Die Lüge vom Vaterland

Eine Analyse von Vaterland (2001) (EV: Vaterland. Global 2001; Wecker 2012, S. 223-225).

Das Lied Vaterland (2001), erschien 2001 als Neuversion auf dem gleichnamigen 17. Studioalbum des Liedermachers Konstantin Wecker und wurde erstmalig 1979 veröffentlicht. Wecker prangert die vorherrschenden patriarchalisch-kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen, welche in Deutschland (immer noch) vorherrschen, an und fordert dazu auf, sich zu mündigen Bürgern zu entwickeln, die sich von dieser Herrschaftsform lösen.

Der Titel suggeriert zunächst ein Vaterlandslied im herkömmlichen Sinne (s. dazu auch das Vaterlandslied von Ernst Moritz Arndt aus dem Jahr 1812). Bei dieser Form des Vaterlandsliedes handelt es sich um patriotische Kriegslyrik, die zum Ziele hat einen heroisierenden Blick auf den Krieg zu geben und die ihre Funktion darin sieht, den Nationalgedanken zu schärfen. Durch die Stärkung des damit verbundenen Gemeinschaftsgefühls, soll die Bevölkerung zum einen zu Gehorsam aufgerufen und zum anderen im militärischen Sinne mobilisiert und motiviert werden, sich mit dem Vaterland zu identifizieren, ihm zu dienen und dafür ggf. auch sein Leben zu opfern. Dieser, auch von dem Faschismus vertretenen Vaterlandsdefinition, erteilt Wecker wie bereits Kästner in seinem Gedicht Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn? (1928), eine kritische Absage. Seine anti-faschistische Haltung vertritt Wecker in vielen seiner Lieder wie beispielsweise in Willy.

Weckers Lied gliedert sich in insgesamt 15 Strophen mit jeweils vier Versen. Ein durchgängiges Reimschema lässt sich nicht erkennen, jedoch reimt sich konstant der zweite auf den vierten Vers. Auffällig an der Struktur sind die vielen Fragen, die einen dialogischen Charakter erzeugen und die Zuhörer*innen bei der Diskussion um die Zeitgemäßheit des Vaterlandkonzeptes mit einbeziehen. In der Fragenflut, die das Gedicht dominiert, thematisiert und kritisiert die zentrale und sich wiederholende Frage das Konzept des „Vaterlandes“: „Was ist das nur, ein Vaterland –“ (Wecker 2012, 223).

Wecker zerlegt das Kompositum „Vaterland“ in seine Bestandteile. Während er zunächst das Grundwort „Land“ in den ersten vier Strophen bearbeitet und hinterfragt, behandelt er das Bestimmungswort „Vater“ im weiteren Verlauf.

Zunächst widmet sich Wecker der Beziehung zwischen Individuum und Herkunfts- bzw. Vaterland. Dabei wird untersucht, wodurch die Zugehörigkeit zu einem Land definiert wird. Auf verschiedenen Ebenen geht Wecker darauf ein, indem er anfangs die geographische Lage und die Grenzziehung eines Landes und im weiteren Verlauf das persönliche und emotionale Verbundenheitsgefühl eines Individuums zu seinem Vater(-land) thematisiert. Dabei fragt er: „In welchen Grenzen wohnt es, / in denen wie vor hundert Jahrn?“ (Wecker 2012, 223). Wecker zielt damit drauf ab, den Zuhörer*innen die Ziehung, die historische Verschiebung und Neusetzung von Grenzen ins Bewusstsein zu rufen.

Im weiteren Verlauf zeigt sich auf einer persönlichen und emotionalen Ebene die Beziehung zwischen Herkunftsland und Individuum „Und was verbindet uns mit ihm, / sein Reichtum, seine Siege?“ (Wecker 2012, 223). Wecker wirft in diesem Zuge den Gedanken auf, inwieweit sich die Rezipient*innen überhaupt mit den Normen und Werten sowie den Machtstrukturen, die das Vaterland ausmachen, identifizieren kann. Deutlich wird an dieser Stelle auch die kapitalistischen Herrschaftsidee, welche Wecker in vielen seiner Texte kritisiert (siehe Stürmische Zeiten, mein Schatz). Während Wecker im Kontext des (Vater-)Landes Aspekte wie: „Tote[...]“ (Wecker 2012, 223), „Kriege“ (ebd.), „Blut“ (ebd.), „Rasse“ (Wecker 2012, 224) und „den Hals zuschnür[en]“ (ebd.) aufzeigt, werden von ihm im Kontext der Vater-Kind-Beziehung und der Heimat Formulierungen wie „Kindheitszauberorte“ (Wecker 2012, 224), „Mutterland“ (Wecker 2012, 223), „Ideen [...], Visionen, Utopien“ (Wecker 2012, 224) und „wohlvertraut[]“ (Wecker 2012, 225) benutzt. Es zeigt sich dadurch die Härte und Autorität, die der Vaterlandsbegriff für Wecker ausstrahlt und hebt die Zartheit, Verletzlichkeit und Notwendigkeit der Autonomie des einzelnen Bürgers hervor. Diese Kontrastierung, die mit der neologistischen Vorstellung eines „Mutterlandes“ (Wecker 2012, 223) dann auch von Wecker visualisiert wird: „Und hätte nicht ein Mutterland / – ich weiß das gibt es nicht – / für alle die ihm anvertraut / ein lieberes Gesicht?“ (Wecker 2012, 223) und die dem Vaterland somit als bessere Alternative entgegengestellt wird, was durch die Verwendung des Komparativs „lieberes“ verdeutlicht wird, ist Ausdruck des starken Wunsches Weckers, eine Veränderung des bestehenden Systems der Gesellschaft herbeizuführen, fernab von patriarchalen Herrschaftsstrukturen.

Ab der fünften Strophe wird das umfassende Konzept „Vater“ durch seine Personifizierung als menschlichem Vater aufgemacht. Im weiteren Verlauf des Liedes diskutiert Wecker die Rolle eines Vaters, indem er den Vater als eine Person darstellt, die Sicherheit, Halt und Struktur gibt. Auf der anderen Seite ist es jedoch auch Kontrolle, Abhängigkeit und Dominanz, die Wecker dem Bild dieses Vaters entgegensetzt. Eine solche Beziehung zielt auf Autonomielosigkeit und Hörigkeit des Heranwachsenden ab. Die Schwelle zum Erwachsenwerden zeigt den mit Anstrengungen verbundenen Entwicklungsprozess des Kindes an. Das Erwachsenwerden erfordert ein Ablösen vom Vater, was unmittelbar bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, Dinge zu gestalten und selbst zu handeln. Zu diesem mit Arbeit verbundenem Prozess ruft Wecker in seinem Lied auf. Wecker stellt dazu das Konzept komplett um, wenn nämlich das Kind den Vater erzieht: „Und müssten wir nicht endlich auch / den Vater uns erziehen, / ihn fordern mit Ideen, mit / Visionen, Utopien?“ (Wecker 2012, 224).

Wecker zeigt die Hinfälligkeit des Konzeptes von einem führenden Vater, wenn ein Kind erwachsen wird und sich vom Vater löst und sein Leben selbstständig gestalten kann. Mit der Phrase „Vom Untertan zum Bürger werden?“ (Wecker 2012, 224) stößt er den Gedanken an, wie sich ein Kind entwickeln müsste, um erwachsen zu werden, d.h. wie sich der Mensch von der Hörigkeit zur Mündigkeit entwickelt. Hierbei wird die gesellschaftliche Dimension bzw. das gesellschaftlich vorgegebene Konzept des Vaterlandes angesprochen. Das „Vaterland“ wird mit Staat und Bürgern in Verbindung gebracht.

Fälschlicher Weise, so arbeitet Wecker es heraus, wird Vaterland oft mit Heimat synonym verwendet. Heimat, sagt Wecker, sei überall, wo man sich „selbst begegnet“ (Wecker 2012, 223). Resümierend betrachtet ist Heimat die Sehnsucht nach einem Ort, den es so, wie wir ihn in Erinnerung haben, womöglich nicht mehr gibt oder nie gab. Heimat ist also etwas Prozesshaftes, ein Heimatgefühl stellt sich ein, während „Vaterland“ ein starres Konzept ist. Die Aktualität des Heimatsdiskurses ist gegeben durch gesellschaftliche Entwicklungen, Probleme und Ausdruck einer wachsenden sozialen Ungleichheit, die die Frage nach der sozial-räumlichen Zugehörigkeit oder Abgrenzung aufwirft. Demnach kommt Wecker zu dem Schluss, dass es sich bei dem Konzept „Vaterland“ nicht nur um einen rückschrittigen Gedanken handelt, sondern auch um ein generelles Fehlkonzept, das noch nie wahr war, und dass das „Vaterland“ also per se eine Lüge ist. 

 

Literatur

Wecker, Konstantin: Vaterland (2001). In: Ders.: Jeder Augenblick ist ewig. Die Gedichte. München 2012, S. 223-225.

 

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