Charakteristika des Werks

Der neue Koch

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Der neue Koch [ ↑ ]
Leseprobe
Julia Francks Debüt Der neue Koch erzählt sechs Tage aus dem Leben einer jungen Frau, deren Existenz auf einem Schwindel beruht. Aufgrund der Unterschlagung des mütterlichen Testaments zehn Jahre zuvor führt sie als Erbin das Hotel ihrer Mutter. Franck gestaltet die Geschichte einer misslungenen Identitätsbildung der namenlosen Ich-Erzählerin, die ihrem Leben und den Aufgaben als Hotelmanagerin, welche symbolisch für die Integration in eine soziale Gemeinschaft stehen, nicht gewachsen ist. Ihre Überforderung wird ihr durch ihre Umgebung zurückgespiegelt. Die langjährigen Hotelgäste, die schon zu Zeiten der Mutter regelmäßig Gäste waren, kritisieren und demütigen sie. Die Mutter schwebt so als Über-Ich über dem Geschehen.
Passiv und isoliert wandelt die Erzählerin durch das Hotel und konzentriert sich darauf, ihre Gäste bis in kleinste Details zu beobachten und so deren Handlungsmuster zu analysieren. Da gibt es den Dichter Anton Jonas, der es liebt, von sich selbst zu erzählen und es oft nicht ertragen kann, das Wort an jemand anderen abzugeben, oder die Putzfrau Berta, die das Hotel eigentlich hätte erben sollen, dies aber nicht weiß, und sich immer entschuldigt, egal wofür. Auch Madame Piper, eine Freundin ihrer Mutter, die keine Französin ist, es aber mag ‚Madame‘ genannt zu werden, wohnt im Hotel und braucht bei jeder Kleinigkeit Hilfe von der Hotelbesitzerin, so zum Beispiel beim Aufstehen, Waschen, Achselrasieren, Augenbrauenzupfen und Toilettengang. All dies nimmt die Erzählerin teilnahmslos hin. Als ein neuer Koch im Hotel anfängt und sofort gut bei den Gästen ankommt, der exotische Gerichte kocht, neue Ideen für das Hotel hat und sogar das Hotel aufkaufen will, fühlt sich bedroht, unterlässt sie jedoch jegliche Abwehrhandlung. Selbst ein Todesfall im Hotel kann an ihrer Teilnahmslosigkeit nichts ändern. Ivo, einer der Hotelgäste, hat sich beim Kippeln das Genick gebrochen. Es entsteht eine groteske Situation, denn die Leiche bleibt tagelang im beheizten Zimmer liegen. An den Geruch der langsam verwesenden Leiche gewöhnt sich die Hotelbesitzerin genauso wie an den Geruch der Suppenschüssel, die schon seit vor Beginn des Romans mit verschimmelndem Inhalt in ihrem Zimmer steht. Letztendlich tritt auch hier der neue Koch in Aktion und kümmert sich darum, dass Polizei und Bestatter agieren. Am fünften Tag schmiedet die Hotelbesitzerin dann den Plan, das Hotel in Brand zu setzten und sich mit dem Versicherungsgeld nach Kuba abzusetzen, wird jedoch bei der Durchführung ihres Plans überrascht und fährt so schließlich nur zum Flughafen. Doch von dort kommt sie, ohne in das Flugzeug gestiegen zu sein, in das Hotel zurück. Die Gäste und Angestellten scheinen ihre Abwesenheit nicht bemerkt zu haben und so nimmt der Hotelbetrieb weiter seinen Lauf, ohne dass sich irgendetwas geändert hätte.

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Thematische Aspekte zu Der neue Koch [ ↑ ]

Familienbeziehungen
Familienbeziehungen spielen in fast allen Werken Francks eine große Rolle. Das Verhältnis zwischen Eltern oder einem Elternteil und Kind oder Kindern wird gleich in drei Romanen und mehreren Kurzgeschichten zum Thema gemacht. So wird die Protagonistin in Der neue Koch auch zehn Jahre nach dem Tod ihrer Mutter mit dieser von den Hotelgästen des Hotels, das sie geerbt hat, verglichen. Immer wieder kreisen ihre Gedanken um die Verstorbene, deren Fußstapfen die Protagonistin nicht schafft auszufüllen. In Liebediener stehen die Familienbeziehungen nicht im Vordergrund, werden aber immer wieder erwähnt. Die Protagonistin lebt gerne in Kellerwohnungen, auch wenn sie das negativ an ihren Vater erinnert. Auch erfährt man, dass ihre Mutter Prostituierte war und den Vater verlassen hat, der sich alleine um sie und ihre Geschwister kümmern musste.

Sexualität
In Der neue Koch kommt es zweimal fast zum Geschlechtsverkehr. Er scheitert jedoch das erste Mal daran, dass der Koch nicht wie angekündigt auftaucht und so nur mit der Protagonistin spielt, beim zweiten Mal ist es die Protagonistin selbst, die mit dem Versicherungsvertreter spielt, um ihre Ziele zu erreichen. Auch Homosexualität spielt in den Romanen Francks eine Rolle.

Geschlechterrollen
Männer sind bei Franck oft Objekte der Begierde wie der Koch in Der neue Koch, wollen die Frau nur ausnutzen wie ebenfalls der Koch oder treten als Vergewaltiger auf wie in Die Mittagsfrau und Rücken an Rücken. Dort treten die Männer fast ausschließlich als Repräsentanten eines repressiven Systems auf, ob wie faschistischen Theorien vertreten oder gleich als Stasioffizier auftreten. Positive Männerrollen vergibt Franck selten. Als herausstechendes Beispiel ist die große Liebe der Figur Helene, Carl, zu nennen, der sie als eigenständiges Subjekt wahrnimmt und die Identitätsfindung der Figur weiter voranbringt.

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Pressespiegel zu Der neue Koch [ ↑ ]
Zu Julia Francks Debütroman Der neue Koch gibt es ein relativ geringes, aber überwiegend positives Presseecho.
Gelobt wird vor allem ihr Sprachstil, der sich durch „kurze prägnante Sätze“ (Lüdeke, Westfälische Rundschau, 22.1.1998) auszeichne und „lakonisch und knapp, fast naiv“ (Kehle, Literaturwelt, o.D.) sei. Christiane Lötscher bezeichnet Francks Sprache als „eigenwillig“ (Die Weltwoche, 8. 1. 1998) und Papst hat den Eindruck „als schriebe sie nur für sich“ (Neue Zürcher Zeitung, 18./19. 10. 1997). Letzterer räumt allerdings ein, dass Franck manchmal auch „nach dem Effekt“ schiele und behauptet, dass „einigen prätentiösen Stellen […] Striche gut“ (ebd.) täten.
Des Weiteren zeigen sich die Rezensenten beeindruckt von Francks „messerscharfen Beobachtungsgabe“ (Fessmann, Süddeutsche Zeitung, 15. 10. 1997), die mit „erzählerischer Genauigkeit“ (ebd.) eine gewisse Boshaftigkeit und durch „minutiös[er]“ (Lüdeke,  Westfälische Rundschau, 22.1.1998) Schilderung „Dynamik und Spannung“ (ebd.) hervorrufe.
Inhaltlich handele es sich bei „Der neue Koch“ um einen „konstruierten und zugleich rätselhaften Roman“ (Fessmann, Süddeutsche Zeitung, 15. 10. 1997), der „kafkaesk“ (Rausch, Grauzone, 4. Quartal 1997) sei und eine „Tschechowsche Sehnsuchtsstimmung“ (Fessmann, Süddeutsche Zeitung, 15. 10. 1997) evoziere. Es sei ein „rebellische[r] Roman[...]“ (ebd.), der vielleicht sogar „die Innenansicht einer Depression“ (Papst, Neue Zürcher Zeitung, 18./19. 10. 1997) schildere, aber oft ins „Groteske“ (ebd.) übergehe und so ein „Erlebnis der unheimlichen Art“ (Lötscher, Die Weltwoche, 8. 1. 1998) sei.
Allein Detering kritisiert Francks Roman stark, in dem er behauptet, die „Geschichte [löse sich] in Luft auf[...]“ (FAZ, 27. 4. 1998). Für ihn herrscht „eine ziemlich flache, weil diffuse Künstlichkeit“ und „die obsessive Vorliebe für Details“ gebe nur „neue Rätsel auf“. Er kritisiert „das manieristische Potential“ und die „forcierte Drastik“ des Textes. Er räumt ein, das sich an manchen Stellen auch „das wirkliche Talent dieser Autorin erkennen lasse[...]“, sagt aber, dass dies „für einen Roman […] zu wenig“ sei.
Alles in allem sei Der neue Koch „ein erstaunliches Romandebüt“ (Amman, Weltwoche, 13.3.1997), eine „wundervolle kleine Geschichte[...]“ (Kehle, Literaturwelt, o.D.), die Hoffnung gebe, „daß[sic!] es um die zeitgenössische Literatur gar nicht so schlecht bestellt“ (ebd.) sei.

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Forschungsspiegel zu Der neue Koch [ ↑ ]

Identität
Ein zentraler Aspekt der Forschung über Francks Werk ist die Auseinandersetzung mit der Konstruktion von Identität. So befassen sich mehrere Forschungsartikel aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Darstellung und Behandlung der Identitätsthematik. Susanne Krings nähert sich dem Debütroman Francks unter Einbeziehung von rollenspezifischen soziologischen Theorien Erving Goffmans (vgl. Krings 2012, S. 69). Sie arbeitet in ihrem Artikel heraus, dass die Hauptfigur des Romans ihre neue Rolle als Hotelbesitzerin nicht authentisch annehmen könne, da die zwangsläufige Übernahme der Rolle Dissonanzen erzeuge, die die versuchte Emanzipation der Hauptfigur scheitern lassen (vgl. ebd., 68ff). Helga Meise befasst sich in ihrem Artikel Orte und Nicht-Orte (Meise 2005) nur indirekt mit dem Thema Identität, da ihr Fokus auf den urbanen Raum Berlin gerichtet ist und auch die Werke von anderen Autoren mit einbezieht. Sie zeigt jedoch auf, dass die räumliche Struktur des Romans die Identitätsthematik berühre, indem sich die Protagonisten „zwischen Orten mit ‚Identität, Relation und Geschichte‘ und solchen ohne ‚Identität, Relation und Geschichte‘“ (Meise 2005, S. 128) bewegen.
Corinna Schlicht beschreibt in ihrem Text Geschlechterkonstruktion in der Gegenwartsliteratur die Skepsis zwischen der Schaffung der Distanz und der Reflexion von Körperlichkeit, da Körperlichkeit hier als ein konstitutives Element der Identität analysiert wird. Die Protagonisten nutzen die Körperlichkeit in den Geschichten dazu, um ihre eigene Existenz zu stabilisieren, indem sie durch Erfahrungen des Körpers ihrer Selbst gewiss werden. Allerdings führt die Distanz zum Leben zu Einsamkeit und Isolation (vgl. Schlicht 2004, S. 177/178). Alle Frauen sind und bleiben während der Erzählungen Außenseiterinnen. In eine ähnliche Richtung geht Anke Biendarra in Gen(d)eration next: Prose by Julia Franck and Judith Hermann (Biendarra 2004), indem sie die Frauenfiguren aus den Kurzgeschichten der Sammlung Bauchlandung analysiert. Diese scheinen vordergründig selbstständig und mitten im Leben stehend. Die Tiefenstruktur der Figuren verweise jedoch darauf, dass die nach außen hin erkennbare Souveränität nur als Maske dient, die das Innere zu verstecken versucht (vgl. Biendarra 2004, S. 214 ff). In Katharina Gerstenbergers Aufsatz macht die Autorin deutlich, wie die gesellschaftlichen Grenzziehungen und Herkunft die Identität der Figuren determinieren. Die Wichtigkeit des Anderen für die Stabilisierung der eigenen Identität wird in Corinna Schlichts Artikel Die Ohnmacht der Frauen in der Geschichte am Beispiel der Romane von Katharina Hacker, Annett Gröschner und Julia Franck verhandelt, in dem sie aufzeigt, dass die Subjektivierung von Helene (Die Mittagsfrau) erst dann fortschreitet, wenn sie von außen als Subjekt wahrgenommen wird (vgl. Schlicht 2008, S. 123 ff).

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Liebediener

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Liebediener [ ↑ ]
Leseprobe
In Francks zweitem Roman steht die junge Frau Beyla im Zentrum, die allein in einer Berliner Kellerwohnung lebt und auf der Suche nach Liebe ist. Die Ich-Erzählerin ist als unzuverlässige Berichterstatterin angelegt. Wunschdenken und Wirklichkeitserleben gehen ineinander über, zudem expliziert sie ihren Hang zum Lügen.
Zu Beginn des Romans wird die Erzählerin Zeugin eines Unfalls. Sie beobachtet, wie ein rotes Auto vor dem Haus beim Einparken herumkurvt und wie kurz darauf ihre Nachbarin Charlotte von einer Straßenbahn tödlich erfasst wird. Durch Charlottes Tante kommt Beyla zu einer neuen Wohnung, der von Charlotte. Beyla ist es unangenehm und geht nur zu der Beerdigung, um der Tante den Schlüssel wiederzugeben. Dabei wird sie von einem Mann mit langen, dunklen Haaren, braunen Augen und einer dunklen Stimme beobachtet. Er ist Fahrer des roten Autos, heißt Albert und fasziniert die junge Frau. Liebe wird bei Franck allerdings als Willensentscheidung erzählt, denn Beyla beschließt geradezu, ihn zu lieben.
Beim Umzug in Charlottes Wohnung in die dritte Etage lernt Beyla Albert als ihren Nachbarn kennen. Er spielt nachts oft Klavier, was Beyla immer begeistert belauscht. Schnell entwickelt sich eine Liebesbeziehung, die sich aber einseitig äußert. Beyla liebt Albert, redet aber nicht mit ihm darüber. Zum gemeinsamen Liebesspiel gehört bald, dass Albert ihr erotische Geschichten erzählt. In die Zweisamkeit platzt Ted, eine Affäre von Charlotte, der erst von Albert erfährt, dass sie gestorben ist. Von Ted erfährt Beyla, dass Charlotte mit Albert geschlafen hat, um ihn, Ted, eifersüchtig zu machen.
Daraufhin entwickelt sich Beyla zur argwöhnischen Detektivin, die Albert misstrauisch beobachtet. Sie sucht und findet Beweise seiner Untreue: Oft ist er oben bei einer Nachbarin, auch ignoriert er in ihrem Beisein sein häufig klingelndes Telefon, schließlich findet sie einen Parkzettel aus einer anderen Straße. Als Albert wieder eine erotische Geschichte erzählt und dabei in die Rolle des Ich-Erzählers rutscht, wird Beyla klar, dass es sich bei all den Erzählungen um Selbsterlebtes handelt. Auf einem Ausflug, bei dem Beyla Albert viele Vorwürfe macht und ihn beschuldigt, er würde sie belügen und Geheimnisse haben, gesteht er ihr seine aufrichtigen Gefühle, die sie von seinen anderen Geliebten unterscheidet. Doch Beyla ist gekränkt und beschließt, diesen Mann nicht mehr lieben zu wollen und verlässt ihn. Daraufhin geht auch Albert auf Abstand. Beyla, die seine Distanzierung schwer ertragen kann, bemüht sich um vergeblich um Nähe. Zugleich hintergeht sie ihn und durchwühlt seine Wohnung, dabei findet sie Beweise für seine Unaufrichtigkeit. Er entpuppt sich als der im Romantitel anklingende Liebediener, er ist ein Call Boy. Beyla konfrontiert ihn mit ihrem neuen Wissen und er gibt alles zu. Jedoch versichert er ihr, dass seine Zuneigung zu ihr aufrichtig sei. Doch Beyla legt in sich eine Art Schalter um, den wahren Albert lehnt sie ab.
Aus der Distanz vernimmt sie nur noch sein Klavierspiel, hört, dass er nicht mehr an sein Telefon geht. Irgendwann verstummt das Klavier und Beyla gewahrt ein dumpfes Geräusch aus seiner Wohnung. Dieses Geräusch interpretiert sie als seinen Freitod, den er begeht, weil sie ihn zurückgewiesen hat. Doch anstatt nach oben zu gehen und sich zu vergewissern, überlässt sich Beyla ihrem Kummer, aus dem sie erst der unangekündigte Besuch von Charlottes Tante herausreißt. Sie nährt den Verdacht, Albert sei von ihr bezahlt worden, sich um Beyla zu kümmern, indem sie fragt, ob Albert denn nett zu Beyla gewesen sei. Der Roman löst dies ebenso wenig auf wie die Frage, was mit Albert tatsächlich passiert ist.

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Thematische Aspekte zu Liebesdiener [ ↑ ]

Sexualität
In Liebediener stellt sich der Nachbar Albert der Protagonistin Beyla als männliche Prostituierte heraus, sodass Beyla als nur eine weitere Kundin gilt, während sie vor dieser Entdeckung dachte, das Zusammenkommen würde etwas bedeuten.

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Pressespiegel zu Liebediener [ ↑ ]

In den deutschsprachigen Tages- und Wochenzeitungen gibt es zu Julia Francks zweiter Veröffentlichung Liebediener 13 Rezensionen. Diese loben Francks Werk in den höchsten Tönen, Bauer spricht gar von der „Liebesgeschichte der neunziger Jahre“.
Gelobt wird durchgängig die Sprache des Romans, einen „verhaltenen und poetischen Erzählton“ (Encke, FAZ, 12. 10. 1999), „charmante Selbstkommentare“(ebd.) sowie eine „eindringliche Erzählstimme“ (ebd.) werden als besonders angesehen. Das sprachliche Versteckspiel und die damit einhergehende Konstruktion von Nähe und Distanz werden ebenso wie die knappe und präzise Sprache hervorgehoben. (Schmelcher, Die Welt, 23. 10. 1999). Zuletzt wird sie auch als „lakonisch-ironisch“ (Dieckmann, Neue Zürcher Zeitung, 16./17. 10. 1999) und als „unprätentiös“ (Schreiner, Saarbrücker Zeitung, 12.11.1999) beschrieben. Relativierend fügt Schmelcher hinzu, dass „die Intensität und Sprachgewalt ihres ersten Romans hat sie jedoch nicht ganz erreicht. Zu sehr muss Beyla aus ihrer Vergangenheit erklärt werden, zu deutlich wird dem Leser ein Verdacht suggeriert. Das wäre gar nicht nötig, weil Julia Francks Sprache auch ohne Erklärungshilfen auskomme. Mit Poesie und Charakter.“ Es folgen auch noch andere negative Stimmen, die den Roman sehr kritisieren. So schreibt Jochen Jung 1999 in Die Zeit, „dass wir uns hier in einem Text befinden, und zwar von Julia Franck, die damit vielleicht für sich mit irgendetwas abgerechnet hat, was uns nichts angeht. […] All das, diese Geschichte nämlich, geht eine gute Weile gut, dann aber nicht mehr, als Beyla endlich und zufällig und dramaturgisch günstig (ist eben, wie gesagt, ein Text, besser gesagt: ein richtiger runder Roman) die Beweise für das findet, was wir schon weit früher mit stolzer Spürnase entdeckt haben“, sehr amüsiert und abfällig darüber, wie durchschaubar der Roman doch ist und macht deutlich in seiner Rezension auch keinen Hehl daraus, dass es auf dem Weg zur Lösung „Sätze“ gibt „die der Leser/die Leserin nur schreiend hinnehmen kann“. Ähnliche Stimmen gibt es, die die Liebesgeschichte kommentieren mit „wirklich spannend ist das nicht“ (Encke, FAZ, 12. 10. 1999). Gleicher Autor zieht aber nicht ein solch` schlechtes Urteil, sondern begeistert sich für den „Erzählstrang, der aus einem Doppelgängerphantasma das subtile Porträt einer jungen Frau hervorzubringen vermag“ (ebd.).

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Forschungsspiegel zu Liebediener [ ↑ ]

Sexualität/Körperlichkeit
Der omnipräsente Aspekt der Körperlichkeit in Francks Werken wird in der Forschung aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Stefanie Hohmann kommt in ihrem Aufsatz Ein Fest der Sinne – Weibliche Obsessionen in der Gegenwartsliteratur (2004) zu dem Schluss, dass junge Autorinnen, hier besonders Franck, das „Begehren aus weiblicher Sicht“ darstellen und somit einen neuen Typus von literarischen Frauenfiguren konzipiert habe, da die weiblichen Figuren wie Jägerinnen agieren und selbstbewusst die Rolle der Verführerin einnehmen (vgl. Hohmann 2008, S. 183). Es gibt keinerlei Einschränkungen bezüglich der Darstellung von Erotik, Körperlichkeit und Sinnlichkeit (vgl. ebd, S. 190), ein Aspekt der in Liebediener sehr deutlich wird. Albert wird zu Beylas Objekt der Begierde. Ihr Verlangen erlischt, sobald aufgedeckt wird, dass Albert als Callboy arbeitet. Die Rollen vertauschen sich und die Liebe verwandelt sich in Mitleid und Verachtung (vgl. Riegler 2008, S. 79). Beyla, die immer dachte, mit ihren Beobachtungen Macht über Albert zu erlangen, verfällt dadurch wieder der sozialen Entfremdung (vgl. Norman 2008, S. 237). Obwohl der Umzug von der Kellerwohnung eigentlich einen sozialen Aufstieg bedeutet, kann Beyla dies nicht gelingen, da die Wohnung im dritten Stock der „Schauplatz eines Vexierspiels von Aufstieg und Abstieg, Wahrheit, Täuschung und Schuld [wird], die die Individuen gleichsam unkenntlich zurücklässt“ (Meise 2005, S. 133). Auch Lucy Macnarb befasst sich in ihrem Text Becoming bodies: corporeal potential in short stories by Julia Franck, Karen Duve, and Malin Schwerdtfeger mit der Hinterfragung von Femininität, indem weibliche Körperlichkeiten neu interpretiert werden (vgl. Macnab 2006, S. 110).

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Bauchlandung – Geschichten zum Anfassen

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Bauchlandung – Geschichten zum Anfassen [ ↑ ]
Die dritte Veröffentlichung von Franck ist der Erzählungsband BauchlandungGeschichten zum Anfassen (2000) mit acht Kurzgeschichten. In allen Geschichten gibt es Ich-Erzähler*innen. Sie erzählen – wie der Untertitel andeutet – von sinnlich-haptischen Erlebnissen, von Sexualität und Begehren, von Krankheit und Tod; immer steht die körperliche Wahrnehmung im Zentrum des Geschilderten. Gleichzeitig ist die Vorstellungswelt der Erzählerinnen dominant, die Texte legen fast unmerklich Spuren, die die Erzählungen aus der realistischen Beobachtung in die Wunsch- und Phantasiewelt der Figuren kippen lassen. Fast alle Erzählerinnen sind isoliert, beobachten ihre Außenwelt mehr, alsdass sie in ihr Leben.
In Streuselschnecke kümmert sich ein 14-jähriges Mädchen um ihren sterbenskranken Vater, zu dem sie bislang keinen Kontakt hatte. Bäuchlings gestaltet die libidinöse Beziehung zwischen zwei erwachsenen Schwestern, von denen die eine aus ihrer Perspektive schildert, wie ein Geliebter ihrer Schwester ihr sexuell näher kommt und zuletzt Schwesternliebe über die Sehnsucht zu einem Mann siegt. In der Geschichte Zugfahrt geht es um eine junge Frau, die auf dem Weg zu einer Hochzeit ist und auf der Zugfahrt ihre Mitfahrenden beobachtet. Auch in Strandbad findet sich eine distanziert-beobachtende Frau, die als Schwimmmeisterin arbeitet. Wie in Bäuchlings wird auch in dieser Geschichte ein erotisches Erlebnis geschildert, von dem nicht klar ist, ob es sich um Phantasie oder eine tatsächliche Episode handelt. In Für sie und für ihn geht es um eine Frau, die ihren Nachbarn tagein und tagaus beobachtet, in eine Kneipe geht und dem Barkeeper all das erzählt, was sie beobachtet hat. Die Erzählung Mir nichts dir nichts (die übrigens mit dem 3Sat-Preis im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Preises ausgezeichnet wurde) ist als Dreiecksgeschichte angelegt. Die Ich-Erzählerin schläft mit dem Freund ihrer besten Freundin, die von all dem nichts erfahren darf und sich bei ihrer Freundin über das Scheitern ihrer Beziehung ausweint. Schmeckt es euch nicht? fragt der Großvater der Ich-Erzählerin seine Familie auf seinem eigenen Leichenschmaus, den er vorgezogen hat, um dabei sein zu können. Um die Flucht aus der DDR geht es in der autobiographischen Erzählung Der Hausfreund, erzählt aus der Sicht eines kleinen Mädchens.

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Pressespiegel zu Bauchlandung [ ↑ ]
Der Veröffentlichung des Bandes Bauchlandung folgten 21 Rezensionen, die von Ambivalenz durchzogen sind. Julia Franck erzählt in Bauchlandungen aus der Perspektive der verschiedenen Ich-Erzählerinnen in einer sehr sachlichen und emotionalen Sprache. Dieser besondere Schreibstil wird auf einer Seite von einigen Kritikern sehr gelobt. In der Berliner Zeitung wird ihr versichert, dass sie mit „Understament ihre Meisterschaft zum Einsatz“ bringe und eine „Erzählerin der Sinnlichkeit“ sei (Mangold, Berliner Zeitung, 9./10. 9. 2000), denn Julia Franck schaffe es, Körperlichkeit detailliert zu beschreiben und die Beobachtungen ihrer Ich-Erzählerinnen zu schildern, ohne jedoch zu sehr auf Emotionen zurückzugreifen und ohne ihren sachlichen Stil zu verlieren. Dieser Schreibstil lobt Schaber als „eigenständige, originelle Sprache“ (Die Presse, 9.9.2000). Außerdem bekommen Franks Beschreibung von Körperlichkeit Anerkennung, die er als „Scharfsinn und Poesie [...] über die Körper“ (ebd.) beschreibt. Für Beatrice Matt ist Bauchlandung ein „hochrationales sinnliches Werk“ und Franck begebe sich in eine „noch wenig ausgeschöpfte Zone vor“ und würde somit das literarische Feld erweitern (Neue Zürcher Zeitung, 7. 9. 2000).
Es gibt aber auch die andere Seite, die Francks Sprachstil als zu „kühl“ (Arnold, Schweizer Monatshefte, Jg. 80 (2000), Heft 11. S.49/50) bewerten. Thomas Wirtz schreibt in der FAZ, dass man beim Lesen schnell „Widerwillen“ empfindet „gegen das unraffinierte Lustangebot[...]” und man glaube, “[...]die künstlichen Geschmacksverstärker herauszuschmecken“ (12. 8. 2000). In der Saarbrücker Zeitung berichtet Christoph Schreiner, dass in Bauchlandung „riechende, pulsierende Sätze“ vorkommen, die dann wieder „ins Sachliche umschlagen“ (Vgl. 18.8.2000). Reiner Schmitz bemerkt in seinem Artikel im Focus, wie Julia Franck diese Gegensätze vereint: „Julia Franck spielt mit dem Kribbeln, der Irritation und der banalen Auflösung. Ihre Sprache ist trocken, knapp, ungeziert, ja schon spröde, dabei von höchster Wahrnehmungsdichte durch fotografisch genaue Schilderung“ (Schmitz, Focus, Jg. 30 [2000]). Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb wird „der Leser [...] bei ihr die freie Hand brauchen, um sich an der Stirn zu kratzen, wenn er feststellt, wie die Autorin ihn erst aufreizt, um ihn zuletzt im Regen stehen zu lassen. Eine kalte Dusche der Sinnlichkeit“ (Mangold, Berliner Zeitung, 9./10. 9. 2000). Sollte man davon ausgehen, dass es bei in Francks Geschichten um Liebe geht, liege man falsch. In die Zeit Online (28.12.2000) schreibt Doebler: „Es ist Sex, bestenfalls Begehren und schlimmstenfalls Zerstreuung. Und zugrunde liegt ein ganzes Bündel unschöner Impulse: Machtinstinkt, Ressentiment, Rache, Rivalität. Des Weiteren heißt es: „Liebe ist nie bei Julia Franck. Es ist Sex, bestenfalls Begehren und schlimmstenfalls Zerstreuung“ (ebd.).
Zusammenfassend ist Bauchlandung „in seiner Aussage ein zutiefst ehrliches, lesenswertes und auf hintergründige Weise bizarr-komisches Buch” (Stockmann, literaturkritik.de, 9.9.2002) und “bietet eine breite Palette zwischenmenschlicher Begegnungen von Drama bis zur Petitesse” (o.A. 2000).

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Forschungsspiegel zu Bauchlandung [ ↑ ]

Sexualität/Körperlichkeit
In den acht verschiedenen Geschichten in Bauchlandung - Geschichten zum Anfassen werden unterschiedliche Obsessionen aufgegriffen, zum Beispiel das Beobachten oder die Verführung durch Essen (vgl. Hohmann, S. 187), des Weiteren auch der Verrat an einer geliebten Person (vgl. Meise 2010, S. 262 ff.).

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Mathilda

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Mathilda [ ↑ ]
In der Kurzgeschichte Mathilda geht es um eine Frau, die einsam in einem Wald lebt und deren einziger Kontakt zur Außenwelt der Postbote ist, welcher einmal in der Woche zu ihr fährt, um ihr die Zeitung und Lebensmittel zu bringen. Unter der Woche läuft sie nackt in und um ihre Hütte, aber wenn der Postbote kommt, kleidet sie sich extra an. Als ihr das Leben zu einsam wird, beschließt sie, dass sie einen Mann in ihrem Leben braucht, und gibt so eine Annonce auf, in der nach jemanden sucht, der sich um Haus und Garten kümmern kann. Daraufhin zieht Jost bei ihr ein und sie verbringen mehrere Wochen des Sommers so unter einem Dach. Eines Tages gibt Jost seinem Verlangen nach und schläft mit Mathilda, obwohl er eine Freundin zuhause hat. Am nächsten Morgen schlägt Mathilda vor, Jost könne seine Freundin Celine einladen, doch die Batterien seines Handys sind leer. Statt des Postboten taucht dann aber Celine ungerufen auf und sie und Jost fahren zurück in das Dorf. In der folgenden Nacht findet der Postbote Mathilda nackt vor ihrer Hütte liegend. Nachdem sie ihn in ihre Hütte eingeladen hat und ihm wie zuvor immer Jost Gummitiere angeboten hat, teilt sie dem Postboten mit, dass sie von nun an keine Zeitungen mehr brauche. Danach verschwindet Mathilda und niemand die Leute im Dorf können nur spekulieren, was mit ihr geschehen ist.

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Thematische Aspekte zu Mathilda [ ↑ ]

Sexualität
Sexualität ist bei Julia Franck ein großes Thema. Während es in Mathilda vollkommen normal scheint, dass diese den ganzen Tag nackt im Wald in ihrer Hütte lebt und sich nur für den Postboten, der einmal in der Woche kommt, anzieht, wird Sexualität in anderen Werken meist zu einem kritischeren Thema. Sexuelle Gewalt und vor allem Vergewaltigung werden immer wieder dargestellt, durch die nüchterne Erzählhaltung entzieht sich Franck jedoch einer sprachlichen Reflexion des Dargestellten, es obliegt allein dem Leser, das Gelesene zu bewerten.

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Lagerfeuer

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Lagerfeuer [ ↑ ]
Leseprobe
Der im Jahr 2003 erschienene Roman Lagerfeuer ist Julia Franks dritter Roman. Schauplatz ist das Notaufnahmelager Marienfelde in Berlin im Jahre 1978. Der Roman setzt sich aus Einzelepisoden zusammen, welche abwechselnd von vier Figuren aus der Ich-Perspektive erzählt werden: Nelly Senff ist eine aus der DDR ausgereiste Chemikerin, Krystina Jablonowska eine polnische Cellistin, John Bird ein CIA-Agent und Hans Pischke ist unfreiwillig aus der DDR freigekauft worden.
Zu Handlungsbeginn wird Nelly Senff mit ihren beiden Kindern Katja und Aleksej von ihrem Fluchthelfer Gerd unter dem Vorwand einer bevorstehenden Heirat aus der DDR gebracht. Die Ausreise erweist sich als zweifach brutal, zum einen erhofft sich Gerd sexuelle Gefälligkeiten von Nelly für seine Fluchthilfe zum anderen wird sie von DDR-Beamten einer gynäkologischen Untersuchung unterzogen, die einer Vergewaltigung gleichkommt.
Nach dem Grenzübertritt wird Nelly mit ihren Kindern im Aufnahmelager Marienfelde untergebracht, wo sie sich zahlreichen Verhören über ihre Ausreisemotive unterziehen muss. Es stehen sich zwei Narrative gegenüber; Nelly erklärt, dass sie aus Trauer über den Tod ihren Partners, den Vater ihrer Kinder, das Land verlassen wollte; für die Verhörenden ist die suspekt, weil ihr verstorbener Partner unter Verdacht steht, ein Spion zu sein, dessen Tod nur vorgetäuscht wurde. Der Alltag in Marienfelde ist nicht nur für Nelly gezeichnet durch Verhöre, Verdächtigungen und Diskriminierungen.
Im Lager treffen sie auf die Familie Jablonowska. Krystina Jablonowska wohnt zusammen mit ihrem Vater Waldyslaw: ihr Bruder Jerzy liegt aufgrund eines Krebsleidens im Krankenhaus im Berliner Westen. Um in den Westen zu gelangen und Jerzy eine gute Versorgung zu gewährleisten, musste sich die polnische Familie gefälschte Papiere kaufen. Während sie von ihrem Vater beschimpft wird und sich wie Nelly die sexuellen Anspielungen der Männer gefallen lassen muss, stirbt ihr Bruder trotz guter Versorgung im Krankenhaus. Nach dessen Tod emanzipiert sie sich und beginnt ein neues Leben außerhalb des Lagers.
John Bird ist CIA-Agent afroamerikanischer Abstammung. Seine Aufgabe ist es, im Auftrag der Regierung die Flüchtlinge nach ihren Motiven zur Flucht zu befragen. Er ist vollkommen von seinem Beruf überzeugt, lebt mit seiner Frau Eunice zusammen. Ihre Ehe zerbricht durch die Geheimniskrämerei um seinen Beruf. Er fängt eine Affäre mit Nelly an.
Hans Pischke ist überzeugter Kommunist. Er protestierte gegen das Regime der DDR und wurde im Zuge diplomatischer Verhandlungen mit der BRD als Gefangener ausgetauscht.
Überall begegnen den Lagerinsass*innen Vorurteile und Unterstellungen, so wird Nelly verdächtigt ihrer Sorgfaltspflicht ihren Kindern gegenüber nicht nachzukommen oder sich angeblich zu prostituieren. Die Kinder werden in der Schule gehänselt. John Bird, der von berufswegen sozusagen hauptamtlich jeden verdächtigt, muss sich seinerseits mit dem Misstrauen seiner Ehefrau aussetzen. Hans Pischke unterstellt sein Arbeitsberater Faulheit, die anderen im Lager halten ihn für einen Spion. Ein Suizidversuch scheitert.
Der Roman endet mit einer als Wohltätigkeitsveranstaltung gesponserten Weihnachtsfeier. Dabei geht der Weihnachtsbaum in Flammen auf. Resignierend bleiben die Lagerbewohner zurück. Ein Entkommen der Menschen, die in ihrer Privatsphäre beschattet werden, erscheint ebenso hoffnungslos wie ein Leben im goldenen Westen.
Im Roman finden sich autobiographische Elemente. Julia Franck ist selber mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern 1978 aus der DDR in den Westen geflüchtet. Auch ihre jüdische Herkunft lässt sich in der Hauptfigur Nelly wiederfinden. Im Jahr 2004 wurde der Roman Lagerfeuer mit dem Marie-Luise Kaschnitz-Preis ausgezeichnet und unter der Regie von Christian Schwochow unter dem Titel Westen im Jahr 2012 verfilmt.

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Thematische Aspekte zu Lagerfeuer [ ↑ ]

Familienbeziehungen
In Lagerfeuer spielt die Beziehung zwischen Mutter und Kindern eine wichtige Rolle. Nelly Senff ist in der Position der alleinerziehenden Mutter, die für ihre zwei Kinder sorgen muss. Die Mutter-Kind-Beziehung leidet beispielsweise unter der Lagersituation, was sich unter anderem in Katjas Verlangen nach materiellen Dingen äußert. Diese kann ihre Mutter ihr jedoch nicht kaufen. Der westliche Konsumdruck und das Fehlen von finanziellen Mitteln erfasst und verändert nicht nur die Kinder, sondern lässt auch bei Nelly Frustrationen aufkommen. Die Beziehung zwischen Geschwistern wird in Lagerfeuer hervorgehoben. Katja und Aleksej müssen sich täglich mit den Hänseleien ihren Mitschüler auseinandersetzen. Katja versucht ihren Bruder vergeblich vor körperlichen Angriffen zu schützen, was fehlt ist jedoch Hilfe von außen. Auch Krystyna kümmert sich aufopferungsvoll um ihren im Sterben liegenden Bruder und versucht ihn vergeblich zu retten.

Autobiographische Bezüge
In Julia Francks Werken lassen sich viele autobiographische Bezüge aufdecken. Vor allem ihre eigenen Erlebnisse bezüglich der DDR haben in Abwandlungen Einzug in die Geschichten gefunden. Lagerfeuer spielt sogar in Marienfelde, dem DDR-Flüchtlingsauffanglager, in dem Franck selbst für ein Jahr lebte.

Geschlechterrollen
In Lagerfeuer ist es die Cellistin Krystyna eine Frauenfigur, die unter den Sexismen ihrer männlichen Umgebung zu leiden hat. Von ihrem Vater erntet sie nur Beschimpfungen und Spott. Nach dem Tod ihres Bruders emanzipiert sie sich von ihrem Vater und beginnt ein eigenständiges Leben.

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Pressespiegel zu Lagerfeuer [ ↑ ]
Die meisten Rezensionen zu dem Roman Lagerfeuer sind vorwiegend positiv. Von insgesamt 15 Rezensionen ist nur eine in der Zeitschrift Literaturen (11/2003) wirklich negativ. Drei betrachten den Roman eher von einer kritischen Seite: Süddeutsche Zeitung (30.09.2003), Literarische Welt (21.02.2004) und Der Tagesspiegel (09.11.2003). Die übrigen Rezensionen fallen positiv aus wie in der Berliner Zeitung (23.08.2003).
Besonders positiv äußert man sich im General Anzeiger (26.11.2004), in der FAZ (07.10.2003), sowie in der Frankfurter Rundschau (8.10.2003). In Sonntag aktuell wird Julia Francks Roman als „vielleicht de[n] beste[n] deutschsprachige[n] Roman dieses Herbstes 2003“ gefeiert. In Der Spiegel (24/2003) stellt Volker Hage den Roman als „Anlass zur Hoffnung“ der deutschen Verleger für den Herbst 2003 dar. Auch Thomas Brussig lobt den Roman Lagerfeuer in Der Spiegel (40/2003) und beschreibt ihn als ein „Glücksfall“ und „bemerkenswerten Roman“.
Besondere Beachtung finden Julia Francks Sprache und ihr Erzählstil (Mohr, Wiener Zeitung, 17.10.2003; Dietschereit, Rheinische Post, 18.11.2003; Reents, FAZ, 7. 10. 2003) so wie ihre „komplexe Erzählperspektive“ (Kunisch, Süddeutsche Zeitung, 30. 9. 2003). Edo Reents spricht in der Frankfurter Allgemeinen von einer Autorin, die eine „gute Erzählerin“ ist „deren Erzählstoff sich nicht in generationsspezifischen Lifestyle-Angelegenheiten erschöpft; die weiß, daß auch Melancholie etwas ist, das man sich leisten können muß.“ (7. 10. 2003). Peter Mohr beschreibt ihren Erzählstil als „unaufgeregt“ und „ohne Sentimentalität“. Ihr gelinge es sich „ohne wehmütige Ostalgie“ auszudrücken und sich von der „Aufbereitung ihrer eigenen Vergangenheit“ leiten zu lassen (General-Anzeiger, 20./21.9.2003). Edo Reents betont in der Frankfurter Allgemeinen (7. 10. 2003) die Sonderstellung des außergewöhnlichen Romans, indem er sagt: „So einen Roman hatten wir noch nicht.“

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Forschungsspiegel zu Lagerfeuer [ ↑ ]

Diskurse der historischen und aktuellen Zeit
Katharina Grätz vergleicht Lagerfeuer mit Wolfgang Hilbings Roman Das Provisorium aus dem Jahr 2000. Im Vergleich beschreibt sie Lagerfeuer als eine „lebendige Form des Erinnerns“, sowie „ein Bewahren und Übermitteln vergangener Erfahrungen“ (Grätz 2006, S. 243). Beide Romane betonen „das Risiko des Grenzübertritts“ (ebd., S. 247) und entwerfen „den Zustand des Dazwischen“ (ebd., S. 248), denn „mit der Vergangenheit haben sie gebrochen, eine Zukunft zeichnet sich nicht für sie ab“ (ebd., S. 250). Das Lager entpuppt sich als „Spiegel des kalten Krieges“ und die Lagersituation sei ein „Schwebezustand der Grenzsituation“ (ebd., S. 248). Das Leben im Lager führt zur „vollständigen Desillusionierung“ und „vollständigen Entfremdung“ der Hauptfiguren (ebd., S. 250). Grätz kommt zu dem Schluss, dass die Verweigerungshaltung die einzige Form von Freiheit ist, die der Roman zulässt (vgl. ebd. S. 251). Somit haben die Figuren keine Gelegenheit, wirklich im Westen anzukommen. Stefanie Hohmann schlägt eine ähnliche Richtung ein und diskutiert in ihrer Untersuchung Literatur nach der Wende Julia Franks Roman Lagerfeuer zusammen mit den Romanen Simple Stories (Ingo Schulze 1999), Moskauer Eis (Annett Gröschner 2000) und dem autobiographischen Essay Meine freie deutsche Jugend (Claudia Rusch 2003) im Kontext der Nach-Wende-Literatur. Sie kommt zu dem Schluss, dass „diese literarischen Arbeiten von den jeweiligen Versuchen zeugen, dem Verschwinden von Lebensentwürfen, Lebenswirklichkeiten, eines Staates, einer Geschichte Herr zu werden und zugleich die Situation der Neuorientierung im Moment des Umbruchs und der Unordnung literarisch zu bannen“ (Hohmann 2005, S. 57). Julia Francks Roman Lagerfeuer erzählt vom Gestrandetsein nach der Wende, den zu überwindenden bürokratischen Hürden, die Teil des Kalten Krieges sind und dem damit verbundenen Misstrauen (vgl. ebd., S. 52). Darüber hinaus forschte auch Hannes Krauss an Francks Roman Lagerfeuer zusammen mit Brigitte Burgmeisters Romanen Unter dem Namen Norma (1994) und Pollock und die Attentäterin (1999) sowie Klaus Schlesingers Die Sache mit Randow (1996) und Trug (2000) und sortiert diese in die Kategorie Erinnerungsliteratur. Er spricht von Autoren und Autorinnen, die zum „Erzählen zurück fanden“ und sich mit „literarischen Mitteln an die Erkundung der neuen Verhältnisse“ wagten (vgl. Krauss 2008, S. 49). Julia Francks Lagerfeuer schafft es, „die Gemeinsamkeiten der Geschichte dieses Landes ins öffentliche Bewusstsein zu rücken“ (ebd., S. 52), welches eine der wichtigsten Leistungen der aktuellen Erinnerungsliteratur ist.

Ort der Handlung – Städtebild – Berlin
Ihr Roman Lagerfeuer ist für Grätz ein besonders gelungenes Beispiel der einzigartigen Mauer- und Grenzliteratur Deutschlands. Hier wird das Risiko des „Grenzübertritts“ (Grätz 2006, S. 247) dargestellt und es erfolgt eine Dekonstruktion des Mythos „goldener Westen“ (Vgl. Schlicht 2012). Die Texte erzeugen durch ihre Gegenwartsreferenzen ein realistisches und plastisches Bild der Stadt Berlin, da die im Text genannten Straßennamen und Orte tatsächlich existieren oder existiert haben.
Berlin wird realistisch dargestellt, in dem Orte explizit mit Straßenamen genannt und existierenden Geschäften und Cafés erwähnt werden. Eisenblätter streift in ihrem Aufsatz Julia Franck – Die Mittagsfrau: Intertextualität und kulturhistorische Kontexte immer wieder die Stadt-Thematik, etwa wenn sie intertextuelle Bezüge zu Das kunstseidene Mädchen herausarbeitet oder wenn sie sich direkt mit der Sozialstruktur und dem Stadtbilds Berlin beschäftigt. Sie arbeitet dabei die Unterschiede des Geschwisterpaares Helene und Martha in Bezug auf die Wahrnehmung der Stadt heraus. Während Martha dem Glanz der Stadt erliegt, verbleibt Helene in einer skeptischen Haltung gegenüber der Großstadt der 20er Jahre (vgl. Eisenblätter 2008, S. 179ff).

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Maries Schuhe

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Maries Schuhe [ ↑ ]
In der Erzählung Maries Schuhe geht es um Edmund, der in einem Geschäft am Botanischen Garten als Schuhmacher arbeitet. Er sieht Menschen nie ins Gesicht und erkennt sie eher an ihren Füßen und ihrem Gang. Eines Tages soll er für eine Frau, von deren Namen er sich nur Marie merken kann, Schuhe aus Nappa anfertigen, ein Material, dass er sonst nie verwenden will, da er es nicht mag. Marie erwähnt jedoch, dass es ihr letzter Sommer ist, und so besorgt Edmund das Leder. Später kommt Marie noch einmal zum Anprobieren des Musterstücks und möchte die Schuhe bis zum Sommeranfang haben. Edmund fertigt nicht nur das angeforderte Paar in lindgrün an, sondern auch noch gleich eines in Weiß und ein weiteres in malvenfarben. Es beschäftigt ihn sehr, dass es Maries letzter Sommer sei und sie in seinen Schuhen sterben müsse. Er stellt sich vor, dass sie käme, um die Schuhe abzuholen, und sagen würde, sie wäre nicht krank. Im August wird Edmund dann klar, dass Marie nie kommen wird, um in seinen Schuhen zu laufen.

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Thematische Aspekte zu Maries Schuhe [ ↑ ]

Geschlechterrollen
Julia Francks Protagonisten sind in großer Mehrheit weiblich. Nur in Maries Schuhe findet sich ein männlicher Ich-Erzähler. So neigen ihre Darstellungen der Männer auch oft zu Männerklischees, die teilweise aufgelöst werden.

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Die Mittagsfrau

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Die Mittagsfrau [ ↑ ]
Leseprobe
In zwei Analepsen wird das Überleben zweier Bombenangriffe in den Jahren 1944 und 1945 auf die Stadt Stettin des sechs- bzw. siebenjährigen Peters erzählt.
Peter wohnt zusammen mit seiner Mutter Alice in Stettin. Sein Vater verließ die Familie bereits während des Krieges. Während der Besatzung durch russische Soldaten wird Peter Zeuge der Vergewaltigung seiner Mutter. Wenige Zeit später fliehen die beiden in einem überfüllten Zug. Eine beinahe Trennung der beiden kann gerade noch verhindert werden. Am Bahnhof in Pausewalk lässt Alice ihren Sohn zurück. Peter bleibt im Bahnhof auf einer Bank sitzen und wartet vergeblich auf die Rückkehr der Mutter.
Der Roman springt ins Jahr 1907 in die ostsächsische Stadt Bautzen, in der das Geschwisterpaar Helene und Martha gemeinsam in bürgerlichen Verhältnissen aufwachsen. Der Vater Ernst Ludwig Würsich ist Klein-Verleger von Druckerzeugnissen und betreibt eine Druckerei. Seine jüdische Frau Selma wird von ihm über die Maße geliebt und wie eine Göttin verehrt. Selma gilt in der Stadt als fremd und der Umgang mit ihren zwei Töchtern ist harsch und bestimmend. Mütterliche Liebe ist nur in Ansätzen zu erkennen und verschwindet im Laufe der Geschichte gänzlich. Gerade gegenüber der jüngeren Tochter Helene hat sie keinerlei emotionale Bindung und übersieht sie förmlich. Die ältere Schwester benennt diesen Zustand der Mutter als Blindheit des Herzens. Bevor Helene geboren wurde, verlor die Mutter vier Söhne.
Traumatisiert entzieht sich die Mutter zeitweise völlig aus dem realen Leben und kümmert sich nur rudimentär um ihre verbliebenen Kinder. Sie entwickelt eine Sammelleidenschaft für obskure Dinge, denen sie mehr Liebe widmet als ihren Töchtern.
Die emotionale Kälte der Mutter führt zu einem starken Zusammenhalt der Schwestern, die sich gegenseitig die Liebe schenken, die ihnen die Mutter versagt. Dies mündet in teils erotischen Spielen der beiden, die bereits auf die lesbischen Neigungen von Martha schließen lassen.
Als der Vater in den Krieg gerufen wird, müssen beide zum Lebensunterhalt beitragen, obwohl erwähnt wird, dass die Mutter bündelweises Geld unter der Matratze hortet. Martha arbeitet als Krankenschwester und träumt von einem Medizinstudium, während die neun Jahre jüngere Helene die Bedienung der Druckerpresse erlernen muss und die Buchführung des Unternehmens übernimmt. Die Unterrichtung durch den Druckermeister ist aufgrund ihrer Physiognomie deutlich schwieriger.
Nach sechs Jahren kehrt der Vater schwer verwundet zu seiner Familie zurück. Selma, die schon lange mit ihm abgeschlossen hatte, nimmt ihn jedoch überhaupt nicht zur Kenntnis, sondern zieht sich komplett in ihre Etage zurück und überlässt die Pflege des wahrscheinlich an Typhus erkrankten Mannes ihren Töchtern. Aufgrund ihrer Assistenz bei Operationen und der Mithilfe ihrer Jugendliebe Leontine gelingt es Martha, benötigte Medikamente wie Morphium zu besorgen. Die Pflege des Vaters zehrt schwer an den beiden Töchtern. So beginnt Martha während der Pflege, sich das für den Vater gedachte Morphin selbst zu spritzen.
Da die Mutter jedwede Unterstützung versagt und die finanzielle Situation durch die starke Inflation prekär ist, suchen die beiden den Kontakt zu einer entfernten Tante, Fanny Steinitz. Nachdem die Mutter geerbt hat, entschließen sich Martha und Helene, zu Fanny nach Berlin zu ziehen und lassen die Mutter zurück.
In Berlin ändert sich dann das gesellschaftliche Leben vollends. Das starre und von Pflichten gekennzeichnete bürgerliche Setting in Bautzen wird durch das lebendige Leben der 20er Jahre in Berlin substituiert. Fanny erweist sich als drogenabhängige Lebefrau mit wechselnden Sexualpartnern. Martha und Helene werden nun erstmalig mit Künstlern und gescheiterten Existenzen konfrontiert. Helene sitzt zwar einem Maler Model, wird jedoch auch von einem der Liebhaber Fannys sexuell belästigt. Später verliebt sie sich in den aus gutem Hause stammenden jungen jüdischen angehenden Arzt Carl Wertheimer. Helene zieht daraufhin zu ihm und beide frönen ihrer Leidenschaft zur Literatur und zueinander. Martha hat die Jugendliebe zu Leontine, welche in der Zwischenzeit geheiratet hat, als Medizinerin in der Berliner Charité arbeitet und in der Universität unterrichtet, wieder aufleben lassen und erhält eine Anstellung als Krankenschwester.
Das Leben von Helene erfährt eine erneute Wendung, nachdem Carl bei einem Autounfall stirbt. Sie verfällt in Lethargie und lebt nun, nachdem Martha in eine Entzugsklinik eingeliefert wird, wieder bei Fanny und ihrem ihr gegenüber aufdringlichen Liebhaber Erich. Sie erhält jedoch eine Anstellung im Krankenhaus, zieht in das ansässige Schwesterwohnheim und isoliert sich. Erst als der sehr hartnäckige Nationalsozialist Wilhelm sich für sie interessiert, entkommt sie langsam der selbst auferlegten Isolation. Die Mutter wurde währenddessen in eine Klinik eingeliefert, woraufhin Helene versucht, sie zu sich zu holen, was jedoch aufgrund der jüdischen Herkunft der Mutter und der in Kraft getretenen Nürnberger Gesetze nicht geschieht.
Helene gibt dem Werben Wilhelms nach und zieht mit ihm nach Stettin, wo sie ihn auch heiratet. Durch ihn nimmt sie eine neue Identität an, aus der Jüdin Helene wird Alice Sehmisch.
Während der Hochzeitsnacht wird Wilhelm jedoch gewahr, dass Helene nicht jungfräulich ist, und beginnt, sie ab da an brutal zu erniedrigen. Helene wird trotz aller Vorsicht schwanger. Wilhelm gibt an, nicht für das gemeinsame Kind Sorge zu tragen und verlässt sie nach einiger Zeit. Helene nimmt erneut eine Anstellung im Krankenhaus an, welches auf Grund des 2. Weltkrieges immer mehr Patienten aufnehmen muss. Ihren Sohn Peter gibt sie zur Pflege an ihre Nachbarin ab, lässt ihn aber später auch gänzlich allein zu Hause, während sie außer Haus ist. In der Zwischenzeit verstirbt ihre Mutter in einem Sanatorium und Martha wird deportiert. Die Handlung nähert sich dem Beginn des Romans, Mutter und Sohn überleben die Bombardierung der Stadt Stettin und sie beschließt, Peter zu einem Onkel an die Ostsee zu schicken.
Der Epilog zeigt aus der Perspektive Peters die Geschehnisse, nachdem Helene ihn am Bahnhof verlassen hat. Sie lebt mit Martha am Rande Berlins. Peters Leben am Hofe von Onkel und Tante ist durch Lieblosigkeit gezeichnet. Eine Kontaktaufnahme zwischen Mutter und Sohn erfolgt nie. Peter beobachtet seine Mutter jedoch, ohne sich bei ihr bemerkbar zu machen.

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Thematische Aspekte zu Die Mittagsfrau [ ↑ ]

Familienbeziehungen
In Die Mittagsfrau liegen gleich mehrere Eltern-Kind-Beziehungen vor. Zunächst ist da Helene, die von ihrer Mutter nicht beachtet beziehungsweise nur als Last empfunden wird. Später hat Helene dann selbst einen Sohn, jedoch nicht von ihrer großen Liebe, sondern aus einer enttäuschenden Ehe. Sie möchte nicht die gleichen Fehler wie ihre Mutter machen, kann die Liebe für ihn aber nicht aufbringen und lässt ihn schließlich allein am Bahnhof zurück. In Die Mittagsfrau wird die fehlende Frage verhandelt, ob Mutterschaft genetisch oder gesellschaftlich determiniert ist. Dabei wird das Familienverhältnis eines Geschwisterpaares in den Blick genommen. So wird die Genealogie von Helenes Mutterschaft genau beleuchtet. Helenes eigene Mutter wird als lieblos und gesellschaftlich entrückt dargestellt, so lässt die Mutter den Dingen mehr Liebe zu kommen als ihren eigenen Kindern. Der Vater, welcher die Mutter abgöttisch liebt, kümmert sich zwar um seine Kinder, doch seine Liebe gebührt alleinig seiner Frau. Liebe erfahren die Kinder nur im geschwisterlichen Zusammensein. Durch den ersten Weltkrieg wird das Familienverhältnis komplett zerrüttet.

Sexualität
Helene wird in Die Mittagsfrau in Anwesenheit ihres Sohnes gleich von mehreren nationalsozialistischen Soldaten vergewaltigt. Ella wird Opfer von sexuellen Übergriffen und wird von dem Stasioffizier und Untermieter der Mutter schließlich vergewaltigt. Ob die angedeutete Schwangerschaft durch die Vergewaltigung und der anschließende Schwangerschaftsabbruch in der Textwelt passiert sind, lässt der Roman offen.
In Die Mittagsfrau kommt es zu sexuellen Handlungen zwischen den beiden Schwestern Helene und Martha, wobei Martha auch andere Beziehungen mit Frauen eingeht. In anderen Werken wird Homosexualität nicht als explizites Thema oder gar Problem herausgehoben, sondern in Nebensätzen als selbstverständlich erwähnt.

Autobiographische Bezüge
Die zugrundeliegende Idee für Die Mittagsfrau beruht auf einem Teil der Biografie von Francks Vater, der im Rahmen der durch das Potsdamer Abkommen initiierten Vertreibungen der Bevölkerungen an der Oder-Neiße-Grenze mit seiner Mutter flüchtete und von ihr am Bahnhof verlassen wurde. Franck konnte bei der Verarbeitung der Begebenheit nicht auf direkte Quellen zurückgreifen.

Geschlechterrollen
In Die Mittagsfrau beantwortet die Autorin mitunter die Frage nach der genetischen Determination der Mutterrolle und stellt heraus, dass die Mutterrolle erst durch den gesellschaftlichen Diskurs bestimmt ist. Den dargestellten Mutterfiguren fehlt die Liebe zu ihren eigenen Kindern. Die Beobachtungen des Erzählers legen aber unterschiedliche Begründungsmuster nahe. So ist Helenes Mutter anscheinend auf Grund der traumatischen Erlebnisse des mehrfachen Kindsverlustes nicht mehr dazu in der Lage, sich mit ihren noch lebenden Kindern in einen liebevollen Kontakt zu treten. Helene hingegen wird in die Mutterrolle getrieben, ohne eigenständige Ambitionen zur Mutter zu hegen.Auch die Emanzipation spielt in Julia Franks Erzählungen eine wichtige Rolle.

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Formale Aspekte zu Die Mittagsfrau [ ↑ ]
Julia Francks bezeichnet ihren Schreibstil selbst als „weibliche Nüchternheit“(Franck 2008, S.239). Sie schreibt präzise und erläutert auf dokumentarische Weise ihre Beobachtungen. Oft sind ihre Texte parataktisch. Auch elliptische Satzkonstruktionen und Einschübe finden sich häufig, sodass die Texte kausale, zeitliche oder sonstige logischen Verknüpfungen offen lassen.
Franck schreibt schnörkellos, lakonisch, kühl und dennoch sinnlich. Gerade die Sinnlichkeit wird in vielen Rezensionen und Forschungsbeiträgen hervorgehoben, denn die Texte liefern detaillierte Wahrnehmungsprotokolle.
Die Erzählperspektive hat in Francks Werk eine Wandlung erfahren; während die ersten Veröffentlichungen überwiegend intern fokalisiert sind und sich autodiegetische Erzählstimmen finden, haben die Romane Die Mittagsfrau und Rücken an Rücken keine Ich-Erzähler*innen mehr, sondern erzählen mit größerer Distanz zu den Figuren. Die Erzählungen Francks arbeiten oft mit zeitlichen oder diegetischen Brüchen: In manchen Erzählungen gehen Realität und Phantasie der Erzählenden nahtlos in einander über, oder die Texte arbeiten wie in Lagerfeuer mit multiplen Fokalisierungen, also einem polyphonen Erzählchor. In den neueren Veröffentlichungen arbeitet sie mit komplexeren Zeitstrukturen und rahmt ihre Geschichten mitunter in unterschiedlichen Zeitebenen. So ist der Prolog von Die Mittagsfrau aus Peters Perspektive geschildert, die in der analeptischen Überblendung auf die Lebensgeschichte von Helene dann aber fallen gelassen wird und erst zum Ende des Romans wieder aufgenommen wird.

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Pressespiegel zu Die Mittagsfrau [ ↑ ]

Zu Francks Werk Die Mittagsfrau gibt es eine Vielzahl an ambivalenten Rezension aus dem Feuilleton. Viele Rezensenten, auch die der etablierten Print-Medien, sehen in Julia Franck eine brillante Erzählerin und loben ihr Werk für ihre narrativen Stärken. Ihr mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnetes Werk zeige, dass sie dazu befähigt sei, ihre Figuren lebendig zu charakterisieren und Geschichten detailliert zu beschreiben. Während einige der Kritiker, wie Ute Beiküfner von der Berliner Zeitung (29.9.2007) meinen, die Einbeziehung historischer Fakten würde dem Roman seine literarische Qualität rauben, loben andere wie Nico Bleutke von der Neuen Zürcher Zeitung (17. 10. 2007) ihre Fähigkeit, die Diskurse der Zeit fast unbemerkt in den Roman zu integrieren. In diesem Zusammenhang wird dem detaillierten Erzählen auch Effekthascherei vorgeworfen, da Franck, die Ereignisse um ihre Hauptfigur Helene meist zugespitzt darstelle. Die Charakterisierung ihrer Hauptfigur ist es jedoch auch, die durchweg positiv besprochen wird. Antje Korsmeier reiht die Romanfigur Helene in der taz (29./30. 9. 2007) in eine lange Reihe von komplex dargestellten literarischen Frauenfiguren wie Madame Bovary ein, merkt jedoch auch gleichzeitig an, dass die Nebenfiguren im Gegensatz teils plakativ und klischeebehaftet sind, dabei kommt der Vorwurf des Klischees auch von anderen Kritikern.
Während die Erzählung und die Figurengestaltung noch eingehend positiv besprochen werden, polarisiert ihr literarischer Stil stärker. So kommt von einigen Kritikern der Vorwurf, die Erzählhaltung und der sprachliche Stil sei zu unterkühlt. Uta Beiküfner führt gar die Kühle der Figuren nicht etwa auf die dargestellten Figuren sondern gänzlich auf den Erzählstil Francks zurück. Dadurch verrücke Franck die moralischen Fehltritte der Vorkriegszeit ins Feld des Erklär- und Verstehbaren. Der kühle Erzählstil irritiere den Leser. Katharina Döbler von Die Zeit (6. 9. 2007) hingegen sieht in der sprachlichen Ausgestaltung nur teilweise sprachliches Talent. Sie lobt zwar die ungestelzte Sprache, die dazu in der Lage sei “gänsehauterregende Momente”(ebd.) zu erzeugen. Diese Momente seien jedoch nur die Ausnahme und würden sich nicht über den ganzen Roman erstrecken. Ihr Fazit beschreibt den Roman als “heiß und kalt, grausam und idyllisch, sinnlich und sachlich”, ihm fehle aber das gewisse etwas, um ein großer Roman zu sein. Döblers Fazit fasst darüber hinaus den Pressespiegel gut zusammen, denn nur wenige KritikerInnen wie Anke Dürr vom Spiegel (Emma, 6/2007) sehen in Francks Werk einen rundum gelungenen Roman.

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Forschungsspiegel zu Die Mittagsfrau [ ↑ ]

Diskurse der historischen und aktuellen Zeit
Katharina Gerstenberger befasst sich in ihrem Aufsatz Fictionalizations: Holocaust Memory and the Generational Construct in the works of Contemporary Women Writers mit Francks Werk Die Mittagsfrau und beleuchtet die Aspekte Holocaust, Generationen-Konstruktion und Fiktionalität (vgl. Eisenblätter 2008, S. 175.). Sie arbeitet zum einen die Verweise auf den Holocaust heraus und zeigt zum anderen auf, „welche Bedeutung das Jüdisch-Sein für die Figuren hat” (vgl. ebd.). Pia Eisenblätter, welche auch den Gerstenberger Aufsatz bespricht, befasst sich mit dem zeitgeschichtlichen Kontext des Romans Die Mittagsfrau in ihrem Forschungsartikel Julia Franck - Die Mittagsfrau: Intertextualität und kulturhistorische Kontexte und macht bereits zu Beginn klar, dass dieser nicht nur als Handlungsrahmen fungiert, sondern sich “erheblich auf die Entwicklung der Figuren [auswirkt]” (ebd.). Dabei interessiert sich Eisenblätter vordergründig für die Verweise auf die Literatur der Zeit, da sie durch die erinnerungskulturelle Funktion der Literatur die Quelle für Franck selbst aufspüren und so die Struktur des Textes besser nachvollziehen kann.
In ihrem Forschungsartikel aus dem Sammelband Geschlechterkonstruktionen (2008) nähert sich Corinna Schlicht dem Roman Die Mittagsfrau aus einer diskursanalytischen Genderperspektive und fokussiert in ihrem Forschungsartikel die Darstellung der Ohnmacht der Frauen in der Geschichte (vgl. Schlicht 2008). Sie sieht Francks Roman als herausragendes Gegenstück zu den phalozentrischen Romanen, welche die Geschichte, gerade der Kriegsgeschichten, aus einer männlichen Perspektive darstellen. Die Mittagsfrau hingegen ist eines von mehreren Beispielen, die Geschichtsnarration aus einer weiblichen Perspektive her beleuchten. Dabei demontiere sie zu dem den Muttermythos, der “[...] als Erbe faschistoider Ideologien noch immer in unseren Köpfen herumspukt” (Schlicht 2008, S. 121).
Schlicht interpretiert Francks Werk als eine Form von Roman, an der Bewusstseinsgeschichte(vgl. Schlicht 2008, S. 125) ablesbar wird. Der Roman zeige auf, welche Diskurse der Zeit die Konstitution des Subjekts beeinflussen. An der Hauptfigur Helene wird deutlich, wie problematisch die Emanzipation der Frau in einer durch gesellschaftliche Stereotype erschaffenen frauenfeindlichen Welt ist. Schlicht zeigt auf, dass die Hauptfigur Helene, die keinerlei Ambitionen dazu besitzt, eine Mutter zu sein, durch Ausübung von Macht und durch persönliche Schicksalsschläge in die Mutterrolle gezwängt wird. Sie zeigt also auf, wie der gesellschaftliche Diskurs eine Rolle hervorbringt, die nachträglich als natürlich angesehen wird. Dabei arbeitet sie heraus, wie der Roman systematisch die konstitutiven Elemente eines Müttermythos aufdeckt und somit dekonstruiert (Schlicht 2008, S. 121).

Ort der Handlung – Städtebild – Berlin
Als Ort der Handlung wählt Julia Frank häufig Berlin aus, wie beispielsweise in Liebesdiener, Lagerfeuer und Die Mittagsfrau. Helga Meise stellt in ihrem 2005 erschienenen Aufsatz Orte- und Nicht- Orte bei Julia Franck, Inka Parei und Judith Hermann fest, dass Berlin als Schauplatz ihrer Erzählungen Julia Franks Nähe zu einer „Tradition weiblichen Schreibens“ (Meise 2005, S. 125) aufzeigt, da die Stadt Berlin in den 1920er und 1930er Jahren eine besondere (emanzipatorische) Bedeutung speziell für Schriftstellerinnen erlangte (Schlicht 2012). Jedoch solle man diese Meinung hinterfragen, da es eine Vielzahl an anderen Erklärungen gibt, wie die Tatsache, dass Julia Franck die längste Zeit ihres Lebens in Berlin verbracht hat und heute noch dort lebt.
Berlin wird eine große Anziehungskraft auf Künstler und Künstlerinnen nachgesagt. Sie ist die alte und neue Hauptstadt des wiedervereinten Deutschlands. Für Florence Feiereisen steht Berlin in Francks Erzählungen stellvertretend für das Leben in Zeiten der Globalisierung, in einem Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach emotionaler Nähe und zwischenmenschlicher Distanz. Die Hauptfiguren in den Erzählungen „sehnen sich nach der Verbindung zweier Seelen, fliehen jedoch in ihre eigene Fantasiewelten und scheitern in der realen Welt an der eigenen Handlungsfähigkeit“ (Feiereisen 2006).

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Rücken an Rücken

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Rücken an Rücken [ ↑ ]
Leseprobe
In ihrem jüngsten Roman thematisiert Franck ein weiteres Mal ein Geschwistergefüge, das in einer emotional unterkühlten Umgebung aufwächst. In diesem Roman wird das Leben von Ella und ihrem ein Jahr jüngerem Bruder Thomas erzählt, die bei ihrer Mutter, der jüdischen Käthe, im Ostberliner Stadtteil Rahnsdorf, dessen Kernsiedlungen an Mündung der Spree in den Müggelsee liegen, leben.
Nach Beendigung des Krieges lebt die während des Krieges unverheiratet gebliebene Käthe mit dem Kommunisten Eduard zusammen, der die Inhaftierung in einem Konzentrationslager überlebt hat, weil er von den Befreiern aus einem Leichenberg gezogen worden war. Die mit Käthe gezeugten Zwillinge werden in ein Heim geschickt, sodass nur Ella und Thomas kontinuierlich bei ihnen leben. An Ella vergreift er sich über die Jahre öfters. Der leibliche Vater, ein Künstler, von Ella und Thomas ist während des Krieges verstorben.
Als ihre Mutter für zwei Wochen verreist, versuchen die Kinder, das Haus auf Vordermann zu bringen. Bei Ankunft der Mutter ist frisch gekocht. Das eifrige Werk ihrer Kinder nicht wahrnehmend telefoniert Käthe und lässt die frische Mahlzeit erkalten. Durch die Nichtbeachtung ihrer Taten frustriert laufen Ella und Thomas davon und rudern in einem alten Boot auf den anliegenden Müggelsee hinaus, um eine Reaktion der Mutter zu provozieren. Nachdem sie auf dem See ausgeharrt haben, kentern sie jedoch und treten den Heimweg an. Zu Hause angekommen scheint die Mutter ihre Abwesenheit nicht bemerkt zu haben.
Nach der Trennung Käthes und Eduards im Jahr 1957 zieht der Stasioffizier Heinz bei Käthe ein. Der neue Untermieter entpuppt sich als Päderast, der Ella mehrmals sexuell belästigt und sie vergewaltigt, als Ella badet. Während der Vergewaltigung verliert Ella das Bewusstsein. Diesen Umstand nutzt Heinz aus, um aus der eigentlichen Vergewaltigung eine vermeintliche Heldengeschichte zu konstruieren, in der er Ella vor dem Ertrinken bewahrt.
Thomas, der über die sexuellen Übergriffe unterrichtet ist, entwickelt ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Sexualität. Seine schulischen Leistungen sind außerordentlich, er kann eine Klasse überspringen und steht nun vor dem Abitur, schreibt Gedichte und möchte im Westen Journalist werden. Seine Pläne stoßen bei Käthe auf Unverständnis, da sie die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR für etwas Besonderes hält. Sollte Thomas jedoch seine Pläne ernst meinen, könne er zu Käthes Onkel in die USA reisen. Allerdings würde dies bedeuten, dass der mütterliche Kontakt aufgekündigt würde.
Thomas wird von Ella darüber aufgeklärt, dass sie durch eine erneute Vergewaltigung des Untermieters schwanger geworden sei, den Fötus jedoch durch Hausmittel abgetrieben habe. Thomas zweifelt an der Geschichte. Nach dem Abitur meldet sich Thomas in einem Steinbruch zum Arbeitsdienst und wird Opfer von Quälereien durch Genossen. Als er an einer Gürtelrose erkrankt, kehrt er nach Hause zurück. Käthe nimmt die Erkrankung ihres Sohnes erst viel zu spät ernst und schickt eine Art Heiler.
Einige Zeit später erhält Thomas Aussicht auf einen Studienplatz im Fach Medizin, muss dafür aber zunächst ein Praktikum als Hilfspfleger absolvieren. Während seines Praktikums lernt er die acht Jahre ältere Stationsschwester Marie, welche bereits verheiratet und Mutter ist, kennen. Sie wird von ihrem Mann körperlich misshandelt und wird im Zuge von Trinkgelagen ihres Mannes dazu gezwungen, Sex mit mehreren Männern zu haben.
Währenddessen arbeitet Ella als Schneiderin und führt ein sexuell freizügiges Leben, ohne an festen Bindungen interessiert zu sein. Bei einem Besuchsempfang ihrer Mutter eskaliert die Situation zu Haus. Nachdem Käthe aufgefallen ist, dass Ella eine ihrer Blusen trägt, wird sie zornig, woraufhin Ella einen Teil des Geschirrs zerstört und die Bluse zerreißt. Mit entblößtem Oberkörper, der die Blicke der Gäste auf sich zieht, geht sie ins Atelier.
An einem FKK-Strand am Müggelsee treffen sich Thomas, Marie und ihre Tochter, um einen gemeinsamen Nachmittag zu verbringen. Dort zeigt Marie Thomas einen Becher, in dem sie seit Monaten aus dem Krankenhaus entwendetes Morphium sammelt, um gemeinsam Suizid zu begehen, der einige Wochen später ausgeführt wird.
Ella hat die Abwesenheit ihrer Mutter genutzt, um in eine kleine Mietwohnung in Köpenick zu ziehen. Als Thomas nicht zur Einweihungsfeier von Ella erscheint, steigt sie in das Zimmer ihres Bruders ein, in dem sie Marie und Thomas eng umschlungen tot im Bett liegend auffindet.

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Thematische Aspekte zu Rücken an Rücken [ ↑ ]

Familienbeziehungen
In Rücken an Rücken präsentiert Franck eine sich durch Lieblosigkeit auszeichnende Mutter und ein exponiertes Geschwistergefüge, denn ähnlich wie in Die Mittagsfrau müssen sich die Geschwister die Liebe zu kommen lassen, ihnen die Mutter verwehrt.

Sexualität
In Rücken an Rücken wird darüber hinaus das Nacktsein thematisiert. Anders als in Mathilda wird in dieser Geschichte das Nacktsein als Bestrafung erfahren. Thomas muss nach dem er von seinen Genossen zu tiefst gedemütigt wurde, nackt im Steinbruch arbeiten. Seiner eigenen Mutter muss erst stundenlang nackt Modell stehen. Ella hingegen benutzt die Entblößung der Brust um zu opponieren und ihre Mutter zu provozieren. Thomas spätere Liebe und Partnerin wird von ihrem Mann dazu gezwungen, auf Partys Geschlechtsverkehr mit ihm und anderen Männern zu haben. Des Weiteren schreiben sich die Erfahrungen durch sexuelle Übergriffe auf Ella in die Sexualität ihres Bruders ein, der anfängt sein eigenes Begehren zu zügeln, um nicht selbst zu einem Sexualstraftäter zu werden.

Autobiographische Bezüge
Die sehr nüchterne und linientreue Künstlerin und Mutter des Protagonistengespanns aus Rücken an Rücken ist an ihre eigene Großmutter Ingeborg Hunzinger angelehnt. In denselben Roman streut Franck auch Gedichte ihres Onkels Gottlieb Friedrich Franck, der ähnlich wie die Romanfigur Thomas im Jahr 1962 Selbstmord beging.

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Pressespiegel zu Rücken an Rücken [ ↑ ]

Die Pressestimmen zu Rücken an Rücken sind weitestgehend negativ. Dabei gibt es kaum einen Presseartikel, der nicht auf den mit dem deutschen Buchpreis und durchaus erfolgreichen Roman Die Mittagsfrau verweist, in dem Franck, so die Stimmen, ihre Qualität als Erzählerin bewiesen habe. Ihr erfolgreiches Werk wird daher zum Objekt einer komparatistischen Literaturkritik.
Alle negativen Pressestimmen eint darüber hinaus, dass sie den Roman zu überfrachtet und dramatisch empfinden. Dabei wird meist hervorgehoben, dass die sich verweigernde Mutter, die bereits im zuletzt erschienen Roman eine Rolle gespielt, nun noch diabolischer auftritt und dabei arg konstruiert erscheine. Den Vorwurf der fühlbaren Konstruktion der Geschichte ist dabei besonders bei Hubert Winkels von Die Zeit (3.11. 11) und bei Peter Mohr vom Mannheimer Morgen (15. 12. 2011) zu erkennen. Martin Ebel, Autor des Züricher Tagesanzeiger (21. 11. 2011), wiederspricht den Negativ-Stimmen in diesem Punkt und macht den Gegenvorwurf, dass die sich negativ äußernden Kritiker, den Kern der Erzählung nicht erkannt hätten.
Auffallend oft wird der Roman stilistisch nahe an Märchen gerückt. Francks Sprache sei zu dem pathetisch und schwülstig (von Lovenberg, FAZ, 22. 10. 2011). Sie habe sich daran versucht, sich den surrealistischen Sprachgestus des verstorbenen Onkels, von dem die im Text verwobenen Gedichte stammen, anzueignen und sei, so meint Felicitas von Lovenberg von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, daran gescheitert (vgl. ebd.). Auch andere RezensentInnen bemängeln Francks literarischen Stil und meinen, dass ihr Konzept in diesem Falle nicht aufgehe. Martin Ebel vom Tagesanzeiger (21. 11. 2011) hingegen lobt ihren Sprachstil, der einen Sog beim Leser erzeuge und einen eigenen Geltungsraum proklamiere. Darüber hinaus wird auch auch die starke Präsenz des Körperlichen als negativ empfunden.
Die positiven Stimmen wie Anja Maier von der Tageszeitung (21.11.2011) betonen zwar auch, dass die Darstellung der Gewalt und somit auch ein Teil der als negativ empfundenen physischen Darstellung an der Schmerzgrenze liege, aber durchaus Spannung erzeuge und dem Leser zum Weiterlesen bringe.

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Analyse zu Welten auseinander

Ein Beitrag von Louisa Thies

 

Inhaltsangabe

Die autobiografische Erzählung Welten auseinander aus dem Jahr 2021 ist als eine Spurensuche angelegt, bei der es um Identitätsbildung, Familienprägung, deutsch-deutsche Geschichte, Liebe, Trauer sowie das Schreiben geht. Im Mittelpunkt der Autofiktion steht eine autodiegetische Erzählerin mit Namen Julia, deren Selbstbefragung mitunter in die dritte Person wechselt, wenn sie sich an ihr Kinder-Ich erinnert, wodurch die Distanz zur eigenen Lebensgeschichte bzw. zu vergangenen Lebensphasen markiert wird.
Die Erzählung beginnt mit einem Ring, den Julia trägt und der sie daran erinnert, wie sie ihn von ihrer große Liebe Stephan geschenkt bekam. Am Ende des Buches stellt sich heraus, dass der Ring deshalb für Julia eine so große Bedeutung hat, weil Stephan bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist. So nimmt die Erzählung, indem sie mit Stephan beginnt und mit ihm endet, selbst die Form eines Ringes an. Dieses Verlustereignis ist das zentrale Trauma, das das Erwachsenenleben der Erzählerin nachhaltig prägt. So reflektiert Julia Franck ihre Trauer und die Verlusterfahrung: „Das gezielte Vergessen ist uns nicht möglich. Unseren Körpern genauso wenig wie unseren Seelen.“ (S. 7)
Die Erzählung verläuft nicht chronologisch, sondern wechselt zwischen verschiedenen Zeitsprüngen und Beschreibungen aus Julias Leben. In der folgenden Inhaltsangabe wird Julias Biografie weitestgehend chronologisch wiedergegeben, um eine Analyse im weiteren Verlauf nachvollziehbar zu gestalten.
Julia wächst mit ihrer Mutter Anna und ihren drei Schwestern, eine davon ihr Zwilling, in der DDR auf. Zu ihrer Mutter hat sie kein gutes Verhältnis, die sie durchweg mit dem Vornamen und nicht als Mutter anredet. Eine Bezugsperson für Julias Zwillingsschwester und sie selbst ist ihre Großmutter Inge, eine Bildhauerin, die zwar nicht viel mit Kindern anzufangen weiß, bei denen die beiden Schwestern aber dennoch viel Zeit verbringen. Ihre Großmutter ist eine aktive und kreative Frau, die mit großen Persönlichkeiten der DDR wie Nina Hagen oder Wolf Biermann bekannt ist. Inge erscheint zu dem speziell: Sie ist ein Freigeist und gilt als „leidenschaftliche Kommunistin“ (S. 43).
Auch Julias Mutter Anna ist eine Künstlerin. Wie ihre eigene Mutter ist auch sie kein Mensch, der Kinder mag oder sich gern mit ihnen beschäftigt. Ihre Interessen gelten viel mehr der Esoterik, dem Theater und ihrer ungezwungenen Lebensweise. Julia und ihre Zwillingsschwester sind eng verbunden und müssen sich immer wieder gegen ihre große Schwester und ihre Mutter Anna durchsetzen. Sie sind verwahrlost, weil Anna sich wegen ihres Jobs am Theater nicht angemessen um sie kümmern kann und auch weil sie keinen Sinn für konventionelle Strukturen und Beziehungen hat. Sie lehnt die Mutterrolle als Versorgerin konsequent ab.
Julia Francks Text gibt Einblick in die kindliche Wahrnehmung von Verwahrlosung und mangelnde (elterliche) Fürsorge. Es fehlt den Kindern an allem: Ausreichend Nahrung, finanzielle Mittel, elterliche Zuneigung und ein sauberes Zuhause, es herrscht ein notorischer Mangel. Julia schämt sich für ihre Mutter, die kein Bedürfnis nach Sauberkeit, Ordnung und Körperhygiene hat, diese empfindet „Haare waschen und Bürsten selbst in großen Abständen noch lästig“ (S. 129). Es wird spürbar, wie machtlos sich das Kind gefühlt hat. Sie ist allem, was ihre Mutter tut und den Reaktionen der Außenwelt, die dadurch resultieren, ausgeliefert. Sie ahnt, dass es „sicherlich nicht Annas Absicht“ (S. 130) ist, aber die Scham ist überbordend und ein dominantes Gefühl in der Kindheit.
Anna stellt über die Jahre mehrere Anträge auf Ausreise in den Westen, die abgelehnt werden. Als Julia acht Jahre ist, wird der Antrag bewilligt, die Familie flieht und kommt zunächst im Aufnahmelager Marienfelde unter. Julia weiß nicht, ob sie sich über die Möglichkeit freuen soll, in den Westen zu fliehen. Alles muss schnell gehen und sie fühlt sich wieder machtlos: „Das Kind will bleiben“. (S. 328).
Nach einiger Zeit ziehen sie in ein altes Bauernhaus, in dem sich die Familiensituation dennoch nicht verbessert: Julias Alltag ist geprägt von Chaos und Armut, die sie zu verarbeiten versucht. Sie ist klug, hat schulisch exzellente Noten, liest viel und beginnt Bratsche zu spielen. Dennoch spitzt sich die Situation mit ihrer Mutter, deren Wutausbrüche und der Streit zu Hause weiter zu. Als sie 13 ist, zieht sie deshalb aus. Sie wird von alten Freunden, die ebenfalls von Ost- nach Westberlin gekommen sind, aufgenommen. Martin und Steffi wohnen in einem Haus am Wald, Julia zieht zu ihnen und wechselt von der Waldorfschule auf eine Gesamtschule. Dort beginnt für sie ein neues Leben, doch ihre Herkunft und auch das schlechte Gewissen ihrer Schwester gegenüber beschäftigen sie.
Julia schämt sich für ihre jüdische Familie und versucht zu verheimlichen, dass sie aus dem Osten kommt und dort noch immer ihre Schulferien verbringt. Ihrem Schulfreund Olaf gesteht sie Jahre später, woher sie kommt und dass sie „knapp ein Drittel des Jahres im Osten, auf der anderen Seite der Mauer“ (S. 239) verbracht hat. Sie verdient sich neben der Schule ihren Lebensunterhalt selbst, ist Kindermädchen, putzt oder kellnert. Auch darin unterscheidet sie sich von vielen ihrer privilegierten Klassenkamerad*innen. 
Nach einer Nachricht ihres Vaters, der früh von Anna verlassen wurde, lernt sie ihn erst mit vierzehn Jahren kennen. Sie verstehen sich gut, kommen sich immer näher. Julia spürt und weiß, dass ihr Vater bereut, nicht mehr Zeit mit ihr verbracht zu haben. Als sie siebzehn ist, stirbt er an einem Hirntumor. Damit endet auch ihre Suche nach einer Bezugsperson, die sich um sie kümmert und sie unterstützt.
Zum Ende der Erzählung erfährt der*die Leser*in, wie die Liebesgeschichte von Julia und Stephan beginnt: Sie lernen sich während des Abiturs kennen, das Julia nachholen möchte und Stephan nachholen muss, weil er eine Stufe wiederholt. Er wurde im Westen geboren und stammt aus geordneten und wohlhabenden Verhältnissen, ganz im Gegenteil zu Julia. Sie kommen sich immer näher und Stephan wird ihre engste Bezugs- und Vertrauensperson, auch wenn sie „Welten auseinander“ sind. Die Sicherheit, die ihr durch Stephan kurzzeitig gegeben wird, zerbricht jedoch schnell wieder: Julia ist mit ihm verabredet und wartet lange am Treffpunkt – Stephan taucht aber nicht auf. Bereits durch die Erzählweise entsteht eine bedrohliche Atmosphäre, die eine herannahende Katastrophe vermuten lässt. Julia hört auf dem Weg zur Verabredung einen Krankenwagen und spürt „das Jagen“ (S. 335) ihres Herzens. Sie hat ein unwohles Gefühl und denkt sofort an Stephan. Nach langem Warten und immer größer werdender Panik fährt sie zu einer Telefonzelle, um seine Eltern anzurufen. Sein Vater nimmt ab und Julia merkt schnell, was geschehen ist: Stephan stirbt nach einem tragischen Unfall mit seinem Fahrrad. Nun erfährt der*die Leser*in, warum die Erzählung mit ihm und dem Ring beginnen musste: Das eingravierte Datum ist der Tag seines Todes. Die Erzählung gestaltet sich so auch auf formaler Ebene wie ein Ring, der sich am Ende wieder schließt. Julia hat mit Stephan ihre engste Bezugsperson verloren und fällt in ein tiefes Loch, hat Panikattacken und verliert sieht zeitweise kaum noch Sinn in ihrem Leben. Den versucht sie auf einer Reise in die USA wiederzufinden. Sie setzt sich für die HIV-Hilfe ein und kümmert sich um Menschen, die ihre Unterstützung brauchen und schätzen, bis sie sich endlich „angekommen“ (vgl. S. 367) fühlt. Das Buch schließt mit Julias Gefühl, nach einem herben Schicksalsschlag, endlich zu sich selbst gefunden zu haben.
In Welten auseinander rekapituliert Julia Francks Alterego, was es bedeutet, früh erwachsen zu werden, sich um sich selbst sorgen zu müssen und immer wieder in Heimen oder bei Pflegeeltern unterzukommen. Bei der Beschreibung dieser Unterkünfte bleibt Julia Franck zurückhaltend, aber es wird deutlich, dass sich die Mädchen ihre gesamte Kindheit über ungeliebt und ungewollt fühlen. Aus der Verwahrlosung, der Unordnung und dem dreckigen Zuhause entsteht bei Julia im Laufe ihrer Kindheit ein Putzzwang. Ständig hat sie das Verlangen, sich die Hände zu waschen – symbolisch gesehen, um all den Schmerz, der ihr widerfahren ist, abzuwaschen. Hinzu kommen außerdem Panikattacken, die sich durch Herzrasen, Atemnot und Beklemmungsgefühle äußern. Diese Panikattacken begleiten sie bis ins Erwachsenenalter. Julia flüchtet sich seit ihrer Kindheit in ihre eigene Welt. Zunächst ist es die Musik, dann das Schreiben. Sie zieht sich immer mehr zurück und schreibt Tagebuch, was ihr dabei hilft, das Erlebte zu verarbeiten. Julia baut eine Distanz zu ihrem Tagebuch-Ich auf, wenn sie daraus zitiert, dann spricht sie über sich nicht mehr in der ersten, sondern in der dritten Person und nennt sich selbst ‚das Mädchen‘ oder ‚das Kind‘.

 

Inhaltliche Aspekte

 

Ausgrenzung

In Welten Auseinander ist Ausgrenzung ein zentrales Thema. Als klare Ausgrenzung kann, auf dem historischen Kontext basierend, die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland verstanden werden. Zu DDR-Zeiten galt der Westen als wohlhabend, kultiviert und oberflächlich, während die Menschen aus dem Osten mehr als ärmlich, einfältig und verbittert galten. Das Gefühl der Ausgrenzung beginnt aber schon im Osten, in ihrer Heimat. Die Mutter Anna ist alles, was Julia verabscheut: Sie ist gutbürgerlich und lebt antikonventionell. Durch Annas Art und deren Wirkung auf die Nachbarschaft und die Schulkamerad*innen fühlt sich Julia ausgegrenzt, ohne, dass sie die Situation beeinflussen kann. Ihre Mutter schert sich nicht darum, ob das Zuhause sauber ist oder ob Bekannte sie entblößt im Garten sehen und „den Kopf schütteln“ (S. 103).
Als Julia zusammen mit ihrer Familie endlich in den Westen flüchtet und eine neue Schule besucht, versucht sie, ihre Herkunft zu verstecken. Sie weiß zwar nicht, ob ihr Ausgrenzung droht, befürchtet es aber. Aus diesem Grund ist ihr oberstes Ziel, dass niemand erfährt, dass sie nach wie vor im Osten Urlaub macht. Wenn die anderen über die Ferien sprechen, lügt sie oder sie schweigt. Wenn sie gefragt wird, denkt sie sich Geschichten aus. Auch hier ist Stephan ihr Ausweg, der Einzige, der sie wirklich kennt und akzeptiert. Stephan weiß um ihre Herkunft und besucht mit Julia zusammen deren Oma im Osten. Dort ist es unbequem, kalt und klamm und trotzdem genießen die beiden es – weil Julia sich sicher fühlt. 

 

Identität

Die Fragen nach dem „Wer bin ich, wo komme ich her und wo gehöre ich hin?“ ziehen sich als roter Faden durch die gesamte Erzählung Francks, zunächst in Bezug auf ihre Herkunft, dann in Bezug auf ihre Familie und schließlich in Bezug auf den Kampf mit sich selbst. Julia wird im Osten Deutschlands geboren und kommt aus einer jüdischen Familie. Als die Familie in den Westen flüchtet, verbringt sie ihre Schulzeit damit, zu verheimlichen, wo sie herkommt.
Sie kommt zusammen mit einer Zwillingsschwester auf die Welt, ihre Mutter Anna kümmert sich nicht gut um die Kinder und sie sind früh auf sich selbst gestellt. Ihre gesamte Kindheit über denkt Julia, ihre Mutter hätte lieber einen Jungen gehabt, weil sie ihren geliebten Bruder verloren hat. Die beiden „wurden nicht der Bruder. Wir wurden Zwillinge. Unser Ei hat sich geteilt.“ (S. 304). Das Gefühl, falsch und ungewollt zu sein, war durchgehend präsent.
Diese Aspekte führen dazu, dass Julia kaum Bezug zu sich selbst aufbauen kann und sich mehr und mehr ins Schreiben ihres Tagesbuches flüchtet. Sie schreibt: „Ich bin manchmal ziemlich unverstehbar für die anderen Leute und selten sogar für mich selbst“ (S. 185). Es scheint, als würde sie immer wieder den Bezug zu sich selbst verlieren, schlussendlich verliert sie sich, als Stephan, ihre große Liebe, einem tragischen Unfall zum Opfer fällt und verstirbt. In dem Moment, in dem sein Vater ihr von Stephans Tod berichtet, „stürzte außerhalb der Telefonzelle alles Licht vom Himmel zur Erde“ (S. 337). Aus diesem klaren Identitätsverlust schöpft sie aber Kraft und bricht in die Welt auf. Während sie in den USA arbeitet und Menschen hilft, hat sie noch eine andere Sache gefunden, nach der sie lange gesucht hat: Eine Aufgabe.
Ein weiterer Aspekt, der Julia auf dem Weg zur eigenen Identität aufhält, ist ihre Zwillingsschwester. So eng verbunden sie auch sind, Julia möchte sich abheben, abgrenzen. Auch das ist ein Grund, warum sie sich ins Schreiben flüchtet, dort geht es nur um sie und sie kann sich entfalten, es ist wie eine Art Flucht. Julia empfindet, dass „die einzige verlässliche Beziehung“ (S. 251), die sie in ihrer Kindheit entwickeln konnte, die zu ihrem Tagebuch ist. Während der Suche nach der eigenen Identität, ist Julia gleichermaßen auf der Suche nach Zuneigung, Wärme, Geborgenheit, Schutz und Liebe in ihrem Leben. Als Teenager lernt sie ihren Vater kennen, nachdem sie einen Brief erhält und lange über eine Antwort an den „fremden Mann“ (S. 251) nachdenkt. Sie erhofft sich von diesem Kennenlernen, endlich eine Person in ihrem Leben zu haben, die sich um sie kümmert. Das Verhältnis entwickelt sich aber anders, die beiden sehen sich selten und der Vater verstirbt wenige Jahre nach dem Kennenlernen. Julia weiß zwar, dass ihr Vater sein Verhalten bedauert, und trotzdem füllt das Bewusstsein darüber nicht das Loch in ihr. Das Bedürfnis nach der Liebe, die ihr immer entzogen wurde, füllt erst Stephan. Ihre Beziehung ist alles für Julia und es scheint, als würde sie alles nachholen, was sie verpasst hat: Tiefsinnige Gespräche, Geborgenheit und gemeinsame Erlebnisse. Auch Stephans Familie nimmt eine wichtige Rolle in ihrem Leben ein, eine geordnete Familie und liebevolle Eltern, die sie gern aufnehmen.

 

Der Kampf mit sich selbst

Julia ist in ihrer Kindheit einer Familie ausgesetzt, mit der sie sich nicht identifizieren kann, mit der sie sich nicht wohlfühlt und von der sie sich nicht geliebt fühlt. Durch ihre Erlebnisse entwickelt sie verschiedene psychische Erkrankungen, die nie diagnostiziert werden, aber offensichtlich sind. Ihr Zuhause, in dem sie ihre ersten Lebensjahre verbringt, ist im Berliner Osten. Dazu gehört ein von Passanten einsehbarer Garten und ein Kuhstall, beides wird von Julias Mutter Anna gepflegt. Der Rest des Hauses wird von Anna nicht gepflegt, sie ist eine Sammlerin und hat Schwierigkeiten damit, Dinge wegzuschmeißen. Spricht man sie auf die „Ansammlungen und Fundstücke und scheinbar unnützen Dinge“ (S. 148) an, wird sie böse.
Auch Anna ringt mit ihrem Schicksal, da sie ihren geliebten jüngeren Bruder verloren hat und den Schmerz nie überwunden hat. Möglicherweise fällt ihr deswegen das Wegschmeißen, das Loslassen, von eigentlich irrelevanten Gegenständen schwer. Julia fühlt sich mit dieser Lebensweise nicht wohl, fühlt sich dem, was Anna tut, ausgeliefert.
Sie entwickelt einen enormen Putzzwang, den Zwang sich die Hände zu waschen, sie „konnte es nicht lassen“ (S. 176), hat Angst vor Viren und Bakterien. Dieser Zwang spielt jedoch nur bis zu Beginn ihrer Jugend eine Rolle. Dann widmet sie sich einer neuen Passion: Dem Lesen und Schreiben von Texten. Julia flüchtet vor ihren Problemen und versucht sie gleichermaßen damit zu verarbeiten. Auch mit Panikattacken hat Julia zu kämpfen, zu Beginn ihrer Erzählung schildert sie eine solche und es wird klar, dass die Panik sie über die gesamte Geschichte hinweg begleitet, weil die Angst sie nicht loslässt: „Die Angst inmitten der Angst. Ich werde an meiner Angst sterben, dessen bin ich mir sicher“ (S.290). Die Einsamkeit, mit der sich Julia konfrontiert sieht, allen Schmerz, der sie beschäftigt, versucht sie im Schreiben ihrer Tagebücher zu verarbeiten. Das Schreiben gilt als Flucht und Schutz vor dem, was sie unglücklich macht.

 

Formale Aspekte

 

In Welten auseinander gibt es keine formale Struktur. Als Bezugspunkt für die Analyse dient der Titel des Buches: Welten auseinander. Die Erzählung entfaltet sich auf 368 Seiten mit 23 Kapiteln, die jeweils einen anderen Lebensabschnitt von Julia thematisieren oder einen Blick in ihre Vergangenheit gewähren. Der Titel lässt sich auf die wichtigsten Schwerpunkte der Erzählung beziehen: Welten auseinander sind Julia und ihre Familie, ihre Lebensrealität, gelesen vor dem historischen Kontext im Osten und Westen und auch Stephan und sie.
Die Welten, die zwischen Ost- und Westberlin liegen, spiegeln sich auch in Julias Beziehung zu Stephan wider. Zwischen den beiden liegen keine mentalen Grenzen, sondern soziale. Deutlich wird das vor allem in der Zeit, in der sich die beiden kennenlernen und in der Julia „den bürgerlichen, traditionellen Hintergrund“ (S. 262) als „fremd“ (S. 262) empfindet und in Gesprächen abwägt, ob sie Stephan die Wahrheit „zumuten“ (S. 263) kann. Oft fällt ihr auf, dass er nicht alles verstehen kann, was sie erlebt hat. Stephan kommt aus geordneten, liebevollen und finanziell stabilen Verhältnissen im Westen, während Julia das Gegenteil erlebt hat. Sie wird liebevoll in seiner Familie aufgenommen, denn „[s]ie wussten, dass ihr Sohn mich liebte und öffneten ihre Tür“ (S. 25). Das erste und das letzte Kapitel fungieren als Rahmen. Das Buch beginnt und endet mit Stephan, der in Julias Leben ein sicherer Hafen war. Stephan schenkt ihr einen Ring, in den sie seinen Todestag eingravieren wird, der Ring ist hier ein Dingsymbol und steht für den Anfang und das Ende der Geschichte und wie alles miteinander zusammenhängt.
Zunächst leitet Julia Franck ihre Erzählung mit Geschichten aus der DDR und von ihrer Großmutter ein und setzt den*die Leser*in damit über das grundlegende Setting ins Bild, in dem sich die Figur Julia zu Beginn bewegt. Anschließend beschreibt sie Eindrücke aus ihrem Leben im Osten mit ihren Schwestern und der Mutter Anna. Auffallend ist, dass sie über Anna, ihre Mutter, kaum ein gutes Wort verliert. Der*Die Leser*in kann in jeder Erzählung die Abneigung spüren, die sie ihrer Mutter gegenüber empfindet.
Je mehr es um Julias Gefühle geht, desto mehr greift die Autorin auf Tagebucheinträge zurück, in denen aus der Ich-Erzählperspektive intime Gedanken beschrieben werden. „Das Mädchen“ spürt zum Beispiel, „dass es nichts könne, nichts wollte und niemand sei“ (S. 157). Dieser Wechsel verschafft Julia eine Distanz zu sich selbst, um sich von ihren eigenen intimen Gedanken distanzieren zu können.
Eine weitere Funktion dieser Tagebucheinträge ist Realitätsflucht. Flucht nimmt in diesem Werk zwei Positionen ein: Die Flucht von Ost nach West und Julias mentale Flucht ins Schreiben, die als Flucht aus der Wirklichkeit dient. Julia und ihre Schwester ändern außerdem ihre Namen, sie möchten jemand anderes sein, „auf die alten Namen“ (S. 125) wollten sie nicht mehr hören.

 

Pressespiegel

Die autobiografische Erzählung von Julia Franck hinterlässt Spuren in den Köpfen der Leser. So auch im Kopf der Rezensentin Verena Mayer, die ihren Eindruck in der Süddeutschen Zeitung darstellt. Laut Mayer thematisiert Franck in ihrem „Roman“ (vgl. Mayer) ihre eigene Vergangenheit, besonders mit Blick auf Ost und West vor dem Mauerfall und ihrer Flucht aus der DDR. Das kann jedoch, laut Mayer, auch Gefahren mit sich bringen, denn spannende Autobiografien sind nicht automatisch interessante Geschichten für den Leser. Durch Francks Erzählweise und den Wechsel der Perspektiven wird dieses Problem aber umgangen.
Eine weitere Stimme der Presse ist von Melanie Mühl, deren Kritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheint. Auch für sie steht die Aufarbeitung von Julia Francks Vergangenheit im Fokus. Je weiter der Leser der Geschichte folgt, desto klarer werden die Gefühle von Franck. Der nüchterne Erzählstil wird von Mühl positiv bewertet. Die Erzählung umfasst Ost und West, eine Flucht aus der DDR, Ausgrenzung und Scham, dennoch stimmt der „freie Ton“ sie fröhlich.
Im Gegensatz zu Verena Mayer empfindet Eberhard Falck, dessen Rezension im Deutschlandfunk erschien, das Buch nicht als Roman, sondern als Autofiktion. Außerdem unterscheidet sich die Wahrnehmung des Textes in Bezug auf die vordergründige Thematik: Für Falck thematisiert die Erzählung vielmehr die Sozialisation in der DDR und die jüdischen Vorfahren, statt die Flucht und das Leben im Westen. Die Geschichte sei zwar „eindringlich“, die Erzählweise aber zu unstrukturiert.
Burkhard Müller von Die Zeit entdeckt ebenfalls Schwächen am Werk von Julia Franck: Zunächst kritisiert auch er die Erzählweise der Autorin und empfindet ihre Art die Kindheit darzustellen als zu selbstbezogen. Im Laufe seiner Rezension kommt er jedoch zu dem Schluss, dass das Buch „sich die Wahrheit zur Pflicht und die Schönheit zur Kür gemacht“ hat.

 

Literaturverzeichnis

 

Primärliteratur

Franck, Julia: Welten auseinander. Frankfurt am Main: S. Fischer 2021.

 

Rezensionen

Mühl, Melanie: Schreiben ist das einzig Verlässliche. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung,18.10.2021.

Falcke, Eberhard: Julia Franck Welten auseinander, Alleine Großwerden. In: Deutschlandfunk, 13.10.2021.

Mayer, Verena: Julia Franck Welten auseinander, Im Bergwerk des Ichs. In: Süddeutsche Zeitung, 29.11.2021.

Müller, Burkhard: Ein Tollhaus, ein Schauhaus, ein Irrenhaus.In: Zeit Online, 26.10.2021.