliziert, indem die Gültigkeit von Pressefreiheit hinterfragt wird. Die Manipulationen durch die Diskursmacht der medialen Berichterstattung wird ergänzt durch die Überwachungsmechanismen durch Geheimdienste wie CIA oder NSA, die in der fünften Strophe benannt werden. In der sechsten Strophe kritisiert Wecker, dass die Gedanken nur vordergründig frei erscheinen, denn jede Abweichung von Mainstreamhaltungen wird sanktioniert. Die Großkonzerne bestimmen den Mainstream, die Logik des Neoliberalismus bestimmt demnach das Denken. Der neoliberalen Hirnwäsche entkomme man erst, wenn man frei von jeglichen Gedanken ist, nämlich im Tod. Dies wiederholt sich in der abschließenden siebten Strophe, welche im Gegensatz zu den vorherigen Strophen mit jeweils acht oder zehn Versen ein Zweizeiler ist. Wecker übernimmt das ursprüngliche Reimschema, bei dem auf einen Kreuzreim zwei (oder in der vierten Strophe drei) Paarreime folgen.

In der vierten Strophe, welche die Mitte des Gedichts darstellt, schlägt die zu Beginn friedvolle Stimmung in einen aggressiveren Ton um. Zunächst wird ironisch die tatsächliche Pressefreiheit hinterfragt, wenn die Freiheit der Gedanken als genauso frei wie die der Presse bezeichnet werden, doch schließen sich daran zwei Verse, die deutlich machen, dass die Gedankenfreiheit eingeschränkt ist: „Und denkst du, dass es anders sei, / dann gibt´s auf die Fresse“ (ebd.). Es erscheint, so die Kritik in dieser Passage, offenbar nicht opportun überhaupt nur zu fragen, wie offen der mediale Diskurs für verschiedene Meinungen und Standpunkte ist, bereits die Infragestellung von Gedankenfreiheit wird sanktioniert. Dadurch ist das vermittelte Wissen begrenzt, wodurch die Gedanken der Leser*innen in dieselbe Richtung gelenkt werden. Durch die derbe Wortwahl „dann gibt´s auf die Fresse“ (ebd.) unterstreicht Wecker die Härte der Konsequenzen, die drohen, falls man sich von der vorgegebenen Meinung distanziert. Des Weiteren entwirft er mit der Rede von der Gedankenpolizei ein Bedrohungsszenario, wohin sich die Denkkontrolle entwickeln könnte. Im Zusammenhang damit, dass diese „vielleicht schon im nächsten Mai“ (ebd.) kommt, ist als eine Anspielung auf die alljährlichen Maikundgebungen der Arbeiterbewegung zu verstehen. Der erste Mai ist als Tag der Arbeit ein öffentlicher Feiertag, an dem der politische Kampf der Arbeiter*innen gedacht wird. Es geht somit um die Gegenwehr gegen kapitalistische und aktuell neoliberale gesellschaftliche Strukturen. In diesem Sinne sind die zum Teil gewaltsamen Proteste und Aktionen linksautonomer Gruppen zu verstehen, die als radikale Ausdrucksform aber durchaus im Geiste einer sozialen, sozialistischen, sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Haltung zu sehen ist. Damit ist in Weckers Lied die inhaltliche Verbindung zu den folgenden Strophen aufgerufen, d.h. die 1.Mai-Kundgebungen richten sich gegen die in der letzten Strophe genannten neoliberalen Akteure wie Monsanto und Google. Konstantin Wecker kämpft engagiert gegen rechtes Gedankengut und setzt sich als bekennender Pazifist gegen Polizeigewalt ein.

In der fünften Strophe führt Wecker die Geheimdienste CIA und NSA an, die einen anderen als den vorgeschriebenen Weg nicht akzeptieren würden und in der Lage seien, die eigenen Gedanken ins Schwanken zu bringen. Die Nennung dieser Geheimdienste kann als Anspielung auf die Spionageaffäre aus dem Jahr 2013 gewertet werden. Die amerikanischen Geheimdienste hörten das Handy der Bundeskanzlerin ab, darüber hinaus wurden in ganz Deutschland große Datenmengen abgefangen (vgl. Beuth 2013). Dadurch, dass der dritte Vers der fünften Strophe in englischer Sprach verfasst ist, wird der Verweis auf die amerikanischen Geheimdienste noch einmal unterstrichen. Unter dem Aspekt, dass diese Ausspähung von Daten erst Jahre später an die Öffentlichkeit gelangte, ist Weckers Anmerkung, dass man nur glaubt, dass die eigenen Gedanken frei seien, zu verstehen.

In der sechsten Strophe verweist Wecker explizit auf Großkonzerne, nämlich Monsanto, der größte Saatguthersteller der Welt, Banken, Öllieferanten und den Internetkonzern Google. Ihnen „gehören“ (Wecker 2015) unsere Gedanken, deren Freiheit uns nur vorgegaukelt wird. Die Auswahl der genannten Großkonzerne ist genauer zu betrachten: Monsanto ist eine amerikanische Tochterfirma des deutschen Chemiekonzerns Bayer und der weltweit größte Saatguthersteller und marktführend hinsichtlich gentechnisch veränderter Pflanzen. Die Manipulation der pflanzlichen Gene ist übertragbar auf die Beeinflussung menschlicher Gedanken, weshalb die Firma Monsanto ein Exempel für Manipulation darstellt. Der Google-Algorithmus ist eine Technik zur Gewichtung und Bewertung von Websites; je öfter eine Seite aufgerufen wird, desto höher steht sie in der Ergebnisliste. Somit werden dem Suchenden die Ergebnisse angezeigt, die bereits andere Leser*innen genutzt haben, was bedeutet, dass alle die gleichen Informationen beziehen. Auch dadurch können die Gedanken der Nutzer in eine vorbestimmte Richtung gelenkt werden. Weckers zynischer Rat „besser gib dir die Kugel“ (ebd.) zeigt zynisch die Dringlichkeit auf, die er sieht, um der Einflussnahme zu entkommen. In der ersten und zweiten Strophe schließt das Gedicht mit der Phrase „die Gedanken sind frei“ (ebd.) im Indikativ Präsens. In diesen Strophen besteht inhaltlich noch die Annahme, dass die Gedanken wirklich frei sind. In der fünften Strophe wird der Satz jedoch in den Konjunktiv II formuliert: „die Gedanken wären frei“ (ebd.). In den beiden Strophen zuvor sowie auch in der fünften äußert Wecker seine Zweifel hinsichtlich der tatsächlichen Gedankenfreiheit und unterstreicht seine Bedenken mit den Verweisen auf die bereits genannte Spionageaffäre seitens der Geheimdienste sowie anderen Überwachungs- und Manipulationsmöglichkeiten. Schließlich variiert er in der sechsten Strophe als abschließenden Vers die Phrase, die nun aber im Indikativ Präteritum gefasst ist: „die Gedanken waren frei“ (ebd.). Dieser Vers findet sich in der siebten Strophe als Wiederholung, wodurch sich die Dramatik, dass die Gedankenfreiheit tatsächlich bedroht ist, dystopisch zuspitzt.

Wecker hat sich seit Beginn seiner Karriere mit dem Andersdenken beschäftigt und auch die Konsequenzen aufgezeigt, die es nach sich ziehen kann, wenn man sich gegen die Meinung stellt, die der Großteil der Gesellschaft teilt. Die Literaturwissenschaftlerin Inke Pinkert-Saeltzer weist in ihrem bereits 1990 erschienen Aufsatz auf „seine [Weckers] Kritik an der staatlichen Überprüfung Andersdenkender und die daraus resultierende Verunsicherung von Bürgern, die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen wollen“ (Pinkert Saeltzer 1990, 73), hin.

Literatur

Pinkert-Saeltzer, Inke: „Immer noch werden Hexen verbrannt...“. Gesellschaftskritik in den Texten Konstantin Weckers. Bern [u.a.] 1990.

Wecker, Konstantin: Die Gedanken sind frei. EV: Ohne Warum. Sturm & Klang 2015.  

 

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