© Joachim Gern

Olga Grjasnowa

Analyse zu Gott ist nicht schüchtern (Ein Beitrag von Merle Caroline Haardt) 
Inhalt, Inhaltliche und Formale Aspekte, Pressespiegel

 

Gott ist nicht schüchtern

Ein Beitrag von Merle Caroline Haardt

 

Inhaltsangabe

Mit ihrem im Jahr 2017 erschienen Roman Gott ist nicht schüchtern wirft Olga Grjasnowa einen Blick auf den seit 2011 andauernden Bürgerkrieg in Syrien. Der Inhalt des Buches ist in drei Abschnitte unterteilt, der erste ist in 26 Unterkapitel, der zweite in 27 und der dritte in 9 gegliedert. Die Länge der einzelnen Unterkapitel variiert zwischen 2 und 19 Seiten, wobei eines im Durchschnitt etwa 4 Seiten lang ist. In diesen erzählt Grjasnowa die Geschichte von zwei jungen Erwachsenen: Hammoudi und Amal, deren Leben sich durch den Bürgerkrieg erheblich verändert haben.
Hammoudi ist plastischer Chirurg mit einer festen Anstellung in Paris, wo er einige Wochen zuvor seine Ausbildung abgeschlossen hat. Der gutaussehende, junge Facharzt lebt mit seiner Freundin Claire in der französischen Hauptstadt und reist zu Beginn der Geschichte nach Syrien, um dort seinen Pass zu erneuern. Bei den Behörden wird er jedoch abgewiesen, weshalb er seine Rückreise nach Paris vorerst nicht antreten darf. Was ursprünglich als eine zwei-tägige Reise zur Passerneuerung und zum Familienbesuch angedacht war, entpuppt sich im Verlauf der Handlung als ein 4-jähriger Aufenthalt in einem Kriegsgebiet. Hammoudi sitzt in seiner Heimatstadt Deir az-Zour fest, verliert seinen Arbeitsplatz in Paris und beginnt deshalb an Demonstrationen gegen das Assad-Regime teilzunehmen. Er wird Teil der Opposition: Zusammen mit weiteren Medizinern und anderen Helfern schmuggeln sie Medikamente und richten im Keller einer verlassenen Wohnung ein geheimes Krankenhaus ein, in dem er später als einziger verbleibender Arzt Verletzte operiert und versorgt. Als feststeht, dass er vom Geheimdienst verfolgt und getötet werden soll, flieht er mit schlechtem Gewissen, aus dem Land. Mithilfe eines Schmugglers gelingt es Hammoudi in die Türkei zu fliehen, von wo aus er auf einem überladenem Schlauchbot auf Lesbos ankommt. Die Flüchtenden werden von Helfern an die Künste gebracht. Hammoudis Fluchtroute führt ihn über Athen, nach Serbien und and die Grenze zu Ungarn, wo er und eine kleine Gruppe Mitreisender von Polizeihunden im Wald gesucht werden. Als Hammoudi in Deutschland ankommt, verbleibt er in einem Asylbewerberheim. Dessen Bewohner*innen werden von „Dorfnazis“ (S. 305) bedroht. Bei einer Auseinandersetzung, von den Rechtsradikalen provoziert, kommt er durch eine selbstgebaute Bombe der Aggressoren ums Leben. „Die Lokalzeitung wird berichten, es habe nur ein einziges Opfer gegeben. Neben dem Artikel werden sie ein altes Schwarzweißfoto von Hammoudi veröffentlichen. Über ihn selbst werden die Leser nichts erfahren, außer seinem Alter und seiner Nationalität“ (S. 306). An diesem Beispiel wird auch die Erzählweise des Romans ersichtlich. Der brutale Tod Hammoudis wird nicht lange beschrieben, sondern nur im Nachhinein als Berichterstattung in der Zeitung wiedergegeben und das sehr neutral und knapp. Es fließt keine Bewertung ein und die eigentliche Tragik der Situation kommt hier nicht zur Geltung. Diese nicht-wertende, kommentierte Beobachtung wirkt erschütternd auf die Leser*innen.
Die angehende Schauspielerin Amal hingegen demonstriert bereits zu Beginn des Romans mit Gleichgesinnten gegen das Assad-Regime und für ihre Freiheit. Auf einer dieser Demonstrationen lernt sie Youssef kennen. Die beiden treffen sich und kommen sich näher. Die Demonstrationen werden vom Militär immer wieder gewaltsam zerschlagen und der Geheimdienst verhaftet und foltert diejenigen, die sich gegen das Regime auflehnen. Auch Amal wird vom Geheimdienst beschattet und bittet ihren Vater um Hilfe. Dieser will „versuchen, jemanden beim Geheimdienst zu bestechen, der Amals Namen von der Fahndungsliste streicht" (S. 122). Diese jedoch demonstriert weiter und wird schließlich vom Geheimdienst festgenommen und gefoltert. Auch Youssef wird verfolgt und nachdem die Geheimdienstler nachts in Amals Wohnung eingebrochen sind, steht für beide fest, dass sie beide das Land verlassen müssen. Beide kommen in Beirut für eine lange Zeit unter und arbeiten dort, um sich die weitere Flucht leisten zu können. Schmuggler bringen sie und andere Flüchtende in einem Wohnhaus unter, in welchem sie verweilen, bis ein Lastfrachter für sie bereitsteht. Sie sind einige Tage mit mehreren hundert Menschen im Inneren des Schiffes unterwegs, bis sie nach einem Sturm Schiffbruch erleiden. Amal rettet bei der Flucht vom sinkenden Schiff ein Baby. Sie und Youssef halten sich an einer Schwimmweste fest und kämpfen um ihr Leben, bis sie von der Küstenwache vor Italien gerettet werden. Sie flüchten weiter nach Berlin und suchen nach Arbeit. Youssef nimmt eine Stelle in einem Supermarkt an und Amal nimmt an einer Kochserie mit dem Titel Mein Flüchtling kocht teil. Doch sie hasst es als Geflüchtete in Berlin unterwegs zu sein. „Die Welt hat eine neue Rasse erfunden, die der Flüchtlinge, Refugees, Muslime oder Newcomer. Die Herablassung ist mit jedem Atemzug spürbar“ (S. 281). Amal fliegt nach Los Angeles, da sie ein Jobangebot bekommen hat. Youssef und das Baby, was sie Amina getauft haben, sollen nachkommen, doch als Amal in Los Angeles angekommen ist, fliegt sie im selben Flieger zurück nach Berlin zu Youssef und ihrer Tochter. Dies könnte daran liegen, dass sie Angst um ihre Familie hat und versuchen möchte diese zu beschützen. Auf ihrem Hinflug träumt sie nämlich von Hammoudi „und ein ungutes Gefühl macht sich in ihr breit“ (S. 307). Sie weiß, im Gegensatz zum Leser, zwar nicht von seinem Tod, hat aber dennoch eine Vorahnung. Obwohl sie sich einen Neuanfang wünscht, hat sie ein Pflichtgefühl ihrer neuen Familie gegenüber und fliegt aus Angst um diese wieder zurück.
Grjasnowas Roman zeichnet anhand von fiktiven Schicksalen ein reales Bild davon, wie die Gewalt zum Alltag in Syrien geworden ist. Erniedrigungen und Folter, welche die Protagonisten auch am eigenen Leib erfahren müssen, sind detailliert und bildlich beschrieben. Die Autorin beschreibt den Krieg aus der Perspektive der Geflüchteten. Dabei schildert sie, wie diese behandelt werden und wie ihnen auch außerhalb des Kriegsgebietes das Überleben erschwert wird. In einem Artikel von Susanne Lenz (Frankfurter Rundschau, 06.01.2019) erzählt Grjasnowa, dass ihr als Inspiration für ihre Bücher unter anderem die eigenen familiären Erfahrungen ihrer Großmutter dienen, welche im zweiten Weltkrieg aus Weirussland nach Aserbeidschan geflohen ist. Den Anstoß für die Inhalte aus Gott ist nicht schüchtern hat ihr ihr Ehemann Ayham Maji Agha gegeben, welcher ursprünglich aus Syrien stammt. Durch ihn hat Grjasnowa angefangen, sich mit den Bürgerkriegen in Syrien auseinanderzusetzten. Mit ihrer Geschichte evoziert sie Mitgefühl und macht auf den realen Syrienkrieg und die von ihm betroffenen Menschen aufmerksam, welche sonst als Einzelschicksale nicht wahrgenommen werden.

 

Inhaltliche und formale Aspekte

 

Topographie

Gott ist nicht schüchtern ist in drei Abschnitte unterteilt. Jeder dieser Romanteile beginnt mit der Abbildung einer Karte, wobei sich die Maßstäbe der Karten erheblich unterscheiden. Teil I zeigt eine Karte Syriens, einschließlich seiner Nachbarländer wie Türkei, Irak, Libanon, Jordanien und Israel sowie das Mittelmeer. Die handlungsrelevanten Orte sind hier also geographisch sichtbar gemacht. Auf der Landkarte, die Teil II vorangestellt ist, sind deutlich mehr Länder abgebildet. Länder von Deutschland bis Saudi-Arabien sowie Teile von Russland und Afrika sind hier zu finden. Die wichtigsten Großstädte der einzelnen Länder sind eingetragen, wobei auch hier die Orte, an denen sich die Handlung des Romans abspielt, hervorgehoben sind. Vor Teil III ist eine Sternenkarte zu sehen, auf der unter anderem die Sternenbilder der Fuhrmann, der Große Bär und die Zwillinge zu erkennen sind.
Je weiter die Handlung im Roman voranschreitet, desto größer ist also der Abstand der Betrachter*innen. Einerseits sind die Landkarten dazu geeignet, sich über den jeweiligen Handlungsort ein genaueres Bild zu machen. Sie veranschaulichen das Ausmaß der Konflikte und den Weg, den die Protagonist*innen auf ihrer Flucht zurücklegen müssen. Andererseits zeigt Grjasnowa hier die Bedeutung von Grenzen. In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur äußert sie sich wie folgt dazu: „Es geht ja immer vom Kleineren ins Größere. Die meisten Grenzen sind vollkommen willkürlich gezogen worden. Das ist etwas, worum es in meinem Buch geht: Die Bedeutung der Grenzen für den Einzelnen und die vermeintliche Reisefreiheit, die wir im Westen genießen, aber auch nur wir! Für wen gilt sie und für wen gilt sie nicht? Und weshalb? Dann sehnt man sich immer nach einem Ort, wo es die Grenzen nicht mehr gibt oder zumindest, wo sie viel einfacher zu überwinden sind. Das meint natürlich die Sternenkarte.“

 

Fluchterfahrungen

Zu Beginn des Romans lesen wir aus Amals Sicht, wie die Proteste in Syrien bereits stattfinden und nach und nach gewalttätig werden, da die Demonstrant*innen von dem Geheimdienst verfolgt und gefangen genommen werden. Auch sie wird verhaftet und gefoltert. Sie realisiert, dass die Menschen zunehmend über eine Flucht aus dem Land nachdenken, was dazu führt, dass sie sich eingesteht, dass sie in Damaskus nicht mehr sicher ist.
Amal flieht nach Beirut in den Libanon, wo sie Youssef wiedertrifft. Dieser überlebt durch ihre Hilfe nur knapp einen Selbstmordversuch. Die beiden fliehen mithilfe von Schmugglern erst in Gummibooten und dann in einem Frachtschiff über das Mittelmeer nach Italien, wobei sie mit mehreren hundert Menschen versteckt im Inneren des Schiffes reisen. Aufgrund eines Sturms geht das Schiff schließlich unter. Während die Überlebenden um ihr Leben kämpfen und Amal und Youssef sich mit einem Kind an einer Rettungsweste festhalten, überlegt Amal, ob sie einfach aufgeben sollte, um endlich Ruhe zu haben. Sie würde „es nicht ertragen […], Youssef oder das Kind ertrinken zu sehen“ (S. 248), weswegen sie die Erste sein möchte, die von den dreien ertrinkt, sollten sie die Flucht nicht überleben. Später werden sie von der italienischen Küstenwache gerettet und kommen als Geflüchtete in Berlin an. Youssef findet einen Job und Amal wird dazu eingeladen an einer Kochshow „Mein Flüchtling kocht“ mitzuwirken (S. 288). „Amal hasst es, sich als Flüchtling durch die Stadt zu bewegen“ (S. 281), in Deutschland zu leben und als Schmarotzerin angesehen zu werden.  
Hammoudi sucht sich Arbeit in Deir az-Zour, als er nicht mehr ausreisen darf, hat dabei jedoch keinen Erfolg. Er schließt sich Protesten an (S. 73f.) und tritt der Opposition bei (S.101). Er beginnt Medizin zu schmuggeln und heimlich ein Krankenhaus in einem Wohnhaus zu errichten (S.111-113), da der Geheimdienst angefangen hat, die Krankenhäuser zu überwachen und den Ärzten verbietet, sich um Demonstrant*innen zu kümmern. Hammoudi operiert dort als einziger Arzt und arbeitet ohne Pause. Mit der Zeit gehen ihm die Mittel im Krankenhaus aus und auch das Schmuggeln der Arzneimittel ist mit Problemen verbunden (S. 203-211): Hammoudi wird vom Geheimdienst gefunden und bedroht. Er muss sich ansehen, wie ein junger Mann vor ihm enthauptet wird (S. 215f.). Mitglieder des Islamischen Staates benutzen Hammoudi, um ihre Kämpfer ärztlich behandeln zu lassen. Als er erfährt, dass er aufgrund seiner Tätigkeiten für die Demonstrant*innen ermordet werden soll, beschließt er trotz Gewissensbissen, das Land zu verlassen.
Hammoudi flieht in die Türkei, wo er vorerst in einer Pension unterkommt. Hier nimmt er Kontakt zu seiner Freundin Clair in Paris auf, die ihn für tot geglaubt und bereits ein Kind mit einem anderen Mann bekommen hat (S. 255-258). Über ein Schlauchboot gelangt er mit Schmugglern und fünfzig weiteren Menschen nach Lesbos. In Berlin, wo er in einem Asylbewerberheim unterkommt. Die Bewohner des Heimes werden von Neonazis bedroht und attackiert, welche Hammoudi durch eine selbstgebaute Bombe ermorden (S.305f.).

 

Die Position des Westens

Die fiktive(n) Geschichte(n), die Grjasnowas Roman erzählt, sind als realistische in die realpolitische Gegenwart hinein entworfene Lebensläufe zu lesen. Vor allem der Bürgerkrieg in Syrien, der seit 2011 andauert, sowie die Demonstrationen des Arabischen Frühlings, welche in den Regionen des Nahen Ostens und Nordafrikas als Protest gegen die autoritären Regime stattgefunden haben, zeugen vom realistischen Anspruch des Romans. Die Gewalt gegen die syrischen Bürger*innen wurde von der Regierung als Anti-Terror-Maßnahmen begründet. Mittlerweile (Stand 18.06.2020) kämpfen in Syrien fünf ausländische Armeen um das Gebiet: Russland, Iran, die libanesische Hisbollah, die Türkei und die USA. Russland und die Hisbollah kämpfen auf der Seite Assads.
Hammoudis Freundin Clair mit ihrer über die gesamte Handlung ausbleibenden Kommunikation mit ihrem Lebensgefährten steht symbolisch für die indifferente Haltung des Westens gegenüber dem Bürgerkrieg in Syrien sowie der daraus resultierenden Flüchtlingsbewegung. Die EU unterstützt die gefährdeten Menschen in Syrien zwar mit Geldern, jedoch sind in der westlichen medialen und politischen Wahrnehmung die Kriegsbilder kaum präsent; hier setzt der Roman an, der genau diese Lücke füllt und vor Augen führt, was es tatsächlich heißt, in einem Kriegsgebiet zu leben. Deutschland hat seit dem Zweiten Weltkrieg keinen Krieg mehr aus nächster Nähe erfahren müssen. Lediglich durch Zeitungsberichte wird punktuell auf Kriege und die damit verbundenen Fluchtbewegungen aufmerksam gemacht. Einzelschicksale geraten dabei jedoch gänzlich in den Hintergrund. Das ist die eine Dimension des Romans, dass über die Figuren, die Grjasnowa konzipiert, das konkrete Leid anschaulich gemacht wird. Die andere Dimension ist die politische Problematik – es handelt sich ja um einen Krieg im eigenen Land, in dem die Regierung gegen die eigene Bevölkerung brutal vorgeht. Grjasnowa zeigt nun u.a. an der Figur Clair, dass sich der Westen kein Bild von der Lage machen will und offenbar unempathisch agiert, so hat Claire jahrelang von Hammoudi nichts gehört, unternimmt keinen Versuch, mit ihm in Kontakt zu treten. Er ist wie ein blinder Fleck in ihrem Leben, den sie ausblendet. Währenddessen denkt Hammoudi immer wieder an sie und hofft, dass sie auf ihn warten würde, wenn er eines Tages nach Paris zu ihr zurückkommen würde. Diese Hoffnung zerschlägt sich jedoch:

„Ich habe auf dich gewartet.“

„Claire, ich könnte zurückkommen, ich könnte nach Hause kommen.“

„Hammoudi, du verstehst nicht.“

„Was?“

„Ich habe ein Kind.“

„Ist es von mir?“

„Um Gottes Willen, nein. Hammoudi…“ (S. 258)

Sie hat angenommen, dass er tot bzw. nicht mehr zu retten sei und einfach weiter gemacht:

„Ich war mir sicher, dass du tot bist! Du hast dich nicht mehr gemeldet, sonst hätte ich nicht…“ (S. 257).

Claire lässt Hammoudi hinter sich, weil sie nichts mehr über ihn hört und wahrscheinlich andere Prioritäten in ihrem Leben setzt. Dieses Verhalten spiegelt sich in dem*der westlichen Leser*in wider: Wenn man kaum noch etwas in den Medien über dieses Thema lesen oder hören kann, verschwindet es aus den Gedanken. Die Menschen, die unter dem Krieg leiden, spielen für das alltägliche Leben in Deutschland (bzw. Frankreich, denn Claire lebt ja in Paris) keine Rolle., Die Tragik, die sich in Syrien abspielt, gerät in den Hintergrund.

 

Warum ist Gott nicht schüchtern?

Hammoudi ist zu Beginn des Romans ausgelernter Facharzt mit einer Anstellung in Paris. Der einzige Grund, warum er überhaupt in den Bürgerkrieg verwickelt wird, ist, dass er seinen syrischen Pass in Deir az-Zour verlängern muss, wobei ihm die Ausreise aus dem Land verwehrt wird. Er flieht nach Europa, erst in die Türkei, über ein Schlauchboot mit vielen weiteren Flüchtenden  und kommt nach einer langen, gefährlichen Flucht in Deutschland an. Kurz vor Ende wird er durch einen rechtsradikalen Anschlag vor einem Asylbewerberheim ermordet. Das ist zynisch, wenn man an das Schicksal oder eine göttliche, richtende Instanz glaubt – wie der Titel Gott ist schüchtern nahelegt. Grjasnowas Romantitel verdeutlicht genau diesen Blick auf die Realität, die sie auch in ihrem Roman abbildet. Mit ‚Gott‘ wird ein barmherziger Erlöser assoziiert, der die Menschen, die an ihn glauben und zu ihm beten, schützend durchs Leben führt. Mit dem Titel wird jedoch dieser Schutzfaktor in Frage gestellt. Wenn es einen Gott gibt, warum beschützt er die Menschen nicht? Grjasnowa provoziert nicht nur die Frage, warum einem Menschen wie Hammoudi keine Gnade zuteil wird, sondern sie delegiert die Frage an die Menschen, hier repräsentiert durch die E-Politiker*innen sowie den deutschen Staat, in dem Rechtradikalismus gedeihen kann und es zu solchen Mordanschlägen kommt.
Die Realitäten eines Bürgerkrieges werden ohne Beschönigung dargestellt: „Rechts und links sind Menschen an Rohre gekettet, viele sind nicht mehr bei Bewusstsein. Sie liegen dicht beieinander wie Pflastersteine. Auf ihren Körpern klaffen tiefe Wunden, ihre Kleidung und ihre Haut sind voller Blut, manche Gesichter sind nicht mehr zu erkennen. Es riecht nach Urin und Kot, von überall her dringen Schreie.“ (S. 94). Sowohl Hammoudi als auch Amal erleben ein schreckliches Schicksal, und zwar aufgrund ihrer Herkunft und ihrer Überzeugung, dass es ein Recht auf Freiheit gibt. Amal überlebt ihre Flucht, Hammoudi wird am Ende doch ermordet. Die Autorin zeigt, welche grausamen Folgen die politische Verfolgung durch das Assad-Regime sowie die Flucht vor diesem totalitärem Regime für den*die Einzelne*n mit sich bringen. Hammoudi hatte sich ein gutes Leben in Paris aufgebaut und ist durch eine Aneinanderreihung von unglücklichen Geschehnissen und Zufällen ums Leben gekommen. Wäre er in einem anderen Asylbewerberheim untergekommen, wäre er womöglich nicht ums Leben gekommen oder hätte er sich entschieden für seine Patienten in Syrien zu bleiben, wäre er womöglich früher in der Geschichte umgekommen. Das möchte die Autorin hiermit zeigen; denn nach all dem, was Hammoudi und Amal durchgemacht haben, ist trotzdem einer von ihnen gestorben, obwohl beide alles davor überstanden und überlebt haben.
Der hier betitelte Gott ist in Grjasnowas Roman nicht schüchtern, weil in keinem Kapitel des Buches abgebildet ist, wie jemand erbarmt wird oder Leid entkommt. Vor allem wird dieser Titel an Hammoudi deutlich. Nach seinen Jahren, in denen er im Kriegsgebiet Verletzten geholfen, die Flucht übers Meer und von Italien nach Deutschland überlebt hat, wird er durch einen rechtsradikalen Anschlag ermordet. Hier wird keine Scheu gezeigt. Gott ist nicht schüchtern, indem wie er agiert. Menschen leiden und sterben, ohne seinen Schutz. Die Menschen im Krieg, die gegen das Regime demonstrieren und für ihre Freiheit kämpfen, werden systematisch gefoltert und ermordet, ohne jegliche Hilfe einer höheren Instanz. Ihnen wird keine Gnade gezeigt, egal wie viel sie schon verloren und gelitten haben. Obwohl man einem Gott nachsagt, dass er Schutz bieten könnte, zeigt er keine Scheu, dass die Menschen noch mehr Leid erfahren und letztendlich auch sterben. Umso mehr wäre es an den Menschen (in der EU, in Deutschland) und genauer der Politik, diese moralische Lücke zu füllen.

 

Pressespiegel zu „Gott ist nicht schüchtern“

Olga Grjasnowas Roman Gott ist nicht schüchtern wird von den Kritiker*innen gelobt. Auch wenn die Geschehnisse in dem Roman voller Gewalt und Grausamkeit sind und von der Autorin unbeschönigt beschrieben werden, wird der Roman als eine Lektüre empfohlen, die jeden etwas angeht. Sabrina Stünkel (Literarischers Zentrum Giessen) beschreibt Grjasnowas Erzählweise als „schnell, direkt und unpersönlich“, wodurch der Leser von den geschilderten Gewalttaten und Grausamkeiten auf eine seltsame Weise kalt gelassen werde. Wertungen seien kaum aufzufinden, nur schnelle, schwierige Entscheidungen, die dem Leser kaum Zeit lassen, das Geschehene aufzunehmen. Der einzige, häufig angeführte Kritikpunkt bezieht sich auf die Figurenkonzeption, genauer auf die Tatsache, dass Grjasnowa nicht genug auf ihre Charaktereigenschaften eingeht: „Es ist kaum möglich, eine ernsthafte Bindung oder Identifikation mit den Figuren herzustellen“, kritisiert Stünkel. Wobei sie auch zu bedenken gibt, dass ihr das Buch deshalb so emotionslos vorkommt, weil sich Leser*innen jenseits des syrischen Bürgerkrieges vielleicht nicht in eine solche Welt kaum hineinversetzten können. Auch Tomas Kurianowicz (Die Zeit, 10.07.2017) äußert sich zu den Figuren und bemerkt, dass diese grundlegend zu schematisch blieben. Die Darstellung von Gewalt und Grjasnowas ungeschönte Wiedergabe der politischen Geschehnisse des arabischen Frühlings 2011 lobt wiederrum Stephan Lohr (Spiegel Kultur, 23.03.2017): „Die aufregenden, spannenden Geschichten mit ihren harten und brutalen wie sentimentalen Momenten erzählt Grjasnowa in klaren, schnörkellosen Sätzen und gliedert sie in kurze Kapitel“. Außerdem werden von Lohr Grjasnowas Werke durch ihre Weltläufigkeit als eine Bereicherung für die deutschsprachige Literatur gelobt. Der Kritiker schwärmt, wie Grjasnowa „wunderbare syrische Gerichte und abenteuerliche Reisewege“ beschreibt. Was sicherlich löblich gemeint ist kling jedoch im Kontext des Romans eingermaßen deplaziert, da sich Grjasnowa mit Gewalt, Tod und Krieg auseinandersetzt. An solchen Geschehnissen ist nichts ‚abenteuerlich‘ oder ‚wunderbar‘. Die Autorin schreibt ja keine Reiseempfehlung, sondern macht auf die Brutalität des Krieges aufmerksam, wozu zahlreiche Verluste gehören, u.a. auch der Verlust an Normalität, kultureller Schönheit, wozu auch das Essen zählt. Der Literaturblogger Marcus Kufner (BücherKaffee, 14.04.2017) äußert sich einerseits zu den Gewaltszenen, den*die für den Leser*innen nur schwer zu ertragen seien, lobt derweil ebenso Grjasnowas Art des Schreibens: „Die Autorin benutzt dabei einen nüchternen und unsentimentalen Schreibstil. Gerade das wirkt auf mich sehr eindringlich und aufwühlend.“ Mit den Worten: „Erniedrigung, Demütigung, rohe Gewalt“ betitelt Claudia Kramatschek (Deutschlandfunk Kultur, 18.03.2017) die Subline ihrer Kritik. Auch sie führt an, dass „viele Szenen schwer zu ertragen“ seien lobt den Roman aber als ein Buch, dessen Lektüre man nicht missen möchte und dürfte.

 

Literaturverzeichnis:

 

Primärliteratur

Grjasnowa, Olga: Gott ist nicht schüchtern. München: Aufbau Verlag 2017.

 

Rezensionen

Kramatschek, Claudia: „Ein schmerzliches Buch über den Syrien-Krieg“.  veröffentlicht am 18.03.2017, https://www.deutschlandfunkkultur.de/olga-grjasnowa-gott-ist-nicht-schuechtern-ein-schmerzliches-100.html, letzter Aufruf am 07.07.2023.

Kufner, Marcus: „Rezension: Gott ist nicht schüchtern I Olga Grjasnowa“. Veröffentlicht am 15.04.2017, https://buecherkaffee.de/2017/04/rezension-gott-ist-nicht-schuchtern-olga-grjasnowa.html, letzter Aufruf am 07.07.2023.

Kurianowicz, Thomas: „Einfach zu gut. Olga Grjasnowas neuer Roman erzählt vom syrischen Bürgerkrieg“. Veröffentlicht am 10.07-2017, https://www.zeit.de/2017/28/gott-ist-nicht-schuechtern-olga-grjasnowa-syrien-buergerkrieg, letzter Aufruf am 07.07.2023.

Lohr, Stephan: „Schleichender Zivilisationsverlust“. Veröffentlicht am 23.03.2017, https://www.spiegel.de/kultur/literatur/gott-ist-nicht-schuechtern-von-olga-grjasnowa-a-1139127.html, letzter Aufruf am 07.07.2023.

Plath, Jörg: „Vom Irrsinn und von Grenzen“. veröffentlicht am 25.03.2017,

 https://www.deutschlandfunkkultur.de/olga-grjasnowa-gott-ist-nicht-schuechtern-vom-irrsinn-und-100.html, letzter Aufruf am07.07.2023.

Stünkel, Sabrina: „Olga Grjasnowa I Gott ist nicht schüchtern“. https://www.lz-giessen.de/de/Olga-Grjasnowa-Gott-ist-nicht-schuechtern/, letzter Aufruf am07.07.2023.