Charakteristika des Werks

Thematische Aspekte [ ↑ ]

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Die (post)romantische Verbundenheit des Regisseurs zeigt sich jedoch nicht nur an der Thematik der Vereinigung des Mannes mit der Frau, als Zitat der bei Platon im Symposion behandelten Kugelmenschen, des Ich im Du, sondern auch an der widerkehrenden Phantasie des Träumens und Fliegens. Diese Motive lassen sich seit der Antike über die Romantik bis in die Gegenwart in Literatur und seit dem letzten Jahrhundert auch im Film finden, da sie Sehnsüchte und Wünsche des Menschen widerspiegeln. Die Titel WINTERSCHLÄFER und HEAVEN behandeln den Schlaf, sowie den nur durch Fliegen, Schlafen oder Tod erreichbaren Himmel. Der Traum als Pforte zu unbewussten Wissen, die Vorahnung und Voraussagen von zukünftigen Geschehnissen als antikes Motiv des `Seher-Traums` der Orakel und Botschaft der Götter, sind Vehikel der Protagonisten Tykwers, sich über das Bekannte hinaus zu orientieren. Die Blinde in LOLA RENNT die Manni einen entscheidenden Fingerzeig Richtung verlorener Geldtüte gibt, die blitzartigen Erinnerungsstücke von Theo in WINTERSCHLÄFER, der das Zeichen der Narbe des tatsächlichen Unfallverursachers  als Erinnerungsbild aufflackern sieht, die in CLOUD ATLAS diachronen Vorahnungen oder Erinnerungen an spätere oder frühere Leben, sind diesem metaphysischen Bewusstsein des Menschen gewidmet, welches Tykwer hinter all den uns sonst so alltäglichem Leben offeriert.
In LOLA RENNT führt Tykwer die philosophische -existenziellste Frage nach dem Sinn des Lebens bereits in der Exposition vor, während sie in allen seinen Filmen Gegenstand der Überlegungen sind.
Die Filme Tykwers lassen sich als `philosophische Experimentierfelder` lesen, die jegliche Ontologie dessen hinterfragen, was das Leben in seinen sozio-kulturellen, genetichen oder metaphysischen Belangen zu bieten hat. Immer bleiben jedoch die zwischenmenschlichen Beziehungen als Angelpunkt der gesellschaftlich zu hinterfragenden Entitäten  im Fokus der Überlegung.

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Formale Aspekte [ ↑ ]

Am Set:
Beschreibt man die Kameracharakteristika der tykwerschen Filme, so lässt sich dies nicht unabhängig von seinem Kameramann und langjährigem Freund Frank Griebe bewerkstelligen: die Zusammenarbeit der Beiden geht bis auf seinen 1992 entstandenen Kurzfilm BECAUSE  zurück, so dass Tykwer  in einem Faz Interview vom 21. 03.2002 sagt: `Ich habe nie einen Film gedreht, bei dem er nicht Kameramann war. Ich weiß also nicht was Kameramänner so machen, wenn sie nicht Frank Griebe heißen`.  Das stilistische Mittel der Kamerabewegung steht zwar unter der Regie Tykwers, wird künstlerisch jedoch gleichermaßen Frank Griebe zugerechnet.
Die stilistischen Merkmale der tykwerschen Kamera bewegt sich in Extremen- zwischen Bewegung und Stillstand, dem expressionistischen Wurzeln des frühen Films entliehenen Elementen starker geometrischer Formen und Linien, sowie extremer Perspektiven: starke Aufsichten, Untersichten und den Rezipienten selbst in Verwirrung zwingender schwer entschlüsselbarer Kamerapositionen. Das schon antike Motiv des Fliegens findet als Sehnsucht des am Boden verbannten homo sapiens  in vielen Flugsequenzen ihren Ausdruck (v.a. HEAVEN), denn die Erzählungen Tykwers deuten oftmals auf Sehnsüchte und Hoffnungen, der Suche nach sich selbst im anderen als postromantischem Motiv hin.
Die Kameraführung ist vor allem den Wurzeln des Horror-Genres, der frühen Liebe des Regisseurs entlehnt. Die autonome Sicht der Kamera wird im deutschen Expressionismus geboren: durch eine sich leicht schaukelnd oder schwebend bewegte Kamera wird dem Rezipienten das Gefühl vermittelt auf den Schultern eines unbekannten Beobachters hockend das Geschehen zu verfolgen. Der voyeuristische Blick wird diesem Genre entsprechend jedoch eher für eine Intensivierung des Thrills verwendet, lässt den Rezipienten in Dauerspannung verweilen,  jeden Moment könnte etwas unvorhergesehenes geschehen, jemand aus einer dunklen Ecke auftaucht oder eine Hand sich ins Bild schieben. Tykwer verwendet eine abgeschwächte Version dieses stilistischen Mittels: die Kamera ist stets leicht bewegt, verfolgt die Protagonisten sanft auf ihren Wegen. In CLOUD ATLAS begleitet die Kamera den jungen Robert Frobisher auf dem Weg zu seiner Assistentenstelle des großen Komponisten Vyvian Ayers: während im Off Ton die Erzählerstimme des Protagonisten den Brief für seinen Geliebten Rufus Sixmith vorliest, gleitet die Kamera in Großaufnahme wechselweise an den Verfasser und seinen Empfänger heran. Die leichte Kamerafahrt nimmt den Kinobesucher mit, verstärkt die zarte Bande der Gefühle des Liebespaares auch im Betrachter.
In DER KRIEGER UND DIE KAISERIN führt  Tykwer  den Protagonisten Bodo vor, der mit ausgebreiteten Armen auf einer Autobahnbrücke steht. Durch den Perspektivenwechsel von unten, Bodo im Himmel, nach oben, über ihn blickend, bietet sich dem Betrachter erst der Schauplatz der betonierten Autobahn. Das Gefühl von Freiheit, Fliegen und Leichtigkeit wird durch den Perspektivenwechsel umgekehrt in eine möglicherweise suizide, endliche und verneinende Haltung Bodos. Der Spannungsbogen Hoffnung-Verneinung umreist mit dieser perspektivischen Lösung auf eindrucksvolle Weise die Lebenssituation des Protagonisten, der bei einem Unfall seine Frau verloren hat und seitdem keinen Bezug mehr zu seinem Leben spürt. Die extreme packende Bildsprache als erzählerisches Element Tykwers zeigt den hohen ästhetischen Wert seiner Filme, der den Betrachter inhaltlich und formal abholt, um ihn in die subjektive Welt der Protagonisten einzubeziehen.
Die Exposition von LOLA RENNT schleudert den Betrachter geradezu ins Geschehen, wenn Griebe eine raketenartige Kamerafahrt  über die Kreuzung in die Telefonzelle nimmt  und die Dringlichkeit der folgenden Handlung, in die sich Manni -alias Moritz Bleibtreu- zuvor katapultiert hat, eröffnet. Ein Geniestreich, den erstmals Alfred Hitchcock  in VERTIGO (1958)  vollführte, indem er im Wechsel Zoom und Fahrt zur Schwindelerregenden Haltung seines Protagonisten im Glockenturm umsetzte. Technisch betrachtet ist LOLA RENNT der facettenreichste Film Tykwers, der sich von Zeichentricksequenzen über  digitalisierte Videobilder, bis hin zu Flash Cuts, kurz aufeinander folgenden Stills,  bedient. Auch in DREI werden ähnlich abstrakte Techniken verwendet:   im holzschnittartigen Scherenschnitt, der deutsche Expressionismus( etwa Murnaus NOSFERATU von 1922) lässt grüßen, zeigt Tykwer den Aufstieg der Seele Simons` Mutter während ihres Ablebens. Die Abstraktion der hierdurch entfremdeten Bildern schafft Nähe statt Abstand, denn der Rezipient wird durch die artifizielle Darstellung des Fortlebens der Seele eingeladen, die Seelenfahrt selbst zu hinterfragen, ohne von dem ( unmöglichen) Versuch einer  realistisch bildlichen Darstellung  gefangen oder irritiert  zu werden.
Die Verwendung dieser verschiedenen Genreelemente zeigen Tykwers Abneigung gegen vorgegebene festgelegte Konventionen und Normen, die er besonders in LOLA RENNT (Ablegen von Rollenmustern Männlich-Weiblich), HEAVEN (Androgynie als Lösung in den Genderstudies), DREI (Dekonstruktion von gängigen Rollendenken  männlich -weiblich) und CLOUD ATLAS (reinkarnationstheoretisches nichtsynchrones Zeitverständnis) durchbricht.
Die typische Kreissymbolik im Filmbild (Spiralen-motive etc.) findet sich auch in der die Protagonisten umkreisenden Kamerabewegung wieder, die seit der TÖTLICHEN MARIA bis heute in Kernsequenzen finden lassen. In WINTERSCHLÄFER ist es das zarte aufblühen der Liebe zwischen Rene und Laura, die sich entfesselt, wie die Kamera in ihren unendlichen Umdrehungen.
In LOLA RENNT fokussiert die sich um Lola drehende Kamera die Protagonistin zum Nabel der Erzählung. Sie zeigt in der Drehung gleichermaßen an, dass die Welt sich schneller bewegt, als den Protagonisten lieb ist, denn nur jeweils 20 Minuten bleiben, um das fehlende Geld aufzutreiben. Jedoch verweist die entfesselte Kamera auch auf den Mittelpunkt, den fixen, sich nicht veränderbaren Kern des Kreises: Lola, die nicht ohne Grund dem Film ihren Namen verleiht und in ihrer Entschlossenheit aus eigener Kraft das Unmögliche möglich macht.
In CLOUD ATLAS bietet sich die Kreisbewegung der Kamera an wichtigen Kernstellen des Films an: Der Schafhirte Zachry der nachapokalytischen Zukunft, alias Tom Hanks, träumt in typisch postromantischer Manier von Fragmenten anderer Epochen, die sich für den Kinozuschauer chronologisch später im Film, tatsächlich jedoch in der Zeit vor seiner Lebenszeit ereignet haben. Der Seher Traum, als Sinnbild der im Film oftmals zitierten Aussage: `Alles ist verbunden….` wird abrupt beendet, indem Zachry aus dem Schlaf hochschreckt, die Kamera sich um 180 Grad dreht und ihn scheinbar im freien Fall aus dem Bett katapultiert. Die Orientierungslosigkeit wird durch die Kamerabewegung auf den Betrachter übertragen und dient als Fingerzeig der bewusstseinserweiternden Erkenntnis, die vom Protagonisten jedoch nur erahnt werden kann. Die aufrüttelnde Hervorhebung wird nicht nur gesehen, sondern geradezu erlebt.
Extreme Einstellungsperspektiven finden sich in CLOUD ATLAS beispielsweise während die Äbtissin des Dorfes Zachary seine Zukunft voraussagt. Die Kamera blickt in Großaufnahme von schräg oben auf die Seherin hinab, die weit geöffneten Augen der Frau gucken an der Kamera vorbei ins Unendliche, in die ferne oder nahe Zukunft der folgenden Voraussage. Den Prozess der hypnotischen Versenkung begleitet der Betrachter nun hautnah mit, mit jedem Augenschlag wechselt die Farbe der Iris, bis die Äbtissin  sich offenbar tief genug in die mystische Versenkung der Voraussage hineinbegibt.

Am Schnittplatz:
DIE TÖDLICHE MARIA und WINTERSCHLÄFER werden von Katja Dringenberg im Schnitt bearbeitet. Seit LOLA RENNT arbeitet Tykwer durchweg mit Mathilde Bonnefoy als Cutterin. Die Filmcrew ist bei Tykwer, vergleichbar mit bekannten Filmemachern des Autorenkinos- etwa eines Fassbinder- fester Bestandteil der Filmgenese und bleibt über die Jahre hinweg in selbiger Konstellation bestehen.
Mathilde Bonnefoy sichtet im Filmschnitt in enger Zusammenarbeit mit Tykwer das Filmmaterial unvoreingenommen, ohne zuvor an den Dreharbeiten teilgenommen zu haben. Tykwer betont die Wichtigkeit seiner Cutterin, die in ihrem analytischen Blick die Wirkung der entstandenen Szenen dokumentiert und somit den ersten Blick des späteren Kinobesuchers nachempfinden kann. Typische dem Schnittplatz erwachsene Elemente lassen sich wie folgt zusammenfassen:
In WINTERSCHLÄFER arbeitet Tykwer bereits mit extremen Überblendungen, die erneut den hohen Abstraktionsgrad seiner Arbeiten dokumentieren: Gegen Ende des Films deutet eine lange Überblende zwischen Rebeca und Marko das Scheitern der Beziehung beider an, die dem hedonistischen Prinzip unterworfen ist. Rebeca ist in Großaufnahme zu sehen, blickt aus dem Fenster und atmet versunken den Rauch ihrer Zigarette (Rauchen=Lustprinzip)  aus. Diese Einstellung legt sich über die Totale Einstellung des skifahrenden Markos, der unendlich kleiner wirkt und durch den übergroßen Mund seiner Freundin mit Rauch umnebelt zu werden scheint. Tatsächlich stürzt er im Anschluss in die Tiefe und den unweigerlich folgenden Tod. In DIE TODLICHE MARIA schaffen die kurz aufeinanderfolgenden Blenden einen Kontinuitätsfluss, der Gegenstände kausal zusammenfügt, um den Ablauf von Zeit zu versinnbildlichen: Kaffeefilter-Uhr: die Zeit vergeht.
Tykwers Filme sind auffällig oft mit Weißblenden durchsetzt, lediglich in WINTERSCHLÄFER verwendet er die Schwarzblenden für den Tod Markos.
Parallelmontagen bezeugen den deterministischen Kosmos der tykwerschen Welt: In WINTERSCHLÄFER erlöst Theo sein Pferd mit dem Gnadenschuss, die darauf folgende Einstellung zeigt Marko aufschrecken. Eine folgenreiche Konstellation, denn Theo hält Marko später für den Schuldigen des tödlichen Unfalls seiner Tochter und treibt ihn in die Flucht, die Marko selbst das Leben kostet. Das Schicksal scheint seinen Schatten vorauszuwerfen. In CLOUD ATLAS spricht der gesamte Film für die Verwendung dieses Elements, denn alle sechs Geschichten sind so miteinander verwoben, dass sie zeitgleich, hintereinander oder nebeneinander stattzufinden scheinen. Tykwer betont den mehrfach sich widerholenden Sinn: alles ist eins. In unkonventioneller, dem Musikfernsehen und Comikelementen entnommener Sinne,  zeigt  Tykwer in DREI durch Split Screens eine Parallelmontage, die tatsächliche Gleichzeitigkeit nicht nur dokumentiert, sondern gleich auch kritisch kommentiert: Die Dreierbeziehung der Protagonisten wird auf ihre Echtheit hin untersucht: während Simon und Hanna heiraten werden sie in Großaufnahme im Split Screen nebeneinander gezeigt. Ein bildliche Trennung die während der Vermählung nicht bezeichnender sein könnte, denn im Verborgenen führen sie beide eine Affäre mit demselben Mann. Der Versuch durch konventionelle  Eheschließung die brüchige Zweierbeziehung zu retten ist gescheitert, denn die Unehrlichkeit sich selbst und dem anderen gegenüber bleibt bestehen, so dass auch die seelische Trennung nicht zu überwinden ist.
Slowmotion Sequenzen dienen ebenso der artifiziellen Entfremdung der Ereignisse: der Unfall in WINTERSCHLÄFER zeigt verlangsamt, was dem Titel des Filmes entsprechend nicht nur den Protagonisten, sondern auch den Autos samt selbigen passiert: alles scheint wie im Schlafe wegzudämmern. Das im Schnee versinkende Auto gleitet ab, als würd es sich zur Ruhen legen, nicht zu Bruch gehen.  Ebenso vollzieht der Käfer der Journalistin Luisa Ray in CLOUD ATLAS  eher eine Choreographie, mit Mehrfachschraube, um galant ins Wasser zu tauchen, als die Brachialität des ihm zukommenden Unfalls zu zeigen. In LOLA RENNT verlangsamt sich die Zeit für Lola, die sich in Zeitlupe gefangen sieht, hierdurch den Dieb des Fahrrads nicht mehr erreichen kann und sich dem Schicksal unterwerfen muss.

Im Tonstudio:
Das Trio Tykwer, Klimek und Heil komponiert seit DER KRIEGER UND DIE KAISERIN gemeinsam die Filmmusik, die weder bloßes Beiwerk noch reine Untermalung des Filmbilds darstellt.
Die Entlehnung der Klänge lässt sich zum einen auf elektronische Wurzeln zum anderen auf klassische Musik zurückführen.  Beliebtes Stilistisches Mittel sind jedoch auch vereinzelte Geräusche, wie Zischen oder Klackern, den Betrachter in ihren Bann ziehen.Seit LOLA RENNT verwendet Tykwer jedoch auch populäre Songs, wie etwa den mit der Hauptdarstellerin des Films, Franka Potente  und dem Sänger der `Fantastischen Vier`, Thomas D eingespielten erfolgreich vermarkteten Song: `Wish`, der programmatisch für die Rhythmisierung des Films ist. Ein elektronisch sich steigernder Beat mit eindringlichem Sprechgesang, der die Stimmung und Intensität der getriebenen Lola einfängt und den Herzschlag des Betrachters auf einen ebensolchen Dauersprint mitnimmt.
Kontrapunktisch zum Handlungsinhalt verwendete Tykwer Lieder, wie `What a difference a day makes` von Dinah Washington: die in Zeitlupe rennende Lola wird von der Polizei erschossen, muss sich also ihrem `ersten Lauf `entsprechenden Schicksal stellen. Die Musik transportiert jedoch eher ein wohlig warmes Gefühl von Sentimentalität, ein Augenzwinkern gegenüber dem hier unausweichlichen Tod Lolas, der zumindest chronologisch betrachtet mit den nächsten Alternativ-Läufen der Protagonistin wieder aufgehoben wird, da im zweiten Lauf ihr Freund Manni, im dritten Lauf keiner der beiden Sterben muss.
Ähnliche Szenen lassen sich vor allem in WINTERSCHLÄFER und HEAVEN, besonders in dramaturgischen Kontexten des neuordnenden Todes-Motivs wiederfinden: In WINTERSCHLÄFER wird der Dreh und Angelpunkt des Films: der folgenreiche Unfall zwischen Rene und Theo verlangsamt: während das Bild in Zeitlupe die verunglückenden Autos zeigt, wird der Originalton in Normalzeit abgespielt. Die Tonspur wirkt hierdurch bedrohlicher, als es das Filmbild suggeriert. In HEAVEN verfährt Tykwer ähnlich: während der Flucht der Protagonisten im Polizeihubschrauber der Carabinieri ist der Ton erst ganz ausgeblendet, dann hört man nur ganz leise die Schüsse der Polizisten, die Versuchen die Fliehenden aufzuhalten. Der Ton besänftigt das verlangsamte Bild, welches bei Originalton durch die Hubschraubergeräusche und die abgeschossenen Maschinenpistolen ohrenbetäubend wirken würde. Das Eintauchen des bis zur Unkenntlichkeit aufsteigenden Helikopters in den Himmel, wird zum engelsgleichen Entschweben.
Bei Tykwer werden Einzelgeräusche  zum stilistischen Mittel erhoben: in LOLA RENNT wird der Kinobesucher auf eine Reise in die Anfänge des Films mitgenommen: der frühe Film wurde vor allem auf Jahrmärkten und Rummelplätzen gezeigt, eben an Orten, die Regeln und Normen entkräften und phantastisches in den Vordergrund rücken. Die Exposition zieht den Betrachter auf einer Art Geisterbahn in den Rachen einer Fratze, begleitet von dem klackernden Geräusch der Haken, wenn die Bahn das Steilstück der Schienen emporgezogen wird, um anschließend in ungebremst rasanter Fahrt ins Dunkel der Geister-Achterbahn hineinzustürzen. Ein ähnliches Klackern verwendet Tykwer bei CLOUD ATLAS in der spannungsgeladenen Szene, bei der die Journalistin Luisa Ray von außen durch den Spion einer Tür guckt, hinter der der Mörder des von ihr zuvor verständigten Sixmeth mit geladener Pistole steht. Wie ein Glücksrad beschleunigt sich das Klackern, nimmt den Herzschlag des gespannten Betrachters mit, um sich dann bei abwenden der Gefahr durch Rückzug der Protagonistin wieder zu verlangsamen.
Die Filmmusik ist in ihrer Wertigkeit als Symbiose mit dem filmischen Bild zu verstehen, sie begleitet den Betrachter, versetzt ihn in kontemplatives Sinnieren  über die Tiefe des Gesehenen und geht über das Filmbild hinaus, indem es die Emotionen des Rezipienten fesselt, aber auch erschüttert und fortreizt. Wer ein tykwersches Werk gesehen hat, fühlt sich in jedem Folgewerk unweigerlich in den unverwechselbaren audio-visuellen Kosmos hineinversetzt. Tykwer schafft durch gerade diese audio-visuelle Verknüpfung einen Fingerzeig, der nicht selten auf die utopische Metaebene seiner kritischen Gesellschafts-Interpretation hinweist: HEAVEN und DREI  enden beide in einer wortlosen- tonlosen Schwebesequenz, die bis ins unendliche, utopische über den bloßen Erzählstrang der Geschichte hinausreichen. Während Filippo und Philippa im Helikopter in Höhen des Himmels eintauchen, die schier unmöglich sind, also aussteigen aus der Geschichte, der Gesellschaft und der Norm, so wird in DREI gezeigt, dass die Anlage des Menschen ihren Ursprung im Petri Glas findet und die gesamte Erzählung rückwirkend dem utopisch-fiktionalem zugeordnet wird, jedoch die Möglichkeit der unkonventionellen Dreierbeziehungen in jedem Menschen vorhanden ist.

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