Ja zum Leben: Schmerz und Lust

Eine Analyse zu Du mußt dir alles geben (EV: Das macht mir Mut. Polydor 1982; Wecker 2018, S. 122-123)
Ein Beitrag von Corinna Schlicht*

Auf dem Album Das macht mir Mut aus dem Jahr 1982 findet sich das Lied Du mußt dir alles geben, das in Wecker typischer Weise das Ja zum Leben geradezu beschwört. Dies wird durch die mehrfache Wiederholung der Titelzeile erreicht: „Du mußt dir alles geben, / Dämmern und Morgenrot, / unendlich laß dich leben, / oder bleib ewig tot“ (Wecker 2018, 122f.). Das Lied beginnt mit der zweifachen Wiederholung des Refrains, der wie die anderen Strophen einem regelmäßigen Kreuzreimschema folgt, was zur Folge hat, dass die Endreime (Morgen)rot-tot und geben-leben als Gegensatzpaare von Leben und Tod durch ihre sechsmalige Nennung den Text dominieren. Darüber hinaus wird die Dringlichkeit des hier ausgedrückten Begehrens durch das Modalverb ‚müssen‘ betont. Die Titelphrase Du mußt dir alles geben wird aber nicht nur durch die Refrainhäufung, sondern auch durch ihre weitere Wiederholung zu Beginn der ersten und dritten Strophe zum Leitbild und Kerngedanken des Liedes. Dadurch, dass ein Du angesprochen wird, ist das Lied beides, das Zwiegespräch des Singenden mit sich wie auch die Anrede an eine Zuhörerschaft; in beide Richtungen ist es jeweils ein existentieller Appell.
Autonomie und selbst verantwortetes Lebensglück drücken sich in diesen Versen aus: Die Absage an die Transzendenz wird zum Leitmotiv. Die bildlichen Gegensätze von Leben (Morgenrot) und Tod (Dämmern) werden im dritten und vierten Vers ausgesprochen: Entweder man feiert das Leben oder man führt ein dumpfes Leben des Maßhaltens und der Beschränkung. Das Indefinitpronomen ‚alles‘ macht den Absolutheitsanspruch von Weckers Weltsicht deutlich. Alles, das meint Lebenskreislauf, Lebensfülle, Anfang und Ende, Freude und Schmerz. Nach der zweimaligen Wiederholung des Refrains folgt in der ersten Strophe die Begründung für die appellative Botschaft. Der Mensch ist für sich und seine Geschicke allein verantwortlich, vermeintliche Götter oder sonstige Lebensautoritäten sind der und dem Einzelnen nicht wohlgesonnen: „Du musst dir alles geben, / alles ist immer mehr. / Die dir dein Schicksal weben, / geizen sehr“ (Wecker 2018, 122). Mehr noch: „Die dir Großes versprechen, / versprechen sich meistens dabei. / Mach deine eigenen Zechen, / taumle dich frei“ (ebd.). Nicht weiter genannte Kräfte beschränken (geizen) und belügen (versprechen sich) uns. Das Lied warnt vor Heilsverkündern, das heißt, vor den den Diskurs bestimmenden ‚Sprechern‘, die bestimmte Werte und Lebensziele diktieren. Es gilt daher, sich auf sich selbst zu besinnen.
Dieser Aufruf ist jedoch nicht mit gegenwärtigen Egostrategien zu verwechseln, wie sie z.B. Manager-Coachings und populäre Ratgeber  propagieren, um persönliche Ressourcen zu aktivieren und die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern. Im Gegenteil, nicht Output-Orientierung  und Leistungsmaximierung , sondern zweckfreier Genuss und im ökonomischen Sinne unproduktive Daseinsfreude sind die Botschaft von Weckers Text. Die Besinnung auf das Ich erscheint demnach als Kräftigung gegen ein regulatives Außen, um das Ziel des Freiseins (eigene Zechen) zu erreichen. Frei kann man aber nur sein, wenn man sich den Normen widersetzt, also unkonventionell lebt. Dies wird im Bild des befreienden Taumelns gefasst. Diese Bewegung ist symptomatisch für die nonkonformistische Haltung, die dahinter steckt, denn in ihr drückt sich das Gegenteil von Ordnung (= Bürgerlichkeit) und Nüchternheit (= Vernunft) aus. Der Taumel gehört vielmehr in den Bereich von Trunkenheit, Chaos  und Tanz. Ganz antiaufklärerisch werden hier die antirationalistischen Kräfte im Menschen positiv gefasst.
Wegen seiner Betonung der Intuition und des Rausches lässt sich diese Position auch von Friedrich Nietzsche herleiten, der als Vordenker anklingt. Vor allem dessen Idee vom dionysischen Zustand als höchster Form der Lebensteilhabe, die er in Die Geburt der Tragödie entwickelt, ist Weckers lyrischem Kosmos nah. Die Phrase ‚Dämmern und Morgenrot‘ kann darüber hinaus als intertextuelle Anspielung auf Nietzsche verstanden werden, denn nicht nur der Titel seiner Schrift Morgenröte lassen eine Anleihe vermuten. Vor allem in Die fröhliche Wissenschaft entwickelt Nietzsche im 5. Buch ein Bild, wie es Wecker verwendet: „wir Philosophen und ‚freien Geister‘ fühlen uns bei der Nachricht, dass der ‚alte Gott todt‘ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei“ (Nietzsche 1988, 343).
Wie Wecker lehnt Nietzsche den Epikureischen Hedonismus ab, der ja die Schmerzvermeidung zum Motor menschlichen Handelns erklärt. Vielmehr sieht Nietzsche in seiner Bejahung des Daseins, dass hierzu die Akzeptanz des Schmerzes als wesentliches Lebensprinzip notwendig ist.  In Also sprach Zarathustra heißt es entsprechend im Nachtwandlerlied: „Sagtet ihr jemals Ja zu Einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet ihr Ja auch zu allem Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfädelt, verliebt […]  / Denn alle Lust will sich selber, drum will sie auch Herzeleid! Oh Glück, oh Schmerz! Oh brich, Herz! Ihr höheren Menschen, lernt es doch, Lust will Ewigkeit, /  – Lust will a l l e r Dinge Ewigkeit, will t i e f e, t i e f e E w i g k e i t!“   (Nietzsche [1883] 1988, 402-403, Hervorhebungen im Original). Jene Ambivalenz von Lust und Leid besingt auch Wecker: „Du mußt dir alles geben, / keiner bringt dir dein Heil. / Alle Tage durchleben – / die Stufen sind tränensteil“ (Wecker 2018, 122).  In Weckers Textwelt liegt das Glück im Individuum, im Leben – diese Bejahung des Physischen beinhaltet auch den Aspekt des Dynamischen (alle Tage). Wie in vielen von Weckers Liedern werden das Warten und die Passivität abgelehnt, auch – und hier zeigt sich die Nähe zu Nietzsche – wenn die Lebensteilhabe schmerzvoll (tränensteil) ist. Weckers Lied lässt sich darüber hinaus mit Nietzsches Idee vom freien Geist lesen. Dieses bedeutet, dass der Mensch, der über einen freien Geist verfügt bzw. sich zum freien Geist entwickelt hat, sich dem „Postulat der Akzeptanz und bedingungslosen Hingabe zum Leben, welches uns mit Geburt und Tod erschüttert, uns staunen macht und zweifeln lässt“ (Hirn 2009, 117), anschließt. Zugleicht strebt der freie Geist ein Leben an, das „sich ganz gegen die Konventionalität und Gleichförmigkeit der Philister und der Masse, welche mechanisch dem Egoismus, dem Geschäftssinn und dem Staat dienen“ (Campioni 2005, 235), richtet. Damit ist das Narrativ beschrieben, das Wecker den im gegenwärtigen Diskurs postulierten Zielen wie ‚Spaß‘, ‚Produktivität‘ und ‚Effizienz‘ gegenüberstellt. Denn sich taumelnd einzubringen und trotz tränensteiler Stufen sich unendlich leben zu lassen, entspricht gerade nicht dem konventionellen Mainstream, der auf den unmittelbaren Nutzen allen Tuns abzielt und Glück als Konsumgut versteht.
In der vorletzten Strophe betont das singende Ich die neoromantische Einsicht in die prinzipielle Unstillbarkeit der sich ausdrückenden Lebenssehnsucht, denn: „Ja, sogar alle Tage / können nie alles sein – / auch ohne Antwort: / Frage und gib dich ein!“ (Wecker 2018, 122). Das tägliche Lebenwollen kann die Lebensfülle nicht erfassen, dennoch steht der Imperativ als Fazit: „gib dich ein!“ (ebd.) Emphatisch klingt der Leserin und dem Zuhörer die Aufforderung zum Mitmachen, Teilhaben, zur buchstäblichen Einverleibung des Lebens als Dialektik von Wonne und Schmerz entgegen. Denn auch ohne Antwort, also ohne verbürgten Lebenssinn und ohne monetären Nutzen, gilt es zu leben, und zwar unbedingt und mit jeder Faser des Körpers (so das Pathos des Liedes).

Literatur

  • Nietzsche, Friedrich Wilhelm: Also sprach Zarathustra – Ein Buch für Alle und Keinen. In: F.N. sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Mantinari, 2. durchgesehene Aufl., München 1988.
  • Nietzsche, Friedrich Wilhelm: Die fröhliche Wissenschaft. In: F.N. sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Mantinari, 2. durchgesehene Aufl., München 1988.
  • Wecker, Konstantin: Du musst dir alles geben. In: Ders.: Jeder Augenblick ist ewig. Die Gedichte. München 2018. S. 122-123.

*Der Beitrag ist ein Auszug aus einem längeren Aufsatz zu Weckers Schaffen: Schlicht, Corinna: „Du musst dir alles geben.“ Hedonistische Daseinsbejahung als Gegendiskurs in den Liedern Konstantin Weckers. In: Dies./Thomas Ernst (Hg.): Körperdiskurse. Gesellschaft, Geschlecht und Entgrenzung in deutschsprachigen Liedtexten von der Weimarer Republik bis zur Gegenwart. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2014. S. 83-110.

 

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