Charakteristika des Werks

Grenzgang

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Grenzgang [ ↑ ]
2009 gibt Stephan Thome mit Grenzgang sein Debüt als Romanautor. Titelgebend für das Werk ist das gleichnamige Volksfest im hessischen Biedenkopf, in dem der Autor geboren und aufgewachsen ist, wobei der Roman dies leicht verfremdet, wenn aus Biedenkopf Bergenstadt wird. Alle sieben Jahre feiern die Bewohner des Städtchens drei Tage Grenzgang und schreiten dort gemeinsam „die Gemeindegrenzen“ (S. 3) ab; diese Grenzgangtage werden im Roman dargestellt.
Der Roman gliedert sich in drei Teile (Der Stein…, …die Grenze…, …in Ewigkeit.) sowie einem Epilog, wobei die einzelnen Teile in insgesamt 13 durchnummerierte Kapitel unterteilt sind, die wiederum in einzelne Abschnitte ausdifferenziert sind. Die Handlung wird nicht fortlaufend erzählt, sondern in Zeitsprüngen, die sich aus den Grenzgang-Festen ergeben. Behandelt werden die Jahre 1985, 1992, 1999 und 2006. Abwechselnd werden die Geschichten der beiden Hauptfiguren Kerstin Werner und Thomas Weidmann entworfen, wobei beider Lebensentwürfe in ihrem Scheitern nachvollzogen werden. Die Zeitsprünge im siebenjährigen Rhythmus bilden die Struktur der Handlung: Die Figuren werden über vier Grenzgang-Perioden an besagten drei Festtagen beobachtet, also über eine Zeitspanne von achtundzwanzig Jahren.
Die Hauptfiguren sind Kerstin Werner, die nach „gescheiterter Ehe ihre demenzkranke Mutter“ (S. 3) versorgt und sich mit ihrem sechzehnjährigen, pubertierenden Sohn Daniel herumschlägt sowie Thomas Weidmann, der nach „gescheiterter Uni-Karriere als Lehrer ans Gymnasium Bergenstadt zurückkehrt“ (S. 3). Die weibliche Hauptfigur des Romans Kerstin Werner studiert in Köln Sport mit Schwerpunkt Tanz und beabsichtigt nach Abschluss ihres Studiums ein Tanzstudio zu eröffnen. Dass dieser Wunsch unerfüllt bleibt, findet zwanzig Jahre nach Kerstins geplantem Hochschulabschluss Erwähnung durch ihren Bruder Hans: „Mach dir nichts vor, hat Hans gesagt. Du hast es zwanzig Jahre lang nicht geschafft, so ein Studio aufzumachen. Und jetzt, wo Mutter bei dir einziehen soll, sprichst du von „‚Plänen‘“ (S. 43). Die Mutter ist ein Pflegefall und Kerstin selbst wird nach einer gescheiterter Ehe depressiv und von Medikamenten abhängig.
Im Jahr 1985 besucht Kerstin mit ihrer Freundin Anita, mit der sie sich zur Studienzeit eine Wohnung geteilt hatte, das dreitägige Volksfest in Bergenstadt. 1985 lernt Kerstin den Rechtsanwalt Jürgen Bamberger kennen, bricht ihr Studium ab, heiratet Bamberger und zieht nach Bergenstadt. 1990 gebiert sie den gemeinsamen Sohn Daniel.
Jürgen Bamberger ist sehr engagiert, was das Volksfest betrifft. Sowohl 1992 als auch 1999 wirkt er als Fahnenträger mit: „Vor sieben Jahren war Jürgen Fahnenträger gewesen, und sie hatte mit ihrem zweijährigen Sohn auf dem Arm auf dem Marktplatz gestanden und gewinkt. Glücklich, vielleicht sogar stolz“ (S. 119). Mit der Zeit bemerkt Kerstin jedoch, dass ihre Ehe mit Jürgen sich verändert. Es kommt häufiger zu Streit und auch der Austausch von Zärtlichkeiten bleibt aus: „‚Sag nicht aha; du weißt doch, dass ich als Fahnenträger mitlaufen muss beim Zug.‘ ‚Aber vielleicht musst du als Familienvater vorher noch eine Windel wechseln.‘ Sie sah ihn an, bemüht, seinen Missmut mit großen Augen aufzufangen und ihn daran zu erinnern, dass ihre letzte Umarmung noch keine zehn Minuten zurücklag“ (S. 314). Die junge Mutter befürchtet, dass ihr Mann sie betrügt und findet bald heraus, dass Jürgen Bamberger tatsächlich ein Verhältnis hat und zwar mit Andrea, ebenfalls einer Bewohnerin Bergenstadts. Der damals neunjährige Daniel bestätigt diesen Verdacht, als er erzählt, er habe seinen Vater mit einer Fremden auf der Bank hinter dem Festplatz gesehen: „Ein Mann und eine Frau, die saß halb auf seinem Schoß und wackelte manchmal mit dem Rücken, als ob sie gekitzelt würde. Er blieb stehen und sah hin. Sein Herz schlug nicht so schnell und nicht langsam, aber stärker als sonst“ (S. 71).
Als Kerstin das Volksfest 1999 verlässt und auf der kleinen ortsnahen Brücke auf ihren Sohn Daniel wartet, taucht anstelle Daniels Thomas Weidmann auf, der zweite Protagonist des Romans, . Dieser stammt aus Bergenstadt und arbeitet an der Berliner Universität, wo er eine Habilitation anstrebt. Der betreuende Institutionsleiter zieht ihm allerdings den Konkurrenten Jan Kamphaus vor und somit verlässt Weidmann gedemütigt die Universität. Gleichzeit zerbricht seine Beziehung zu seiner Freundin Konstanze, die nicht versteht, was es für Weidmann bedeutet, den eigenen Lebensentwurf zu verwirklichen und diesen dann scheitern zu sehen: „In der Tat hatte er Konstanzes Hilfe nicht in Anspruch genommen, nicht aus Stolz oder falsch verstandener Männlichkeit, sondern weil ihre Hilfsbereitschaft die Tatsache überging, dass hier ein gesamter Lebensentwurf, und zwar sein gesamter Lebensentwurf, zu Bruch ging und dass das keine Kleinigkeit war, der sich mit ein bisschen Zuversicht und positivem Denken beikommen ließ. Sie verstand diese Identifikation mit einem Beruf nicht, Konstanze kannte nur Jobs. Du kannst ebenso gut was anderes machen, hatte sie zu ihm gesagt, und das war der Punkt, an dem sich ihre gedanklichen Wege trennten und von wo sie nicht mehr zueinander zurückfanden“ (S. 78).
Kerstin Werner und Thomas Weidmann kommen sich auf der Brücke näher – sie küssen sich: „Der Kuss glich einem Wühlen nach dem Grund ihres Tuns. […] [A]m stärksten empfand sie das Ausbleiben jeder Überraschung, ihre kühle Kenntnisnahme dieser Sinnlosigkeit“ (S. 175). Nach dieser kurzen Begegnung trennen sich die Wege der Figuren. Thomas Weidmann fängt nach seiner gescheiterter Unilaufbahn als Lehrer am Gymnasium in Bergenstadt an, die Ehe Kerstin Werners wird ein Jahr darauf geschieden. Daniel, der gemeinsame Sohn Kerstins und Jürgens, wohnt abwechselnd eine Woche bei seiner Mutter und eine Woche bei seinem Vater, bis er im Jahr 2006 versucht seinen Mitschüler Tommy Endler zu erpressen. Daraufhin beauftragt der Schulleiter des Gymnasiums Thomas Weidmann mit der Aufgabe, Kerstin Werner über das Geschehen zu informieren. Die beiden nähern sich erneut vorsichtig an, jedoch ist ihre Beziehung vorerst nicht körperlicher Natur.
Gelegentlich knüpft Thomas Weidmann Kontakte mit Frauen im Internet: „Weidmann lehnt sich zurück, als müsste er die Zeilen aus größerer Entfernung betrachten. Vielleicht liest er keine Romane mehr, weil diese Tarnkappen-E-Mails fremder Frauen seiner Phantasie ausreichend Nahrung bieten. Dahinter stehen schließlich Autorinnen, mit denen sich vielleicht schlafen lässt. […] Dann ein Treffen, und dann – entweder oder. Früher oder später. Es ist ein Zeitvertreib“ (S. 165. Der im Roman beschriebene E-Mailverkehr endet damit, dass er sich mit einer Frau namens Viktoria in einem Swinger-Club in Nieder-Enkbach verabredet.
Zur gleichen Zeit intensiviert sich die Beziehung zwischen Kerstin Werner und ihrer Nachbarin Karin Preiss, der Ehefrau des gutverdienenden Unternehmers Hans-Jürgen Preiss. Karin befürchtet, dass ihr Leben an ihr vorbeiläuft und drängt die Nachbarin dazu, gemeinsam etwas zu unternehmen: „‚Wir sind nicht mehr zwanzig, und das Leben liegt vor uns. Wir sind aber auch noch nicht siebzig, und das Leben liegt hinter uns. Wir sind Mitte vierzig, und das Leben läuft an uns vorbei‘“ (S. 218). Karin beschließt, ebenfalls in den Swinger-Club nach Nieder-Enkbach zu fahren und nimmt die sich unwohl fühlende Kerstin mit. Im Club verschwindet Karin Preiss in den Nebenräumen, während sich Kerstin an die Bar setzt und mit dem Etablissementbesitzer unterhält. Als es Kerstin Werner bald zu unbehaglich wird und sie sich zum Gehen wendet, fällt ihr Blick auf Thomas Weidmann. Sie schreit erschrocken auf und eilt zum Ausgang: „Den spitzen Schrei, der ihr entfährt, hört sie selbst mit einer Sekunde Verspätung. Registriert ihre Hand auf dem Mund und die Blicke, die sie von überall treffen. Alle im Barraum sehen sie an. Alle bis auf Thomas Weidmann. Der steht wie erstarrt zwischen den Yucca-Palmen, in einem weißen offenen Hemd, das seine Brustbehaarung erkennen lässt“ (S. 299).
Nach diesem unerwarteten Aufeinandertreffen ist es sowohl Thomas Weidmann wie auch Kerstin Werner unangenehm, ihre Annäherung fortzusetzen und über den Vorfall zu sprechen. Dennoch verabreden sie sich einige Zeit später in Weidmanns Wohnung. Sie schlafen miteinander und am nächsten Morgen verschwindet Kerstin, bevor Thomas aufwacht. Auf der Heimfahrt trifft sie Daniel, der die ganze Nacht bei seiner Großmutter im Krankenhaus verbracht hat. Sie fragen einander, wo der jeweils andere gewesen sei: Kerstin schweigt. Daniel berichtet, dass es seiner Großmutter in dieser Nacht schlechter gegangen sei und sie im Sterben liege: „‚Also, wo kommst du her?‘ ‚Aus dem Krankenhaus.‘ Mit nervösen Fingern zieht sie den Autoschlüssel ab und sieht die Straße entlang, in der sie seit fast sieben Jahren wohnt. […] ‚Was ist passiert?‘ ‚[…] [N]ach der Untersuchung hat Oma das Bewusstsein verloren.‘ Sie hat eiskalte Finger, weiß alles und nichts, und wo sie die Nacht verbracht hat, spielt keine Rolle mehr“ (S. 393). Daniel scheint zu wissen, wo Kerstin die Nacht verbracht hat und nimmt ihr dies jedoch nicht übel: „‚Aber ich weiß, wer in der Grünberger Straße wohnt.‘ […] ‚Himmel, Daniel, deine Mutter ist ein Nervenbündel heute Morgen, merkst du das nicht? Sag was, mach einen Witz, sei böse auf mich, aber steh nicht so cool da, als wäre das alles nicht dein …‘ Dann weiß sie nicht, wie sie den Satz beenden soll. Geschäft? Kram? ‚Leben?‘, fragt er. […] Und dann setzt er noch eins drauf und sagt einen Satz, den zu hören sie niemals, auch nicht in ihren wildesten Gedankenralleys erwartet hat: ‚Ich lass mir von dir ja auch nicht vorschreiben, mit wem ich schlafe‘“ (S. 397).
Einige Wochen nach dem Tod der Mutter erfährt Kerstin Werner von Karin Preiss, dass ihr Ehemann Konkurs anmelden muss und ihr ein Firmengebäude in Karlshütte überschrieben hat. Dort möchte Karin gemeinsam mit Kerstin ein Tanzstudio eröffnen – Kerstin lehnt ab. Schulleiter Granitzny fragt Thomas Weidmann, ob dieser den Posten des stellvertretenden Schulleiters übernehmen möchte. Dieser nimmt das Angebot an, in der Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft mit Kerstin.
Am Ende des Romans Grenzgang deutet sich trotz all der gescheiterten Pläne von Kerstin und Thomas eine zukunftsversprechende und optimistische gemeinsame Perspektive an. Auf dem Grenzgangfest beschließt Kerstin: „Sie wird ihn lieben, ganz einfach“ (S. 454). Auch wenn sich damit etwas zu wiederholen scheint, ist für Kerstin Werner dieser Moment anders: „Sie sagt sich, dass es keine Wiederholungen gibt, nicht im wirklichen Leben. Das hier mag der Anfang oder das Ende sein, der Aufbruch oder das Ziel. Aber alles passiert, wenn es passiert, zum ersten Mal“ (S. 454).

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Thematische Aspekte zu Grenzgang [ ↑ ]

Provinz und Großstadt
Ein Hauptaspekt in Stephan Thomes Romanen ist die Binarität zwischen Provinz und Großstadt. Das Verhältnis der Figuren zu diesen gesellschaftlichen und geographischen Räumen ist ambivalent. Die Großstädte stehen für die Figuren auf der einen Seite für Karriere und Freiheit, auf der anderen Seite repräsentieren sie aber auch Hektik und Anonymität beziehungsweise Einsamkeit. Die Provinz hingegen verkörpert Ruhe und Idylle, aber auch Konservatismus und Ambitionslosigkeit, die die Bewohner in ihren individuellen Entfaltungsmöglichkeiten hemmen.
Im Roman Grenzgang ist den beiden Hauptfiguren gemeinsam, dass sie nie geplant haben, in einer Provinz wie Bergenstadt zu leben. Während Thomas Weidmann dort aufwuchs und aus der Provinz entfliehen wollte, indem er in Berlin eine Karriere anstrebte, ist Kerstin Werner wegen eines Mannes nach Bergenstadt gekommen. Obgleich dies schon viele Jahre her ist, fühlt sie sich immer noch wie eine Zugezogene. Beide Protagonisten sind Mitte vierzig und „‚zu jung, um alt zu sein, aber zu alt, um sich jung zu fühlen‘“ (S. 233). Auch sie scheinen sich in einer Art Stagnation ihres Lebens zu befinden. So stellt der Protagonist Thomas Weidmann im Gespräch mit Kerstin Werner fest, dass er lange nicht den Grad an Selbstbestimmung und freier Entfaltung erreicht hat, der ihm ein zufriedenes Leben ermöglichen würde: „‚Ihnen stößt etwas zu, und statt sich dagegen zu stemmen, geben Sie der Veränderung nach, folgen ihr noch ein Stück weiter, als Sie gezwungen worden sind. Letztlich ein Versuch, die Hoheit über das Geschehen zurückzugewinnen, weil Sie am Ende an einem Punkt landen, zu dem Sie aus freien Stücken gelangt sind‘“ (S. 188). Auch resümiert er, dass Entwicklungen in Bergenstadt nur mühsam vorangehen: „Die Bergenstädter Genügsamkeit, das Mostige – auch davon hatte der Bürgermeister am Marktplatz gesprochen, wenngleich in anderen Worten. Und er, Thomas Weidmann, war dem nie entkommen. Was damals in den ersten Berliner Jahren in ihm eher geglimmt als gebrannt hatte, war ein mit Bergenstädter Phlegma durchsetzter Ehrgeiz gewesen, der vor allem der Form genügen und sich ein gutes Gewissen für den Fall des Scheiterns erarbeiten wollte. Mehr nicht oder jedenfalls nicht viel mehr“ (S. 131). Da die Ansprüche auf Selbstverwirklichung und Erfolg in der Provinz eher als belanglos gelten, dient Bergenstadt als Rückzugsort für Weidmann, da er sich hier nicht dem Erfolgsdruck ausgesetzt sieht. Die Ambitionslosigkeit trifft nämlich nicht nur auf ihn zu, sondern auf die meisten Bewohner Bergenstadts: „In Bergenstadt machte man nicht das Beste aus seinem Leben, und er mochte das. Die Welt war voller Leute, die an ihrem aufgeblasenen Ego hingen wie an einem Heißluftballon ohne Gondel: Zappelnd, grotesk, vom Absturz bedroht“ (S. 283).
Besonders die Protagonistin Kerstin Werner scheint eine Gefangene des provinziellen Lebens zu sein. Sie gibt ihren Traum von einem eigenen Tanzstudio für die Gründung einer Familie auf: „Jedes Jahr im Frühling gibt es einen Tag, an dem sie das Gefühl hat, der nächste Sommer ziehe wie ein großes Versprechen herauf, reite ihr von dem grünglänzenden Bergrücken am Horizont entgegen, und obwohl sie es besser weiß, lässt sie sich verzaubern von seinem Anblick und ist machtlos gegen den Glauben, dass in diesem Sommer alles besser werden wird. – Und warum nicht?, würde Anita sagen. Jedenfalls besser als Selbstmitleid. – Stattdessen Selbstbetrug. – Du müsstest nur auf mich hören und endlich wegziehen aus diesem Kaff“ (S. 9f.). Von den Ratschlägen ihrer Freundin wendet sich Kerstin anfänglich ab, doch später im Roman fällt ihr ein Grundmuster auf, nach dem sich ihr Leben vollzieht: „Eine Art Selbstbestimmung gegen den eigenen Willen, im Kleinen wie im Großen. Sie hätte was Helleres anziehen können, zum Beispiel, hat sich aber nicht getraut. Hätte sich nicht so einengen lassen sollen von den Bedenken und Ansprüchen anderer, sondern mehr ihren eigenen Bedürfnissen folgen. Hat sie aber nicht“ (S. 438).
Die Ruhe der Provinz als Opposition zur Schnelllebigkeit der Großstadt zeigt sich besonders in den Aussagen der ProtagonistInnen, dass das Leben in Bergenstadt nur alle sieben Jahre während des Grenzgangfestes stattfände. „Frau Preiss füllt die Gläser bis zum Rand, schiebt eins in ihre Richtung, hebt das andere und sagt: ‚Zum Wohl. Ich finde, wir hätten uns schon viel früher treffen sollen, aber in Bergenstadt bewegen sich die Dinge eben nur in den Grenzgangjahren. Die sieben Jahre dazwischen …‘ Sie schnippte mit den Fingern“ (S. 195). Den ProtagonistInnen scheint es, „als hätte ihr Leben in der Zwischenzeit keine grundlegende Wandlung durchgemacht“ (S. 347). Es fehlt ihnen an Energie und Lebenslust, stattdessen herrscht Leere, Ambitionslosigkeit und Stagnation.

Liebe, Partnerschaft und Kommunikation
Zwischen der Protagonistin Kerstin Werner und ihrem Mann Jürgen bricht die Kommunikation im Laufe ihrer Ehe ab. Dies ist auch für die Bewohner Bergenstadts ersichtlich. Thomas Weidmann bemerkt, dass „[j]e länger er sie und ihren Mann beobachtete, desto sicherer war er, dass die glücklichen Tage ihrer Ehe der Vergangenheit angehörten. […] Sie sprachen miteinander, und sie stritten sich nicht, aber es gehörte nicht viel dazu, um sogar aus der Entfernung diesen Glanz unterdrückter Wut in ihren Augen zu entdecken, und in seinen den kindischen Trotz des ertappten Missetäters. Sie sprachen miteinander, aber sie redeten nicht. Er hatte es oft zu Konstanze gesagt: Niemand, der heiratet, entgeht der Banalität der Ehe“ (S. 168). In dieser Aussage macht sich Thomas Weidmanns ursprüngliche Einstellung zur Ehe bemerkbar. Er scheint der Ansicht, dass eine Eheschließung mit Konstanze ihre Beziehung ruinieren würde. Dennoch ist im Roman ersichtlich, dass der Protagonist gerne eine Liebesbeziehung eingehen würde, was sich in der Provinz jedoch als schwierig herausstellt. In Bergenstadt kennt jeder jeden und weiß über das intime Privatleben der anderen ProvinzlerInnen Bescheid. Die BewohnerInnen stehen unter ständiger Beobachtung. Eine Annäherung an eine Frau scheint, auch aufgrund der Stagnation in den sieben Jahren vor den Grenzgangfesten, nur an den Festtagen möglich zu sein. So kommt Weidmann zu dem Schluss, dass Bergenstadt „einem alleinstehenden Mann über vierzig leider keine Möglichkeit bereithält, ein Sexualleben zu führen, das den Namen verdient“ (S. 231). Aufgrund dessen lässt er sich auf eine Internetbekanntschaft ein, die für ihn „irgendwie secondhand“ (S. 369) zu sein scheint, und in der die Kommunikation zu einer Nebensächlichkeit wird. Im Gegensatz dazu ist die Kommunikation zwischen Kerstin und Thomas von hoher Relevanz, auch wenn viele Wünsche der beiden und das Wesentliche zunächst unausgesprochen bleiben: „Warum tut er das? Ist es möglich, dass er den Kuss tatsächlich vergessen hat? Oder sich zwar an eine flüchtige Begegnung auf der Brücke erinnert, aber nicht mehr weiß, wen er damals geküsst hat? Plötzlich fällt es ihr schwer, sitzen zu bleiben und die Stille auszuhalten, die sich an seinen Kurzvortrag angehängt hat wie eine Prozession stummer Fragezeichen. Ganz plötzlich erscheint das Undenkbare ihr ausgesprochen wahrscheinlich: Es ist sieben Jahre her, er war alkoholisiert und müde, und sie haben einander seitdem kaum gesehen. Warum sollte die Verbindung in seinem Kopf nicht irgendwann gerissen sein? Für ihn war es schließlich ein bedeutungsloses Vorkommnis an einem bedeutungslosen Tag, und wer weiß, wie viele Frauen er seither geküsst hat. Soll sie beleidigt oder erleichtert sein?“ (S. 187). Statt ihre Überlegungen durch Nachfragen zu beenden, flüchtet sich Kerstin in Eventualitäten und deutet ihre Gefühle in der Kommunikation mit Thomas lediglich an.

Geschlechterrollen
In den Romanen Stephan Thomes werden gesellschaftliche Geschlechterrollen kritisch hinterfragt. Die Textwelt in Grenzgang zeigt eine dörfliche Welt, in der die Geschlechterrollen der bürgerlichen Tradition entsprechen. Dies zeigt sich zum einen darin, dass bei dem Grenzgangfest nur die Männer Waffen tragen dürfen und den aktiven Part der Abschreitung der Grenzen vollziehen: „Hier liefen erwachsene Männer in Uniformen herum und nannten ihre Säbel Gewehre. Und nannten das wiederum Tradition“ (S. 283). Zum anderen wird das anhand der Scheidung von Kerstin Werner deutlich, die finanziell von ihrem Ehemann Jürgen Bamberger abhängig ist. Zudem fällt ihr die Aufgabe zu, sich um ihre demenzkranke Mutter und ihren pubertierenden Sohn Daniel zu kümmern: „Mit anderen Worten ein Arschloch, sagte sie sich jetzt. Zeugt mit einer anderen Frau ein Kind, einer jüngeren und mit Verlaub dümmeren, und in genauer Abstimmung auf die flankierenden Maßnahmen des Gesetzgebers. In denen ist bestimmt von ‚Zumutbarkeitsgrenzen‘ die Rede. Oder von zu schließenden ‚Gerechtigkeitslücken‘“ (S. 95). Ihre Lebenswelt ist bislang frei von emanzipatorischen Bestrebungen, weshalb sie hier das geänderte Scheidungsrecht, das auch von den Frau die Übernahme einer beruflichen Tätigkeit verlangt, empört kritisiert. Auffallend ist zudem, dass die Männer in Thomes Roman Grenzgang Berufe ausüben, die die Attribute hohes Gehalt, Macht, Selbstständigkeit und Aufstiegsmöglichkeiten mit sich bringen (zum Beispiel Arzt, Universitätsdozentur, Anwalt und Bäckereibesitzer). Die Frauen hingegen nehmen die stereotype Rolle der Hausfrau und Mutter ein. In dieser Figurenkonstellation wird eine Rollenverteilung von Mann und Frau ersichtlich, wie sie im patriarchalischen Weltbild verankert ist. Zugleich wird kritisch hinterfragt, dass Frauen in diesem Modell ihre eigenen (beruflichen) Wünsche zurückstellen, um am Ende aber doch von ihren Männern für eine andere Frau verlassen zu werden – so das Beispiel von Kerstin Werner.

Gescheiterte Lebensentwürfe und Stagnation
Der Schwerpunkt aller Romane liegt auf dem Scheitern von Lebensentwürfen und der damit einhergehenden Unsicherheit der ProtagonistInnen. Thomes erster Roman Grenzgang beschreibt die Erosion von idealistischen Plänen im Provinzalltag. So scheitert nicht nur Thomas Weidmanns Laufbahn an der Universität, sondern auch Kerstin Werners Wunsch nach Selbstständigkeit in Form eines eigenen Tanzstudios. Den gescheiterten Existenzen wird ihr Misserfolg wiederholt vorgehalten: „Mach dir nichts vor, hat Hans gesagt. Du hast es zwanzig Jahre lang nicht geschafft, so ein Studio aufzumachen. Und jetzt, wo Mutter bei dir einziehen soll, sprichst du von Plänen“ (S. 43); „Sie verstand diese Identifikation mit einem Beruf nicht, Konstanze kannte nur Jobs. Du kannst ebenso gut was anderes machen […]“ (S.78) – so der Rat an Kerstin, der übersieht, dass sie vor den Scherben ihres Lebens steht.
Im Roman Grenzgang wird diese Thematik besonders deutlich, als der eigentlich angestrebte Lebensentwurf Thomas Weidmanns scheitert. Da sich seine Habilitation zu weit von den Vorstellungen des Professors entfernt, verliert Weidmann seine Chance auf eine Professur und wird aus dem Kreis der Akademiker ausgeschlossen. Als er dies seiner Freundin Konstanze mitteilt, reagiert sie anders als von Weidmann gewünscht: „Sei ein Mann. So hatte es Konstanze ausgedrückt. Abwesenheit von Gefühlen, stellte er fest, ist auch ein Gefühl“ (S. 39). Zwischen Thomas Weidmann und seiner Freundin scheint seiner Auffassung nach eine Kommunikation stattzufinden, die häufig auf Unverständnis basiert: „Konstanze konnte nicht begreifen, wie schwerwiegend es für ihn war, dass sein Lebensentwurf unwiderruflich auseinander gebrochen war. Sie dachte pragmatisch, ganz im Sinne gängiger ökonomischer Maximen: ‚Du kannst ebenso gut was anderes machen‘“ (S. 78). Diese Aussage scheint für Weidmann jedoch nicht zuzutreffen. Er kann nicht „ebenso gut was anderes machen“ (S. 78), sondern ist aufgrund des gescheiterten Habilitationsentwurfs dazu gezwungen, etwas anderes zu tun. So kehrt er zurück nach Bergenstadt, um sein eigenes Scheitern zu verdauen und lässt die Beziehung zu Konstanze hinter sich: „‚Du sprichst in Rätseln.‘ ‚Ich spreche in Großbuchstaben.‘ Sein Telefon kam ihm vor wie ein aufgedrehtes Überdruckventil. Er bereute seinen Anruf nicht, wünschte aber, ihn zu beenden. In der Tat hatte er Konstanzes Hilfe nicht in Anspruch genommen, nicht aus Stolz oder falsch verstandener Männlichkeit, sondern weil ihre Hilfsbereitschaft die Tatsache überging, dass hier ein gesamter Lebensentwurf und zwar sein gesamter Lebensentwurf zu Bruch ging und dass das keine Kleinigkeit war, der sich mit ein bisschen Zuversicht und positivem Denken beikommen ließ“ (S. 77).
Dieser Fehlschlag löst bei Thomas Weidmann eine Sinnkrise aus, die aus der Unsicherheit entsteht, nicht zu wissen, was als nächstes folgt und den eigentlichen Lebensentwurf verloren zu haben. „Er würde die Tür hinter sich schließen und nie wieder zurückkehren in diesen Raum, sondern ein Leben beginnen, das er nie gewollt hatte und über das er in diesem Moment nichts wusste außer eben: es nicht gewollt zu haben. Ein schwindelerregendes Gefühl“ (S. 40). Beide Protagonisten sind sich ihres Misslingens bewusst, gehen aber unterschiedlich mit dieser Erkenntnis um: Während Thomas versucht, die Kontrolle über sein Leben zurückzugewinnen, akzeptiert Kerstin die Stagnation. „Sie hat viel nachgedacht in den vergangenen Wochen, und dabei ist ihr das Grundmuster aufgefallen, nach dem ihr Leben sich schon so lange vollzieht. Eine Art Selbstbestimmung gegen den eigenen Willen, im Kleinen wie im Großen. […] Einmal entdeckt, kam es ihr beinahe wie das Motto der letzten Jahre vor: Immer tun, was die anderen erwarten“ (S. 438).
Thomas Weidmann hingegen bemüht sich, die Selbstbestimmung wiederzuerlangen, indem er einen weiteren Schritt nach hinten geht, um in der Folge wieder voranschreiten zu können: „‚Ich bin hiergeblieben‘, sagte er ‚weil sich beruflich die Möglichkeit ergeben hat und weil es sich für eine relativ kurze Zeit richtig angefühlt hat, diesen Bruch zu vollziehen. Ihnen stößt etwas zu, und statt sich dagegen zu stemmen, geben Sie der Veränderung nach, folgen ihr noch ein Stück weiter, als Sie gezwungen worden sind. Letztlich ein Versuch, die Hoheit über das Geschehen zurückzugewinnen, weil Sie am Ende an einem Punkt landen, zu dem Sie aus freien Stücken gelangt sind. Das Maß ihrer Freiheit sozusagen. Es fragt sich aber, wie lange Sie sich nähren können von dem guten Gefühl, Ihr Schicksal selbst bestimmt zu haben. Oder anders gefragt: Wie lange ist die Halbwertszeit von Stolz?‘“ (S. 188).
Das Scheitern scheint für Thomas Weidmann also ein Anstoß für die Entwicklung neuer Lebensentwürfe zu sein, während es für Kerstin Werner lediglich den Aufbruch in eine neue Beziehung bedeutet; zumindest kann sie aber endlich das Gefühl ablegen, für ihre Mitmenschen nicht gut genug zu sein.

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Formale Aspekte zu Grenzgang [ ↑ ]

Zeit und Analepsen
Stephan Thomes Romane zeichnen sich durch eine analeptische Struktur als, die Vergangenheit wird so zum zentralen Akteur. Nicht nur die Hintergrundgeschichten der ProtagonistInnen werden auf diesen Weise erhellt, sondern die Zeitlichkeit des Lebens selbst wird zum zentralen Reflexionspunkt in den Textwelten.
Im Roman Grenzgang geben die dreitägigen Grenzgangfeste, die alle sieben Jahre stattfinden, der Geschichte ihre Form. Dadurch, dass nur an diesen Tagen die BewohnerInnen Bergenstadts in ihrer Entwicklung voranschreiten, entsteht eine verschachtelte Erzählstruktur, die die Komplexität der Figuren schichtweise freilegt. Thome geht beim Erzählen der Lebensgeschichten der einzelnen ProtagonistInnen nicht chronologisch vor, sondern springt zwischen den Jahren 1985 und 2006 hin und her. Andere Geschehnisse und Erfahrungen der Figuren während der sieben Jahre zwischen den Festen werden nur in Erinnerungen dargestellt. Auch bei Wiedergabe dieser Erinnerungen taucht Thome in verschiedene Zeitebenen ein und stellt in unaufgeregter Erzählweise das Leben in der Provinz dar. Diese Zeitebenen werden stets durch drei Sternchen gekennzeichnet und markieren die jeweiligen Lebensabschnitte Kerstin Werners und Thomas Weidmanns.

Lakonie und Realismus
Stephan Thomes Romanen zeichnen sich durch exemplarische Szenen, kurze Wortwechsel und lakonische Andeutungen aus. Der Realismus der Romane basiert auf den authentisch wirkenden Dialogen und den detailreichen Beschreibungen von Räumen, Figuren, Atmosphäre und inneren Vorgängen. Die Texte lassen sich sehr viel Zeit und dehnen die alltäglichen Geschichten, ihre Zuspitzung und ihre Auflösung auf viele Jahre aus. Besondern auffällig ist die Lakonie, weil in allen Romanen von echten Lebenskrisen, von Leid, Wut und schweren Erschütterungen erzählt wird, die aber meist nüchtern, mit einer mitunter zynischen Distanz, meist aber ganz unaufgeregt und sachlich geschildert werden. Damit ergibt sich ein Wertung der Ereignisse, die damit nämlich, obgleich sie für den oder die Einzelne durchaus existentiell sind, so sind sie doch insgesamt betrachtet eher banal, alltäglich und nicht außergewöhnlich.

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Pressespiegel zu Grenzgang [ ↑ ]
Mit seinem Debütroman Grenzgang liefert Stephan Thome einen „Erstling, […] der durch tiefe Menschenkenntnis besticht, durch kompositorische Klugheit, […] altmeisterliche Sprache, kurz: durch Reife […]“, urteilt Martin Ebel (Tages-Anzeiger, 10.10.2009). „Ein Debüt von solcher Reife hat es lange nicht gegeben […]“ loben auch Roland Mischke (Süddeutsche Zeitung, 10.10.2009) ebenso wie Volker Hage (Der Spiegel, 17.08.2009).
Im Zentrum des Provinzromans Grenzgang stehen die Protagonisten Kerstin Werner und Thomas Weidmann – Mitte vierzig, beide vor den Scherben ihrer gescheiterten Lebensentwürfe stehend, versuchen sie den Zwängen des alltäglichen Lebens zu entkommen, die sich aus ihrer bisherigen Vergangenheit ergeben haben. „Selten hat man das schleichende Scheitern im Leben so faszinierend erzählt bekommen“, schreibt Sandra Kegel (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.08.2009). Lange fühlten sich die Hauptfiguren in Thomes „fulminantem Debütroman jung, frei und zuversichtlich, um dann irgendwann um die vierzig plötzlich wie ohnmächtig vor den Trümmern ihrer einstigen Luftschlösser zu stehen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.08.2009). Aufgrund seiner Romankonzeption schätzt Kegel Thome als einen „ernstzunehmende[n] Autor“ ein, der sich „auf Anhieb […] etabliert hat“. In Klaus Kastbergers Rezension heißt es, dass Thome „[r]ein literarisch […] aus dem Grenzgang das Beste heraus [holt]: Die sieben Jahre, die zwischen den einzelnen Grenzgängen liegen, geben dem 450-Seiten-Roman seine Struktur“, schreibt er (Die Presse, 01.01.2010). Diese Struktur wird von vielen Kritikern besonders hervorgehoben. Stephan Thome konzentriert die Handlung des Romans auf Ereignisse in den Jahren 1985, 1992, 1999 und 2006 und fokussiert dabei stets die drei Tage des Grenzgangfestes. Der Autor schickt seine ProtagonistInnen unter anderem bis ins Jahr 2013. So schreibt Kastberger: „Geschichte und Zeitgeschichte der Bundesrepublik drängen sich nicht vor, sondern streifen den Text en passant, bis hin zur Fußball-Heim-WM, die als ein nationaler Grenzgang scheint“ (Die Presse, 01.01.2010). So heißt es auch in der Rezension von Sandra Kegel: „Spannung erzeugt der 1972 geborene Autor durch die literarisch geschickte Montage des Romans. Denn Thome schildert die Ereignisse Bergenstadts nicht etwa chronologisch. Vielmehr erzählt er stets nur das, was sich an jeweils drei Tagen des ‚Grenzgang‘-Festes ereignet. Dabei springt Thome in seinen Siebenjahresstiefeln so rasant wie ansatzlos durch die Zeiten, dass einem beim Lesen fast schwindelig wird“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.08.2009). „Wie mit Siebenjahresstiefeln springt der Autor von den beiden Schlüsseljahren 1999 […] und 2006 […] zurück in die Vergangenheit und voran in die Zukunft“, so beschreibt auch Martin Ebel die Romanstruktur (Tages-Anzeiger, 10.10.2009). In diesen Jahren konturiert der Autor die Lebensentwürfe der beiden Hauptfiguren Kerstin Werner und Thomas Weidmann, die so „einerseits im extremen Zeitraffer, andererseits in entscheidenden Momentaufnahmen und Lebenswendepunkten“ (Titel-Kulturmagazin, 26.10.2009) zu sehen sind. Die „grandiose Konstruktion des Romans“ und der „einnehmende Realismus […] fuß[en] besonders auf Thomes Fähigkeit, Dialoge zu schreiben und Perspektiven psychologisch zu erleuchten“ (ebd.). Tom Thelen beschreibt Thome als einen Romanautor, der sich „auf exemplarische Szenen, kurze Wortwechsel und lakonische Andeutungen“ versteht und dabei sogar humorvoll ist. Er ist der Ansicht, dass Thomes Werk eines der „erstaunlichsten Debüts der letzten Jahre“ sei und „definitiv Format“ besitze.
Dirk Knipphals, der das „Entscheidende […] in der Perspektive“ des Romans sieht, meint jedoch, dass diese „einige Schwächen“ habe (TAZ, 14.10.2009). „Sprachlich hat der Beschreibungswille auf der Satzebene gelegentlich noch nicht zur richtigen Form gefunden. Manchmal trägt die Erzählstimme Stephan Thomes zu dick auf“. Dennoch resümiert Knipphals, dass „die Stärken […] um Längen [überwiegen]“, da sie in der sorgfältigen Ausarbeitung der einzelnen Lebensschicksale der ProtagonistInnen liegen. Ihm zufolge bewirkt der Roman, dass „die deutsche Literatur endlich den Schritt von der Dorfliteratur zum US-amerikanischen Vorstadtroman geschafft hat“. Auch Roland Mischke schreibt dem Roman eine Schwäche zu, nämlich dass dieser „zu lang geraten“ sei (Frankfurter Rundschau, 02.10.2009) und der Autor damit „die Spannung mitunter arg strapaziert“; dennoch sei Grenzgang „kraftvolle Literatur, wirklichkeitssättigend, berührend“.
Neben der achronologischen Erzählstruktur des Romans nutzt der Autor ein weiteres sprachliches Mittel, um seinem Werk Struktur und Tiefe zu verleihen: Die unaufgeregte Erzählweise entspricht der Geruhsamkeit des Lebens in der Provinz. Sandra Kegel bezeichnet dies als „Grundton“, der „zweifellos pessimistisch“ scheint (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.08.2009). „Die Flucht aus der eigenen Biographie ist freilich ein Lieblingsthema der Literatur. Dennoch findet Stephan Thome dafür eine eigene Tonart, so taufrisch wie die Landschaft des gewählten Schauplatzes“. Iris Radisch beschreibt diesen Ton als „schwanke[nd] zwischen Lakonie und magazinhafter Saloppheit“ (Die Zeit, 08.10.2009). Ulrich Rüdenauer kritisiert, dass diese „Erzählstrategie [anfänglich] etwas langatmig“ wirkt, fasst aber abschließend zusammen, dass „die lange Weile nötig ist, um die Enttäuschungen und Wunschträume der Figuren in Szene zu setzen. Dann gewinnt das Buch an Rasanz, mehr an innerem als an äußerem Tempo: „Was sich hier tut, spielt sich in den Protagonisten ab – und in Thome haben sie einen Autor gefunden, der über die Sprache verfügt, ihnen die Pein und den Missmut von der Seele zu schreiben, sie in Situationen hineinzumanövrieren, die etwas Zwangsläufiges und Kontingentes haben“ (Der Tagesspiegel, 16.08.2009). Zahlreiche RezensentInnen loben Thomes technisches Handwerk. Er schreibe „mit einer Kunstfertigkeit, einer technischen Virtuosität, einem Charme“, wie es lange nicht gesehen wurde (Die Welt, 26.09.2009). So bezeichnen sowohl Volker Hage als auch Martin Ebel das Romangeschehen als „Kunstgriff“ (Der Spiegel, 17.08.2009). Ebel ist sogar der Ansicht, Stephan Thome erweise sich „[m]it diesem Kunstgriff […] ohne alle Besserwisserei als ein Meister der Form“ (Der Tages-Anzeiger, 10.10.2009).

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Forschungsspiegel zu Grenzgang [ ↑ ]
Die Literaturwissenschaft hat sich bislang nur punktuell den Romanen Stephan Thomes gewidmet. So findet sich zu Thomes Doppelromanen Fliehkräfte und Gegenspiel bisher noch keine Forschungsliteratur, wohingegen es über die in Grenzgang behandelte Binarität von Provinz und Großstadt bereits einige Forschungsüberlegungen gibt.
So untersucht Wilhelm Amann in seinem Aufsatz Die Provinz im Zeitalter der Globalität Thomes Roman Grenzgang im Zusammenhang mit Peter Kurzecks Vorabend und Andreas Maiers Das Zimmer. Ammann kommt zu dem Schluss, dass „die Thematisierung der Provinz [im Literaturraum] gerne als Ortsromantik verstanden und in Opposition gegenüber flukturierenden Lebensräumen und vermeintlich abstrakten und monströsen Prozessen der Globalisierung gesetzt [wird]“ (Amann 2013, S. 270). Auch Joanna Firaza konstatiert in ihrem Aufsatz ‚Der Stein...die Grenze...in Ewigkeit.‘ Neue Utopie der Provinz in Stephan Thomes Debütroman Grenzgang (2009), dass „das Ländliche [...] anvisiert [wird], um seine Potenziale neu [...] zu ermessen“ (Firaza 2014, S. 72). Die literarischen Darstellungen der Provinz sind mit positiven Eigenschaften wie zum Beispiel einer größeren Subjektbezogenheit verbunden und bieten eine Chance sowohl für Individualität wie auch für Sozialität. „Womöglich soll die neue Provinzliteratur der weltläufigen Leserschaft die Reterritorialisierung erleichtern, ein neues Lebensgefühl vermitteln und somit auch das letzte Unbehagen zerstreuen helfen, das der Provinz aus ihrem negativen Image gegenüber der Metropolen noch anhaftet“, mutmaßt Amann (Amann 2013, S. 270).
Firaza stellt die These auf, dass „[w]ie schon in den 60er Jahren, [...] das Ländliche nicht mehr so sehr als ‚Projektionsraum für vorwärts- oder rückwärtsgewandte Utopien‘ oder als negatives Gegenbild zur Urbanität fungierte, sondern [dass] die ‚Innensicht‘ zur Darstellung“ (Firaza 2014, S. 72) komme. So seien es in Grenzgang „‚überversorgte Söhne der Provinz‘, die wieder einmal aus der Innenperspektive ihre ländliche Heimat hinterfragen“ (Firaza 2014, S. 72). Es gehe in Grenzgang demnach weniger um die eigentliche Differenz zwischen Groß- und Kleinstadt, sondern vielmehr um die Psychologie der Protagonisten, die ihr Leben in der Provinz und die damit verbundenen Aspekte hinterfragen. Auch Wilhelm Amann erläutert, dass „[j]e unübersichtlicher die Verhältnisse [sind], desto größer [sei] die Bereitschaft zur Verteidigung eines subjektzentrierten Lebensraums und der Bedarf an Erzählungen von überschaubaren Erfahrungsräumen“ (Amann 2013, S. 270). Die ProtagonistInnen befinden sich in Situationen, die sie psychisch belasten und verunsichern, sie nehmen ihre ländliche Heimat jedoch eben aus diesem Grund als positive Beständigkeit wahr. „Die[se] ‚gepflegte Desillusion‘ scheint hier als Voraussetzung ‚für ein gelungenes bürgerliches Mittelstandsleben‘ um die Jahrtausendwende zu gelten“ (Firaza 2014, S. 84). Das Verhalten der Bewohner von Bergenstadt verbinden Amann und Firaza mit dem soziologischen Begriff des ‚Cocooning‘, also „dem Rückzug ins Private als Hauptreaktion des bürgerlichen Milieus auf die überkomplexe Bedrohungslage in der globalisierten Welt“ (Firaza 2014, S. 84).
Laut Firaza sehnen die Figuren des Romans „in ihrem Unbehaustsein und ihrer Abseitsstellung eine Form von ‚Verortung‘ oder ‚Erdung‘, eine Art geschütztes ‚Wohnen‘ herbei“ (Firaza 2014, S. 73). So scheint das Grenzgangfest für sie „eine kondensierte Utopie einer ersehnten Gemeinschaft und Zugehörigkeit zu sein“ (Firaza 2014, S. 76). An den Rückzugsort des ‚Cocooning‘ schließt Firaza das „Prinzip der Verzögerung“ (Firaza 2014, S. 74) an, welches sich im Grenzgangfest zeigt, da es nur alle sieben Jahre dreitägig gefeiert wird.
In Anlehnung an Marc Augé sieht Firaza die Relevanz des Grenzganges in seinem Status als Ort, der Augé zufolge durch „Identität, Relation und Geschichte“ (Firaza 2014, S. 77) geprägt ist, im Gegensatz zu Nicht-Orten, die insbesondere in Großstädten zu finden sind. Für Firaza handelt es sich bei dem Grenzgangfest um den „dritte[n] Hauptprotagonist[en] des Romans“ (Firaza 2014, S. 75).
Amann versteht das Fest als „eine Metapher für die Reichweite und Geltung veränderter Lebensräume und Lebensentwürfe […], die eben nicht nur in den Metropolen, sondern auch in der Provinz fragil, kontingent und transitorisch geworden sind“ (Amann 2013, S. 278). Thomes Grenzgang trägt „kaum zur Wiederbelebung eines alten Heimatgefühls bei, [er orientiert] sich auch nicht an einem regionalen Publikum, viel eher nutz[t] [der Text] die lokale Gebundenheit und Herkunft für Intentionen, die entschieden über das traditionelle Verständnis von Regionalität hinausgehen“ (Amann 2013, S. 278). Firaza argumentiert in eine ähnliche Richtung: „Die Bergenstädter Provinz […] wird […] zum Messer der eigenen Integrität. In diesem Sinne ist Thome den Gegenwartsautoren zur Seite zu stellen, bei denen eine Positivierung des negativ besetzten Begriffs Provinz zu beobachten ist. Es handelt sich also um eine ‚realistische Utopie‘ im Sinne einer Offenheit und noch nicht realisierten Potenzialität, die aber bereits im Jetzt angelegt ist“ (Firaza 2014, S. 83). Das Fest wird so zu „eine[r] große[n] Lebensmetapher“, da „das Ritual […] an die Dynamik der Zeit gebunden [ist]“ (Firaza 2014, S. 82). Thomes Umgang mit Temporalität und die Tatsache, dass der Aspekt der Zeit in all seinen Romanen eine wichtige Rolle spielt, scheint Raum für einen weiteren wichtigen Forschungsfokus zu geben, welcher in Zukunft näher betrachtet werden könnte.

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Fliehkräfte

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Fliehkräfte [ ↑ ]
In dem Roman Fliehkräfte von Stephan Thome geht es um einen fast 60-jährigen Mann, der aufgrund familiärer und beruflicher Unzufriedenheit in einer tiefen Lebenskrise steckt. Da ihn die Fernbeziehung zu seiner Frau Maria und auch seine oft durch Bürokratie behinderte Arbeit als Professor für Philosophie an der Universität Bonn nicht glücklich machen, ist ein Jobangebot in Berlin, dem Wohnort seiner Frau, der Auslöser für ihn, sein Leben und seine Zukunftspläne zu überdenken. Um sich über seine zukünftigen Wünsche und Ziele klar zu werden, durchquert er allein, ohne seine Familie zu informieren, mit seinem Auto Europa. Seine Reise führt ihn von Bonn über Frankreich nach Santiago de Compostela, wo seine einzige Tochter vorübergehend studiert und schließlich nach Porto, der Heimatstadt Marias. In dem Roman, der in 14 Kapitel unterteilt ist, wird in langsamer und nachdenklicher Weise von innerer Unzufriedenheit erzählt, von Aufbruch und der Suche nach Sinn und Glück. Zwischen den Kapitel, die die Hartmuts Gegenwart beschreiben, finden sich mit Jahreszahlen überschriebene Kapitel aus Hartmuts Vergangenheit: 1973, 1978, 1980, 1985, 1991 und 1998. Der Roman ist durch seine analeptische Struktur gekennzeichnet, die Erinnerungen nehmen große Teile der Handlung ein und setzen die Gegenwartsebene, die Reise Hartmuts, in einen reflexiven Zusammenhang zu seiner Vergangenheit.
Hartmut Hainbach ist Ende 50 und unterrichtet seit 15 Jahren Sprachphilosophie an der Universität in Bonn. Mit seiner Frau Maria Antonia Pereira, einer gebürtigen Portugiesin, mit der er seit 20 Jahren verheiratet ist, führt er seit zwei Jahren eine Fernbeziehung, die aus Kurzbesuchen und gelegentlichen Telefonaten besteht. Maria ist zwei Jahren zuvor aus der gemeinsamen Wohnung in Bonn nach Berlin gezogen, wo sie in einem Theaterensemble für den eigenwilligen Regisseur Falk Merlinger arbeitet, mit dem sie früher eine sexuelle Beziehung hatte. Hartmut und Maria haben eine gemeinsame Tochter, Philippa, die in Hamburg Ernährungswissenschaften studiert und den Sommer in Santiago de Compostela verbringt, um Spanisch zu lernen. In zahlreichen Rückblicken wird unter anderem von Hartmuts Studienjahren in Amerika erzählt, von seinem damaligen Professor Stan Hurwitz und dessen Frau Marsha.
Als Hartmut von Peter Karow, einem Bekannten seiner Frau, ein Jobangebot als Programmleiter in dessen kleinem Verlag in Berlin bekommt, steht er vor einer wichtigen Entscheidung, die sein Leben verändern könnte. „Seitdem sitzt in der Fracht seiner Gedanken ein blinder Passagier und verrät sich durch vorlaute Fragen. Warum nicht? Was ist so großartig an seiner Bonner Einsamkeit, dass er sie nicht aufgeben kann?“ (S. 35). Nach dem Bewerbungsgespräch in Berlin trifft er sich mit Maria zum Essen, verschweigt ihr jedoch das Angebot, da er erst für sich selbst eine Entscheidung treffen möchte. In einer Analepse erinnert sich Hartmut an einen ein Jahr zurückliegenden „große[n] Streit“ (S. 44) der beiden , bei dem es um die Situation der getrennten Wohnungen, ihre Gefühle, die vielen Missverständnisse und die Kommunikation rund um Marias Entscheidung nach Berlin zu ziehen und die letzten zwei Jahre ging. Der Streit, den sie während einer Autofahrt hatten, eskalierte so sehr, dass Hartmut beinahe einen Unfall verursacht hätte, als er absichtlich auf die Gegenspur gelenkt hat. Maria hatte ihm Unverständnis vorgeworfen, und dass sie sich fortlaufend rechtfertigen müsse:
„‚Du tust so, als würdest du dich für meine Arbeit interessieren, aber in Wirklichkeit gilt dein Interesse ausschließlich der Frage, wann ich sie an den Nagel hänge. […] Neulich hab ich gedacht, es gibt so viele Dinge, die ich gerne mit dir teilen würde. Von denen ich gerne erzählen würde, aber jedes Mal sehe ich schon vor dem ersten Satz den Verlauf des Gesprächs vor mir. Ich weiß genau, wo du einhaken wirst. Sobald ich von Schwierigkeiten spreche, machst du dir Hoffnungen. Wenn ich von Problemen berichte, ernte ich kein Verständnis, sondern bestätige deine Meinung, den falschen Schritt getan zu haben. Außerdem fühle ich mich augenblicklich schlecht, weil ich dir Hoffnungen mache, die ich dann wieder enttäuschen muss. Das ist das Zweite: Permanent zwingst du mich in die Rolle derjenigen, die unsere Ehe gefährdet, indem sie ihre eigenen egoistischen Pläne verfolgt‘“ (S. 62). Maria beschreibt das grundsätzliche Dilemma, in dem sie steckt, dass nämlich ihre ersten Ehejahre durch die Berufspläne ihres Mannes dominiert wurden. Sie sind nach Bonn gezogen, weil er einen Ruf an die Universität erhalten hatte, sie musste sich neben der Kindererziehung mit der Honorartätigkeit als Portugiesischlehrerin begnügen. Im Ehediskurs läuft aber nur ihre neuerliche berufliche Verwirklichung unter dem Stichwort des Egoismus.
Hartmut wiederum leidet unter dem Auszug seiner Frau und Tochter und ist verletzt, dass Maria die räumliche Trennung von ihm in Kauf nimmt. „Und er hasste es! Seine Frau warf ihm vor, beleidigt zu sein, weil er darunter litt, sie nicht häufiger zu sehen. Was als Nächstes? Würde sie ihn eine Memme nennen, weil er sie liebte?“ (S. 63). Nach dem Streit rauchen die beiden einen Joint, um die anschließende Hochzeit von Hartmuts Neffen zu überstehen. Für Hartmut ist es der erste und bis zum Ende der Erzählung auch der einzige Kontakt mit Drogen, während Maria hin und wieder neben Zigaretten auch Marihuanaraucht, um sich zu entspannen. Der Konflikt spielt seitdem eine große Rolle in Hartmuts Leben, und er denkt oft daran zurück:
„Seit dem Streit vor einem Jahr weiß er manchmal nicht, was sie beide meinen mit dem, was sie sagen. Ob sie ehrlich miteinander sind und inwiefern sie mehr von ihren Zusammenkünften erwarten, als dass sie gut gehen. Was erstaunlich häufig geschieht. Er müsste lügen, wollte er behaupten, dass die regelmäßigen Fahrten nach Berlin keine Bereicherung darstellten, und trotzdem: Streitvermeidung als oberstes Prinzip einer Ehe garantiert nicht Harmonie, sondern Stagnation. Wahrscheinlich muss man große Angst vor etwas anderem haben, um darin das kleinere Übel zu sehen“ (S. 39f).
Hierin zeigt sich seine Angst vor dem Ende der Ehe, die auch darin zum Tragen kommt, dass er mehrfach von einer Rettung seiner Ehe spricht. Später stellt er rückblickend fest:
„Gemeinsam einen Joint zu rauchen, sieht im Rückblick wie ein Akt der Versöhnung aus, in Wirklichkeit war es das, was sie stattdessen gemacht haben. Nicht der Beginn einer Aussprache, sondern der Weg um sie herum. Wenige Tage später sind sie in den Urlaub gefahren, und es ging einfach weiter: Harmonie auf Zehenspitzen, eine nervöse Verliebtheit, der sie beide nicht widerstehen wollten. Es war beinahe wie in den ersten Tagen. Irgendwann erschien es überflüssig, noch einmal auf den Vorfall zurückzukommen. Wie hoch der Preis dafür war, haben sie erst später gemerkt, jeder für sich, und seitdem stottern sie ihn ab“ (S. 369).
Hartmuts frequente Reflexionen sowohl seiner eigenen Handlungen als auch die seiner Mitmenschen führen zu derartigen Einsichten in die Fehler, die er und Maria während ihrer Ehe gemacht haben.
Nach seiner Rückkehr aus Berlin informiert sich Hartmut in er Universitätsverwaltung über die Schwierigkeiten, die mit einem Berufswechsel einhergehen würden. Nach einem gemeinsamen Essen mit der zuständigen Mitarbeiterin Katharina Müller-Graf kommt es auf einem Parkplatz zu einer sexuellen Annäherung, die Katharina allerdings nach einigen Minuten wieder abbricht. „Wir schulden einander nichts, wollte er sagen und schüttelte den Kopf. Es war bereits etwas falsch an der Art, wie sie jetzt versuchten, alles richtig zu machen, nicht enttäuscht oder gekränkt zu sein, weder Scham noch Reue zu empfinden. Machen wir uns nichts vor, dachte er grimmig, Prinzipientreue ist die Tofuwurst unter den Tugenden. Fleischlos und fade“ (S. 139).
Nach diesem Vorfall bricht Hartmut am nächsten Morgen spontan zu seiner Besinnungsreise auf; die erste Station ist Paris, dort will er Sandrine Baubion besuchen, eine ehemalige Geliebte von ihm. Es handelt sich also in mehrfacher Hinsicht um eine Erinnerungsreise, es geht um verpasste Chancen, um getroffene Lebensentscheidungen und die Frage, ob es eine gemeinsame Zukunft mit seiner Ehefrau geben kann. Auch nach der Hochzeit mit Maria und ihrer ungeplanten Schwangerschaft mit Philippa ist Hartmut einige Male unter einem Vorwand nach Paris gefahren und hat seine Frau mit Sandrine betrogen. Von seinem Besuch bei ihr verspricht er sich ein Stück weit Klarheit über sich selbst und den Rat von Sandrine bezüglich seiner Entscheidung eines Jobwechsels. Dort angekommen, müssen die beiden allerdings feststellen, dass die ehemalige Anziehungskraft zwischen ihnen nicht mehr besteht. Sandrine erzählt von einem leichten Schlaganfall und Hartmut von seinen Gedankenspielen, das Haus in Bonn zu verkaufen, den Job im Verlag anzunehmen und zu Maria nach Berlin zu ziehen. Sandrine rät ihm, diesen Schritt zu wagen. Als die beiden sich voneinander verabschieden, tun sie es in der Gewissheit, sich nie wiederzusehen.
Statt nach Bonn zurückzukehren, fährt Hartmut weiter in den Süden Frankreichs, um dort seinen alten Freund Bernhard Tauschner zu besuchen, der seine Professur aufgegeben hat, um in Frankreich ein Weinlokal zu eröffnen. Er verbringt einige Tage in Bernhards Haus gemeinsam mit ihm und seiner Freundin Géraldine. Dort fängt er an, die Arbeit seines Doktoranden zu lesen, sinniert mit Bernhard über die Strukturen und Möglichkeiten des Lebens und die Angepasstheit an Normen und willigt in Bernhards Bitte ein, dessen Trauzeuge zu werden, wenn er und Géraldine im nächsten Jahr heiraten.
Immer wieder bricht in Hartmut eine tiefe Wehmut hervor, die sich aus der Spannung zwischen Resignation über seine aktuelle Lage und einer Sehnsucht nach Vergangenem und scheinbar Verlorenem ergibt. So beobachtet er beispielsweise eine junge Familie am Strand und erinnert sich an seine eigenen Familienurlaube zurück: „Am liebsten würde er zu den Eltern hingehen und sagen: Besser wird’s nicht mehr. Genießt jede Minute“ (S. 206). Damit verbunden ist auch sein Zynismus: „‚Menschliches Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind.‘ […] ‚Es ist ein guter Witz. Und du hast ihn sehr gut erzählt.‘ Bitte sehr, er ist überhaupt nicht so negativ, wie Maria oft behauptet. Der Witz gefällt ihm wirklich. Sehr pfiffig. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, haha! Richtig super wird es natürlich erst, wenn die Frau auch noch geht. Da sitzt man abends im Wohnzimmer und kann sich kaum halten vor guter Laune“ (S. 38).
Hartmut erläutert Bernhard gegenüber auch seinen frühen Wunsch, Professor zu werden und seinen weiten und schwierigen Weg dorthin. Im Gegensatz zu seiner Schwester Ruth wollte Hartmut nicht schnell heiraten und Kinder kriegen, sondern hat sich bewusst für diesen akademischen Lebensweg entschieden. Seiner Schwester gegenüber hat er einmal erklärt, dass er einen großen Teil seiner selbst aufgeben würde, wenn er nicht mehr unterrichten würde. Während des Aufenthalts bei Bernhard Tauschner beschließt Hartmut, weiter nach Portugal zu fahren, um dort seine Tochter Philippa zu besuchen, zu der er gerne eine innigere Beziehung hätte, als dies nach Philippas Auszug der Fall ist. Als er auf dem Weg in einem Hotel übernachtet, tritt ein Tinnitus auf, mit dem er bereits früher zu kämpfen hatte. In seinem Versuch, das Ohrengeräusch loszuwerden, redet er mit ihm, betrinkt sich und geht schließlich hinunter in die Bucht, in der er tanzt und durch das Wasser watet. Dabei wird er von Marijke gesehen, einer jungen Frau, die am Abend mit ihrem Freund in der Bar war und dort ihrerseits von Hartmut beobachtet wurde: „Was sie besprechen, kann Hartmut nicht verstehen, aber offenbar sind sie in einem Beziehungsstadium, in dem jeder sich nur mit Entscheidungen wohl fühlt, die vorher wortreich abgestimmt wurden. Mangelnder Begriff von der kommunikativen Erschöpfung, die das nach sich zieht. Das Ausbuchstabieren von Gründen, aus denen nichts weiter folgt als der nächste Begründungszwang. Denn das ist es, was Kommunikation tut, sie produziert die Notwendigkeit von noch mehr Worten“ (S. 265). Hartmut nutzt also seine Reisebeobachtungen zur Reflexion der eigenen Situation.
Als Hartmut sich am nächsten Morgen zu seinem Auto begibt, steht Marijke plötzlich hinter ihm und bittet ihn, sie mitzunehmen, weg von ihrem Verlobten, den sie noch schlafend im Hotel zurückgelassen hat. Hartmut willigt ein. Während der Autofahrt fragt Marijke ihn, wie er sich mit drei Worten beschreiben würde; Hartmut wählt „liberaler nachdenklicher Philosoph“ (S. 281). Auf Hartmuts Rat hin ruft Marijke später ihren Freund an, fährt aber weiterhin bei Hartmut mit. Sie sprechen über Liebesbeziehungen: „‚Der eine nennt es Freiraum, und dem anderen tut es weh‘, sagt sie und schiebt nachdenklich die Unterlippe vor. ‚Der eine nennt es Liebe, und der andere fühlt sich seines Freiraums beraubt. Richtig?‘ ‚Offenbar hast du schon eine sehr erfahrene geistige Stufe‘“ (S. 288). Aufgrund einer Autopanne müssen sie in einem Hotel übernachten, trotz einer gewissen Spannung schlafen sie aber in getrennten Zimmern.
Es ist ein Rückblick auf das Jahr 1991 eingeschoben, in der Maria und Hartmut in Portugal ihre Eltern besuchen und dabei über Marias postnatale Depression und die Möglichkeit eines zweiten Kindes reden. Während Hartmut gerne ein weiteres Kind hätte, fürchtet sich Maria vor einer möglichen Wiederholung ihrer Depression und einer etwaigen Überforderung. Im Gespräch wird ebenfalls deutlich, dass Hartmut Maria für undankbar hält, da sie in keiner der Städte, in die ihn seine Lehraufträge führen, zufrieden zu sein scheint. Ebenso wird während des Romans mehrfach deutlich, dass Hartmut von Maria Dankbarkeit für seine finanzielle Unterstützung erwartet.
Als Hartmut am nächsten Morgen in dem Hotel erwacht, ist Marijke schon fort und hat nur einen Zettel hinterlassen, woraufhin sich Hartmut alleine weiter auf die Reise nach zu seiner Tochter begibt. In Santiago de Compostela angekommen, erinnert er sich an einen früheren Besuch in einer Kirche, als Philippa noch ein Kind war. Obwohl weder Maria noch er gläubig sind, hatte er entdeckt, wie Maria aus einem Beichtstuhl getreten ist. Auch wenn sie ihm einige Jahre später davon erzählt hatte, ist dieser heimliche Beichtgang ein Beispiel für die vielen Geheimnisse und unausgesprochenen Unstimmigkeiten, die Maria und Hartmut voreinander haben.
Hartmut trifft sich mit Philippa in einem Café, wo sie ihm eröffnet, dass sie lesbisch ist. Hartmut reagiert vermeintlich gelassen und sucht dann die Waschräume auf, wo er sich seine Unsicherheit eingesteht: „Dann richtet er sich auf und schaut in den Spiegel. Fühlt tatsächlich eine Art von Entschlossenheit, ohne zu wissen, wozu. Zur Verstellung wahrscheinlich. Zur Wiederholung einer Erfahrung, die er in seinem Leben oft gemacht hat – dass man sich so lange verstellen kann, bis das Wissen darum verschwindet und die gewünschte Haltung zurückbleibt“ (S. 348). Er erfährt auch, dass Maria bereits seit einem Jahr eingeweiht ist, ihm aber nichts verraten sollte. Am nächsten Morgen frühstückt Hartmut gemeinsam mit Philippa und ihrer zurückhaltenden Freundin Gabriela. Während des Frühstücks ruft Maria ihn an und er erzählt ihr, dass er sich in Spanien und in der Gesellschaft seiner Tochter und ihrer Freundin befindet. Die beiden reden kurz über ihre Tochter und Maria plant, den nächsten Flug nach Portugal zu buchen, sobald ihre Arbeit dies zulässt. In Portugal will die Familie sich bei Marias Eltern treffen, da Marias Vater ein Herzleiden hat und sein Gesundheitszustand zurzeit bedenklich ist.
In einer weiteren Analepse in das Jahr 1998 wird der Tod von Hartmuts Vater und Hartmuts Umgang damit erläutert. Aufgrund des schwierigen Verhältnisses zu seinem Vater, das mit Schlägen in der Kindheit begann, fällt es Hartmut vermeintlich leichter den Todesfall zu verarbeiten als seiner Schwester Ruth oder seiner Mutter, die wie sein Vater während des Romans namenlos bleibt, also keine individuellen Züge erhält.
Während der Fahrt nach Portugal erzählt Hartmut Philippa von dem großen Streit zwischen ihm und Maria, woraufhin Philippa ihm vorwirft, nicht zu Empathie fähig zu sein. Während dieses Gesprächs wird Hartmuts bewertender Blick auch seiner Tochter gegenüber offensichtlich: „Er könnte sie sich als Sprecherin der Grünen vorstellen. […] Man kann ihr eine Weile folgen, ohne sich zu langweilen, und irgendwann bemerken, wie einseitig sie die Dinge betrachtet“ (S. 400). Ebenfalls deutlich wird die Distanz zwischen Maria und Hartmut, als Hartmut durch Philippa erfährt, dass Maria in der Zeit in Bonn aus Langeweile und Frustration triviale Sendungen, Filme und Serien gesehen hat, was nicht ihrem Naturell entspricht. Dass Maria nicht ihm aber Philippa von ihren Sorgen erzählt hat, verdeutlicht die fehlende Kommunikation zwischen den beiden Ehepartnern. Als die beiden an einer Raststätte Halt machen, ruft Harmut einen Kollegen in Bonn an, um ihm die Doktorarbeit des chinesischen Studenten, die er im Gepäck hat, mit der Begründung zu übertragen, dass er seine Professur niederlegen wolle. Kurz danach kommt es zu einem Streit zwischen Philippa und zwei deutschen Campern, die an der Raststätte ihr Lager aufgeschlagen haben. Der Mann bezeichnet Philippa unter anderem als „Flittchen“ (S. 414) und verlangt, dass sie „‚mal was hinter die Ohren bekomm[t]‘“ (S. 417), woraufhin Hartmut zunächst den Tisch der Camper umwirft und sich anschließend mit dem Camper prügelt. Als Hartmut und Philippa weiterfahren, ist der Streit zwischen ihnen vergangen und einer angenehmeren Stimmung gewichen, die auch während des Aufenthalts in Portugal bestehen bleibt.
Zwei Tage später holt Hartmut Maria von einem weiter entfernten Flughafen ab, und beide haben Freudentränen in den Augen: „Die merkwürdige Sensation des Altbekannten. Marias Duft und die vertraute Gestalt. Plötzlich ist alles da, was er in den letzten zwei Wochen vermisst hat. Er kann sie nur an sich drücken und staunen. […] Dann verwischt das Bild, und er muss ein paar Mal blinzeln, bevor er seine Frau anschauen kann“ (S. 452). Auf der Rückfahrt gestehen die beiden sich ein, vieles nicht voneinander zu wissen.
Hartmut legt spontan einen Stopp am Meer ein, wo sie sich auf eine Bank setzen und endlich über Hartmuts Arbeitsangebot und seine Überlegungen reden. Hierbei stellt sich heraus, dass Maria nicht nur von Peter Karows Jobangebot wusste, sondern ihm sogar vorgeschlagen hatte, Hartmut als Mitarbeiter in Betracht zu ziehen. Maria erklärt Hartmut ihren Entschluss, nach Berlin zu ziehen: „‚Ich brauche kein großes Haus, und ich muss nicht jede Nacht neben meinem Mann einschlafen, aber ich kann nicht ohne das Gefühl leben, meine Tage sinnvoll zu verbringen. Wenn du damals gesagt hättest, entweder ich bleibe in Bonn oder wir trennen uns, dann hätten wir uns getrennt. So weit war ich‘“ (S. 465). Die ehrliche und offene Kommunikation ist für Hartmut ungewohnt und auch unbehaglich, er „hat Mühe, den Überblick zu behalten. Wo sie sich befinden, was sie einander sagen und was daraus folgt. Das Gespräch wird desto unklarer, je ehrlicher sie miteinander sind“ (S. 466). Schließlich teilt Maria Hartmut mit, dass Peter Karow sein Angebot zurückgezogen hat und Hartmuts Option, in seinem Verlag zu arbeiten, nicht mehr besteht. So stehen sie zwar scheinbar wieder am Ausgangspunkt, sind sich aber beide einig, etwas ändern zu wollen, um die räumliche Distanz aufzuheben. Hartmut gibt Maria zu verstehen, dass er jetzt einige Dinge über sie weiß, die er zuvor nicht wusste, womit er unter anderem auf die trivialen Sendungen anspielt, und dass sie dadurch nicht mit ihrer Beziehung fortfahren können wie bisher. Er überrascht seine Frau schließlich, indem er sich seiner Kleidung entledigt und ins abendliche Meer geht, um zu schwimmen. „Vielleicht musste er dreitausend Kilometer fahren nur für diesen Moment. Um einmal in einem anderen Element zu treiben, ohne Ziel und ohne Angst. Endlich, denkt er. Streckt Arme und Beine aus und betrachtet den Mond. Die Fliehkräfte ruhen. Er schwimmt“ (S. 474). Der Roman endet also offen. Was aber erreicht ist, ist eine gründliche Aufarbeitung der Vergangenheit und Gegenwart – die Zukunft ist nun frei von der titelgebenden Fliehkraft, also der Trägheit, die Hartmut bislang an seine berufliche und private Existenz gebunden hat. Dass er nun schwimmt, wie es im letzten Satz heißt, verweist darauf, dass er sich nicht mehr – von der Fliehkraft gebannt – im Kreis bewegt. 

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Thematische Aspekte zu Fliehkräfte [ ↑ ]

Provinz und Großstadt
Im Roman Fliehkräfte steht die Thematik der Provinz und Großstadt im Fokus, denn Bonn erscheint für Maria im Gegensatz zu Berlin äußerst provinziell. Das Kultur- und Theaterleben, das ihr Wirkungsmöglichkeiten bietet, findet sie nicht in der Rheinstadt, sondern nur in Berlin. Hartmut hingegen kann das Dilemma, das seine örtliche Gebundenheit an Bonn für seine Frau darstellt, nicht nachvollziehen. Zudem genießt er die Besuche in Marias Heimatstadt Rapa; Hartmut blüht hier regelrecht auf und erlebt die Aufenthalte als revitalisierende Auszeit. Auch er kennt aus seiner Studentenzeit eine latente Ruhelosigkeit und eine unspezifische Sehnsucht nach Veränderung, Ausbruch und Abenteuer, wenn er vom Mississippi aus Mark Twain-Geschichten träumt und sich fragt: „Kann man sich nach einem Ort sehnen, an dem man nie gewesen ist?“ (S. 19).

Liebe, Partnerschaft und Kommunikation
In dem Roman Fliehkräfte spielt die Kommunikation eine Schlüsselrolle. Hartmut und Maria haben zahlreiche Geheimnisse voreinander und verstehen einander auch nicht ohne jegliche Mühe; vielmehr ist sowohl die Beziehung als auch die Kommunikation zwischen ihnen als etwas gezeichnet, worum sie kämpfen müssen. Eine spontane und ehrliche Kommunikation ohne ein vorheriges Abwägen der Worte erweist sich hingegen als schwierig: „Das Gespräch wird desto unklarer, je ehrlicher sie miteinander sind“ (S. 466). Während Hartmuts Reise nach Spanien beobachtet er, wie Marijke und ihr Freund miteinander umgehen und beginnt, über Kommunikation zu sinnieren. „Das nennt man Kommunikation, von lateinisch communicare: gemeinsam machen, teilen, mitteilen, Anteil haben. Optimisten sprechen auch von Zwischenmenschlichkeit, ohne die beängstigende Größe dessen zu beachten, was dazwischen liegt“ (S. 365). Hier zeigt sich Hartmuts Unbehaglichkeit gegenüber der Interaktion und ein beinahe angstvoller Respekt vor dem Innenleben anderer Menschen, aber auch seine fehlende Selbstreflexion, indem er diese Überlegungen nicht auf seine eigene Beziehung anwendet und die fehlende Kommunikation zwischen ihm und Maria erkennt. Ironischerweise befindet er sich zum Zeitpunkt dieser Überlegung auf einer wichtigen Reise, die er seiner Ehefrau verschweigt. Auch der Umstand, dass Marias Laune mit dem Abschied von ihm steigt, verweist auf Unstimmigkeiten in der Beziehung: „Wenn sie in der richtigen Stimmung ist, kann Maria herrlich unkompliziert sein. Leider sind es die Abschiede von ihm, die sie in die richtige Stimmung versetzen“ (S. 42). Die schon bestehende räumliche wie emotionale Distanz zwischen Maria und Hartmut wird dadurch vergrößert, dass ihre Gespräche oft an der Oberfläche bleiben und nicht die Themen anschneiden, die für sie relevant sind. Die unzureichende Kommunikation erweist sich somit als der Nährboden für ihre Probleme.

Geschlechterrollen
In Fliehkräfte fällt besonders die hohe Zahl der Frauenfiguren und die vergleichsweise niedrige Zahl der Männerfiguren ins Auge. Es sind vor allem Frauen, die Hartmut Hainbach in seiner Vergangenheit und seiner Gegenwart beeinflussen. So ist seine Geliebte Sandrine für eine lange Zeit auch eine wichtige Freundin und Quelle der Inspiration für ihn. Marsha Hurwitz, die Frau seines ehemaligen Professors und Mentors, ist als Mutterfigur gezeichnet: Sie versorgt Hartmut mit Naschereien und gibt ihm Ratschläge im Umgang mit anderen Menschen.Hartmuts Umgang mit seinen Ex-Freundinnen Anne und Tereza ist durch fehlende Empathie seinerseits gekennzeichnet. Mit der Arbeitskollegin Katharina Müller-Graf kommt es zu einer sexuellen Annäherung, und über Geschlechtsverkehr mit Marijke Meulenbeld, die im Alter seiner Tochter ist, denkt Hartmut zumindest nach: Es würde seiner Meinung nach in die „Poesie des Augenblicks“ passen (S. 285). Bedingt durch die Homosexualität seiner Tochter kommt mit deren Freundin Gabriela – neben Maria und Philippa – eine weitere weibliche Figur zu Wort, die Hartmut mit seinem Geschlechterparadigma konfrontiert. Hartmuts Beziehungen zu Frauen ist sexualisiert, sie sind ihm Mutter und Geliebte und damit idealerweise auf ihn und seine Bedürfnisse ausgerichtet. Hartmut Hainbachs Frauenbild zeigt sich unter anderem in seinem Ausspruch: „Warum stecken Sie sich Ihre gerechten Strukturen nicht einfach in den Arsch! Seine eigenen Worte. Zu einer Frau!“ (S. 32).
In zahlreichen Situationen wird eine Distanz Hartmut Hainbachs zu den Frauen ersichtlich; etwa wenn er herausfindet, dass Maria heimlich triviale Sendungen gesehen hat oder wenn ihn das Verhalten seiner Ex-Freundinnen über deren Motive rätseln lässt. Ein Vergleich der Dialoge zeigt, dass Hartmut fehlende Informationen in Gesprächen mit Männern durch Fragen einholt, während er in Gesprächen mit Frauen oft passiv bleibt, um im Anschluss über Eventualitäten zu philosophieren. So stellt er Bernhard in Frankreich zahlreiche Fragen, während er Tereza beispielsweise nicht nach dem Grund für ihre Bitte fragt, sie zu dem Arzttermin für ihre Abtreibung zu begleiten. Auch gegenüber seiner Ehefrau vermeidet Hartmut unangenehme Fragen, was zu den Schwierigkeiten in ihrer Beziehung führt.

Gescheiterte Lebensentwürfe und Stagnation
In dem Roman Fliehkräfte werden sowohl Hartmuts gescheiterter Lebensentwurf als auch seine Unsicherheit bezüglich seiner Zukunft aufgezeigt. Er ist sich nicht sicher, ob er seinen Beruf weiter ausüben möchte, da er von den Entwicklungen der Universitäten seit der Bologna-Reform geradezu angewidert ist. Eine Alternative, von der er überzeugt ist, bietet sich jedoch auch nicht. Seine gesamte Lebenssituation stimmt ihn unglücklich, ohne dass er weiß, wo er für eine Verbesserung ansetzen müsste. Sein eigentlicher Lebensentwurf, als Professor mit seiner Familie in einem Haus zu leben, ist gescheitert: Seine Tochter ist ausgezogen und seine Frau wohnt in einer anderen Stadt und auch die Universität hat sich als letztlich als Enttäuschung entpuppt. Hartmut gibt seiner Frau Maria die Schuld an der derzeitigen Wohnsituation wie auch an den Streitereien, die für ihn Konsequenz ihres Auszugs sind: „Jedes Mal wird seine Frau beim Abschied auf eine Weise anhänglich, die ihm ebenso wohltut, wie er sie ärgerlich findet. Das alles sind die Konsequenzen ihres Umzugs!“ (S. 41). Seine Unzufriedenheit darüber, wie sich sein Leben entwickelt hat, zeigt sich in der zynischen Aussage „Unser Leben ist die Parodie unserer Träume. Er meinte das ganz genau so“ (S. 457).
Zwar denkt Hartmut darüber nach, dass das Leben aus Phasen besteht und er demnach jederzeit aus gewohnten Mustern ausbrechen und mit etwas Neuem beginnen kann; dennoch bleibt er zunächst in diesen Mustern gefangen. So entscheidet er sich schon in seiner Jugend für seinen Beruf und weicht jahrzehntelang nicht davon ab, ohne die Aktualität dieses Wunsches zu hinterfragen. In seine Beziehungen lässt er sich hineintreiben und führt sie ohne Innehalten. Auch die sofortige Hochzeit mit Maria nach ihrer Schwangerschaft ist Teil von Hartmuts Kapitulation vor den Fliehkräften, die ihn und sein Leben zu tragen scheinen. Erst nach seiner Reise erkennt Hartmut, dass er den Fliehkräften (zumindest vorerst) entkommen ist und bereit ist, sein Leben bewusst selbst in die Hand zu nehmen.
An dieser Stelle ist es lohnenswert sich die beiden Titel der Doppelromane Fliehkräfte und Gegenspiel genauer zu betrachten. Titelgebend für Thomes 2012 erschienenen Roman sind die physikalischen Fliehkräfte, die Hartmut durch, aber auch aus dem Leben führen und seine vermeintlich sichere Position ins Schwanken bringen. Gegenspiel ist daher das Pendant zu Fliehkräfte. So lässt sich das im Roman thematisierte Gegenspiel nicht nur auf die unterschiedlichen Perspektiven von Maria und Hartmut beziehen, sondern auch strukturell, da sich beide, Maria und Hartmut keine Stabilität, sondern vielmehr Instabilität geben, sie sind Gegenspieler.

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Formale Aspekte zu Fliehkräfte [ ↑ ]

Zeit und Analepsen
Im Roman Fliehkräfte gestaltet sich die Zeitstruktur des Romansachronologisch. Die Handlungszeit umfasst die Jahre in Hartmuts Leben von 1973 bis in die 1990er Jahre hinein. Oft gibt die Kapitelüberschrift die Jahreszahl der folgenden Inhalte an. Zuweilen sind die Zeitsprünge aber nicht als solche gekennzeichnet, sodass den LeserInnen der Wechsel erst im Nachhinein offenbar wird. Zweck dieser zahlreichen Sprünge in der Zeit ist die Reflexion der Lebenswege der Figuren. So erfahren die LeserInnen beispielsweise aus Hartmuts Zeit in Amerika, wie dieser seine Studienzeit erlebt hat und wie sich der Wunsch in ihm gefestigt hat, Professor zu werden. Zudem werden mithilfe der Zeitwechsel Details aus Hartmuts Beziehungen zu seinen Mitmenschen enthüllt, die sich in der Retrospektive mit anderen Ereignissen verknüpfen lassen und diese verständlicher machen. Diese Verknüpfungen trifft Hartmut teilweise auch selbst, indem er Momente der Gegenwart mit Geschehnissen der Vergangenheit assoziiert. In Anbetracht des Fokus auf Beziehungen und Lebensentscheidungen trägt das technische Mittel der Zeitsprünge somit nicht nur zur Spannung bei, sondern auch zur Erläuterung und Erklärung vieler Entscheidungen und Verhaltensweisen von Harmut.

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Pressespiegel zu Fliehkräfte [ ↑ ]
Nachdem Stephan Thomes Erstlingsroman Grenzgang von der Presse weitgehend positive Resonanz erfuhr, gehen die Meinungen zu seinem Folgeroman Fliehkräfte in den Feuilletons weit auseinander. Judith von Sternburg zufolge kann Fliehkräfte nicht mit seinem Vorgänger mithalten: „[W]ar ‚Grenzgang‘ […] noch kompakt […] strukturiert, fliegt das neue Buch schier auseinander in eine Unzahl von Gesprächen und Details“ (Frankfurter Rundschau, 05.10.2012). Andere Literaturkritiker wie Madlen Reimer bewerten dagegen sowohl die Struktur als auch die Erzählweise positiv. Reimer konstatiert, dass in dem Roman „verschiedene Bedeutungsebenen beeindruckend verwoben [werden]“. Dies werde durch die „raffinierte Erzählstruktur“ bewirkt (Literaturkritik.de, Oktober 2012). Stefan Gmünder stimmt in diesem Punkt mit ihr überein, kritisiert aber gleichzeitig den Inhalt des Romans: „[S]o stabil die Konstruktion des Romans auf der formalen Ebene ist, so fragil bleibt sie inhaltlich. […] So bleibt dieser Roman ebenso unentschieden wie seine Hauptfigur“ (Der Standard, 06.10.2012).
Ähnlich ambivalent wie die Bewertungen der Struktur zeigen sich die Einordnungen der Literaturkritiker bezüglich des Genres. Während Thomas Wild Fliehkräfte als „Bildungsroman“ (Tagesspiegel 28.09.2012) bezeichnet, liest Sandra Kegel das Werk als „umgekehrte[n] Bildungsroman [...], nicht als Ent-, sondern als Abwicklung einer Biographie“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.09.2012). Stefan Gmünder spricht von einem „Reiseroman“ (Der Standard, 06.10.2012) und Richard Kämmerlings nennt Thomes Werk einen „Midlife-Crisis-Ehe-Roman“ (Die Welt, 06.10.2012).
Laut Kämmerlings hat Thome mit Hartmut den „Archetyp eines Biedermanns“ entworfen, der „das Handeln komplett verlernt“ hat (Die Welt, 06.10.2012). Wie auch andere RezensentInnen kritisiert er, dass der Roman zu wenig Handlung beinhaltet, und bezeichnet Hartmut Hainbachs Situation als „läppischen Grundkonflikt“. Cammann zufolge bedient sich Thome zu sehr stereotyper Vorstellungen und Klischees: „Portugiesen sind locker und nicht so verkopft, Professorenkollegen voller Dünkel, der chinesische Doktorand ist ein penetranter Idiot. Natürlich hat sein Vater ihn ein bisschen geschlagen, und Frauen sind das ewig Andere“ (Die Zeit, 24.09.2012). Zudem kritisiert er die von anderen RezensentInnen lobend hervorgehobene Einstellung Thomes zu seinen Charakteren: „Für das Kunststück aber, zugleich einfühlend und distanziert mit seinen oft kindisch wirkenden Figuren umzugehen, fehlen Thome die Fertigkeiten. Es bleibt bei der reproduzierten Binsenweisheit für melancholische Stunden, wie bieder und spießig doch jedes Leben sein kann – und so langweilig wie dieses Buch“ (Die Zeit, 24.09.2012). Thomas Wild beanstandet die Unvollständigkeit einiger Erzählstränge im Roman: „[V]iele Episoden, die voller Bedeutsamkeit eingeführt wurden, [bleiben] blass. […] Das ist vielleicht so im Leben – aber nicht im Leben eines guten Romans“ (Tagesspiegel, 28.09.2012). Die negativen Bewertungen gelten auch für die von anderen Kritikern positiv besprochenen Dialoge, die einen Großteil des Romans ausmachen. So urteilt Richard Kämmerlings, dass Fliehkräfte voller „Lebenskrisenkitsch und pseudotiefsinnige[r] Bewältigungsdialoge“ sei (Die Welt, 07.10.2012).
Thomes Sprache wird von zahlreichen Kritikern aber auch gelobt, darunter von Rainer Moritz, der die „liebevoll ausgemalten Bilder [...] und zahllosen differenzierten Dialoge [...]“ wertschätzt und lobt, dass der Roman „ungewöhnliche, aber nie manierierte Bilder“ enthalte. Für ihn „strahlt ‚Fliehkräfte‘ [sprachliche] Eleganz aus“ (Neue Zürcher Zeitung, 09.10.2012). Meike Fessmann bezeichnet Stephan Thome als „sprachgewandte[n] Autor“ (Süddeutschen Zeitung, 17.09.2012) und lobt die intertextuellen Bezüge zu verschiedenen Autoren und Filmen. Für Rainer Moritz ist Stephan Thome als Erzähler „unaufgeregt und unangestrengt“ und nutzt einen „feinfühlig gehandhabten psychologischen Realismus“ (Neue Zürcher Zeitung, 09.10.2012). Auch Sandra Kegel bezeichnet seine Erzählweise als „realistisch“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.09.2012).
Ganz anders wird Thomes Sprachgebrauch von Alexander Cammann bewertet: „Thomes Sprache [...] erzeugt oft ein Gefühl des Fremdschämens. Pseudopoetische Wolken schweben auf jeder zweiten Seite am Himmel, was ebenso wenig leitmotivisch wirkt wie Hartmuts ständiges Schwitzen, kreischende Möwen oder von Ferne bellende Hunde. Hier wird die Außen- gegenüber der Innenwelt allenfalls simuliert [...]“ (Die Zeit, 24.09.2012). Cammann zufolge enthält der Roman „viele […] nicht zu ignorierende Problemsätze“, die nicht nur eine „Verdruckstheit“ aufweisen, sondern auch ein „Unbehagen“ aufkommen lassen, das „mit jeder Seite [wächst]“ (Die Zeit, 24.09.2012). Ebenso negativ äußert sich Richard Kämmerlings über die von Thome entworfenen sprachlichen Bilder. Für ihn ist die Titelmetapher „an plakativer Ausdrücklichkeit kaum zu überbieten“ (Die Welt, 06.10.2012). Thomas Wild schließlich bezeichnet Thome als „Meister der gefälligen Darstellung“, dessen Erzählung „peinlich genau“ (Tagesspiegel, 28.09.2012) darauf bedacht ist, das Lesen so hürdenlos wie möglich zu gestalten. „Ein genauer Blick, doch ohne tiefere Einblicke.“ Thomes Sprache folgt laut Thomas Wild Konventionen, ohne Perspektiven zu öffnen. „Sie transportiert vieles und transformiert davon nur weniges“ (Tagesspiegel, 28.09.2012).
Auch bezüglich des Romaninhalts variieren die Ansichten der RezensentInnen. So konstatiert Fessmann, dass der Roman „von der Stärke seiner Figuren [lebt], die auch dort individuelle Charaktere sind, wo sie in typische Lebenssituationen geraten“ (Süddeutsche Zeitung, 17.09.2012). Ihrer Meinung nach versteht Thome „Beziehungsprobleme souverän zum Gesellschaftspanorama auszuweiten“ (Süddeutsche Zeitung, 17.09.2012). So begreift Fessmann den Roman als „nostalgische[n] Abgesang auf die Vorzüge der bürgerlichen Lebensform“ (Süddeutsche Zeitung, 17.09.2012). So wird der Roman als „Gesellschaftspanorama der deutschen Bundesrepublik, speziell des akademisch-bürgerlichen Milieus“ gelesen (Die Presse, 07.10.2012). Thomes Figuren werden als nur „knietief“ (Tagesspiegel, 28.09.2012) im Leben stehend wahrgenommen und dabeials „echt und berührend“ (Die Presse, 07.10.2012). Sowohl Kämmerlings als auch Cammann verstehen den Roman als „identitäre Lektüre“ (Die Zeit, 24.09.2012), und Judith von Sternburg sieht in Hartmut Hainbach „ein[en] Jedermann unserer Tage, ein[en] Spiegel, der dem Leser lästig sein kann“ (Frankfurter Rundschau, 05.10.2012). Besonders Thomes Beschreibung der Seelenleben seiner Figuren und sein Fokus auf die Zwischenmenschlichkeit finden großen Anklang bei den Kritikern. Laut Kegel führt Thome die LeserInnen mit einem „geschärften Blick für seelisches Zwielicht“ in die „Abgründe einer typisch deutschen Familie“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.09.2012). „Als unaufgeregter, stiller Erzähler sieht er seinen Helden beim Straucheln zu und erzeugt gerade im Unauffälligen eine eigene Spannung“ (Tiroler Tageszeitung, 05.10.2012), so wertschätzt Jelcic Thomes Haltung gegenüber seinen Charakteren, und Rainer Moritz lobt: „‚Fliehkräfte‘ ist ein meisterhafter Roman“ (Neue Zürcher Zeitung, 09.10.2012).

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Gegenspiel

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Gegenspiel [ ↑ ]
Stephan Thomes 2015 erschienener Roman Gegenspiel ist das Nachfolgewerk seines Romans Fliehkräfte. In beiden Romanen werden unter anderem durch zahlreiche Analepsen die Lebensgeschichten und die Suche nach Selbstverwirklichung der Eheleute Hartmut und Maria erzählt. Im Gegensatz zu Fliehkräfte zeigt Gegenspiel jedoch nicht Hartmuts Eindrücke, sondern ausschließlich Marias Perspektive und Selbstfindung. Aufgrund der inhaltlichen Zusammenhänge werden die Romane häufig auch als Doppelromane verstanden.
Gegenspiel ist in zwei Teile gegliedert, welche wiederum in jeweils neun Kapitel aufgeteilt sind. Die LeserInnen erhalten im ersten Teil zahlreiche Einblicke in Marias Jugend in Lissabon und ihre Studienzeit in Berlin, wohingegen sich der zweite Teil auf ihr Leben als Hausfrau und Mutter, aber auch auf ihre Gegenwart als berufstätige Frau in Berlin fokussiert.
Das erste Kapitel wird mit einer Autofahrtszene eingeleitet. Maria und Hartmut sind auf dem Weg zur Hochzeit seines Neffen, als Maria plötzlich „ihren Tränen freien Lauf [lässt]“ (S. 9). Maria zweifelt an der Beständigkeit ihrer Ehe und gibt dies vor Hartmut offen zu: „‚Wir reden schon eine ganze Weile.‘ ‚Aneinander vorbei. Um einander herum. Was auch immer‘“ (S. 10). Das Ehepaar streitet sich immer heftiger und in der daraus resultierenden Unaufmerksamkeit verursacht Hartmut beinahe einen Unfall, als er willkürlich in den Gegenverkehr lenkt. „Ein langgezogenes Hupen kommt ihnen entgegen. ‚FAHR NACH RECHTS‘“ (S. 18). Die heftige Auseinandersetzung gibt Maria nun noch mehr Anlass, ihre Ehe mit Hartmut zu überdenken, insbesondere seitdem sie vor knapp zehn Monaten zurück nach Berlin gezogen ist, um ihre Tätigkeit am Theater wieder aufzunehmen. Da Hartmut weiterhin in Nordrhein-Westfalen lebt, führen die beiden seitdem eine Wochenendbeziehung und sehen sich nur noch wenig. Marias Zweifel und Gedankengänge bezüglich ihrer Ehe sowie ihres gesamten Lebens stehen im Fokus des Romans und kennzeichnen Marias Gegenwart. Diese Gegenwart wird jedoch immer wieder durch Rückblicke unterbrochen. So führt der Romaneinstieg zwar unmittelbar in das aktuelle Geschehen, jedoch enthüllen sich erst im weiteren Verlauf des Romans die jeweiligen Hintergründe von Marias Lebensgeschichte und -situation.
Maria Antonia Pereira kommt als junge Frau während der Zeit der Hausbesetzungen Anfang der 1980er Jahre nach Berlin-Kreuzberg, und „wusste, dass es gefährlich war, hier zu sein, mitten in einem Konflikt, den sie nicht verstand“ (S. 27). So erlebt sie die oft gewaltsamen Demonstrationen hautnah mit: „Seit Wochen wurde überall von der Demo geredet. Flugblätter lagen in den Kneipen aus, Plakate hingen an den Hauswänden und Banner unter den Fenstern besetzter Häuser“ (S. 30). Dennoch scheint Berlin für Maria ein Ort zu sein, in welchem sie ihre Zukunftspläne eher erfüllen kann als in ihrer Heimatstadt Lissabon. Nach und nach erlernt sie die deutsche Sprache und studiert Theaterwissenschaft an der Freien Universität. Insbesondere das unkonventionelle Studentenleben, welches frei von sozialen Zwängen zu sein scheint, fasziniert sie: „Das Wort Karriere war verpönt, Anwesenheitslisten galten als Zwangsmittel“ (S. 69). Ein wichtiger Aspekt des Lebens ist für die StudentInnen, besonders auch für Maria, Freiheit und Unabhängigkeit: „Das Einzige, wovor man an der Freien Universität echten Respekt hatte, war die eigene Meinung“ (S. 69). Deutlich wird diese Haltung, als Marias Freund Luís zu Besuch in Berlin ist und die beiden trotz großer Vorfreude auf dieses Wiedersehen merken, dass sie unterschiedliche Lebensvorstellungen entwickelt haben. Maria zweifelt an der Beziehung und an ihrem Leben und hätte gerne „einen Entschluss über ihr Leben gefasst, aber sie wusste nicht welchen“ (S. 64).
Maria tritt einer Theatergruppe bei, durch welche sie sich mit dem Studenten und Theaterregisseur Falk Merlinger anfreundet. Falk wird als sehr eigensinnige und rebellische Person dargestellt. Er ist gesellschaftskritisch und möchte dem Publikum anhand seiner Arbeit neue Denkgewohnheiten nahelegen, stößt damit jedoch häufig auf Kritik. Da Maria sich in ihrer aktuellen Wohnsituation nicht mehr wohl fühlt, beschließt sie, in Falks Wohngemeinschaft zu ziehen, wo sie zwar nur geringes Interesse an ihrer Person erfährt, jedoch die Möglichkeit hat, stets das zu machen, worauf sie Lust hat: „Nach einer Stunde ergab die Abstimmung, dass acht Bewohner ihrer Aufnahme in die WG zustimmten. […] [U]nd auf die Frage nach dem Mietvertrag [erhielt sie] ein amüsiertes Schnauben zur Antwort“ (S. 75). Insbesondere Falk fasziniert sie, da „er nicht so war, wie sie sich einen Mann wünschte, sondern so wie keiner, den sie bisher gekannt hatte“ (S. 83). Die beiden gehen eine zwanglose Beziehung ein, die von Streitereien, Sex und Diskussionen über das Leben und Literatur geprägt ist. Neben Falk ist sie mit der Brasilianerin Ana befreundet. „Mit Ana feiert[e] sie die Nächte durch, und wenn sie ihren Freund zu einer Pause überreden konnte, besuchten sie Performances und Konzerte. In den Kellern von Kreuzberg traten Bands auf, deren Mitglieder nicht so taten, als könnten sie ihr Instrument spielen. Das war neu und hieß Punk“ (S. 98). Das ausgelassene Feiern und Konsumieren von Alkohol und Drogen geht mit einem Gefühl von Unbefangenheit einher und Maria merkt, dass „es […] der erste Sommer ihres Lebens [war], den sie nicht in Portugal verbrachte“ (S. 98). Trotz anfänglichen Heimwehs beginnt sie, Berlin mit all ihren Facetten immer mehr zu lieben, insbesondere auch aufgrund der zahlreichen unterschiedlichen Menschen, Lokalitäten und philosophischen Einstellungen, die sie kennen lernt.
Falk und Maria erkennen, dass sie verschiedene Vorstellungen von einer Beziehung haben. Maria möchte neben der kreativen und literarischen Arbeit am Theater und den sexuellen Annäherungen auch gemeinsame Tage am See oder in der Stadt mit Falk verbringen, wohingegen dieser glaubt, Maria versuche, ihm ein konventionelles Leben aufzuzwingen, welches er nicht führen möchte. Auch Ana merkt im Gespräch mit Maria an, dass diese sich in eine passive Position manövriert hat, indem sie Falk bei allen Aufgaben tatkräftig hilft, jedoch wenig von ihm zurückbekommt. Maria macht Falks Misserfolg am Theater für ihre gemeinsamen Probleme verantwortlich und versucht die Beziehung zu retten, wohingegen Ana meint, Maria solle Falk verlassen.
Bei einem Theaterbesuch lernt sie Hartmut kennen, der ihr bei ihrer Magisterarbeit helfen soll und als das komplette Gegenteil von Falk beschrieben werden kann. Die beiden treffen sich aus freundschaftlichen und scheinbar pragmatischen Gründen in einem Café, merken aber schnell, dass sie sich zueinander hingezogen fühlen. Maria möchte den Kontakt zwar abbrechen, da sie sich beide in einer Beziehung befinden, aber Hartmut widerspricht ihr. Er erzählt, dass er „‚zum Wintersemester eine Stelle antreten [muss]‘“ (S. 176), welche sich in Dortmund befindet und seine Karriere an der Universität einleiten wird. Dennoch versucht er, Maria zu einem erneuten Treffen zu überreden.
Der zweite Teil des Romans beginnt mit einem Zeitsprung zu dem Moment, als Maria gerade ihre Tochter geboren hat. Maria fühlt sich überfordert und sieht nur die negativen Aspekte, die mit einer Geburt einhergehen. Sie weiß, dass „jungen Müttern [eigentlich] der Segen ins Gesicht geschrieben [sein müsste]“ (S. 228), spürt diese Gefühle jedoch in keiner Weise, sondern verabscheut ihren Körper und kann keine emotionale Bindung zu ihrem Kind aufbauen. In zahlreichen Rückblicken wird deutlich, dass es eine ungewollte Schwangerschaft war und die Hochzeit mit Hartmut daraufhin sehr schnell erfolgte und somit als Zweckehe erscheint. Erst nachdem sie nach Dortmund gezogen war, „fand sie auf seinem […] Sofa endlich die Zeit, sich in ihren Mann zu verlieben“ (S. 229). Marias Lebenspläne haben sich durch die Schwangerschaft abrupt und von Grund auf verändert. Maria reflektiert später zwar, dass die Entscheidung für eine Familie „die erste eigene Entscheidung seit langem [war]“ (S. 299); sie ist über diesen Schritt zur Umgestaltung ihres Lebens jedoch nur kurzweilig glücklich, denn sie ist sich ihrer ehelichen und familiären Verantwortung bewusst, die sie schnell als Druck und Einschränkung der eigene Wünsche gegenüber empfindet. Resigniert bemüht sie sich, mit ihrem neuen Leben zu arrangieren, denn „was blieb ihr anderes übrig“ (S. 229). Nachdem ihre Kindbettdepression überwunden ist, fängt Maria an, ihr neues Leben strukturiert und gewissenhaft zu leben, obgleich sie weiterhin der Meinung ist, dass sie dort lebt, „wo das Ruhrgebiet ins westfälische Nichts überging“ (S. 278). Hartmuts Karriere an der Universität verläuft derweil genau nach dessen Vorstellungen, obwohl er einen stressigen Alltag hat. Maria hingegen führt in der Provinz ein reines Hausfrauenleben und merkt schnell, dass ihr das Berufsleben fehlt. Die bürgerliche Rollenverteilung zwischen dem arbeitenden Ehemann und der zu Hause bleibenden Ehefrau wird anhand dieser Frauenfigur einer kritischen Reflexion unterzogen. Was dem Mann und seiner intellektuellen Entwicklung und persönlichen Entfaltung zugutekommt, treibt die Frau tief in die Unzufriedenheit. Nichtsdestotrotz redet sie mit Hartmut nicht über ihre Situation und ergreift erst dann die Gelegenheit, wieder ihren selbstbestimmten Weg zu gehen und am Theater in Berlin als Regieassistentin mit Falk zu arbeiten, als Philippa erwachsen ist und für ihr Studium nach Hamburg zieht. Einhergehend mit dieser Entscheidung häufen sich jedoch auch die Eheprobleme mit Hartmut. In einem Gespräch mit einer Arbeitskollegin erzählt Maria von ihren Entscheidungen und Empfindungen: „‚Meinem Mann gegenüber muss ich mich dafür rechtfertigen, dass ich nach Berlin gegangen bin. Wenn ich mit dir rede, guckst du mich schief an, weil ich so lange in Bonn geblieben bin‘“ (S. 300). Daran zeigen sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Narrative, die auf Maria einwirken und die ihr Dilemma aufzeigen. Zum einen findet sich in der Arbeitskollegin die emanzipatorische Wirklichkeit bestimmter Frauen, die sich jenseits bürgerlicher Rollenvorschriften autonom eine (berufliche) Existenz aufbauen und zum anderen mit Hartmut die Stimme des Patriarchats. Interessanterweise unterscheiden sich darin die Männer in Marias Leben nicht – sowohl der bürgerliche Hartmut als auch der anarchische Falk haben Schwierigkeiten den Selbstentfaltungswunsch ihre weiblichen Sexualpartnerin zu akzeptieren.
Die Eheleute sehen sich nur noch am Wochenende und scheinen sich über diese Besuche nicht einmal mehr zu freuen. Gleichzeitig stört Maria aber eben diese Seltenheit ihrer Treffen, da sie nicht gerne alleine ist oder es womöglich nicht mehr gewohnt ist. Sie träumt von einem Familienleben, in welchem sie ihre beruflichen Chancen wahrnehmen kann: „‚Ich hätte gern beides. So wie er immer beides gehabt hat. Es ist ungerecht, dass ich wählen muss‘“ (S. 300). Getrennt voneinander überdenken Hartmut und Maria jeweils ihre Ehe beziehungsweise ihr Leben, ohne jedoch zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen. Maria versucht, Hartmut eine Stelle in dem Berliner Verlag ihres Freundes zu beschaffen, woraufhin Hartmut überlegt, ob er Maria nach Berlin folgen und somit seine Stelle als Professor aufgeben soll. Währenddessen wachsen die Zweifel an der Beständigkeit ihrer Ehe dennoch weiter: „‚Ist es das jetzt?‘, fragt sie, ‚das berühmte Auseinanderleben nach zwanzig gemeinsamen Jahren? In Bonn habe ich mich gelangweilt, aber unserer Ehe ging es besser‘“ (S. 283). Hartmut bewirbt sich bei dem Verlag, erhält jedoch eine Absage. Damit verwirft er seine Pläne, nach Berlin zu gehen und tritt eine Reise nach Portugal an, um über sein Leben, aber auch über die Beziehung zu Maria nachzudenken. Er ist sich nicht sicher, ob sie seine Nähe in Berlin überhaupt möchte. Auch Maria ist sich diesbezüglich unsicher. Während Hartmuts Aufenthalt in Portugal ist Maria mit ihren Kollegen in Kopenhagen, um an einem internationalen Theatertreffen teilzunehmen. Nicht nur diese beiden Reisen von Maria und Hartmut finden parallel statt, sondern auch ihre Gedanken bezüglich ihrer Ehe werden im Roman miteinander kontrastiert, denn Maria überlegt ebenfalls, ob sie mit ihrem Job, ihrer Ehe und der allgemeinen Lebenssituation glücklich ist. Am Ende sind sich beide nicht sicher, wie ihre gemeinsame Zukunft verlaufen wird, da sie immer noch nicht über ihre Probleme und Zweifel sprechen, sondern vielmehr parallel und getrennt voneinander spekulieren, welchen Schritt sie als nächsten anstreben. Wie Fliehkräfte endet auch das Gegenspiel mit der Szene am Meer, wenn Hartmut sich auszieht und ins Meer hinaus schwimmt. Auch Maria nimmt in den Gedanken das Bild der Fliehkräfte, also der Verdrängungskräfte, auf, die sie beide in ihrer Ehe in die Krise geführt haben. Während Hartmut schwimmt, kommt Maria zu dem Schluss, dass „das Einzige, was sie in diesem Moment tun kann, [ist]: nicht weglaufen“ (S. 458). Anders gesagt, überwiegt der Wunsch, die Ehe nicht aufzugeben, sondern zu bleiben. Was das allerdings konkret heißt und ob dies gelingen kann, lässt der Roman offen.

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Thematische Aspekte zu Gegenspiel [ ↑ ]

Provinz und Großstadt
Stark akzentuiert wird die Thematik der Provinz und Großstadt in Thomes drittem Roman Gegenspiel. Sowohl Großstadt als auch Provinz scheinen für Maria Vor- und Nachteile zu haben: Sie sieht die Stadt als Basis für Karrierechancen und als Schauplatz des Lebens, kritisiert aber auch die städtische Anonymität, während sie die portugiesische Provinz als ihre Heimat positiv assoziiert. „Marias Heimweh flackerte jedes Mal auf, wenn sie gegrillten Fisch roch oder in der Zeitung auf Nachrichten von Zuhause stieß“ (S. 99). Die deutsche Provinz hingegen verbindet sie mit Borniertheit und Tristesse: „Seit sie einmal in der deutschen Provinz gewohnt hat, kann sie gepflegte Vorgärten nicht betrachten, ohne sich ihre engstirnigen Besitzer vorzustellen“ (S. 9f). Berlin erinnert sie zudem an ihrer Heimatstadt und sie fühlt sich nach anfänglichen Schwierigkeiten sichtlich wohl in ihrer neuen Umgebung: „[W]eil Ost-Berlin sie an Lissabon erinnerte. Jedenfalls bei schönem Wetter und dort, wo noch alte Häuser standen“ (S. 133). Berlin ist demnach die Stadt ihrer Wahl und zugleich die Stadt, in welcher sie für sich als weibliche Arbeitnehmerin die bestmöglichen Chancen für eine Karriere sieht. 

Liebe, Partnerschaft und Kommunikation
In Gegenspiel verhält sich der Aspekt der Kommunikation und Zwischenmenschlichkeit ähnlich, wie in den anderen beiden Romanen: Durch die fehlende und dysfunktionale Kommunikation der ProtagonistInnen stagnieren deren Beziehungen. 

Geschlechterrollen
In Gegenspiel wird die Geschlechterfrage anhand der feministischen Arbeiten von Simone de Beauvoir explizit thematisiert. So interessiert sich Maria während ihrer Studienzeit für die Frauenbewegung und schließt sich am Theater einer Arbeitsgruppe an, welche unter anderem feministische Theorien bespricht: „Jeden Dienstag diskutierte ein Arbeitskreis Frauentheater die Stücke moderner Autorinnen. Bücher lesen, sich untereinander austauschen und nicht abhängig von Männern sein. Feminismus, sie mochte schon das bloße Wort“ (S. 55). Die emanzipatorischen Arbeiten von Simone de Beauvoir werden durch Maria repräsentiert, diskutiert und im Roman explizit genannt: „Jetzt nahm sie sich vor Das andere Geschlecht zu lesen“ (S. 55). Maria ist wie veile Frauen ihrer Generation begeistert von de Beauvoir Thesen:
„Goffman war leicht zu lesen und inhaltlich banal. Am interessantesten in seinem Buch fand sie die Zitate von Simone de Beauvoir, die von weiblichen Verstellungskünsten und der gesellschaftlichen Situation der Frau handelten. ‚Vor ihrem Gatten, ihrem Liebhaber denkt jede Frau mehr oder weniger: Ich bin nicht ich selbst.‘ Das Bild einer entspannten schwesterlichen Gemeinschaft, das die Autorin zeichnete, erschien Maria verlockend“ (S. 55). Allerdings scheitert Maria in der Praxis an den Männern, sowohl Falk als auch Hartmut sehen in ihr nicht die eigenständige Frau und sie wollen auch keine Partnerin, die eigene Bedürfnisse in die Beziehung bringt.
Dabei ist Maria als durchaus eigenständige und lebenshungrige junge Frau beschrieben, die etwa ihren Umzug von Portugal nach Deutschland bewerkstelligt. Die zahlreichen Rückblicken in Gegenspiel lassen erkennen, dass die Menschen im katholischen Portugal in konventionellen Denkmustern leben und Frauen nur in geringem Maße die Gelegenheit bieten, eine eigene, von Männern unabhängige Karriere zu starten. „Der Feminismus gehörte zu den Dingen, die man ihr in Portugal vorenthalten und durch die Forderung ersetzt hatte, an Gott zu glauben und auf den richtigen Mann zu warten; das war ihr klargeworden, als sie neulich am Mariannenplatz eine Kundgebung für das Recht auf straffreie Abtreibung beobachtet hatte. Hunderte Frauen mit Trillerpfeifen und Plakaten, die laut skandierten“ (S. 55). Maria schmiedet als Jugendliche mit ihrer Freundin gemeinsam Zukunftspläne, jedoch entscheidet sich die Freundin letztendlich gegen eine Karriere und stattdessen für das Leben in Portugal: „Ins Ausland zu gehen, wie sie es immer vorgehabt hatten? Statt wie früher Pläne zu schmieden, schüttelte ihre Freundin die dunklen Locken und sagte: Schön und gut, aber so ist das Leben nicht“ (S. 87). Wie schwierig es ist, aus den bestehenden Denkmustern einer Gesellschaft auszutreten, wird hier ersichtlich und lässt Maria als selbstbewusste und unabhängige Frau dastehen, da sie den Weg ins Ausland und den damit verbundenen Neuanfang gewagt hat. Der Aspekt der Selbstverwirklichung – insbesondere auch hinsichtlich der späteren Rollenverteilung in einer Ehe – tritt hier stark in den Vordergrund, da Maria sich nicht in der Position einer Hausfrau sieht, sondern in der einer arbeitenden, unabhängigen Frau.
Eine konträre Haltung zu Marias feministischen Denkmustern nimmt ihre Freundin Ana ein. Maria selbst beschreibt Ana wie folgt: „Eine Frau wie Ana hatte sie noch nie getroffen. Sie war schön und selbstbewusst, witzig und klug und immer auf der Suche nach einem breitschultrigen Kerl, der sie schlecht behandelte. Feminismus hielt sie für eine Angelegenheit von Lesben“ (S. 98). Ana möchte nicht für immer in Deutschland leben, sondern einen Mann kennen lernen, der sie liebt, und mit diesem möchte sie ein glückliches und ruhiges Leben vorzugsweise in Brasilien führen. Anas Haltung begründet sich aus den sexistischen und rassistischen Erfahrungen in Deutschland: „‚In Deutschland dürfen schwarze Frauen putzen, sich beim Tanzen ausziehen oder, wenn sie Glück haben, als Babysitter jobben. Hab ich alles gemacht, aber so stell ich mir mein Leben nicht vor. Wie stelle ich mir mein Leben vor? Keine Ahnung! Irgendwie anders, am liebsten besser‘“ (S. 138). Des Weiteren kritisiert Ana ihre Freundin Maria dafür, dass sie zwar die feministischen Theorien befürwortet, sie aber nicht auf ihre eigene Beziehung zu Falk umsetzt: „‚Du liest diese feministischen Bücher, und das kommt dabei raus.‘ ‚Was? Dass ich versuche ihm zu helfen?‘ ‚Du rennst in Bibliotheken, bringst seine Manuskripte nach drüben, er dankt es dir mit keinem Wort, und du suchst die Schuld bei dir. Das kommt dabei raus‘“ (S. 137). Die Beziehung von Maria und Falk wird von Ana kritisch analysiert; sie sieht, dass Maria eine passive, unterdrückte Rolle einnimmt, wohingegen Falk derjenige ist, der aktiv seine Meinung vertritt und seine Bedürfnisse befriedigt findet.
Marias liberale Einstellung zeigt sich im Verlauf des Romans ferner in der Toleranz gegenüber der Homosexualität ihrer Tochter, die zu akzeptieren Hartmut zunächst Schwierigkeiten hat. Die LeserInnen erfahren in Gegenspiel erst mitten im Roman, dass Philippa nicht einen männlichen Lebenspartner, sondern eine Freundin namens Gabriela hat. Ihre sexuelle Neigung hat sie lange vor ihren Eltern geheim gehalten, was zeigt, dass es in ihrer Lebenswelt nicht selbstverständlich ist, zu dieser offen zu stehen. Philippa möchte ihre Freundin Gabriela heiraten und merkt in einem Gespräch mit ihrer Mutter an, dass eine Hochzeit zwischen gleichgeschlechtlichen PartnerInnen bessere Voraussetzungen in Spanien als in Deutschland fände: „‚Witzigerweise ist Spanien ja eines der liberalsten Länder, wenn es um die Homo-Ehe geht. Liberaler als Deutschland, das gilt sogar für das Recht auf Adoption‘“ (S. 405). Anhand dieser Aussage wird deutlich, dass das vermeintlich unabhängige Leben in Deutschland, wie Maria es sich stets vorstellt, ebenfalls gesellschaftlichen Konventionen unterworfen ist. Die Tatsache, dass Philippa ihrem Vater lange nichts von ihrer Homosexualität erzählt, deutet auf die zuvor genannten Zwänge der gesellschaftlichen Konstrukte der Geschlechter hin.

Gescheiterte Lebensentwürfe und Stagnation
Die daraus resultierende Unsicherheit wird in Gegenspiel durch Maria zum Ausdruck gebracht, da sich ihre Lebensentwürfe über die Jahre hinweg häufig ändern. Als sie nach Berlin kommt, wünscht sich Maria ein unabhängiges Leben, in welchem sie als arbeitende Frau Verantwortung für sich selbst trägt und nicht von einem männlichen Partner abhängig ist. Während ihrer Studienzeit in Berlin und der Beziehung zu Falk wünscht sich Maria dann jedoch eine tiefer greifende Nähe zu ihrem Partner als nur philosophische Gespräche und oberflächlichen Sex: „Die Szenerie erschien ihr wie ein Witz, dessen bittere Pointe darin bestand, dass sie geglaubt hatte, hier mit Falk Liebespaar spielen zu können. […] ‚Zum ersten Mal tun wir, was andere Paare jedes Wochenende tun, und du sprichst von Zwang. Ein Leben, das du nicht willst. Wie egal bin ich dir eigentlich?‘ […] So wie er dastand, wirkte er ratlos und ein wenig verlegen, und das schien schon die stärkste Reaktion auf etwas zu sein, das sie ihm sagte. Für eine größere Erschütterung musste das Farbband der Schreibmaschine reißen“ (S. 143f).
Maria ist unzufrieden mit dem derzeitigen Stand ihrer Beziehung und merkt, dass diese scheitern wird, wenn sich Falk nicht ändert. Nichtsdestotrotz weiß sie, dass sein Fokus stets auf seiner Arbeit und nicht auf Emotionen in einer Beziehung liegen wird und dass sie ihn nicht von Grund auf ändern kann. Die Beziehung zu Falk spiegelt demnach zum einen Marias Zufriedenheit und vermeintliche Unabhängigkeit wider, zum anderen aber auch das Scheitern und die Passivität, in der Maria lebt, da sie sich mehr um seine als um ihre Bedürfnisse kümmert.
Als sie Hartmut kennen lernt, wird ihr ursprünglicher Lebensentwurf vollständig durcheinander gebracht: „Nach einer ungewollten Schwangerschaft und der überstürzten Hochzeit fand sie auf seinem Dortmunder Sofa endlich die Zeit, sich in ihren Mann zu verlieben. Was blieb ihr anderes übrig“ (S. 229). Sich in ihren Mann zu verlieben, scheint Maria zunächst zu gelingen, jedoch werden im Verlauf des Romans immer weitere Zweifel und Unsicherheiten sichtbar, ob Liebe der Garant für Glück ist, wenn die eigenen Bedürfnisse auf der Stecke bleiben. Das triste Leben in Nordrhein-Westfalen wird erst durch Marias Umzug nach Berlin unterbrochen, mit welchem aber auch ihre Eheprobleme mit Hartmut deutlicher hervortreten. Schon die Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Philippa veranlasst Maria dazu, ihre Lebensentwürfe von Grund auf zu überdenken, sodass sie erst mit Philippas Volljährigkeit die Gelegenheit ergreift, ihren ursprünglichen Lebensweg fortzusetzen.
Marias Selbstzweifel werden unter anderem in den Abschiedsszenen mit Hartmut deutlich, da diese nicht mit Trauer oder Sehnsucht verbunden sind, sondern vielmehr mit Resignation: „Dann wirkt sein Lächeln kraftlos und ihres angestrengt, und beides zusammen spiegelt den Zustand ihrer Ehe“ (S. 280). Maria weiß, dass ihre Ehe scheitert, findet aber keinen Weg, dieses zu verhindern. Sie denkt viel darüber nach, wie sie ihre Beziehung zu Hartmut ändern kann, spricht mit ihm aber nicht über diese Gedanken. Das Scheitern ihrer Ehe rekapituliert Maria später wie folgt: „Dass ihr Leben die Parodie dessen ist, was sie sich als junge Frau erträumt hat, liegt auf der Hand“ (S. 438). Sie war während ihrer gesamten Zeit in Nordrhein-Westfalen unzufrieden mit der allgemeinen Situation und empfindet es als unfair, dass Hartmut die Chance hatte, sowohl ein Familien- als auch ein Berufsleben zu führen, da ihr dies nicht möglich war.
Sofern die Eheleute gemeinsam über ihre Gefühle und Ansichten reden, sind sie sich häufig nicht sicher, ob das Gesagte ernst oder sarkastisch gemeint ist: „Vor zwei Wochen, bei ihrem Mittagessen am Hackeschen Markt, hat Hartmut gesagt, es könnte doch sein, dass jedes Menschenleben mehr als ein Mal beginnt. Dass man nie zu alt ist, sich zu ändern. Nein, theoretisch nicht, hat sie geantwortet, ohne zu wissen, ob er einen Scherz machte oder es ernst meinte. Allmählich beginnt sie zu ahnen, wie viel Zeit sie beide damit vertan haben, die Zeichen zu übersehen und den Fliehkräften nachzugeben“ (S. 457).
Inwiefern beide sich aufeinander zu bewegen können, um ihre Ehe zu retten, scheint das grundlegende Problem zu sein. Zum einen hat Maria zu Beginn der Beziehung ihren Job aufgegeben, um mit ihrem Mann seinen Arbeitsstellen hinterherzuziehen und für ihre Tochter zu sorgen. Zum anderen ist Maria aus diesem Leben, das sie unglücklich gemacht hat, ausgebrochen und für die Theaterarbeit wieder nach Berlin gezogen. Beide Entscheidungen sind jedoch mit zahlreichen Problemen einhergegangen.. Das Dilemma ist, dass Hartmut sein Unglück über die Fernbeziehung sehr wohl ins Feld führt, Marias Leid in den Jahren zuvor aber letztlich emotional nicht an sich heranlässt.
Als Folge der gescheiterten Lebensentwürfe sind viele Figuren in Thomes Textwelten von großer Wehmut und Müdigkeit erfüllt. Kerstin Werners Müdigkeit zeigt sich etwa in ihrer grundsätzlichen emotionalen Verfassung: „Nach dem Frühstück und der ersten Tasse Kaffee fühlt sie sich beinahe gut, beinahe dem Tag gewachsen, obwohl sie wieder schlecht geschlafen hat und erst die Gartenarbeit am Nachmittag diesen Anflug von Kopfschmerzen vertreiben wird: ein Druckgefühl dicht unter der Schädeldecke“ (S. 9). Die Protagonistin, die zugunsten der Familienplanung kein Tanzstudio eröffnet, scheint bezüglich ihres weiteren Lebensverlaufs und ihrer Identität unsicher: „‚Kein Problem. Ich bin …‘ verwirrt, geschockt, nicht ganz bei Sinnen und außerdem vierundvierzig. Sie hatte keine Ahnung, wie sie den Satz beenden soll, und lässt ihn einfach in der Luft hängen“ (S. 101). Das Gefühl, in der Luft zu hängen, ist für Kerstin Werner ein dauerhaftes. Ihre Scheidung, die Pflege ihrer demenzkranken Mutter und die Erziehung des pubertierenden Sohnes hemmen sie in der Entfaltung ihrer Individualität, die für sie während ihres Studiums noch an erster Stelle stand. Als Zeichen für die verpasste Chance der Selbstentfaltung steht ein nie getragenes Kleid: „Cocktailkleider dieser knappen Art sind was für große, schlanke Frauen, und Kerstin denkt mit Wehmut an ein ähnliches Modell, das seit Jahren ungetragen im Schrank hängt“ (S. 191). Das Kleid repräsentiert ihr geringes Selbstbewusstsein und das Verharren in alten Verhaltensmustern, was in Bergenstadt üblich zu sein scheint.
Auch in der Figur Thomas Weidmanns lassen sich Anzeichen von Schwermut wiederfinden. So versucht der einstige Akademiker in der Rückkehr nach Bergenstadt keinen Rückschritt zu sehen, sondern einen akzeptablen Alternativplan zu seinem vorherigen Lebensentwurf; doch fällt sein Fazit zynisch aus: „Von der Endgültigkeit abgesehen, ist der Übergang vor allem tröstlich – das Verschwinden der Sehnsucht und der Eintritt in eine Art Leere, die einen mit viel weniger Angst erfüllt, wenn man erst mal drin ist“ (S. 21).
Mit fortschreitendem Alter und langjährigem Wohnen in Bergenstadt verliert er die Wurzel seines Zynismus, der sich auf die Rebellion gegen die Provinz gerichtet hat, da er sich mit seinem Leben in Bergenstadt abfindet und sich in die Gemeinschaft eingliedert: „Sein Widerwille hat aber nicht mehr den gleichen Schwung wie früher, und was Kerstin ihm gerne als Arroganz auslegt, ist in Wahrheit nur das Wissen, dass sein Zynismus zahnlos geworden ist – da muss man aufpassen, wonach man schnappt“ (S. 431).
Wie in Grenzgang sind auch die Figuren in Fliehkräfte zynisch, wehmütig sowie nostalgisch. Deutlich wird dies zum Beispiel, wenn Hartmut Hainbach in Fliehkräfte über einen Witz von Maria verzweifelt resümiert: „‚Menschliches Leben beginnt, wenn die Kinder aus dem Haus sind.‘ […] ‚Es ist ein guter Witz. Und du hast ihn sehr gut erzählt.‘ Bitte sehr, er ist überhaupt nicht so negativ, wie Maria oft behauptet. Der Witz gefällt ihm wirklich. Sehr pfiffig. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, haha! Richtig super wird es natürlich erst, wenn die Frau auch noch geht. Da sitzt man abends im Wohnzimmer und kann sich kaum halten vor guter Laune“ (S. 38).
Auch Überlegungen über die grundsätzliche Veränderbarkeit des Lebens lassen Hartmut nicht optimistisch denken, sondern seine Verluste betrachtet: „‚Es könnte bloß sein, dass menschliches Leben nicht nur ein Mal beginnt. Weil es aus Phasen besteht, die alle ihren eigenen Beginn haben. Immer wieder.‘ Demnach auch ein Ende, aber das denkt er nur“ (S. 39). Hartmut sehnt sich zurück in die Zeit, in der Philippa noch klein war und das vermeintlich sorglose Familienleben noch vor ihm lag. Diese Sehnsucht nach Vergangenem zeigt sich in seinen wehmütigen Gedanken, als er eine junge Familie am Strand beobachtet: „Am liebsten würde er zu den Eltern hingehen und sagen: Besser wird’s nicht mehr. Genießt jede Minute“ (S. 206).
Die Müdigkeit der Figuren in Gegenspiel spiegelt sich hauptsächlich in Marias psychischer Verfassung wider. Sie leidet unter einer Depression und scheint in ihrer eigenen Lustlosigkeit gefangen. Bereits in ihrer Kindheit gibt es Anzeichen für diese emotionale wie körperliche Starre: „Ich bin krank, dachte sie. Nach einer Weile hörte sie Schritte im Flur und Geräusche in der Küche. Als Kind nachts im Bett hatte sie manchmal das Gefühl gehabt, ihr Zimmer dehne sich aus, bis sie verloren in einer Ecke lag und nicht wusste, ob sie Angst haben musste. Oder wovor. Es war wie eine Lähmung, die ihren Körper befiel und gleichzeitig eine schützende Hülle bildete“ (S. 250). So ist sie im Erwachsenenalter zeitweise nicht mehr der Ausübung ihrer familiären Rolle als Mutter und Hausfrau gewachsen: „‚Maria?‘, flüsterte er. ‚Ich muss los.‘ Sie blieb reglos liegen. Es war ihr egal“ (S. 252).

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Formale Aspekte zu Gegenspiel [ ↑ ]

Zeit und Analepsen
Der Romaneinstieg in Gegenspiel beginnt in medias res, sodass die LeserInnen zwar unmittelbar Teil der Auseinandersetzung zwischen Maria und Hartmut sind, die Hintergründe dieses Konflikts jedoch erst im weiteren Verlauf des Romans erfahren. Der Spannungsbogen und die Erwartungshaltung der LeserInnen werden so direkt zu Beginn der Leseerfahrung gesteigert. Diese Anfangsdynamik nimmt jedoch in den nächsten Kapiteln zunächst ab. Thome nutzt im gesamten Roman die Zeitsprünge, um Marias Lebensgeschichte, aber auch Gedanken zu verschiedenen Lebenssituationen zu zeigen. So wechselt die Zeitebene in Gegenspiel von Marias Gegenwart zu ihrer Vergangenheit und wieder zurück, ohne dass diese Sprünge konkret gekennzeichnet werden. Es obliegt demnach den LeserInnen, den jeweiligen Kontext in die Gesamtgeschichte einzuordnen. Wie in den anderen Romanen, geht es weniger um das Was, sondern vielmehr um das Wie, also die Frage, wie jemand zu der Person geworden ist, die er oder sie zum Zeitpunkt der Handlung ist. Die Identitätsbildung wird so in ihrer Prozesshaftigkeit anhand der verschiedenen Zeitebenen vorgeführt und reflektiert. 

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Pressespiegel zu Gegenspiel [ ↑ ]
Nachdem bereits Fliehkräfte in der Presse ausführlich diskutiert worden ist, befasst sich das Feuilleton auch ausgiebig mit Stephan Thomes Roman Gegenspiel.
Negative Kritik erhält Thome seitens der Redaktion des Fokusmagazins, welche anmerkt, dass „das verkopfte Umsichselberkreisen im eigenen Mief auf über 400 Seiten [...] absehbar [und schnell] in Langeweile [endet]“ (Focus online, 13.01.2015). Auch Tobias Rapp ist der Meinung, dass es „eine Menge Text für eine ziemlich durchschnittliche Ehe der deutschen Mittelschicht“ (Der Spiegel, 10.01.2015) sei. Marie Schmidt sieht den Erfolg von Thomes Werken lediglich in der Tatsache begründet, „dass gerade niemand mehr weiß, was ein normales Leben eigentlich ist“ (Die Zeit, 15.01.2015) und der Alltag beziehungsweise die Normalität, welche Thome in all seinen drei Romanen darstellt, in der heutigen Gesellschaft keine genaue Definition erfährt. Schmidt hält daher kritisch fest, dass „Thomes Romane [...] dem Zwang zum Geständnis persönlicher Umstände deshalb so ergeben [sind] wie Frauenzeitschriften, Talkshows und Lebenshilfebücher“ (Die Zeit, 15.01.2015), weil „die Verunsicherung [über die Definition von einem normalen Leben] so groß ist, dass mit hohem narrativem Aufwand immer wieder verhandelt werden muss, was zumindest als ‚gelingendes Leben‘ gelten darf“ (Die Zeit, 15.01.2015). Dietmar Jacobsen merkt außerdem kritisch an, „dass es Thome in ‚Fliehkräfte‘ besser gelungen ist, in die seelischen Tiefen seines männlichen Protagonisten einzudringen“ (Literaturkritik, 16.02.2015) als in die seiner weiblichen Hauptfgur. Er relativiert seine Kritik jedoch dadurch, dass dies bei einem männlichen Autor „wohl als normal angesehen werden [darf]“ (Literaturkritik, 16.02.2015). Gleichermaßen hält Andre Thomas fest, dass Thome „mit der Veröffentlichung eines neuen Romans den Vorgänger besser aussehen [lässt]“ (Der Spiegel, 03.02.2015). Auch Felicitas von Lovenberg kritisiert, dass „schon ‚Fliehkräfte‘ ein durchaus erschöpfendes Buch [war]“ und Stephan Thomes neues Werk nun eben „weit hinter den ‚Fliehkräften‘ zurück[bleibt]“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.01.2015). Elmar Krekeler vertritt eine ähnliche Meinung wie Andre Thomas und Felicitas von Lovenberg, indem er das Ende des Romans wie folgt kommentiert: „Noch immer ist nichts entschieden zwischen Hartmut und Maria. Es wird auch nichts entschieden werden zwischen den beiden, sollte Thome, was der Himmel und der Suhrkamp Verlag verhindern mögen, auch die Geschichte von Philippa [...] erzählen“ (Die Welt, 25.01.2015).
Verena Auffermann hält fest, dass Thome sowohl „ein konzeptuell arbeitender“ als auch ein „betont dialogischer Autor“ (Deutschlandradio Kultur, 23.01.2015) sei und verweist damit auf den Perspektivwechsel, welcher seine beiden Romane Fliehkräfte und Gegenspiel charakterisiert und miteinander verbindet. Es gehe dem Autor, wie Judith von Sternburg jedoch meint, nicht „um den Knalleffekt des Perspektivwechsels“ (Frankfurter Rundschau, 09.01.2015). Vielmehr treibe Thome „das Nebeneinanderherleben [der ProtagonistInnen] auf die Spitze“ (Frankfurter Rundschau, 09.01.2015). Auch Andre Thomas lobt den Perspektivwechsel innerhalb der beiden Romane: „Auf den Leser hat dieses Ineinanderspiegeln einen anfänglich irritierenden und später faszinierenden Déjà-vu-Effekt“ (Der Spiegel, 03.02.2015). Ähnlich beurteilt auch Elmar Krekeler Thomes Romankonzeption, wenn er schreibt, „dass es [Thome] auf diese Weise gelingt, eines seiner zentralen Themen – das Netz von Missverständnissen und Fehldeutungen, das über einer Ehe liegt – im Grossen [sic] formal abzubilden“ (Die Welt, 24.01.2015). Ferner meint Krekeler, dass „Thomes Literatur […] eine der extremen Nüchternheit [ist]. Der schönen Konstruktion. Der tiefenscharfen Analyse menschlicher Kommunikation“ (Die Welt, 25.01.2015). Laut Krekeler „wagt sich [Thome] mit scheinbar ganz einfachen Instrumenten an die Oberflächen und Abgründe des Mittelstands“ (Die Welt, 25.01.2015). Auch Alf Mentzler lobt Thome dafür, dass die Geschichte von der Protagonistin Maria „mit großer Leichtigkeit [erzählt wird], mit viel Gespür für Rhythmus und Dynamik“ (Hessischer Rundfunk, 22.01.2015). Mentzler äußert sich positiv über die Erfahrung, „‚Gegenspiel‘ als Komplementär-Roman zu seinem Vorgänger zu lesen“, weil dieser „für viele Wiedererkennungsmomente und Aha-Erlebnisse [sorgt]“ (Hessischen Rundfunk, 22.01.2015). Felicitas von Lovenberg hingegen kritisiert die Sprunghaftigkeit, durch welche die Protagonistin charakterisiert ist: „Nicht weniger anstrengend als für ihre Mitmenschen aber ist Maria für den Leser, und vermutlich war sie es auch für den Autor“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.01.2015). Nichtsdestotrotz findet von Lovenberg, dass „[der Roman] an innerer Spannung gewinnt […], wenn [Thome] in Marias Gedankenwelt abtaucht […]. Hier kommen Thomes erzählerische Stärken voll zum Tragen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.01.2015). Stefan Tolksdorf vertritt eine ähnliche Meinung und schreibt, dass „die Faszination des Buches mehr in der Schilderung ihres Umfelds als in der Person der zwischen Konvention und Ausbruchswunsch pendelnden Protagonistin [liegt]“ (Badische Zeitung, 07.02.2015). In sprachlicher Hinsicht lobt Elmar Krekeler besonders „die Dialoge, die messerscharf sind“ (Die Welt, 25.01.2015), wohingegen Judith von Sternburg meint, „Thome [sei] […] kein Meister des Dialogs“ (Frankfurter Rundschau, 09.01.2015). Für Jochen Jung hingegen wird die Erzählung gerade „durch Thomes große Kunst im Schreiben von Dialogen“ unterstützt, da diese wie gesprochen klingen (Die Presse, 14.02.2015).

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