Charakteristika des Werks

Erledigungen vor der Feier (2003)

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze Erledigungen vor der Feier [ ↑ ]

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Sein Debüt Erledigungen vor der Feier (2003) war anfangs eine Kurzgeschichte über zwei Menschen, die miteinander vertraut sind, aber vor jener Ungewissheit Angst haben, die mit dem Satz „Ich liebe dich“ beginnt. Mit dieser Kurzgeschichte gewann Rammstedt 2001 den Lesewettbewerb Open Mike und erhielt über ein Dutzend Visitenkarten von Lektoren mit der Aufforderung, seine Kurzgeschichte zu einem Roman auszuarbeiten. In seinem Debüt erzählt er nun die Liebesgeschichte von dem Paar, das keines sein möchte, weiter. Die Geschichte besteht aus insgesamt 21 Episoden. Mit der bezaubernden L. trifft sich der Ich-Erzähler zu Heißgetränken, besucht Naherholungsziele und führt innige Gespräche. Sie gehen sogar gemeinsam auf Hochzeiten von Familienangehörigen oder haben es zumindest vor. Sie tun all das, was Paare in einer Beziehung so tun, was für sie aber nur ok ist, solange es keine Beziehung ist, zugroß ist die Bindungsangst oder davor, sich tatsähclih auf etwas festzulegen: ein Leben, eine Existenz, ein Du.. Bis es dann im Kapitel ‚Herbst‘ doch geschieht und die beiden „aufhörten, nicht miteinander zu schlafen“ (S.21) und der Erzähler erkennt, dass das mit L. zu Ende ist. Was auch immer es war, ist vorbei. Da L. aber immer noch da ist, muss es jetzt etwas anderes mit L. sein. Etwas, das schon begonnen hat. Etwas, womit sich das Erzähler-Ich nicht auskennt. Etwas, das erst noch zu bestimmen gilt.

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Thematische Aspekte zu Erledigungen vor der Feier [ ↑ ]
Entscheidungsschwäche
„Auch das Meer ist nicht gut in Entscheidungen“, heißt es zu Beginn des Romans. „Ständig ändert es seine Grenzen, fließt vor und zurück, lässt Dinge liegen und nimmt sie beim nächsten Mal dann doch wieder mit“ (Erledigungen vor der Feier 2005, S. 5). „Das tröstet nur wenig, wenn überhaupt […]“, heißt es am Ende des Romans. „[D]enn für das Meer wird es wohl kaum Konsequenzen haben“ (Erledigungen vor der Feier 2005, S.226). Für die Protagonisten, die sich entscheiden müssen, was sie eigentlich im Leben wollen, hat es allerdings Konsequenzen: Man muss sich entscheiden, für die Ehe oder eine Liebe zu Dritt; für ein Leben als frustrierter Kinderarzt oder doch ein Leben mit Katharina. Anstatt für sich selbst eine Entscheidung zu treffen, treffen Felix und Konrad mit der Entführung eine Entscheidung für Katharina, was ihnen zunächst einmal als Rechtfertigung genügt, bis die Realität sie einholt.

Bindungsunfähigkeit und Liebe
Die Liebe erscheint in Rammstedts Weken eher unkonventionell, denn seine Figuren wollen sich meist nicht auf sie einlassen. In seinem Prosadebüt Erledigungen vor der Feier (2003) beschließen das Erzähler-Ich und s die Frauenfigur L. sich Liebe nur vorzustellen, statt sich in ihren Fängen zu verheddern. Küssen heißt es in dem Roman, sei auf jeden Fall einfacher, als sich geküsst zu haben. Denn das zwinge zu Folgehandlungen, Verbindlichkeiten und weiteren Konsequenzen. Also tun sie zwar all das, was Paare tun, nur ist es ihnen wichtig, dass sie es nicht unter dem Label Beziehung tun. Das macht sie zu Schauspielern, die das Miteinander ersehnen, es aber lediglich nur darstellen. Alles, was sie tun, geschieht nicht zufällig: Wenn sie beleidigt sind, beschließen sie vorher schon beleidigt zu sein und auch die Momente der Leidenschaft sind bloß die Folgen des Entschlusses, leidenschaftlich zu werden. Tatsächliche Leidenschaft kann unter diesen Umständen wohl kaum stattfinden. Und auch die Liebe, die das eigentliche Thema dieses Buches ist, kann nicht entstehen, weil der Ich-Erzähler und seine Auserwählte aus lauter Furcht vor einem Leben im Klischee tiefe Emotionen meiden.

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Pressespiegel zu Erledigungen vor der Feier [ ↑ ]

Bei seinem Debüt Erledigungen vor der Feier ist die Rezension der Öffentlichkeit durchweg positiv. Der Literaturkritiker Jörg Magenau lobt Tilman Rammstedt, eine ganze Semiologie der Liebe zu entfalten und vergleicht seine Kurzprosa stilistisch mit Autoren wie Peter Bichsel oder Reinhard Lettau. Rammstedt könne es zwar noch nicht ganz mit diesen „Verknappungskünstlern“ aufnehmen, dazu seien seine Texte noch zu lang und zu selbstverliebt, dennoch preist er ihn als einen Autor, der das „Gewöhnliche in Literatur“ verwandelt, „die Lust auf mehr macht“ (zur Rezension).

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Forschungsspiegel zu Erledigungen vor der Feier [ ↑ ]
In der Forschung wurde Tilman Rammstedt und seinen Werken bislang wenig Beachtung geschenkt. Lediglich Ansgar Warner nimmt in seinem Aufsatz Molekülspiele in der projektbasierten Polis. Zur Anthropologie der New Economy in der urbanen Pop- Literatur des 21. Jahrhunderts, Bezug auf Rammstedts Erzählband Erledigungen vor der Feier (2003). Warner analysiert die spezifischen Wechselwirkungen zwischen den Diskursen der New Economy und den fiktionalen Weltmodellen in der urbanen Pop-Literatur und geht der Frage nach, wie die Pop-Literatur des frühen 21. Jahrhunderts die Welt der ‚projektbasierten Polis‘ inhaltlich widerspiegelt. New Economy versteht Warner hier insgesamt als Abgrenzung zum alteuropäischen Modell der sozialen Marktwirtschaft, welches in Deutschland auch als Rheinischer Kapitalismus bezeichnet wird.
Ein literaturwissenschaftlicher Ansatz, so Warner, „bietet zwar keinen quantitativ-statischen Blick auf die gesellschaftlichen Folgen ökonomisch motivierter Individualisierungsprozesse, jedoch eröffnet die Analyse von Gegenwartsliteratur einen spezifisch qualitativen Zugang“ (Warner 2006, S.94). Fiktionale Literatur kann die Reaktion auf bereits reale Modernisierungsfolgen widerspiegeln und darüber hinaus die allgemeine mit der individuellen Erfahrungsebene kombinieren, indem die narrative Inszenierung der außersprachlichen Wirklichkeit durch die exemplarische Perspektive einzelner Individuen vermittelt wird. Warners Hypothese besagt, dass sich Spuren einer möglichen Anthropologie der New Economy auch in der deutschen Gegenwartsliteratur finden lassen. Um den veränderten Charakter sozialer Beziehungen begrifflich fassen zu können, benutzt Warner als theoretischen Rahmen für die literarische Spurensuche nach der Anthropologie der New Economy das Modell der projektbasierten Polis der beiden französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello. Die Soziologen untersuchten Management-Literatur zwischen den 1960er und 1990er Jahren und konstatierten eine spezifische Veränderung von Organisations- und Legitimationsformen der kapitalistischen Gesellschaft. Während die Modalitäten der Regulierung gesellschaftlichen Handelns in der marktförmigen und industriellen Polis des 19. und 20. Jahrhunderts vor allem im Austausch von Waren bestanden, kommt in der New Economy ein weiterer Faktor hinzu: das Knüpfen von kurzfristigen Kontakten. Die projektbasierte Polis verspricht das Idealbild einer Gesellschaft, die von dauerhaften Bindungen frei ist. „In einer vernetzten Welt besteht das Sozialleben [im Gegensatz zur vorherigen Epoche] aus unzähligen Begegnungen und temporären, aber reaktivierbaren Kontakten mit den unterschiedlichsten Gruppen.“ Im Mittelpunkt dieser Entwicklung steht das soziale Phänomen des Projekts. Für eine bestimmte Zeit vernetzen sich alle Akteure auf die für sie profitabelste Weise miteinander und besitzen dabei ein Maximum an individueller Mobilität, um die Verbindung jederzeit wieder zu trennen. Als Beispiel dafür sei die Entstehung des Erzählbandes Erledigungen vor der Feier (2003) zu erwähnen, das im Zusammenhang mit den netzwerkbasierten Arbeits- und Sozialformen der projektbasierten Polis steht, denn die Erzählungen sind im Rahmen des kommunalen Literatur-Projekts Visch & Ferse entstanden, eine Berliner Lesebühne, die vom Autor mitbegründet wurde. Aber auch inhaltlich reflektiert das Werk die Welt der ,projektbasierten Polis‘ indem Tilman Rammstedts Erzählband Erledigungen vor der Feier (2003) die neue Unverbindlichkeit sozialer Beziehungen und das zeitgemäße Thema Multi-Optionalismus inszeniert. Konkret geht Warner auf die Erzählung Neutronen ein, in der das soziale Molekülspiel von young urban professionals als Freiluft-Performance inszeniert wird. Bei dem Molekülspiel galt es, auf einer vage begrenzten Spielfläche von ein paar Quadratmetern, „wild durcheinander zu rennen, sich hin und wieder zu kleinen Klumpen zusammenzuschließen, die […] Atome darstellen sollten, eng aneinander gepresst, wie es Atome nun mal sind, um anschließend mit anderen solchen Atomen einen größeren Klumpen zu bilden, ein Molekül, […] jedoch sofort wieder auseinander zu springen, sobald der Klumpen zu groß wurde, sobald sich die Ladung in einem ausreichenden Maße änderte“(Erledigungen vor der Feier S.64). Die Erzählung lässt sich als einen ironischen Kommentar auf die Strukturen der neuen Arbeits- und Beziehungswelt lesen, indem das Molekülspiel die zentralen Merkmale der ,projektbasierten Polis‘ szenisch konkretisiert: „eine Grundmenge isolierter Individuen, die kurzfristige Bindungen eingehen und wieder lösen“ (Warner 2006, S.101).

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Wir bleiben in der Nähe (2005)

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Wir bleiben in der Nähe [ ↑ ]

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Sein zweites Buch, der Roman Wir bleiben in der Nähe (2005), handelt von Katharina, Felix und Konrad, drei "Thirtysomethings" mit Berufserfahrung, die nach gängigem Verständnis erwachsen und etabliert sind und doch von einer großen Leere erfüllt sind. Der Roman wird aus der Perspektive des 34-jährigen Felix erzählt. Der Single und Kinderarzt verlor vor Jahren seine beiden besten Freunde, denn als aus Katharina und Konrad „KatharinaundKonrad“ wurde, hat er mit Katharina geschlafen. Die Konfliktsituation führte dazu, dass jeder seiner Wege ging. Als nach Jahren der Funkstille eine Einladung zu Katharinas Hochzeit mit einem unbekannten Dritten in ihren Briefkästen liegt, beschließen Konrad und Felix zu handeln: Sie entführen Katharina in ein Haus an der französischen Atlantikküste, um ihr die Hochzeit auszureden. Während Katharina über ihre Entführung gar nicht so wirklich böse ist und die Zeit damit verbringt, Krimis zu lesen, sucht Felix nach Alternativen, wie es weitergehen soll und für die sich ein Neuanfang lohnt. Dabei erweist er sich als ziemlich kreativ und ihm fallen über 100 Optionen ein, von denen aber keine praktikabel genug ist und lediglich nur die Orientierungslosigkeit dreier Mittdreißiger unterstreicht, die zwar unabsichtlich, aber nicht grundlos auseinandergedriftet sind.

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Thematische Aspekte zu Wir bleiben in der Nähe [ ↑ ]
Entscheidungsschwäche
Rammstedts Figuren sind entscheidungsschwach, klammern sich an Unverbindlichkeiten und führen deshalb ein Leben im Konjunktiv. Gelähmt von zu viel Freiheit sind vor allem die Figuren aus seinem Roman Wir bleiben in der Nähe (2005). „Wir könnten groß ins Zierfischgeschäft einsteigen. Wir könnten eine gesunde Obsession für tropische Pflanzen entwickeln. Wir könnten lange Wanderungen unternehmen, deren Strecke von oben betrachtet eine Nachricht darstellen“ (Wir bleiben in der Nähe 2005, S.223). Es gibt tausende von Möglichkeiten, deren schöne Vielfalt man durch das Ergreifen einer bestimmten Option gar nicht einschränken will. Im Laufe des Romans fallen dem Ich-Erzähler Felix 115 solcher Lebensentwürfe ein, aber keiner erscheint praktikabel oder überzeugend genug, um sich tatsächlich für einen dieser Entwürfe entscheiden zu können.

Erwachsenwerden
Ein wiederkehrendes Thema in Rammstedts Werken ist zudem das Erwachsenwerden, was seinen Figuren einfach nicht so recht gelingen mag. Zwar lehnen diese eine effiziente Lebens- und Karriereplanung nicht programmatisch ab, aber sie schaffen selten den ersten Schritt in diese Richtung. Meist kommt eben immer so ungeheuer viel dazwischen, mitunter ein ganzes Leben. In seinem Roman Wir bleiben in der Nähe (2005) verkörpert Katharina die mit Abstand reifste Person dieser Ménage-à-trois. Während sie mit ihrer Entscheidung zu heiraten den gemeinsamen Jugendjahren mit Felix und Konrad scheinbar endgültig den Rücken zugewandt hat, benehmen sich die beiden Männer mit der Entführung eher infantil. Doch als Felix klar wird, dass die Entführung keine gute Idee war und ihm kein Gegenentwurf zu Katharinas spießigem Neuanfang einfällt, sagt er in seiner Ratlosigkeit etwas sehr Erwachsenes: „Wir könnten in Kontakt bleiben. Wir könnten in regelmäßigen Abständen telefonieren. Wir könnten gemeinsame Kurzurlaube planen. Wir könnten uns auf dem Laufenden halten. Wir könnten uns bemühen“ (Wir bleiben in der Nähe 2005, S.225).

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Formale Aspekte zu Wir bleiben in der Nähe [ ↑ ]

Konjunktiv und die Musikalität von Sätzen
Seinem thematischen Aspekt der ,Entscheidungsschwäche‘ geschuldet, ist ein verbreitetes Stilmittel in seinen Werken, die Verwendung des Konjunktivs. So kehren zum Beispiel in dem Roman Wir bleiben in der Nähe (2005) leitmotivisch Sätze wieder, die alle mit „wir könnten” anfangen und Möglichkeiten beschreiben, mit denen das Leben von Felix und Konrad gemeinsam mit der entführten Katharina wieder einen neuen Anfang findet. Ähnlich wie bei Marcel Proust spielt sich vieles im Kopf der Erzählerfigur ab, die Rammstedt als ein introvertiertes, zögerliches und melancholisches Ich konzipiert, das dem Leser mit tragisch komischen Unterton Episoden aus seinem Leben erzählt. Die notorische Unentschlossenheit seiner Figuren führt dazu, dass sie ein Leben im Konjunktiv führen und lieber darüber philosophieren, was sein könnte oder hätte sein können, anstatt tatsächlich zu agieren.

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Pressespiegel zu Wir bleiben in der Nähe [ ↑ ]

Sein Roman Wir bleiben in der Nähe (2005) ist laut Stefan Mesch die kongeniale Weiterentwicklung Rammstedts Kurzprosa  und Jörg Sundermeier bezeichnet ihn als „schöne[n] Roman für die U-Bahn an verregneten Sommertagen.“

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Der Kaiser von China (2008)

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze Der Kaiser von China [ ↑ ]

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In dem raffiniert konstruierten Roman Der Kaiser von China (2008) verbirgt sich der Ich-Erzähler Keith Stapperpfennig seit zehn Tagen unter dem Schreibtisch in seiner Wohnung, die eigentlich ein Gartenhaus ist. Er versteckt sich vor seinen Geschwistern, die ihn auf einer gemeinsamen Reise mit dem Großvater nach China glauben. Die Reise war ein Geburtstagsgeschenk an den skurrilen Großvater, bei dem sie in ungeklärten Familienverhältnissen und mit ständig sich ablösenden und ständig jünger werdenden Großmüttern aufwuchsen. Das Geld für diese Reise hat Keith allerdings mit der letzten Großmutter, die seine Geliebte ist, im Spielkasino verjubelt. Unbeirrt vom plötzlichen Reiserücktritt seines Lieblingsenkels Keith, bricht der Großvater alleine mit dem Auto nach China auf, schließlich sind es nur 8000 Kilometer Luftlinie. Er kommt bis in den Westerwald, wo er ohne Pass aber mit einer an Keith adressierten Postkarte in der Tasche plötzlich verstirbt. Durch den Anruf einer Ärztin aus der Klinik im Westerwald erhält Keith die Nachricht vom Ableben des Großvaters und wird gleichzeitig gebeten, sich umgehend zur endgültigen Identifizierung der Leiche auf den Weg dorthin zu begeben. Jetzt hat Keith ein zweifaches Problem, denn seine Geschwister wissen nicht, dass sich der Großvater alleine auf die Reise gemacht hat und zudem drückt ihn das schlechte Gewissen, dass er die letzte große Reise seines Großvaters nicht unterstützt hat. Diese missliche Lage veranlasst Keith dazu, Briefe einer fingierten Chinareise an seine Geschwister zu schreiben, die zunächst das Ziel haben, den toten Großvater plausibel von China in den Westerwald zu schaffen, doch letztlich das in der Phantasie nachgeholte Geschenk des Enkel an den Großvater bedeuten. Von Reue und Trauer überwältigt erfindet Keith eine surreale Reise, in der der Großvater seiner einzig wahren großen Liebe, der Weltsensation und wuchtigsten Chinesin Liam, noch einmal näher kommt.

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Thematische Aspekte zu Der Kaiser von China [ ↑ ]

Erwachsenwerden
In Der Kaiser von China (2008) ist es der jugendlich gebliebene Großvater, der nicht recht erwachsen werden will. Er spannt seinem Enkel die Freundinnen aus und weidet sich an seinem Triumph ihm ständig überlegen zu sein. Aber auch Keith hat extreme Schwierigkeiten mit dem Erwachsenwerden. Er verjubelt das Geld für die Geburtstagsreise des Großvaters und anstatt (wie es sich nun einmal für einen Erwachsenen gehört) zu seinen Taten zu stehen, fingiert er eine dazu passende Geschichte mit einer Fantasie, die man nur zu gut von Kindern kennt. Zudem hindert ihn der übermächtige Patriarch daran, eigene erwachsene Entscheidungen zu treffen.

Bindungsunfähigkeit und Liebe
In Der Kaiser von China (2008) geht es um die Ambivalenzen einer Großvaterliebe, die erst so richtig nach dem Tod aufkommen kann. Erst unter dem Schreibtisch sitzend schafft Keith es, sich den schrulligen Großvater verständlich und liebenswert zu schreiben. Keith erschreibt sich zugleich das Leben des Großvaters und bringt sein schwieriges Verhältnis zu dem alten Mann ins Reine. Je mehr er dabei seiner Fantasie freien Lauf lässt, desto plastischer wird das Bild eines Großvaters, der alle Liebe und Aufmerksamkeit der Welt verdient hat, von den eigenen Angehörigen aber so wenig davon bekommt. Die fingierte Chinareise wird so zu einer Liebesreise in zweierlei Hinsicht: Enkel und Großvater kommen sich so nah wie nie zuvor und der Großvater begegnet seiner großen Liebe Liam noch einmal. Die rührende Geschichte über die Zuneigung des Großvaters zu der schwergewichtigen Zirkusartistin Liam wird so zu einer nachträglichen Liebeserklärung des Enkels.
Wie in seinen Geschichten zuvor handelt auch dieser Roman vom Erwachsenwerden, vom Lieben, vom Tod und vom Abschied nehmen. In Der Kaiser von China verbindet er dies mit Wort- und Situationskomik, mit grotesken Überzeichnungen und Steigerungen sowie mit kalkuliert eingesetzten märchenhaften Elementen (vgl. Bukowsky, Evelyn: Tilman Rammstedt: Der Kaiser von China [Rezension]).

Kommunikation und Krisen
Mit einer Schreibkrise beginnt auch sein Roman Der Kaiser von China (2008). Der erste Text, den der Protagonist Keith Stapperpfennig schreibt, lautet: „Lieber Großvater, du bist tot. Viele Grüße, Keith (Kaiser von China 2008, S. 36).“ Danach starrte er noch lange auf die Worte. „Mehr würden es nicht werden“ (Kaiser von China 2008, S. 37). Doch dann bricht es aus ihm heraus. Seine Kommunikationsschwierigkeit dem Großvater mitzuteilen, was er wirklich von ihm denkt, endet mit dem Tod des Großvaters. Über den Umweg, indem er Briefe an seine Geschwister schreibt, merkt Keith selbst, was er dem Großvater noch alles sagen möchte und schreibt sich dies in Form einer Lügengeschichte von der Seele.

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Formale Aspekte zu Der Kaiser von China [ ↑ ]

Verbindung von Handlungssträngen
In seinen Romanen Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters (2012) und Der Kaiser von China (2008) geschieht dies durch das Schreiben von E-Mails und Briefen. In Der Kaiser von China (2008) verknüpft Tilman Rammstedt zwei Erzählstränge miteinander: Die fingierte Realität in diesem Roman, d.h. die Geschichte, wie es dazu kam, dass der Protagonist Keith Stapperpfennig seit zehn Tagen unter dem Schreibtisch sitzt und sich vor seinen Geschwistern versteckt und die Fiktion in der Fiktion, also das Lügengebilde, das er aufbaut, um den Großvater möglichst plausibel von China in den Westerwald zu schaffen, kreuzen sich mit der Erzählung des unter dem Schreibtisch sitzenden Erzählers. Die Inhalte der Briefe an seine Geschwister über die fingierte Chinareise, welche in die Erzählung eingeschoben werden und zunächst nur als kurze und belanglose Episoden erscheinen, werden im Laufe des Romans immer länger und detaillierter und beide Erzählstränge rücken immer näher zusammen.

Märchenmotive
Rammstedt verbindet Wort- und Situationskomik mit grotesken Überzeichnungen und Steigerungen sowie mit kalkuliert eingesetzten märchenhaften Elementen. So werden in Der Kaiser von China (2008) die Rätsel, die das Leben des Großvaters dem Enkel aufgibt, unter Einbeziehung von Märchenmotiven virtuos gelöst. Demnach ist eine Raum und Zeit überdauernde Liebesgeschichte der Grund für die Bindungsunfähigkeit des Großvaters, der auf inflationäre Weise ständig neue und immer jünger werdende Freundinnen mit nach Hause bringt. Diese große Liebe ist dabei im wahrsten Sinne des Wortes groß. Es handelt sich bei der Herzdame des Großvaters um die Chinesin Liam, eine Riesin und die stärkste Frau der Welt. So unglaublich wie ihre Kraft ist auch ihre ausufernde Körperfülle, für die Liam einen gigantischen Appetit an den Tag legt. Die Liebesgeschichte beantwortet auch das Rätsel um den langsamen Alterungsprozess des Großvaters, der Liam, deren Stoffwechsel die maßlose Völlerei nicht mehr mit machte, auf dem Sterbebett versprechen musste, nicht zu sterben. Auch das ist ein beliebtes Motiv aus traditionellen Märchen. (Bukowsky, Evelyn: Tilman Rammstedt: Der Kaiser von China [Rezension]).

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Pressespiegel zu Der Kaiser von China [ ↑ ]
Durch seinen Gewinn des Ingeborg Bachmann-Preises und des Publikumpreises 2008 wurde Tilman Rammstedt eine große Aufmerksamkeit zuteil. Die Lesung und anschließende Diskussion der Jury über den Auszug seines Romans Der Kaiser von China wurde von 3sat sogar aufgezeichnet und gesendet. Die Kritiken der Jurymitglieder sind außerdem in dem von Ijoma Mangold (selber Jurymitglied) herausgegebenen Buch Klagenfurter Texte. Die Besten 2008, nachzulesen.
Alle Juroren loben Rammstedts Humor als „brillant“, „virtuos“, „pfiffig“ oder auch „hochkomisch“ und betonen, wie gut dieser – gerade mündlich vorgetragen – funktioniere. Auch die Leichtigkeit, Unterhaltsamkeit und die „sehr, sehr schöne, elegante Sprache“ (Ursula März) des Romans werden lobend erwähnt, genauso wie die graphische Darstellung der Übermacht des Großvaters (Ijoma Mangold). Burkhard Spinnen kritisiert jedoch, der Roman sei aus nur bekannten Motiven zusammengesetzt. So wirke er wie ein „Operettenmedley“, das zwar wundervoll vorgetragen werde, aber eben trotzdem ein Medley sei.
Die breite Presse zitiert in ihren Artikeln jedoch durchweg die positive Kritik. So betitelt Spiegel Online Rammstedts Werk als „tragisch-komisch“, die FAZ es als „hochkomisch wie traurig und brillant“ und auch die Hamburger Morgenpost bezeichnet Der Kaiser von China als „traurig-komische Familiengeschichte“. In seiner Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bezeichnet Oliver Jungen Rammstedts „brachial komisch und tief humane[n]“ Roman als „eine Reise ins China des Herzens, wo die fröhliche Wiedergeburt regiert.“ Der ganze Roman sei „eine einzige Verbeugung vor der Metaphysik der Komik“.

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Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters (2012)

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters [ ↑ ]

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Mit seinem 2012 bei Dumont erschienenen Roman Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters legt Rammstedt einen melancholisch-witzigen Schelmenroman vor, in dessen Zentrum ein Ich-Erzähler namens Tilman Rammstedt, der Schriftsteller ist, steht. Dieses Spiel um Fiktion und Faktizität führt der Roman fort, indem als Adressat für den Roman-Rammstedt der Schauspieler Bruce Willis fungiert, an den der Ich-Erzähler fortwährend E-Mails schreibt, die jedoch unbeantwortet bleiben. Diese wechseln ab mit Erzählpassagen, in denen der fiktive Rammstedt von seinen Begegnungen und Gesprächen mit seinem Bankberater berichtet. Die Titelfigur ist ein neurotischer, unglücklicher Typ, der letztlich wie Bruce Willis auch als Spiegelfigur des Erzählers dient.
Rammstedts Roman ist ein Text über die Gegenwart, über die Sehnsüchte und Ängste unserer Zeit sowie über die im wahrsten Sinne des Wortes fabel-haften Möglichkeiten, mit Literatur diesen zu begegnen. In dem Roman versucht der fiktive Tilman Rammstedt Bruce Willis für eine Rolle in seinem neuen Buch zu gewinnen. Denn sein ehemaliger Bankberater hat eine Bank überfallen und Bruce Willlis soll ihn nun aus dieser brenzligen Situation wieder heraushelfen. Dieser will aber einfach nicht auf seine E-Mails antworten, was den Autor aber nicht davon abhält, dem Actionhelden weiterhin mit E-Mails zu bombardieren und ihn so unfreiwillig in die Handlung des Romans hineinzieht, indem er ihn von Mail zu Mail über den Fortgang der Geschichte auf den Laufenden hält. Wenn die Welt keine Helden mehr hervorbringt, Banken pleitegehen und es sich kaum zu lohnen scheint, überhaupt noch eine Lebensentscheidung zu treffen, hilft nur noch der Action-Superheld, die Welt zu retten.

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Thematische Aspekte zu Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters [ ↑ ]

Kommunikation und Krisen
In seinem Roman Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters stehen vor allem die Themen Kommunikation und Krise im Mittelpunkt. Mit viel Humor zeigt Rammstedt die Grenzen und Möglichkeiten der modernen Kommunikation via E-Mail auf. Dabei durchziehen Krisen das gesamte Buch: Während sich der fiktive Autor Tilman Rammstedt in einer Sinn- und Schreibkrise befindet und sich in seiner schweren Lebenslage an einen glücklichen Romanausgang klammert, ist sein sonderbarer Bankberater beruflich erfolglos. Und auch Bruce Willis hat Gerüchten aus Klatschmagazinen zufolge, Ärger mit dem Beruf, der Gesundheit und der Liebe.
Der Roman startet mit einer E-Mail an den Actionmimen: „Sehr geehrter Herr Willis, geht es Ihnen gut? Mit freundlichen Grüßen, Tilman Rammstedt“ (S. 5). Diese Frage an den Schauspieler ist die Kernfrage des Romans: Wie sieht ein Leben aus, in dem es einem gut geht? Rammstedts Roman leuchtet die Eckpunkte für ein solches Leben aus, wobei der Bankberater für existentielle Sicherheit, Bruce Willis für Vitalität und Lebenskraft steht. Doch beide sind gebrochene Menschen, die Banken geben keine Sicherheit und auch ein Actionheld altert und verliert an Kraft. Sowohl Gottvater (also Willis als Darsteller des unerschütterlichen, verlässlichen Weltretters), als auch Gottes Geist (das Kapital) bieten – so führt der Roman in komischen Volten vor – keine Ankerpunkte mehr. So erscheinen alle drei Figuren wie so häufig in Rammstedts Textwelten als Zauderer, die mit dem Leben hadern oder sich vor lauter Phlegma nicht entscheiden können, auf die Welt zuzugehen. Das Romanthema ist demnach die Verzweiflung über den enormen Druck, der auf dem nachmodernen Ich lastet, selbstverantwortet sein Leben gestalten zu müssen. Die Verzagtheit der Figur vermittelt der Roman jedoch nicht als Klage, sondern als groteskes "Spiel im Spiel". Entsprechend fordert der fiktive Rammstedt, stellvertretend für sich selbst, in seinen Briefen Bruce Willis zunehmend eindringlicher auf, sich als Actionheld aktiv in die Geschichte einzubringen. Die E-Mails nehmen dabei die Form von Beschimpfungen an: „Sehr geehrter Herr Willis, wie zum Teufel können Sie so ruhig bleiben? […] Wir hatten eine Abmachung. Und Sie sind hier schließlich der Experte. Aber mit einem Experten wie Ihnen hätte ich besser einen Gedichtband geschrieben oder irgendetwas mit einem verschwiegenen Eigenbrötler als Hauptfigur. ‚Das dumpfe Schweigen meines fehlbesetzten Bankberaters‘ oder ‚Die Abenteuer von Bruce Willis, die abrupt enden, als er von einer Harpune durchbohrt wurde, weil er sich zu fein war, auch nur eine einzige Mail zu beantworten‘. Ich frage sofort meinen Verlag, ob man den Titel noch ändern kann. Das mache ich, Herr Willis, das mache ich auf der Stelle. ‚Ihr‘ Tilman Rammstedt“ (S. 97).
Zugleich beleuchtet der Roman mit einem ironischen Augenzwinkern die tagesaktuelle Debatte um die Bankenkrise, wenn er den Banker, der selbst am System scheitert, sagen lässt: „Man könne das Wachstum gar nicht verhindern, erklärte mir mein ehemaliger Bankberater. ‚Wenn die Wirtschaft schrumpft, wachsen die Schulden. Wenn die Haare ausfallen, wächst die Glatze. Wenn die Handys kleiner werden, dann wächst halt die Fläche um die Handys herum.‘ Auch mein Geld sei also nicht direkt weg, ich hätte etwas anderes dafür bekommen. ‚Nun müssen wir nur noch herausfinden, was das ist‘, sagte er und klopfte mir auf die Schulter. ‚Ist das nicht aufregend?‘, fragte er. Ich weiß nicht mehr, ob ich nickte“ (S. 100).

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Formale Aspekte Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters [ ↑ ]

Verbindung von Handlungssträngen
In seinen Romanen Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters (2012) und Der Kaiser von China (2008) geschieht dies durch das Schreiben von E-Mails und Briefen. Ähnlich wie Der Kaiser von China baut Rammstedt auch seinen nachfolgenden Roman auf Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters (2008). Mit dem Ich-Erzähler Tilman Rammstedt beginnt dieses Spiel um Fiktion und Faktizität und wird weitergeführt, indem als Adressat für den Roman-Rammstedt der Schauspieler Bruce Willis fungiert, an den der Ich-Erzähler fortwährend E-Mails schreibt, die jedoch unbeantwortet bleiben. Weder antwortet jener auf die E-Mails, noch lässt er sich dazu hinreißen bei den titelgebenden Abenteuern, die Rammstedt für seinen Bankberater als Fiktion in der Fiktion ausmalt, tatkräftig mitzuwirken. Diese einseitige E-Mail-Konversation wechselt ab mit Erzählpassagen, in denen der fiktive Rammstedt von seinen Begegnungen und Gesprächen mit seinem Bankberater berichtet. Die Titelfigur ist ein neurotischer, unglücklicher Typ, der letztlich wie Bruce Willis auch als Spiegelfigur des Erzählers dient.
Klappt man den in der Hardcover-Ausgabe doppelt gefalteten Umschlag auf, so sieht man, dass der Romantitel eigentlich noch weiter geht: „Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters. Wie ich sie gerne erlebt hätte zumindest am Anfang und ein wenig noch am Ende“. Das fiktionale Spiel deutet sich demnach hier schon an. Zusammen mit dem Bankberater lässt der Roman-Rammstedt sich und Bruce Willis einen Banküberfall begehen, gemeinsam schickt er das Trio auf eine abenteuerliche Flucht. Dabei kippt der Text immer wieder aus der internen Fiktion: „Sehr geehrter Herr Willis, Sie wissen selbst, wie alles nicht gewesen ist.“ (S. 147).

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Pressespiegel zu Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters [ ↑ ]
Rammstedts neustes Werk, Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters (2012), das Zeit Online als „umwerfend komischen Roman“ bezeichnet, ist ein Briefroman. In der Zeit Online erscheint eine regelrechte Lobeshymne auf ihn: „Wie sich hier im Roman ein Roman schreibt, wie sich die Erzählstränge treffen, verknoten, wieder lösen, und letzthin je nach Lesart zu zwei alternativen Enden führen, das ist mit viel Kunst gemacht. Natürlich inszeniert Rammstedt auch ein Spiel mit dem eigenen Schreibprozess. Allerdings auch eine knietiefe Verbeugung vor der Fantasie und der Literatur, deren Möglichkeiten er mit großem Spaß hintertreibt.“ Auch die FAZ zeigt sich begeistert. Gerade die Form „der Metaerzählung, die [den] Roman als seinen eigenen Entstehungsprozess beschreibt, ist zwar nicht neu - aber wie Rammstedt sie von neuem füllt, ist überaus schlau, häufig überraschend und manchmal zum Wegwerfen komisch.“

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