Projekte von Prof. Dr. Melitta Gillmann

Freie und gebundene Variation in der Grammatik. Diachronie und Diatopik der Auxiliarvariation im Deutschen (DFG-Sachbeihilfe, Laufzeit 2023-2026)

Die Variation der Perfekthilfsverben haben und sein ist sowohl in der deutschen Gegenwartssprache als auch in der Sprachgeschichte größer, als in der Forschung bislang angenommen. Neben bekannten Fällen wie der haben/sein-Variation bei Positionsverben wie sitzen, stehen, liegen, die regional konditioniert sind, werden andere Fälle bislang kaum zur Kenntnis genommen (z.B. hat/ist einen Weg eingeschlagen, hat/ist etwas angegangen, hat/ist getourt). In der deutschen Sprachgeschichte ist dieser Variationstyp noch deutlich ausgeprägter, wie u. a. unsere Pilotstudie zu diesem Antrag zeigt; nicht selten variieren sogar einzelne Schreiber/innen in ihrem Auxiliargebrauch. Dabei ist nur ein Teil der beobachteten Varianz durch sprachinterne oder -externe Faktoren erklärbar. In einem beträchtlichen Teil der Daten scheint das Auxiliar ungebunden zu variieren, was auf einer theoretischen Ebene die Fragen aufwirft, ob wir es mit einem Fall freier Variation, d.h. der Koexistenz zweier funktionsgleicher Varianten, zu tun haben, wie sich die Varianz diachron wandelt und wie Diachronie und Diatopik bei der Entstehung und Entwicklung dieser Varianten zusammenwirken.

Um diese Fragen zu beantworten, strebt das Projekt erstmals eine breit angelegte, systematische Studie zur Erschließung dieses Variationstyps an. Ziel ist es, die Perfekthilfsverbvariation in historischen Sprachstufen des Deutschen vom Mittelhochdeutschen bzw. Mittelniederdeutschen zum frühen Neuhochdeutschen und in ihrer Arealität umfassend zu beschreiben und mögliche Einflussfaktoren auf die Hilfsverbwahl zu bestimmen. Diesem Vorhaben widmen sich zwei verzahnte Teilprojekte an den Standorten Duisburg-Essen und Passau. Es wird eine gemeinsame, standortübergreifende Datenbank mit Perfektbelegen aufgebaut und ausgewertet. Die Befunde, die sich aus diesen Auswertungen ergeben, werden jeweils unter diachronen und diatopischen Gesichtspunkten in gemeinsamen Veröffentlichungen zusammengeführt.

Um Einflussfaktoren auf die Hilfsverbwahl zu analysieren, werden die Korpusdaten u. a. nach semantisch-syntaktischen Merkmalen wie Telizität, Aspektualität, semantischer Verbklasse und Transitivitätsgrad annotiert. Ein Teilziel besteht darin, erstmals zuverlässige Kriterien der Operationalisierung dieser Merkmale zu erarbeiten und diese auf Grundlage von Sprachdaten zu evaluieren. So soll ein Annotationsleitfaden für zukünftige empirische Studien zu verbalen Konstruktionen entstehen. Auf einer theoretisch-abstrakten Ebene ist ein Erkenntnisgewinn über die allgemeine Beziehung von Variation in Diachronie und Diatopik wie auch über die Existenz von freier Variation im Sprachsystem zu erwarten. Damit leistet das Vorhaben einen wichtigen Beitrag zu einer empirisch fundierten Sprachwandel- und Sprachvariationsforschung.

Projektleitung: Prof. Dr. Melitta Gillmann (Universität Duisburg-Essen), Prof. Dr. Alexander Werth (Universität Passau)

Mitarbeitende: Christoph Eichinger (Universität Passau), Liubov Postol (Universität Duisburg-Essen)

Hilfskräfte: Sarah Gummersbach, Noel von Kiedrowski, Julian Twiehoff

KEY: Kollaborative Erstellung eines YouTube-Korpus zum Erwerb von linguistischen Schlüsselkompetenzen und empirischem Methodenwissen (Förderprogramm Lehr-Lern-Innovationen an der UDE, Laufzeit 03/2024-02/2025)

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Zentrales Ziel des Projekts ist es, zusammen mit Studierenden in einer ersten Projektphase im SoSe 2024 auf Basis von YouTube-Videos ein linguistisch annotiertes Korpus aufzubauen (analog zum englischsprachigen GUM-Korpus, vgl. Zeldes 2017). Die dabei entstehende Ressource wird in der zweiten Projektphase im WiSe 2024/25 als Basis für studentische Forschungsprojekte genutzt. Als Datengrundlage werden YouTube-Videos, speziell sog. Vlogs, gewählt. Diese eigenen sich besonders gut dazu, Phänomene der konzeptionellen Mündlichkeit und Jugendsprache zu untersuchen. Hierzu zählen Strukturphänomene der gesprochenen Sprache (z. B. weil-Sätze mit Hauptsatzstellung wie weil es regnet gerade), jugendsprachtypische Phänomene wie Anglizismen oder Codeswitching. Ein weiterer Vorteil ist, dass über die bei vielen Videos vorhandenen Untertitel die Sprachdaten leicht abrufbar sind, sodass sie eine niedrigschwellig zugängliche Datenbasis für die Korpuserstellung bilden. Damit entsteht eine Ressource, die auch künftig in Forschung und Lehre genutzt werden kann.

Bei der Erstellung des Korpus in der ersten Phase erlangen die Studierenden über methodische Kenntnisse hinaus vertieftes Fachwissen. Durch die Korrektur automatisch erstellter Wortartenannotationen setzen sie sich mit linguistischem Grundwissen auseinander, das sie bei der Datenanalyse vertiefen. So erfolgt am praktischen Anwendungsfall eine intensive Behandlung linguistischen Grundlagenwissens, das zentral für das Germanistikstudium, den schulischen Grammatikunterricht bzw. für den wissenschaftlichen Nachwuchs ist.

In der zweiten Phase wird durch den projektbasiert-forschenden Zugriff ein weiterer Zugang zu sprachstrukturellen Phänomenen, ihren Besonderheiten in der gesprochenen Sprache sowie der sozialen Funktion von Variation eröffnet. Dabei lernen die Studierenden alle Schritte einer empirischen Untersuchung kennen, von der Entwicklung einer Forschungsfrage über die Operationalisierung von Kategorien, Datenerhebung und -analyse bis hin zur Ergebnisvisualisierung und -präsentation. Abschließend werden die Projekte auf einer studentischen Tagung präsentiert.

Das Projekt umfasst je 2 BA- und MA-Seminare. Wir verbinden mehrere Seminartypen, um möglichst vielen Studierenden die Projektteilnahme zu ermöglichen:

SoSe 2024

  • BA-Seminar Wortarten in der gesprochenen Sprache (C. Hübener) [Lehramt GyGe und BK sowie 2-Fach-Bachelor: Modul Linguistik III: Sprachwandel]
  • MA-Seminar Korpuslinguistik (M. Gillmann) [2-Fach-Master Germanistik Schwerpunkt Linguistik: Modul Vertiefung I, LA HRSGe: Aktuelle Diskussionen in der Germanistik, LA GyGe: Freies Linguistik-Modul]

WiSe 2024/25

  • BA-Seminar Sprachvariation in der Mündlichkeit (L. Postol) [2-Fach-Bachelor Germanistik: Wahlmodul Linguistik: Empirische Methoden in der Linguistik]
  • MA-Seminar Personenreferenz in der Mündlichkeit (M. Gillmann) [2-Fach-Master Germanistik, Schwerpunkt Linguistik: Vertiefung II Linguistik: Anwendungsbereiche der Linguistik, LA HRSGe: Aktuelle Diskussionen in der Germanistik, LA GyGe: Freies Linguistik-Modul]

Projektleitung: Prof. Dr. Melitta Gillmann, Carlotta Hübener, Liubov Postol

Hilfskräfte: Bleta Hoti, Süeda Saridas

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