Die Beseitigung von physischem und psychischem Müll

Eine Analyse zu Entsorgung (Wecker 2018, S. 199-202)

In der Anthologie Jeder Augenblick ist ewig findet sich das Gedicht Entsorgung, das mit der rhetorischen Frage: „Wohin mit dem Dreck?“ (Wecker 2018, 199) beginnt, wobei offen gelassen wird, was denn eigentlich entsorgt werden soll. Es zeigt sich, dass tatsächlich Haushalt- und Industriemüll gemeint sind, aber auch Formen intellektuellen und ästhetischen Mülls. Die Eingangsfrage richtet sich auch an die Leser*innen, die sich damit bereits zu Beginn angesprochen fühlen. Formal gliedert sich das Gedicht in fünf Strophen mit unregelmäßiger Versanzahl ohne Reimschema. In den letzten drei Strophen sind jeweils vier Verse durch ein Kreuzreimschema verbunden. Die Aufteilung der Strophen gliedert das Gedicht in zwei Themenbereiche, der Entsorgungsproblematik auf der einen und einer appellativen Lösung auf der anderen Seite.

Durch die Verse: „,Entsorgung‘ / ist in aller Munde“ (Wecker 2018, 199) wird die Aktualität der Thematik zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Gedichtes aufgezeigt. Doch auch heute landen – wie einem Greenpeace-Bericht aus dem Jahr 2018 zu entnehmen ist – große Mengen an Müll auf oft illegalen Deponien, Feldern, Wäldern, Flüssen und im Meer. „[M]an beruhigt sich mit der / Drei-Tonnen-Trennungs-Philosophie“ (ebd.). Die Auseinandersetzung mit der Problematik endet, sobald der Müll das Haus verlässt. Dass reiche Nationen hunderttausende Tonnen an Müll nach Malaysia exportieren, wissen dabei die wenigsten. Durch die Drei-Tonnen-Trennung können sie „sich mittels Entsorgen / ihrer Sorgen entheben.“ (Wecker 2018, 200) und ihr Gewissen beruhigen. Dass es sich dabei um einen bewussten Verdrängungsmechanismus handelt, markiert Wecker durch die wiederholte Verwendung des Wortes Philosophie. Während mit Philosophie eigentlich das Streben nach Erkenntnis und Wissen gemeint ist, wird im Kontext von Entsorgung das Verschleiern und Wegschauen propagiert; ironisch heißt es dazu im Gedicht, dass es „wild gewuchert“ (Wecker 2018, 199) sei. Der Begriff wird fahrlässig und in Übermaß verwendet, sodass er seine Bedeutung verliert. Dahingegen werden unsere Nachbarn, in diesem Fall die Malaien, als Philosophen bezeichnet. Diese sind tagtäglich mit der Problematik konfrontiert, den Müll letztendlich zu beseitigen, wodurch sie ihrer eigenen Umwelt und den Menschen schaden, wie Wecker auch in seinem Gedicht deutlich macht: „Viele kaufen ja nur deshalb so wild um sich / um anschließend ordentlich / entsorgen zu können.“ (Wecker 2018, 200). So trägt das Konsumverhalten dazu bei, dass die Leute dadurch, dass sie anstatt ehrlich ihr sinnloses Kaufen und schnelles Wegwerfen reflektieren, von ‚Entsorgung‘ sprechen, um ihr Gewissen erleichtern.

Doch im Gedicht ist nicht nur von der physischen, sondern auch von der psychischen Müllentsorgung die Rede. Wecker leitet das nächste Themengebiet ebenfalls mit einer rhetorischen Frage ein: „Wer aber, frage ich, / kümmert sich / um die Entsorgung unserer Psyche?“ (Wecker 2018, 200). Die Verwendung des Personalpronomens ‚ich‘ lässt das lyrische Ich persönlicher wirken und stellt Nähe zu den Rezipient*innen her. Die Dauer der Konfrontation mit dem psychischen Müll im Radio beschreibt das lyrische Ich als „tagein, nachtaus“ (ebd.). So wird der Alltag in der Gegenwart so entfaltet, dass man permanent zum Leidwesen der Psyche mit Sprachmüll beschallt wird. Diese Problematik ist aktueller denn je. In Weckers Gedicht klagt das lyrische Ich, dass dieser Müll „in unsere armen Herzen gepeitscht wird“ (ebd.). Somit ist nicht nur die Psyche an, sondern auch das Herz belastet. Die Belastung durch diesen geistigen Müll wird umso größer, da sie sich auf verschiedene Bereiche des Menschen auswirkt. Das Verb ‚gepeitscht‘ macht deutlich, dass dies mit Wucht wie auch mit Schmerz verbunden ist. Hinter der rhetorischen Frage „Wer entsorgt die flotten Sprüche / der Rundfunkmoderatoren?“ (ebd.) verbirgt sich die Ursache des Problems, nämlich der Niveauverlust bei den Radiosendern. Die Wortneubildung ‚Wellenmissbrauch‘ interpertiert den Ärger über die sprachlichen Erzeugnisse im Rundfunk als gewaltsamen körperlichen Übergriff. Durch das Substantiv ‚Missbrauch‘ wird deutlich, dass man die weitreichende Kraft der Wellen auch auf intellektuell und ästhetisch anspruchsvollere Weise hätte nutzen können. Da sich aber an der Medienlandschaft nichts zu ändern scheint, rekurriert das lyrische Ich ironisch auf eine höhere Macht, die vielleicht dem Problem entgegenwirken könnte, doch die Frage „Welcher Gott wäre gnädig genug, / dieses Gestampfe, / […] / im Himmel endzulagern?“ (Wecker 2018, 201) zeigt, dass selbst ein Gott, welcher im Christentum für seinen Willen zur Vergebung bekannt ist, hinsichtlich des psychischen Mülls keine Gnade walten lassen würde. Die Rede vom Endlagern verweist auf die problematischen Abfälle der Atomkraftwerke, die in dem Wortspiel Radio / Radioaktivität und aufgrund ihrer schier endlosen Haltbarkeit auf den Rundfunk bezogen eher Ausgeburten der Hölle sind, als dass sie ein Gott im Himmel aufnehmen wollen würde.

An dem Titel seines Werkes Auf der Suche nach dem Wunderbaren. Poesie ist Widerstand aus dem Jahr 2018 zeigt sich die rebellische Kraft, die Wecker der Poesie grundsätzlich zuschreibt. In diesem Sinne heißt es in Entsorgung: „Dem Gedudel antworten wir mit Gedichten“ (Wecker 2018, 201) Diese poetische Antwort wird als Kampfansage formuliert. Wie auch an andere Stellen ruft Wecker dazu auf, laut zu werden und sich mit Poesie gegen die „zunehmenden geistlose Gesellschaft“ (Wecker 2018, 16) zu stellen. Durch die negativ konsultierten Substantive ‚Gedudel‘ und ‚Wortvergewaltiger‘, die er in der Aufforderung nennt, verdeutlicht er den zum einen die ästhetische Niveaulosigkeit (Gedudel) sowie die zuvor schon im Missbrauch angesprochene Gewalt (Wortvergewaltiger) in den Medien, gegen die etwas unternommen werden muss. Mit den Versen: „Schlichtheit gegen das allzu Schrille / und die Kunst, mal abzudrehen / Dann wird vielleicht der Klang der Stille / all dem Lärmen widerstehen“ (Wecker 2018, 202), endet das Gedicht. Die permanente Beschallung der Menschen führt dazu, dass der diese andauert konsumiert und sich in ihnen, ihren Herzen, ihrem Geist, Verbalmüll anhäuft. Das Widerstehen hat wie die Schlichtheit in der Kunst das Ziel, dass der Mensch zur Ruhe kommt, denn laute, grobe und zugleich flache Radiounterhaltung lässt keine Stille zu, die aber notwendig ist, damit die Menschen in sich gehen können. Durch das Widerstehen würde der Konsum eingeschränkt werden und die psychische Belastung vielleicht, wie Wecker es in diesem Vers erwähnt, weniger werden. Diese letzten vier Strophen fordern die Rezipient*innen dazu auf aufzustehen und etwas an der aktuellen Situation zu ändern. Es gilt gemeinsam gegen die Medien und den Konsum ein „Bollwerk gegen den schlechten Geschmack“ (Wecker 2018, 201) zu errichten, denn „Menschen, die tagtäglich Widerstand leisten gegen das Unrecht,[…] [sind der] Sand und nicht das Öl im Getriebe der Welt“ (Wecker 2012, 17). Wenn wir Sand in das Getriebe der Beschallung streuen, wird das „geldgeile Pack“ (Wecker 2018, 201) die Macht über die Gesellschaft verlieren, sodass nicht mehr Dinge geschaffen werden, die kaum sind sie in der Welt, schon wieder entsorgt werden müssen.

 

Literatur

Wecker, Konstantin: Entsorgung: In: Ders.: Jeder Augenblick ist ewig. Die Gedichte. München 2018. S. 199-202.

Wecker, Konstantin. Meine rebellischen Freunde. Ein persönliches Lesebuch. München 2012.

 

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