© Konstantin Börner

Max Czollek

Analyse zu Desintegriert Euch! (Ein Beitrag von Mila Mantaj) 
Inhaltsangabe, Inhaltliche Aspekte, Formale Aspekte, Pressespiegel

 

Max Czolleks: Desintegriert euch!

(Ein Beitrag von Mila Mantaj)


Inhaltsangabe


Max Czolleks 2018 veröffentliche Polemik Desintegriert euch! hat seine gedanklichen Vorläufer vor allem im im Mai 2016 abgehaltenen Kongress der Desintegration, der unter der kuratorischen Leitung von Sasha Marianna Salzmann und Czollek selbst abgehalten worden ist. Hauptanliegen hierbei war die Neuverhandlung zeitgenössischer jüdischer Positionen und die Frage nach jüdischen Identitäten „außerhalb eines deutschen Begehrens nach jüdischen Opfern“[1]. Unter Einflussnahme dieses Desintegrationskongresses im Maxim Gorki Theater entstand zwei Jahre später Max Czolleks Streitschrift, in der er es sich zur Aufgabe macht, „das deutsche Bild von den Juden zu analysieren“ (Czollek 2018, S. 7).
Grundlage seiner Überlegungen bildet hierbei der von dem Soziologen Y. Michal Bodemanns eingeführte Begriff des Gedächtnistheaters (Bodemann 1996). Bodemann und Czollek verbinden unter dem Begriff des Gedächtnistheaters die einstudierte und immer wieder vorgeführte Rolle, die den deutschen Juden im Zusammenleben mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft oktroyiert wird.
Das Theaterstück, was in diesem Sinne von Deutschen und Jüdinnen_Juden fortwährend aufgeführt wird, unterliegt dem Wunsch der Normalisierung nach dem Holocaust und der Selbstinszenierung der Deutschen als post-nationalsozialistische, antifaschistische Gesellschaft (Czollek 2018, S. 30). Ziel des Gedächtnistheaters sei hierbei nicht, die pluralen jüdischen Identitäten, die trotz des Holocausts in Deutschland existieren, abzubilden, sondern viel mehr „das Versprechen auf Versöhnung für die deutsche Gesellschaft einzulösen“ Czollek 2018, S. 24). Im Zuge der deutschen Erinnerungskultur wird durch die Mehrheitsgesellschaft auf das Vergeben und anschließende Vergessen des deutschen Nationalsozialismus gepocht. Zu betonen sind zur jüdischen Rolle im Gedächtnistheater vor allem noch zwei Dinge: Zum Einen benötige das Gedächtnistheater nicht zwingend lebendige Jüdinnen_Juden. Zum anderen habe sich die Rolle, die Jüdinnen_Juden in der Mehrheitsgesellschaft einnehmen dahingehend verändert, als dass sie nicht mehr nur als die antisemitischen Stereotype und Ressentiments existieren, die durchweg negativ assoziiert sind. Im post-nationalsozialistischen Deutschland seit den 1970er Jahren werden sie vor allem auch als „reine und gute Opfer“ (Czollek 2018, S. 27). für das oben beschriebene, deutsche Begehren nach Normalität stilisiert.


Inhaltliche Aspekte


Gedächtnistheater und Dominanzkultur


Czollek betont in den ersten beiden einleitenden Kapitel, dass das Gedächtnistheater maßgebliche Einsichten in die Funktionsweise der deutschen Gegenwart biete (Czollek 2018, S. 28).  Deutlich wird hierbei vor allem das deutsche Begehren nach jüdischen Identitäten, die sich im Dreieck zwischen familiären Holocaustbezügen, Positionierungen zu Israel und Antisemitismuserfahrungen widerspiegeln, um sich anschließend vom zuerst genannten als Deutsche_r auf Seite der Täter*innen zu distanzieren. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft brauche demnach die jüdischen Figuren des Gedächtnistheaters, um ihre eigene Identität zu generieren und aufrechtzuerhalten (Czollek 2018, S. 30).
Wichtig für die Funktionsweisen des Gedächtnistheaters und seinen Konsequenzen für Jüdinnen_Juden in Deutschland ist die vermeintlich eingekehrte Normalität in Bezug auf Nationalstolz und nationale Bestrebungen. Czollek argumentiert, ähnlich wie der israelische Historiker Yehuda Bauer, dass der Antijudaismus und später folgend der Antisemitismus, inhärent Teil der christlichen Kultur sind (Czollek 2018, S. 36 & Bauer 1992). Die verschiedenen Spielarten des Antisemitismus und ihre Anpassungsfähigkeit lassen ihn bis in die Gegenwart aufleben, sodass Behauptungen der Überwindung von Antisemitismus in der deutschen, post-nationalsozialistischen Gesellschaft hinfällig werden. Die Normalisierungstendenzen und die proklamierten sogenannte Schlussstrich-Mentalität der Deutschen wird von Czollek besonders deutlich durch die WM 2006. Das hierbei lange, sprich seit dem Nationalsozialismus unterdrückte Nationalgefühl der Deutschen dürfe im Zuge der WM wieder hervorbrechen und die Nationalsymbole können in vermeintlich unkritischen Rahmen gezeigt werden. Auf dem Boden dieser fälschlichen Normalität sieht Czollek das Erstarken der AfD in den 2010er Jahren begründet. Mit der Normalisierung von Nationalismus und Nationalsymbolen würden zeitgleich auch rechte politischen Ideologien wieder salonfähig und Teil des politischen Diskurses in Deutschland (Czollek 2018, S. 42). Abschließend in diesem Kapitel wird der von der Psychologin Birgit Rommelspacher geprägte Begriff der Dominanzkultur eingeführt: Eine Dominanzkultur repräsentiert nicht unbedingt die Mehrheit in einem Land, sondern ist die Summe dominanter Vorstellungen und Praxen wie beispielsweise bei der nahezu allgemein geteilten Forderung nach Integration […]“ (Czollek 2018, S. 44).
Die Vorstellungen der Dominanzkultur sind prägend für die Funktionsweisen im Gedächtnistheater, sie definieren das Begehren nach Jüdinnen_Juden für das geläuterte deutsche Selbstverständnis. Für Czollek ist die Desintegration nicht nur die jüdische Emanzipation von dem deutschen Begehren, sondern zeitgleich auch eine Möglichkeit, der Reflexion über die Dominanzkultur als solche und den Umgang mit ihren Minderheiten. (Czollek 2018, S. 44).


Nachkriegsnarrationen in BRD und DDR

Um zu verstehen, wie sich das Konzept des Gedächtnistheaters in Deutschland zeigt, muss der Blick zurück auf die beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) geworfen werden. Der Historiker Norbert Frei (Frei 2012) zeigte in seiner Arbeit, dass es zu Integrationsbestrebungen gegenüber Kriegsverbrecher*innen und Täter*innen des nationalsozialistischen Deutschlands gekommen ist, dass der Wille zur Aufarbeitung der Verbrechen jedoch äußerst gering blieb.
Czollek verweist darauf, dass in der deutsche Gesellschaft, aber vor allem auch im deutschen Bildungssystem, die Erzählung proklamiert würde, dass es sich bei der BRD und DDR um zwei völlig neue, mehr oder minder demokratische, antifaschistische Staaten handle, in denen es keine Kontinuitäten in Bezug auf Antisemitismus oder Nationalismus gebe (Czollek 2018, S. 51). Mit der Leugnung dieser etwaigen Kontinuitäten gehe eine zeitgleiche Tabuisierung dieser Themen einher, die erst im Laufe der späten 1960er Jahre in Westdeutschland langsam aufgebrochen wird (Czollek 2018, S. 51). Doch auch die Aufarbeitung der 68er Bewegung wird von Czollek kritisiert, denn auch hierbei würden die Konitnuitäten von Antisemitismus und Nationalismus geleugnet, da sie mit dem deutschen, postnationalistischen Selbstbild in Einklang zu bringen seien (Czollek 2018 ebd.). Paradigmatisch für diese Haltung in Bezug auf die eigene Vergangenheit, ist der Begriff der Vergangenheitsbewältigung, der im gegenwärtigen Diskurs zurecht als umstritten gilt. Grundlegend zeigt sich an diesem Diskursbegriff eindrucksvoll aber immer noch die deutsche Haltung in Bezug auf die eigene nationalsozialistische Vergangenheit  und die daraus resultierende Verantwortlichkeit für Entwicklungen in der Gegenwart.
Die Vorgehensweise des ostdeutschen Staates wird von Czollek ebenfalls beleuchtet. Auch hier existiert die Vorstellung, dass mit der Neugründung eines Staates, der sich erstens als kommunistisch und zweitens als antifaschistisch versteht, das Problem der nationalsozialistischen Kontinuitäten von selbst erledigt hätte. Interessant ist hier vor allem, dass die Anwesenheit von Jüdinnen_Juden in BRD wie DDR als Beweis dafür gewertet wurde, dass der National(sozial)ismus keinen Stellenwert mehr in der deutschen Gesellschaft innehabe. So wird mehrheitsgesellschaftlich dafür argumentiert, dass trotz der Shoah jüdisches Leben in Deutschland wieder möglich sei und entsprechend die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit als beendet gelten könne.


Desintegration


Zentral für Max Czolleks Polemik ist der Begriff der Desintegration. Um dieses Konzept grundlegend zu verdeutlichen, erläutert der Autor muss zunächst das Konzept der Integration. Integration wird aus staatlicher Sicht als ein Prozess mit dem Ziel der dauerhaften Einbeziehung aller Menschen in die Gesellschaft beschrieben (Czollek 2018, S. 63). Czollek betont, dass dem Konzept der Integration die Vorstellung von einem Wir vs. Ihr inhärent sei und diese dichotome Gegenüberstellung eine Kategorisierung vornimmt, die Menschen nach ihrer Herkunft einordnet und klassifiziert (Czollek 2018, S. 64). Da der Begriff der Integration ein über das Parteispektrum hinweg genutzter Begriff mit unterschiedlicher Konnotation ist, verweist Czollek auf das Konzept des Integrationsparadigmas und das in seinen Funktionsweisen ähnlich legitimierte Integrationstheater. Auch hierbei steht die Aufrechterhaltung der eigenen Kultur und des eigenen Selbstbilds im Vordergrund, das unterstützt wird durch die beiden Rollen der guten, integrierten Migrant*innen und der die Integration ablehnenden schlechten Migrant*innen (Czollek 2016, S. 65). Die Integration fungiert hierbei als Othering-Strategie, „denn die Inszenierung der Differenz zwischen uns und ihnen dient der Stabilisierung der Dominanzkultur“ (Czollek 2018 ebd.). Grundlegend für die Funktionalität des Integrationstheaters ist die Vorstellung einer deutschen Leitkultur, die darauf basiert, dass die Deutschen sich durch gemeinsame Verhaltensweisen und Geisteshaltungen auszeichnen, die auf die verschiedensten Lebensbereiche zu übertragen sind. Leitkultur ist hierbei ein singuläres Phänomen, das nicht deckungsgleich mit der pluralen Realität Deutschlands ist. Czollek betont, dass das Konzept der Desintegration gerade deshalb nicht danach frage, wer wie doch integriert werden könnte, sondern es soll Ansätze liefern, „wie die Gesellschaft selbst als Ort der radikalen Vielfalt anerkannt werden kann“ (Czollek 2018, S. 74). Anerkannt werden würde hierbei die Tatsache, dass das was Allgemeinhin unter Deutschland verstanden wird, nie monokulturell oder gesellschaftlich homogen war und sich schon immer durch seine Heterogenität ausgezeichnet hat. Auf Grundlage dieser Annahmen kann die Desintegration als Strategie „selbstbewusster Integrationsverweigerung“ (Czollek 2018 ebd.) gesehen werden, die es ermöglicht alternative Perspektiven miteinzubeziehen.


Das ‚Deutsche Opfernarrativ‘

Nicht nur der Integrationsbegriff ist im gesamten deutschen Parteispektrum zu finden. Gemein ist allen politischen Parteien auch die Instrumentalisierung von Jüdinnen_Juden für den deutschen Erwartungs- und Begehrensrahmen. Czollek verweist auf die unterschiedlichen Funktionalisierungen, die sich für ihn besonders deutlich auch in der deutschsprachigen Literatur niederschlagen und in der Nutzbarmachung von jüdischen Autor*innen für ein deutsches Begehren bis in die Gegenwart hinein. Ein Beispiel stellt Nelly Sachs dar. Sachs, die von Hans M. Enzensberger 1959 rezensiert wurde, nehme durch seine Bewertung eine sakrale Funktion ein (Czollek 2018, S. 79). Die Funktionalisierung der jüdischen Perspektive für die deutsche Läuterung nach dem Holocaust wird als literarische Bezugsgröße auch von Peter Waldmann thematisiert. (Waldmann 2018)
Czollek sieht in der Funktionalisierung von Jüdinnen_Juden die Fortführung der Fixierung auf die deutschen Verbrechen, die es durch ebendiese Fixierung unmöglich macht, die Komplexität jüdischer Erfahrungen in der Gegenwart oder beispielsweise in der Literatur angemessen wahrzunehmen. Zentral ist bei dieser Funktionalisierung, dass sich die Inszenierung im Gedächtnistheater nur mit ‚guten Juden‘ vollziehen lasse. Hierbei wird im öffentlichen, sowie akademischen Diskurs vollständig ausgeblendet, dass es nach 1945 auch Jüdinnen_Juden gibt, die versöhnliche Haltungen gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft ablehnen. Diese Diskurse bilden sich vor allem auch in der germanistischen Literaturwissenschaft ab, bei denen Autor*innen wie Sachs oder Paul Celan in ihrer Lesart den ‚guten Juden‘ zugeschrieben werden. Czollek betont, dass sich in der Art und Weise der Funktionalisierung ein paradigmatischer Wechsel vollzogen hat:
Während in der deutschen Nachkriegsgesellschaft Jüdinnen_Juden im Gedächtnistheater vor allem noch dafür genutzt werden, die deutsche Gesellschaft wieder zu befähigen ihre Sprache und Kultur auszuleben (Czollek 2018, S. 82), wechselt mit dem Generationenwechsel der 68er Bewegung das Narrativ. Jüdinnen_Juden wohne dann die Funktion einer Projektionsfläche des deutschen Begehrens nach Normalität inne. Es folgt eine umfassende Identifikation der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit dem Opfernarrativ, man wäre im Mai 1945 nicht besiegt, sondern vom Faschismus befreit worden. Diese Identifikation mit dem Opfernarrativ ziehe sich bis in die Gegenwart und sei konstitutiv für die gegenwärtige deutsche Erinnerungskultur verantwortlich (Czollek 2018 ebd.). Dieses ‚Deutsche Opfernarrativ‘ trägt auch zum jüdischen Selbstbild bei, das von der deutschen Mehrheitsgesellschaft im Gedächtnistheater geformt wird. Das Annehmen des deutschen Blicks auf Jüdinnen_Juden hat vor allem auch Konsequenzen für die jüdische Kunst- und Kulturproduktion, die in gewisser Weise das deutsche Begehren erfüllen will und dazu tendiert, Inhalte zu produzieren, die sich auf dem Koordinatenfeld zwischen Holocaust, Antisemitismus und Israel changieren (Czollek 2018, S. 87). Die Desintegration könne und solle hierbei helfen die eigenen Positionen im Gedächtnistheater zu reflektieren und zu überlegen, inwieweit die eigene künstlerische Arbeit dem deutschen Begehren in die Hände spielt. Czollek beendet diese Ausführungen mit dem Hinweis darauf, dass das Mitspielen im Gedächtnistheater in der Gegenwart nicht mehr für das soziale Überleben von Jüdinnen_Juden notwendig sei (Czollek 2018, S. 90). Nachfolgend geht Czollek weiter auf die deutsche Identifikation mit dem Opfernarrativ ein. Wie verfahren öffentlich-rechtliche Medien und Zeitungen beispielsweise mit gedenkkulturellen Initiativen zum Holocaustgedenktag, wie vollzieht sich der Umgang mit dem Holocaustmahnmal in Berlin, wie sind Fernsehproduktionen wie Unsere Mütter, Unsere Väter vor dem Hintergrund des Gedächtnistheaters und der deutschen Erinnerungskultur zu bewerten? Czollek schließt, dass es sich bei der Identifikation mit dem (jüdischen) Opfernarrativ um eine Konsequenz der anhaltenden Verhandlung des deutschen Selbstbilds handle (Czollek 2018, S. 98). Eine weitere Konsequenz dieser Identifikation ist, dass die Täter*innenerinnerungen abgeschafft würden, wie eine Studie aus dem Februar 2018 zeigt. Bei deren telefonischer Befragung zeichnet sich ab, dass in der deutschen Familienerinnerung kaum bis keine Täterperspektiven thematisiert und tradiert werden und dass die öffentliche Inszenierung von Gedenken „als Entlastungsritual für familiäre Schuld“ (Czollek 2018 ebd.) angesehen werden kann. Weiter zeigt Czollek Möglichkeiten auf, wie es von einem jüdisch-deutschen Standpunkt aus möglich ist, sich dem deutschen Begehren zu entziehen und im Zuge dessen Brüche mit dem Gedächtnistheater zu provozieren. Als Beispiel zieht er hierfür die satirische Aktion des Comedians Shahak Shapira yolocaust.de heran. Auf der Webseite sammelte Shapira Selfies und Bilder von Besuchern des Berliner Holocaust-Mahnmals, die hinterlegt waren mit Bildern aus der Shoah und dem zweiten Weltkrieg.
Als zentral stellt Czollek in diesem Kapitel heraus, dass die Desintegration dafür sorgen kann, die Inszenierung im Gedächtnistheater zu stören. Das kann über Humor in Form von Ironie und Satire funktionieren, aber auch durch Wut über die Versuche der vermeintlich gemeinsamen Erinnerung und Vereinnahmung der Opfer-Identifikation. Die Desintegration sorge dafür, dass die deutsche Täter*innen-Perspektive des Gedächtnistheaters sichtbar gemacht würde und vor allem auch dafür, dass Jüdinnen_Juden sich aus ihren Rollen im Gedächtnistheater befreien können (Czollek 2018, S. 106).


Aktuelle Tendenzen der Neuen Rechten

Wiederkehrend bezieht Czollek sich auf das Narrativ der Befreiung vom Hitler-Faschismus/dem Dritten Reich, die erstmalig mit einer Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Mai 1985 in Westdeutschland thematisiert wurde und damit ein neue deutsche Selbstverordnung anzeigt (Czollek 2018, S. 20 & 107). Ähnliche Bezüge stellt für Czollek eine Rede von Frank Walter Steinmeier dar, bei dessen „Wiederholung des Selbstbildes der guten Deutschen“ (Czollek 2018, S. 107) eine Abkehr von Antisemitismus und Rassismus dem Selbstbild inhärent zu sein scheint. Um eben diese Selbstbild aufrecht erhalten zu können, trotz erstarkender neurechter und völkischer Tendenzen im Querschnitt der Gesellschaft, würde eine Verweigerung der (politischen) Realität stattfinden (Czollek 2018 ebd.). Mit dieser Verweigerung ginge aber auch zeitgleich eine Negierung der AfD als „Wiedergängerin völkischen Denkens“ (Czollek 2018 ebd.) einher, die insofern besonders problematisch ist, als dass sie für weite Teile der (post-)migrantischen deutschen Gesellschaft eine reale, existenzielle Bedrohung darstellt.
Wie ist es also möglich, dass eine Partei wie die AfD keine 80 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs wieder im Bundestag sitzt und Politik maßgeblich mitbestimmen kann? Einen Grund sieht Czollek vor allem in der bereits angeführten, wiedergekehrten Salonfähigkeit von rechten, nationalistischen und nationalliberalen Positionen, die durch das gesamte politische Lager hinweg Teil des öffentlichen Diskurses seien (Czollek 2018 ebd.). Zentral hierbei ist vor allem die Neubelegung des Heimatbegriffs, der nicht nur Teil des AfD Parteiprogramms ist, sondern sich genauso bei den Grünen und Sozialdemokraten finden lässt. Der Fokus auf nationalistisch eingefärbte Themen sieht Czollek als Konsequenz und Versuch, die neuen Wähler*innen der AfD zurück zu den demokratischen Parteien zu ziehen. Czollek subsumiert diese politischen Tendenzen und die inhaltliche Annäherung an die AfD als „Rhetorik der Zärtlichkeit“ (Czollek 2018, S. 117). Dieser Rhetorik gegenüber stehe die Haltung der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Migrant*innen, Muslim*innen und Geflüchteten, die als „Rhetorik der Härte“ (Czollek 2018, S. 118) bezeichnet wird. Aus dieser Haltung erwachse das Integrationstheater und der damit verbundene Homogenitätsanspruch, der seitens verschiedener politischer Akteure immer wieder neu gefördert würde (Czollek 2018, S. 120).
Um sich diesen erstarkenden völkischen Tendenzen in Politik und Gesellschaft aktiv entgegenstellen zu können, müssen laut Czollek neue Allianzen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und ihren Minoritäten hergestellt werden, die nicht Teil der Aufführung im Integrations- oder Gedächtnistheater sind. Denn „die Inszenierung von Kultur und Vielfalt für eine deutsche Mehrheit ist etwas anders als die Anerkennung von Vielfalt“ (Czollek 2018, S. 120). Die Anerkennung, dass die deutsche Gesellschaft eine plurale sein muss, ist hierbei also allgegenwärtig für die Desintegration.


Widerstandsstrategien


Auch wenn versucht wird, sich aktiv dem Gedächtnistheater und seinen Inszenierungen zu entziehen, würden in Deutschland lebenden Jüdinnen_Juden für die deutsche „Wiedergutwerdung“ (Czollek 2018, S. 123) nutzbar gemacht. Neben der Suche nach dem offenen Konflikt, haben sich verschiedene Widerstandsstrategien herausgebildet, auf die Czollek näher eingeht. Eine dieser Strategien kann Hip-Hop, genauer Rap sein. Politisch avancierender Rap könne demnach „als Versuch [gewertet werden], die Kontrolle über die Definition der eigenen Position zurückzugewinnen“ (Czollek 2018, S. 128). Diese Form der künstlerischen Selbstermächtigung, über Hip-Hop aus dem Integrations- und Gedächtnistheater auszubrechen, wird oftmals durch Kategorisierung entschärft, Zuschreibungen des Unpolitischen versuchen die künstlerischen und selbstermächtigenden Wirkungsweise von Hip-Hop zu untergraben. Dabei ist es auch hier wieder der Blick der Mehrheitsgesellschaft auf das Subalterne und Marginalisierte, der diese Zuschreibungen vornimmt und etwa Hip-Hop nicht als Form künstlerischen Ausdrucks ansieht, sondern es beispielsweise als Sprache der Straße diffamiert. Auch die Literaturwissenschaft interessiert sich zusehends für Hip-Hop und Rap und nimmt dabei diese Texte explizit als Texte mit literarischem Anspruch wahr.
Auch Czollek zieht den Vergleich von Rap zur Literatur, die wie jede Kunst Auswahl- und Bewertungsprozessen unterliege, die aktiv und systematisch spezifische Gruppen ausschließen (Czollek 2018, S. 130). Die Frage, die hierbei aufkommt ist diejenige danach, welche Literatur Teil des Kanons ist beziehungsweise werden kann und welche Literatur im Zuge dessen ausgeschlossen wird, weil sie in ihrer Lesart als „Adjektivliteratur“ (Czollek 2018, S. 131) bereits in feste Kategorien und Vorstellungen einsortiert wurde. Unter ‚Adjektivliteratur’ versteht Czollek die Literatur, die in ihrer Selbstbezeichnung Identitätskategorien wählt, um somit die eigene Perspektive zu betonen und den eigenen Stand gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu verdeutlichen. Diese Strategie misslingt aber dann, wenn beispielsweise ‚jüdische’ Literatur im Koordinatenfeld der Interpretation und Rezeption sich nur zwischen den Themen Antisemtimus, Israel oder Holocaust vollzieht. Trotzdem schreibt Czollek dem Theater, dem Hip-Hop und der Literatur das größte Potenzial zur Kritik und Überwindung des Integrations- und Gedächtnistheaters zu (Czollek 2018, S. 133.). Die Desintegration wird von Czollek dabei als „ein jüdische[r] Beitrag zum postmigrantischen Projekt [verstanden], dessen Ziel es ist, radikale Diversität als Grundlage der deutschen Gesellschaft ernst zu nehmen und ästhetisch durchzusetzen“ (Czollek 2018 ebd.). 
Anders als im Gedächtnistheater inszeniert, existiert keine homogene jüdische Gemeinschaft. Czollek hält zum einen fest, dass es sich bei den in Deutschland lebenden Jüdinnen_Juden um eine heterogene Gruppe handelt und zum anderen, dass diese Heterogenität vornehmlich aus der jüdischen Migrationsbewegung der 1990er Jahre resultiert. Ein großer Teil dieser sogenannten Kontingentflüchtlinge, die aus der zerfallenden Sowjetunion emigriert sind, bildet heute die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Deutschlands. Czollek sieht in dieser Migrationsbewegung des letzten Jahrhunderts eine „wesentliche Quelle jüdischer Desintegration“ (Czollek 2018, S. 139). Eine zweite Migrationsbewegung in den frühen 2000er Jahren aus Israel, vor allem nach Berlin, sorgt außerdem für eine weitere Differenzierung innerhalb des jüdischen Lebens in Deutschland. Czollek betont hierbei vor allem, dass diese zwei Einwanderungsgruppen sich eher distanziert zum organisierten Judentum in Form von Gemeinden verhalten und eher dazu tendieren, sich ihre eignen Räume zu schaffen (Czollek 2018, S. 140). Diese Abkehr von bestehenden Strukturen, hinzu einer Etablierung eigener Räume sorge für eine „gewachsene Verfügbarkeit jüdischer Reflexionsräume“ (Czollek 2018 ebd.), die nicht zuletzt die jüdische Desintegration befeuern können.
Resultierend aus der Isolation von Jüdinnen_Juden in den beiden deutschen Staaten nach 1949, entspringe die Notwendigkeit der Zuwendung zur deutschen Mehrheitsgesellschaft, die eine Desintegration bis zu den beiden oben beschriebenen Migrationsbewegungen, quasi unmöglich gemacht habe (Czollek 2018, S. 145). Als Konsequenz dessen würden sich viele Repräsentationen jüdischen Kunst und jüdischen Lebens immer noch aus dem Begehren der deutschen Mehrheitsgesellschaft nach Juden mit Holocaust-Bezügen speisen, zeitgleich bestünde immer noch eine jüdische Selbstdefinition, die gerade den Holocaust als zentralen Dreh- und Angelpunkt der Identität ausschreibe (Czollek 2018 ebd.). Für die Rolle von Jüdinnen_Juden im Gedächtnistheater bedeutet das vor allem eine Verschiebung der Rollen selbst, weg von der sakralen, jüdischen Funktion, den Deutschen den Holocaust zu verzeihen, dorthin, dass sie Repräsentanten einer neuen deutschen Normalität sind und der deutschen Opfer-Identifikation dienen. Czollek stellt hierbei heraus, dass „die jüdische Gemeinschaft vielfältiger ist, als die öffentliche Brauchbarkeit von Juden zulässt“ (Czollek 2018, S. 149). Im Zuge dieser Erkenntnisse stellt Czollek außerdem heraus, dass es auch innerhalb des Judentums komplexe, hierarchische Machtstrukturen gibt, derer man sich als in Deutschland lebender Jude erst vergegenwärtigen müsse (Czollek 2018 ebd). Gerade hinsichtlich der Herkunft und der daraus resultierenden Zugehörigkeit zum mizrachischen beziehungsweise aschkenasischen Judentum, gebe es gravierende Unterschiede innerhalb der jüdischen Ethnie.  Diese Auseinandersetzung mit innerjüdischen Differenzen kann ebenfalls eine Quelle der Desintegration darstellen, auch wenn es wichtig zu betonen ist, dass eine allumfassende Loslösung aus den Strukturen des Gedächtnistheaters nicht das Ziel der Desintegration sein könne (Czollek 2018, S. 151). Wichtig sei vor allem, die Desintegration als Chance zu sehen, ein größeres Maß an Selbstbestimmung hinsichtlich der eigenen Identität zu gewinnen und außerdem den fortwährenden Prozess der Selbstreflexion über die eigene Position in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten (Czollek 2018, S. 152).


Rache und Widerstand als Formen der Selbstermächtigung


Der Inszenierung des ‚guten Juden‘ für das Gedächtnistheater steht dichotom die desintegrative Figur des rachsüchtigen, wütenden Juden gegenüber. Czollek stellt heraus, dass das Gefühl der Rachelust in Anbetracht der jüdischen Geschichte und Diaspora ein politisch nachvollziehbares sei (Czollek 2018, S. 156). Ob und wie eine Figur beispielsweise in der Literatur als Projektionsfläche antisemitischer Ressentiments zu bewerten ist, oder eben eine desintegrativen Selbstermächtigung darstellt, sei vor allem immer eine Frage des Kontextes (Czollek 2018, S. 157). Jüdische Rachekunst und jüdische Racheaktionen im und nach dem Holocaust können hierbei als „Archiv des Widerstands“ (Czollek 2018 ebd.) fungieren, sie stellen einen legitimen psychologischen Verarbeitungsmechanismus dar, der als eine Form der Selbstermächtigung zu verstehen ist. Czollek unterscheidet zunächst zwischen Widerstand, ein Beispiel kann hierfür der Aufstand im Warschauer Ghetto 1943 sein, und Rache, die sich vor allem auf Handlungen nach Ende des zweiten Weltkrieges beziehen, wie zum Beispiel der Zusammenschluss ehemaliger Widerstandskämpfer*innen zur Racheaktionsgruppe DIN.
Jüdische Rache habe in diesem Sinne eine lange Tradition, im Alten Testament finden sich zahlreiche Erzählungen, deren Gegenstand eben genau dieser ist. Auch jüdischen Feiertage, Czollek nennt beispielhaft das Purimfest und Pessach, thematisieren jüdischen Widerstand gegen ihre Unterdrücker und jüdische Racheaktionen (Czollek 2018, S. 161). Neben kulturell-religiösen Kontinuitäten, widerständischen und von Rache geprägten Aktionen, würde jüdische Rache sich nach dem zweiten Weltkrieg vor allem in zweierlei Hinsichten ausdrücken: Steigende Geburtenraten und literarische Auseinandersetzungen (Czollek 2018, S. 164). Czollek betont an dieser Stelle aber auch, dass jüdische Racheaktionen, anders als literarische Auseinandersetzungen, sowohl in der Mehrheitsgesellschaft, als auch in der jüdischen Öffentlichkeit, weniger Raum gegeben wird, da sie nicht dem Bild des Opfers, das das Gedächtnistheater vorgibt, entsprächen (Czollek 2018, S. 165). Ein Punkt, der diesen ebenfalls unterstützt, sei die Auswahl der deutschen Gedenktage, am 27.1 und 9.11, die beide jüdischen Widerstand nicht thematisieren, darüber hinaus aber dem Bild des jüdischen Opfers zuträglich sind. Ein weiterer Aspekt, der laut Czollek für die Tabuisierung jüdischer Rache stehe, ist der, dass die bekannteste popkulturelle Darstellung jüdischer Rache sich in Quentin Tarantinos Film Inglourious Basterds wiederfindet und, anders als es bei einem jüdischen Regisseur vielleicht wäre, eine breitere, positive Rezeption erhält.
Jüdische Rache, und damit die Loslösung und Umkehr der Machtlosigkeit, speise sich aus der jüdischen Tradition, die mannigfaltige Rachegeschichten erzählt und den Racheaktionen nach dem zweiten Weltkrieg. In ihr liege die Kraft, jüdische Gegenerzählungen zu antisemitischen Stereotypen in der Literatur und Popkultur zu schreiben (Czollek 2018, S. 171). Dabei destabilisiere jüdische Rache zeitgleich aber auch die eigene, vermeintlich sichere, Position im Gedächtnistheater als gutes Opfer. Czollek betont hierbei, dass in eben dieser Destabilisierung eine anhaltende Identifikation mit der Rolle im Gedächtnistheater verbunden sein könne. Zeitgleich biete die Rachekunst aber eine Möglichkeit der Reflexion der eigenen Identifikation und Zugehörigkeit, die die Grundlage der Kritik am Gedächtnistheater darstellen kann (Czollek 2018, S. 172).


Identität und Performanz


Czollek stellt die Frage danach, wie mit der Erinnerung an die deutschen Verbrechen während des Holocausts umgegangen werden kann, wenn nicht nur die letzten Zeitzeug*innen sterben, sondern auch die Generation der Täter*innen ausstirbt, ohne juristisch oder gesellschaftlich weiter belangt zu werden (Czollek 2018, S. 173). Er beschreibt, wie er seine Wut über die deutschen Zustände, die Rolle von Jüdinnen_Juden im Gedächtnistheater und seine eigene Befangenheit darin versucht, in Form von künstlerischen Tätigkeiten zu kanalisieren. Durch die Beschäftigung mit dem christlich geprägten Vorläufer des Antisemitismus, dem Antijudaismus, beschäftigt sich Czollek mit der sogenannten Ahasver-Legende. Diese Erzählung, die an Popularität im Hochmittelalter gewinnt, stellt dabei eine zentrale antijudaistische Narration dar, die die Judenfigur als ruhelos umherwandernden typisiert. Es handelt sich nicht nur um ein zentrales Motiv des christlichen Antijudaismus, denn zeitgleich findet es Eingang in den literarischen Kanon seit der frühen Neuzeit. Bemerkenswert sei hierbei, dass die Figur in unterschiedlichen Ländern und zu unterschiedlichen Zeiten Anklang finde (Czollek 2018, S. 176). Durch die unterschiedliche Belegung der Figur mit spezifisch antijudaistischen und antisemitischen Topoi sei diese universell anwendbar und in verschiedene Lebensrealität zu übertragen (Czollek 2018 ebd.). Czollek schließt daraus weiter, dass mit der anhaltenden sprachlichen Diffamierung von Jüdinnen_Juden eine gesellschaftliche Realität erzeugt wird, in denen Jüdinnen_Juden fortlaufend mit verschiedenen antisemitischen Vorstellungen charaktierisiert werden (Czollek 2018 ebd.). Zentral für diese Überlegung ist der Begriff der Performanz, der beschreibt, dass gesellschaftliche Realität, in Form von beispielsweise Geschlechtsidentität, Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft, aber auch in Ausprägungen des Gedächtnistheaters, durch andauernde Wiederholung eingeübt und aufrechterhalten wird. (Butler 1993). Aus diesen Überlegungen ergibt sich für Czollek in Bezug auf die Ahasver-Legende der Gedanke, dass durch eine Aneignung und Umschreibung die Performanz durchbrochen werden könne (Czollek 2018, S. 177). Als Konsequenz aus diesen Überlegungen veröffentliche Czollek in seinem zweiten Gedichtband Jubeljahre eine durch seine jüdische Perspektive geprägte Variante des Ahasver-Motives. Czollek sieht in der Umschreibung des Stoffes, er tauscht den ewig wandernden Juden gegen eine antisemitische Figur mit dem Namen Joseph/Josef/Josif, die laut eigener Aussage zwischen Stalin und Goebbels changiert, die Möglichkeit, durch Dichtung Alterität und Gerechtigkeit zu schaffen (Czollek 2018, S. 179ff.). Zeitgleich stellt das Aufgreifen und Umschreiben des Ahasver-Motives für Czollek einen Rache- und Selbstermächtigungprozess dar, der das Gedächtnistheater in doppelter Absicht störe: Statt dem wandernden Juden wird der wandernde Antisemit stilisiert, statt Versöhnlichkeit und deutsche Normalität wird eine unversöhnliche jüdische Perspektive auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft beschrieben (Czollek 2018, S. 181). Im letzten Kapitel seiner Streitschrift, das die Aufforderung im Imperativ nach der Desintegration fordert, fasst Czollek seine Argumente zusammen und verweist abschließend auf die deutsch-nationalen, nationalistischen, sowie antisemitischen Kontinuitäten in der deutschen und europäischen Gesellschaft. So ist auch das Gedächtnistheater mit seinem Begehren nach guten, jüdischen Figuren allgegenwärtig. Es präge jüdisches künstlerisches Schaffen und damit die jüdische Existenz in Deutschland. Die Desintegration könne helfen, die künstlerische Selbstständigkeit zu gewährleisten und Kunst außerhalb eines deutschen Begehrens zu schaffen (Czollek 2018, S. 186). Czollek betont aber auch, dass durch das Schreiben über das Gedächtnistheater zeitgleich eine Reproduktion dessen stattfinde, das die zugewiesenen Rollen im Gedächtnistheater und die dichtome Aufteilung in jüdisch und deutsch, Minderheit und Dominanzkultur verstärke (Czollek 2018, S. 189). Das Gedächtnistheater könne nur verlassen werden, wenn die Idee darüber, wie sich die deutsche Gesellschaft konstituiert und zusammensetzt, radikal verändert würde (Czollek 2018 ebd.). Aus diesem Grund ist auch die Bildung von Allianzen und die Beachtung der Verknüpfung von Gedächtnis- und Integrationstheater so relevant. Zentral bei dieser Allianzbildung sei aber auch die Abkehr von einer nur durch Identität bestimmten Zugehörigkeit, Identität sei viel mehr eine Fragmentierung, als eine ungebrochene Einheit (Czollek 2018, S. 192).


Formale Aspekte

 

Zur Gattungsfrage


Max Czolleks Text Desintegriert euch! bezeichnet sich selbst als Streitschrift. Was genau unter eine Streitschrift, oder einer Polemik zu verstehen ist, soll im Folgenden kurz umrissen werden. Der Begriff der Polemik hat keine genaue literaturwissenschaftliche Definition, da er schwammig und vor allem historisch vielschichtig ist. Ob es sich hierbei um eine eigene Gattung, oder um stiltypische Schreibweise handelt, ist ebenfalls umstritten. Im historischen Lexikon der Rhetorik wird die Polemik zum einen als „eine bestimmte Verfahrensweise, eine Methode der Auseinandersetzung; zum anderen im engeren Sinne, [als] einen literarischen Typus öffentlichen Streitens insbesondere seit der Frühen Neuzeit“ (Stauffer 2003, S. 1403f.) beschrieben. Die Polemik ist dabei nicht formgebunden, je nach Themenkomplex variiert diese, wobei eine gern gewählte Form der Polemik der Essay ist. Zu den formalen Aspekten lässt sich sagen, dass die Polemik formal unbestimmt ist, gemeinsam sei ihnen lediglich Zweck und Thematik (Dieckmann 2005, S. 22).
Seit dem 20. Jahrhundert erfüllt die Polemik vor allem den Zweck der Literaturkritik, während sie aber zeitgleich auch zur Kulturkritik avanciert. Dabei besteht die Polemik auf der inhaltlichen Ebene lediglich aus der Meinung der Polemiker*innen, die ebendiese zu ihrer Waffe schmieden, um den argumentativen Kampf für sich zu entscheiden (Stauffer 2003, S 1403f..). Die Polemik changiert zwischen Persönlichem und Unpersönlichem, zwischen Sachlichem und Überzeichnetem, in jedem Fall aber ist sie eine „schonungslose Invektive gegen die herrschende Gesellschaft“(Stauffer 2003 ebd.). Wie eingangs beschrieben handelt es sich bei der Polemik eher um einen Text mit einer spezifischen, stiltypischen Schreibweise, die nach Pehlke zwischen einem „argumentierend-agitierend[en]“ und einem „analysisierend-argumentierend[en]“ (Dieckmann 2005, S. 24) wechselt.
Bezogen auf Max Czolleks Essay ist die Selbstpositionierung hervorzuheben, die der Autor vornimmt. Bereits im einführenden Kapitel hebt er hervor, dass es sich nicht um einen neutral argumentierenden Text handle, der alle Themen gleichermaßen unparteiisch beleuchten wolle. Vielmehr spricht Czollek aus unterschiedlichen Standpunkten heraus über die verschiedenen Themen, und zwar als „Lyriker, Berliner und Jude“ (Czollek 2018, S.11). Trotz dieser extrem subjektiven Perspektive stützt Czollek seine Meinung mithilfe wissenschaftlicher Arbeiten aus der Soziologie, Politikwissenschaft, Germanistik und Geschichtswissenschaft. Somit wird aus der zur Meinung geschmiedeten Waffe zeitgleich eine wissenschaftlich zitierfähige Argumentation, die Grundlage verschiedener weiterer Analysen sein kann, oder aber selbst methodische Grundlage für wissenschaftliche Arbeit darstellen kann.
Neben der Frage nach der Gattungszugehörigkeit ist auf formaler Ebene nennenswert, wie Max Czollek den Leser*innen den Begriff der Desintegration näher bringt. Jede Überleitung zwischen den Kapiteln endet damit, dass der Bezug zurück auf die Desintegration genommen wird und zeitgleich neue, für das folgende Kapitel relevante Denkkonzepte eingeführt werden. Diese Vorgehensweise bietet für die Leser*innen Platz zur Reflexion, denn jedes vorgestellte Konzept kann mit den eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen abgeglichen werden. Weiterhin wird verdeutlicht in welchen verschiedenen Bereichen die Desintegration wirken kann und vor allem wie diese Wirkungen praxisnah umgesetzt werden können. Auch die Gestaltung des Titels im Imperativ, die Aufforderung zur Desintegration, kann somit als reflexionsanregend und praxisnah beschrieben werden. Ziel des Essays ist es also zum einen, die Leser*innen zur Reflexion über ihren eigenen Standpunkt im Gedächtnis- und Integrationstheater zu bewegen und zum anderen, je nach Umstand, ein herauslösen aus diesen Strukturen anzuregen.

 


Pressespiegel


Die Rezensionen zu Max Czolleks polemischer Streitschrift Desintegriert euch! fallen durchaus ambivalent aus. Während Ann-Kristin Tlusty in ihrer Rezension vor allem die von Czollek thematisierten Rollenzuschreibungen von Minoritäten in der Mehrheitsgesellschaft und die daraus resultierenden Erwartungshaltungen aufgreift, sieht sie in Czolleks Essay in erster Linie auch eine Antwort auf den ein Jahr vorher erschienen Text Mit Rechten reden: Ein Leitfaden von Daniel-Pascal Zorn, Maximilian Steinbeis und Per Leo. Auch stellt Tlusty in ihrer Rezension heraus, dass Wut als zentrales textgestalterisches Mittel fungiert, so ist „Czolleks Sprache […] Zeugnis einer aus jahrelangen Beobachtungen gespeiste Wut.“ Tlusty sieht aber auch die Komplexität und Themenvielfalt derer Czollek sich auf knapp 200 Seiten zuwendet, bei der es manchmal schwer sein könne, den Überblick und thematischen Bezug beizubehalten. 
Felix Stephan hingegen bewertet in seiner Rezension Alles dasselbe, alles deutsch Czolleks Überlegungen durchaus kritisch. So überführe Czollek lediglich „linke Ideen in populistische Argumentationsmuster […]“. Dabei empfindet er Czolleks Schreib- und Argumentationsstil als wenig stringent, so würde Desintegriert euch! stellenweise Antworten bieten, an deren Fragen sich die Leser*innen, oder Felix Stephan, nach wenigen Seiten schon nicht mehr erinnern würden. Wo Ann-Kristin Tlusty Max Czolleks wutgeladene Sprache noch als durchaus positiv und der Argumentation zuträglich empfindet, sieht Stephan in Czolleks „wütendem Gestus“ den Versuch darüber hinwegzutäuschen, dass auf der inhaltlichen Ebene der Polemik wenig bis gar keine Argumente vorliegen würden. Auch kritisiert Stephan in seiner Rezension, dass Czolleks Polemik keinen Raum dafür bieten würde, dem Text auf argumentativer Ebene etwas entgegenzusetzen.
Ganz anders, gerade in Hinblick auf die Dichte und Aufbereitung der Argumentation, sieht Ulrich Gutmair (Rezension in der TAZ) Czolleks Text. Für ihn stellt gerade die Perspektive, Czollek schreibt als Berliner, Lyriker und Jude in abwechselnden Rollen, ein zentrales Merkmal des Essays dar. Czolleks dezidiert jüdischer Blick auf Integration, Minoritäten, gesellschaftliches Zusammenleben und deutsche Erinnerungskultur birgt hierbei den von Gutmair besonders herausgestellten Mehrwert. Desintegriert euch! so Gutmair „ist eine gut recherchierte und stringent argumentierende, manchmal sogar lustige Streitschrift.“
Bei Mirjam Wenzels Rezension (Beitrag in der FAZ) steht vor allem im Vordergrund, dass Czolleks „Schwarzweiß-Argumentation[en] […] den hitzigen Diskursen und nervösen Identitätsdebatten unserer Tage eher zuspielt […] als sie zu dekonstruieren.“ So würde, wie Wenzel feststellt, schnell der Boden der stichhaltigen Argumentationen verlassen werden. Auch Czolleks Stil wird bei Wenzel eher kritisch gelesen, fast wie eine Diffamierung ganzer Bevölkerungsgruppen empfindet sie seine Argumentation. Ähnlich wie Ulrich Gutmair hält Wenzel Czollek zu Gute, dass die Repräsentation jüdischer Perspektiven in jedem Fall gegeben sein, weiter noch, dass es Czollek gelinge, die Pluralität jüdischen Lebens abzubilden.

 

Literaturverzeichnis

Bauer, Yehuda: Vom christlichen Judenhaß zum modernen Antisemitismus - Ein Erklärungsversuch. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 1 (1992), S. 77-90.

Czollek, Max: Desintegriert euch! Carl Hanser Verlag, München, 2018.

Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. C.H. Beck, München, 2012.

Stauffer, Hermann: Polemik. In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik (6), De Gruyter, Berlin, 2003, S. 1403-1404.

Waldmann, Peter: Wie Fremde Fremde sehen. Selbstreflexion und Selbstverortung jüdischer Identität in der Literatur. Wien, 2018, Mandelbaum Verlag.

 

[1] „Desintegration - Ein Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen“ via https://www.gorki.de/de/themenseite-festival-desintegration aufgerufen am 19.9.2022.