Liebe ist Leben, mein Schatz – die Liebe als Anker im Sturm des ständigen Wandels

Eine Analyse zu Stürmische Zeiten, mein Schatz (EV: Wenn du fort bist – Lieder von der Liebe und vom Tod. Global 1994; Wecker 2018, S.188-190)

Das Gedicht Stürmische Zeiten, mein Schatz wurde auf dem Album Wenn du fort bist – Lieder von der Liebe und vom Tod 1994 erstveröffentlicht. Es besteht aus neun Strophen mit je vier Versen, die durchgängig durch Kreuzreime verbunden sind. Die Strophen fünf und neun bilden einen sich wiederholenden Refrain und die vierte Strophe kann als Bridge gelesen werden.

Thematisch wird in dem Gedicht die Vorstellung von essentialistischer Liebe als treibende Kraft des Lebens und als Halt gegenüber sich wandelnder Lebensbedingungen aufgegriffen. Dies wird in Form eines Zwiegesprächs zwischen lyrischem Ich und lyrischem Du deutlich gemacht.

Bereits durch den Titel des Gedichts wird das Spannungsfeld zwischen einem Zweisamkeitssetting und Umbrüchen auf gesellschaftlicher, sozialer und politischer Ebene aufgezogen. Dabei bleibt die direkte Anrede des lyrischen Du mit „mein Schatz“ (Wecker 2018, S. 188) über das gesamte Gedicht hinweg erhalten, während die Beschreibung der Realitätseindrücke mal als „stürmische Zeiten“ (ebd.), mal als „unruhige Zeiten“ (Wecker 2018, S. 189) beschrieben werden.

Im Kontext der Entstehungszeit des Liedes finden sich unter den Stürmen, auf die angespielt werden, etwa rechtsradikale Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte in den frühen 1990er Jahren vor allem (aber nicht nur) im ostdeutschen Raum. Derartige Tendenzen klingen in der zweiten Strophe an: „die Bürger fordern Ordnung und Zucht, / denn Schuld sind wie immer die andern“ (Wecker 2018, S. 188f.). Die rechtsradikalen Akteure und deren Unterstützer kommen entgegen der ersten Annahme aus der Mitte der Gesellschaft, aus der bürgerlichen Schicht. Die politischen Folgen dieser Ausschreitungen waren nicht etwa das harsche Vorgehen gegen die Rechtsradikalen, sondern die Einschränkung bzw. Verschärfung des Asylrechtes. Eine vergleichbare Situation ist in der Flüchtlingsdebatte seit 2016 nachzuvollziehen. So kritisiert Wecker den Sündenbockreflex der Politik, die nach dem Motto agiert: „Denn Schuld sind wie immer die andern“ (Wecker 2018, S. 189). Die Fehler werden demnach im Außen gesucht, aber nie im eigenen System bzw. bei der eigenen Person. Die wirklichen Verantwortlichen ziehen sich aus der Affäre mit altbewährten Formeln und Ideen, während die Gesellschaft die Fehler mit Wohlstand und Rausch ausblendet: „Jetzt rächen sich wohl die zu lange zu vollen Teller / und manchem bleibt nur noch der Schlaf / und die Träume des Mohn (Wecker 2018, S. 189).

Ebenso bezieht Weckers Lied sich auf die Folgen der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland nach dem Mauerfall 1989 und dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik. Letzteres wird durch die Textzeilen „vierzig Jahre geregeltes Sein, / wo nach außen fast jeder Fürst oder Zar war, / und jetzt bricht diese Weltbildgebäude so kläglich ein“ (ebd.) verdeutlicht. Gerade die Verbildlichung eines in sich zusammenbrechenden Weltbildgebäudes lässt sich parallel zu einer einbrechenden und gefallen Mauer lesen und scheint der Anlass für instabile und aufregende Zeiten zu sein. Durch das Bild „[d]ie Minister scharwenzeln verschleimt um die möglichen Sieger“ (Wecker 2018, S. 188) wird die Kritik an den Politikern deutlich, die sich nicht um die Interessen ihrer Büger*innen kümmern, sondern die nur ihren eigenen Vorteil und ihre eigene Machtsteigerung im Sinn haben. An dieser Stelle kann ein Bezug zur Problematik der Wiedervereinigung Deutschlands nach 1989 gezogen werden, besonders zur Frage welche Verfassung das ‚neue‘ Deutschland haben sollte. Statt einer gemeinsam ausgearbeitet Verfassung wurden die ostdeutschen Gebiete schließlich von der Bundesrepublik annektiert und erhielten eine Westdeutsche Verfassung. Damit vollzog sich ein Wandel des politischen Systems in der ehemaligen DDR, wobei die westlich-kapitalistische Sichtweise sich etablierte und die ostdeutsche überschrieben wurde.

In der ersten Strophe wird die Wichtigkeit des Lebens im augenblicklichen Moment hervorgehoben und die Liebe als Halt und Lichtblick in den Mittelpunkt gerückt (vgl. Wecker 2018, S. 188). Besonders deutlich wird dies durch das aufgegriffene Motiv der Falken als mittelalterlichem Symbol für ein Liebespaar. Mit „Insel“, „Sturm“ und „Turm“ (etc.) werden dabei Motive der Freiheitssuche aufgegriffen, die als Hinweis auf eine vom Text bevorzugte, anarchistische Gesellschaftsstruktur gedeutet werden kann. Unterstützt wird diese Lesart auch durch andere Texte und Äußerungen Konstantin Weckers, der von sich selbst sagt, er sei „im Herzen Anarchist“ (vgl. Wecker 2012, S. 12).

Im weiteren Verlauf des Lieds stellt Wecker die Liebe als wunderbares, aber auch schmerzvolles, das gelebte Leben ausmachende Phänomen dar und kontrastiert sie mit übermäßigem Konsumverhalten und Luxusangeboten in der neoliberalen Gesellschaft. Während „der Hochmut der prächtigsten Türme […] allem voran in Staub und Asche zerfällt“ (Wecker 2018, S. 189) existiert die Liebe sowohl in einem „Palast“ (Wecker 2018, S. 190) als auch in einem „oft nur […] schäbige[n] Zimmer“ (ebd.).  

Dagegen wird die neoliberale Grundstruktur in Form der Klimax von Privateigentum über Banken als Institution zum Staat als Ordnungsmacht kritisiert: „Ach, wer auf Häuser baut, / den schreckt jedes Beben, / wer sich den Banken verschreibt, / den versklavt ihre Macht. / Wer seinem Staat vertraut, der muß damit leben, / daß was heute noch Recht ist, oft Unrecht wird über Nacht“ (Wecker 2018, S. 189). Der Mensch scheint den Rädern und der Willkür des Kapitalismus unterworfen zu sein. Die Forderung zu „widerstehn“ (ebd.) muss in diesem Zusammenhang als Appell gelesen werden, selbstständig zu denken und zu handeln, ohne sich leiten oder abhängig machen zu lassen. Zugleich wird als Kraftanstrengung ausgewiesen, denn auch das lyrische Ich weiß, dass es wohl leichter wäre zu „verzagen“ (ebd.), jedoch fasst das Lied Mut (und überträgt diese auf die Rezipient*innen) aus der Einsicht, dass das Leben selbst aus Brückenschlägen besteht, mit denen „Ströme, die vergehn“ (ebd.), überwunden werden können. Im Refrain wird also dazu aufgefordert Brücken über vergehende Ströme zu schlagen, denn die Vergänglichkeit gehört zum Leben, das nur in seiner Dialektik aus Werden und Vergehen im Ganzen erfasst werden kann. Das Bauen von Brücken kann nicht nur für das Aufbauen von menschlichen Verbindungen stehen, sondern zusätzlich aufzeigen, dass jeder Mensch in der Lage ist etwas zu erreichen, zu erschaffen und damit Gutes zu tun. Denn die Menschlichkeit und letztlich die Liebe sind essentiell für den Erhalt der Menschheit und unabdingbar, um die genannten Umbrüche der Zeit nicht nur passiv hinzunehmen und isoliert zu überstehen, sondern aktiv als Teil einer Gemeinschaft mitzugestalten und sie vielleicht auch zu einer besseren Version zu bringen. Im Zuge dieser Lesart kann das Schlagen von Brücken als Bau eines neuen Weges gesehen werden; eines Weges und Ausweges aus den krisengeplagten Zeiten des Umbruchs und zusätzlich als Rettung vor Isolation. In den Arrangements von Jo Barnikel zur Weltenbrandtour 2019 ist dieser Brückenschlag auch musikalisch fulminant umgesetzt, wenn den schrillen und z.T. disharmonischen Klängen der Strophen, die die Stürme besingen, folgt die Fülle des Wohllauts durch die satten Streicher, die eben diesen Mut zum Brückenschlag warm und geradezu hymnisch ausmalen.

Es ist also wichtig – so das Fazit des Liedes – die Herausforderungen des Lebens anzunehmen und die Augenblicke des Lebens zu leben. Dabei bleibt die Liebe als einzige stabile Konstante in der unruhigen Umgebung bestehen. Sie fungiert als Halt, Stabilität und somit auch als Hoffnungsträgerin. Die Liebe wird daher dem Leben gleichgesetzt. Somit steht die Liebe nicht nur in einem Spannungsfeld zu Globalisierung, Modernisierung, aufkommendem Neoliberalismus und Rechtsextremismus. Sie kann auch als Mittel zur Menschlichkeit in unruhigen Zeiten wirksam werden. Zum einem, um im privaten Umfeld liebevoll und menschlich miteinander umzugehen, zum anderen, um im politischen und gesellschaftlichen Kontext Halt zu finden und dort auch letztlich die Empathie zu bewahren und genau diese Ströme des Lebens nicht vergehen zu lassen.

 

Literatur

Wecker, Konstantin: Stürmische Zeiten, mein Schatz. In: Ders.: Jeder Augenblick ist ewig. Die Gedichte. München 72018, S. 188-190.

Wecker, Konstantin: Meine rebellischen Freunde. Ein persönliches Lesebuch. München 2012.

 

 

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