Rezension zum Buch von Mithu Sanyal

Cover des Buches Vulva

Vulva - Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts

Ich erinnere mich noch genau: Unterstufe, Biologieunterricht, Sexualkunde. Herr Maier, ein sehr ambitionierter junger Lehrer, hätte sich nicht besser auf die extra einberufene Doppelstunde vorbereitet haben können. Zunächst mussten alle Jungs sich auf die rechte Seite der Bankreihen setzen und die Mädchen auf die linke. Ingroup gegen Outgroup, also die Eigen- gegen die Fremdgruppe. Schnell stellte sich heraus, wer die Fremdgruppe ist...

Zur Einführung in die Thematik wurde eine Gegenüberstellung von Namen für das Geschlechtsteil der Jungen und das der Mädchen veranstaltet. "Damit ihr seht wie unterschiedlich Mann und Frau sind", meinte Herr Maier. Am Ende stand es circa 30 zu 5 für die Jungen, wobei 3 der 5 Begrifflichkeiten, die das weibliche Geschlecht benennen, von den Jungs angebracht wurden. Der "Unterschied" gab mir einen harten rechten Haken. Zumindest fühlte es sich so an. Mein Geschlechtsteil ist es nicht wert so viele Namen wie das der Jungs zu bekommen, dachte ich. Noch heute weiß ich wie fremd ich mir selbst plötzlich vorkam.

Nachdem die Mädchen dann 45 Minuten lang zuhören durften wie dem Penis eines jeden einzelnen Mitschülers eine kleine Lobeshymne gesungen wurde und am Rande noch die richtige Art und Weise der Reinigung des guten Stückes unterrichtet wurde, mussten die Jungs den Raum verlassen.

Die Doppelstunde wurde nämlich deshalb angesetzt, damit die Mädchen hinter verschlossenen Türen leise, falls die Jungs lauschten, über das reden konnten "was sie da unten haben".

Das Trauma war geschaffen!

Mir war jedoch nicht bewusst, dass ich traumatisiert war, bis ich auf das Buch und zugleich Dissertation von Mithu M. Sanyal namens "Vulva - Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts" stieß.

Tote erwachen, der Teufel ist besiegt

Die Lektüre eines einzigen Buches hat mir so einige Sitzungen beim Psychologen, die ich mir für meine Midlifecrisis aufhebe, erspart. Doch nicht nur die Abstinenz dieses gesellschaftlich eingeflößten Schamgefühls, das man empfinden muss, sobald man nichts zwischen den Beinen baumeln hat, ist eine Errungenschaft durch die Lektüre, sondern viel mehr das Gefühl von Stolz über die Tatsache eine Vulva zu haben.

Sanyal erzählt auf eine leicht geschriebene und teilweise zum stolzen Schmunzeln als auch zum verärgerten Augenbrauenzusammenziehen veranlassende Art und Weise die abendländische Kulturgeschichte der Vulva. Man wird durch Epochen, Kontinente, Geschichten, Mythen und Anekdoten getragen, von denen man bis dato nicht mal vermutet hätte, dass sie existieren würden.

Durch die bloße Zurschaustellung der Vulva beispielsweise, konnten Tote erweckt, der Teufel besiegt, die Saat zum Wachsen gebracht, Stürme beruhigt und nicht nur einmal die Menschheit gerettet werden. An Kirchen und Stadttoren wurden Darstellungen von Frauen die ihrer Vulva zeigten angebracht und dienten zur Abschreckung und zum Schutz. "Das weibliche Genital war ein heiliger und heilender Ort".

Denkt man mal kurz darüber nach in welcher Weise die Vulva heutzutage dargestellt wird oder namentlich genannt wird, landet mal schnell bei Pornos und der Fäkalsprache. Interessanterweise bedeutet "cunt", eins der wohl schlimmsten Schimpfworte im Englischen, "heilige Höhle" und ist etymologisch mit positiven Begriffen wie "country", "queen" und "kin" verwandt.

Was ist also geschehen? Wie konnte die positive Kraft der Vulva über die Zeit derartig diffamiert und degradiert werden?

Dieser Frage widmet sich Sanyal in ihrem Buch. Sie selbst beschreibt es als den "Versuch, die kulturelle Bedeutung des weiblichen Genitals zu rekonstruieren und die Anstrengungen sichtbar zu machen die unternommen werden mussten, um die Vulva zu verdrängen, da an ihrer Re/Präsentation der Kampf um die Definitionsgewalt über den weiblichen Körper ausgetragen wurde".

Kein 'das da unten'

Von Herrn Maier, meinem Biologielehrer, durfte ich in der besagten zweiten Hälfte der Doppelstunde zudem lernen, dass ich "das da unten" jetzt mit Scheide oder Vagina bezeichnen könnte. Das tat ich auch in den darauffolgenden 10 Jahren. Bis ich von Sanyal eines besseren belehrt wurde. 'Scheide' ist die deutsche Übersetzung des lateinischen Begriffs 'Vagina' welches einzig und allein die Körperöffnung bezeichnet. Diese verbindet die Vulva, also den äußeren, primär sichtbaren Teil des weiblichen Geschlechtsorgans bestehend aus Venushügel, Klitoris, äußeren und inneren Schamlippen, dem Eingang zur Vagina und Damm, mit den inneren Geschlechtsorganen.

Ich habe meine Vulva also 10 Jahre lang nur als "Loch, in das der Mann sein Genital stecken kann oder um im Bild zu bleiben: eine Scheide für sein Schwert" bezeichnet.

Die Analytikerin Harriet Lerner bezeichnet dies als "psychische Genitalverstümmlung", denn "die Sprache kann genauso machtvoll sein wie das Messer des Chirurgen. Das, wofür es keine Worte gibt, existiert nicht."

Einer jeden, die sich hiermit auch der psychischen Genitalverstümmelung schuldig bekennen muss, empfehle ich eine wohltuende und heilende Dosis des Buches von Mithu M. Sanyal. Auf die Enthüllung unseres Geschlechts!

Die Autorin ist Studentin der Angewandten Kognitions- und Medienwissenschaften.

Die Seite ist im Rahmen des Blended-Learning-Seminars “Gender is […] something you do...” entstanden. Studierende haben hier im Gender-Portal Raum, ihre Arbeitsergebnisse und Lern- bzw. Forschungsinteressen vorzustellen.