Charakteristika des Werks

Spieltrieb

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Spieltrieb [ ↑ ]
In Spieltrieb geht es um die Konfrontation gegensätzlicher Welt- und Menschenbilder. Auf der einen Seite stehen die GymnasiastInnen Alev und Ada, die sich selbst als die Urenkel der Nihilisten betrachten und an nichts glauben – das Einzige, was dem Menschen bleibe, sei ihrer Meinung nach der Spieltrieb. Auf der anderen Seite steht der polnische Deutsch- und Sportlehrer Smutek, der mit seinem Glauben an das Gute im Menschen und mit der Liebe zu seiner Frau eine Art Idealismus verkörpert.
Ada ist für ihr Alter von fünfzehn Jahren ungewöhnlich intelligent und gleichgültig. Weil sie einen Jungen mit einem Schlagring verprügelt, muss sie die Oberstufe auf dem privaten Ernst-Bloch-Gymnasium, das sich um Härtefälle wie Ada kümmert, beenden. Ein Jahr nach Adas Neuanfang auf dem Ernst-Bloch-Gymnasium in Bonn kommt Alev, ein attraktiver sowie scharfsinniger Halbägypter in ihre Stufe, der glaubt, dass er selbst entweder Gott oder Teufel persönlich sei. Er überzeugt Ada davon, dass dem Menschen in der Gegenwart nichts außer dem Spieltrieb geblieben ist und weiht sie in die Theorie des Spiels ein. Letztlich bekommt Alev seine Auserwählte so weit, dass sie einwilligt, ein ‚Spiel‘ mit ihm zu spielen. Als Gegner wählt Alev den verheirateten Smutek, der von der Intelligenz und der Schnelligkeit seiner Schülerin, welche sie sowohl im Unterricht als auch beim gemeinsamen Lauftraining unter Beweis stellt, fasziniert ist. Ada bekommt den Auftrag, Smutek zu verführen. Es funktioniert. Als Smutek und Ada auf einem Mattenwagen in der Turnhalle miteinander schlafen, fotografiert Alev die Straftat heimlich, um Smutek anschließend mit den Beweisfotos zu erpressen. Doch Alev hat es nicht auf Smuteks Geld abgesehen: Alev will mehr – er will ‚spielen‘. Er befiehlt Smutek und Ada, sich jeden Freitag auf ein Neues in der Turnhalle zu treffen, um miteinander zu schlafen. Alev konstruiert ein Gefangenendilemma. Ihm zufolge, meint er es nur gut mit Smutek: Durch die Erpressung könne Smutek die Freiheit erlangen, die Alev und Ada durch ihr nihilistisches Weltbild bereits besäßen. Zwischen den ProtagonistInnen entwickelt sich eine kuriose, sadomasochistische Dreiecksbeziehung. Ada und Alev fühlen sich von Beginn an zueinander hingezogen, nach und nach entwickelt sich allerdings auch eine Anziehungskraft zwischen Smutek und Ada. Nach einer vermeintlichen Verbündung der beiden Gefangenen Ada und Smutek bestimmt Alev das Aus des Spiels, indem er die Beweisfotos veröffentlicht. Infolgedessen rastet Smutek aus: Er schlägt Alev mehrere Zähne aus. Am Ende werden der Lehrer und die zwei SchülerInnen vor Gericht geladen. Alev und Smutek als Angeklagte, Ada hingegen als Zeugin. Nach einem überzeugenden Plädoyer von Ada, welches erklärt, dass Smutek mehr Opfer als Täter in der kuriosen Begebenheit sei, wird Smutek freigesprochen und Alev zu mehreren Jahren Jugendhaft auf Bewährung verurteilt.

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Thematische Aspekte zu Spieltrieb [ ↑ ]

Philosophische und politische Diskurse
In den Werken von Juli Zeh werden zentrale philosophische Fragen und politische Diskurse verhandelt. In Spieltrieb beispielsweise stehen die NihilistInnen Ada und Alev, dem Idealisten Smutek gegenüber. Ada und Alev setzen sich vom Nihilismus nach Nietzsche ab, indem sie sich als die „Urenkel der Nihilisten“ (S. 305) bezeichnen. Im Unterschied zu Alev und Ada hätten Nietzsches Anhänger zumindest geglaubt, „dass es etwas gebe, an das sie NICHT glauben konnten“ (S. 309). Mit dem gegensätzlichen Weltbild der beiden Parteien hängt zudem ein unterschiedliches Menschenbild zusammen: Nach Smutek besteht der geheime Kern allen menschlichen Verhaltens aus sehnsuchtsvollem Flehen um Zuneigung, Nähe und Wärme (vgl. S. 494). Im Gegensatz dazu sind Alev zufolge Feigheit, Eigennutz und Dummheit die drei Prinzipien auf denen die Menschheit beruht (vgl. S. 459).
Neben weiteren philosophischen Erörterungen, zum Beispiel über Raum und Zeit (vgl. S. 301), nehmen politische Diskurse in Spieltrieb einen hohen Stellenwert ein – insbesondere die ‚Amerika-Debatte‘. Ada konstatiert in Bezug auf die Ereignisse des 11. Septembers:
„Worauf es ankommt, ist die Form: Ein paar Insurgenten, die sich todesmutig ins Zentrum stürzen, sind nach den Gesetzen Hollywoods strukturell im Recht. […] Ich sage: todesmutig, zum Beispiel mit einem Flugzeug, ins Zentrum der Macht. Das ist David gegen Goliath, Skywalker gegen den Todesstern, Panem et circenses!“(S. 147-148)
Adas Kommentar impliziert, dass die Vereingten Staaten nicht den „individual fighter against the evil empire, but the evil empire itself” (Smith-Prei und Richter 2013, S. 196) repräsentieren würden. Mit diesem außergewöhnlichen Blickwinkel auf die Terroranschläge erregt sie sowohl bei ihren MitschülerInnen als auch bei ihrem Schulleiter Ärgernis.

Die Grenzen des Rechts
Ein weiterer zentraler Themenkreis in Zehs Werken ist das Recht beziehungsweise die Rechtswissenschaft. In Spieltrieb, Corpus Delicti und Nullzeit werden außergewöhnliche Rechtsfälle behandelt, in denen man den ProtagonistInnen Unschuld und Schuld nicht eindeutig zuordnen kann. In den Textwelten verschwimmt die Grenze zwischen Recht und Unrecht.
In Spieltrieb wird der Lehrer Herr Smutek von seinen SchülerInnen Ada und Alev erpresst und von ihnen zum Sex mit der 24 Jahre jüngeren Ada genötigt: Ein, rechtlich gesehen, ungewöhnlicher Fall. Eine weitere Besonderheit fundiert auf dem Welt- und Menschenverständnis der beiden SchülerInnen. Ada und Alev wollen Smutek nichts Böses, denn als NihilistInnen unterscheiden sie nicht zwischen ‚gut‘ und ‚schlecht‘. Sie wollen lediglich, dass Smutek durch die Erpressung seine eigene Freiheit erlangt. Als die drei am Ende des Romans vor Gericht geladen werden, sieht sich die Richterin Sophie mit einem rechtlichen Ausnahmefall konfrontiert:
„Smutek und Alev hätten ebenso gut zu Zeugen getaugt wie Ada zur Angeklagten, sie waren Menschen unter anderen Menschen, die sich über etwas unterhielten, das erstens vorbei war, zweitens niemanden außer den Beteiligten etwas anzugehen schien und drittens auf so seltsamen Motiven beruhte, dass sich das rechtliche Instrumentarium in den Händen der kalten Sophie anfühlte wie Hammer und Meißel beim Versuch, eine Homepage zu bauen.“ (S. 555)
Im Zusammenhang mit dem juristischen ‚Grenzfall‘ steht auch das Motiv der ‚Grenze‘, das in Spieltrieb von Ada als schmaler Grat verbildlicht wird. Ada erklärt, dass sie sich auf einem schmalen Grat, einem „lang gezogenen First eines Bergmassivs“ (S. 211) befinde, links und rechts von ihr „ginge es tausend Meter in die Tiefe“ (ebd.). Die meisten Menschen seien der Auffassung, dass es sich bei diesem Strich um „einen Farbstreifen zwischen zwei Spuren“ (S. 215) handle, auf dem sie „ruhig und sicher“ (ebd.) laufen würden. Und genau das ist der Punkt, in dem sich Ada von den meisten Menschen unterscheidet: Sie hat erkannt, dass diese Grenze zwischen ‚gut‘ und ‚schlecht‘, ‚recht‘ und ‚unrecht‘ oder auch ‚nichts‘ und ‚etwas‘ lediglich „ein Grat ist, der über einen bodenlosen Abgrund führt“ (ebd.), folglich gerät sie „ins Straucheln und in Lebensgefahr“ (ebd.). Als sich Ada zu einem späteren Zeitpunkt dazu entscheidet, Alevs Spiel mit Herrn Smutek mitzuspielen, wird erneut mit der Grenzmetaphorik gearbeitet: „Als sie losrannte, hatte sie bereits eine Grenze überschritten, und alles, was geschehen war, blieb hinter ihr zurück.“ (S. 296)

Das Corpus Delicti
Der Gegenstand des Verbrechens beziehungsweise das Beweisstück ist in Zehs Prozessgeschichten meistens Handlungsträger. Das Corpus Delicti ist nicht nur in dem gleichnamigen Roman von Juli Zeh von Bedeutung: Bereits in Spieltrieb arbeitet die Autorin mit jenem Motiv. In Spieltrieb sind die Corpora Delicti die Beweisfotos, die Ada und Smutek beim Geschlechtsakt zeigen. Sie dienen Alev und Ada als Erpressungsmittel und treiben insofern die Handlung voran, als dass sie Smutek dazu nötigen, mitzuspielen. Aber auch an anderen Stellen tritt das Corpus Delicti als Motiv auf, zum Beispiel nach dem oralen Verkehr zwischen Ada und Olaf: „,Er hat mich vollgespritzt‘, sagte Ada, ihr T-Shirt wie ein corpus delicti in die Luft hebend. Rocket lachte.“ (S. 118)

Staats- und Menschenkritik
Juli Zeh versieht ihre Sprache mit Metaphern und Vergleichen aus dem Bildbereich des Kriegs, des Kampfes und der Jagd. In Spieltrieb wird Ada „von verbalen Kreuzzügen heimgesucht“ (S. 37), Joe lächelt „wie ein Jäger“ (S. 43) und für Alev ist „jeder Gesprächspartner ein Gegner und jede Unterhaltung eine Schlacht“ (S. 139). Hinzuzufügen ist, dass ‚Krieg‘ nicht nur auf der metaphorischen sondern auch explizit auf der thematischen Ebene im Werk Zehs auftritt. Insbesondere in Spieltrieb sind Krieg und Terror zentrale Themen, zum Beispiel geschieht die Einbettung ins Zeitgeschehen durch den Verweis auf den Beginn des Irakkriegs (vgl. S. 106), Ada diskutiert mit dem Brigadegeneral „Einsatzstrategien des amerikanischen Militärs“ (S. 190), die jüngeren Klassen spielen auf dem Schulhof „George Bush und Bin Laden anstelle von Räuber und Gendarm“ (S. 43) und Ada bezieht Stellung zum Amoklauf von Erfurt (vgl. S. 199).
Die ‚barbarische‘ Natur des Menschen wird außerdem durch die verwendete Tiermetaphorik in Zehs Romanen verbildlicht. In Spieltrieb sieht Olaf Ada beispielsweise mit den „Augen eines Tiers“ (S. 115) an, Höfi kippt den Kopf „wie eine Eule“ (S. 206), Frau Smutek schaut „wie ein Pferd“ (S. 206) und Ada hängt über ihrer Müslischüssel „wie ein Hund über seinem Napf“ (S. 496). Hier deutet der wiederkehrende Vergleich zwischen Mensch und Tier auf den Pragmatismus hin, dem der Mensch verfallen ist: „Allein, der pragmatische Mensch unterscheidet sich vom pragmatischen Tier in einer bedeutenden Einzelheit. Sein Spieltrieb erlischt nicht mit dem Eintritt der Geschlechtsreife. Sein Spieltrieb lebt ewig. Ob das den menschlichen Pragmatismus zu einer gefährlichen Einrichtung macht – ich vermag es nicht zu sagen.“ (S. 520) Die äquivalenten Funktionen von Kriegsmetaphorik und Tiermetaphorik stechen besonders hervor, wenn die Romanfiguren als Raubtiere verbildlicht werden: „Zu dritt starrten sie in die Kabine wie in einen geöffneten Raubtierkäfig, extra hergekommen, um sich von Ada bedrohen zu lassen, die vielleicht nur auf die erste Bewegung wartete, um zum Sprung anzusetzen.“ (S. 58) Auch Kramers Bewegungsabläufe erinnern „an die trügerische Gelassenheit einer Raubkatze, die, eben noch mit halb geschlossenen Lidern in der Sonne dösend, im nächsten Augenblick zum Angriff übergehen kann“ (S. 15).

Medienkritik
In Spieltrieb kritisiert Ada an einer Stelle, dass zum einen nur eine ganz bestimmte Auswahl an Personen die Möglichkeit habe, ihre Meinung an die Öffentlichkeit zu tragen, zum anderen würde diese bestimmte Auswahl an Personen Ereignisse immer ähnlich kommentieren: „Sprechzeit gab es nur für jene, die auf egal welches Ereignis die immer gleichen Antworten parat hatten: Wir sind geschockt und tief betroffen und hoffen, dass die Regierung etwas unternimmt.“ (S. 199) Ada zufolge sind die Meinungen und Positionen, die in den Medien vertreten werden, zu homofon.
Sowohl Kramer als auch Würmer sind Figuren, die den (deutschen) Medienbetrieb in keinem guten Licht erscheinen lassen. Kramer ist ein Fanatiker, der die Medien auf manipulative Weise dazu nutzt, das Volk von seiner Ideologie zu überzeugen. Alle Informationen, die er von Mia bekommt, verwendet er als Mittel zum Zweck. Im „gesunden Menschenverstand“ legt er Mias Aussagen anders aus, als sie sie gemeint hat oder stellt sie in falsche Kontexte, damit Mia dem Volk als eine Bedrohung erscheint. Die Art Journalismus, die Kramer betreibt, verdeckt die ‚andere‘ Seite der Geschichte willentlich und ist somit weder objektiv noch wahrheitsgetreu. Der Journalist Würmer steht zunächst auf Mias Seite, aber beim finalen Prozess sagt er plötzlich gegen sie aus und lügt wissentlich. Würmer entpuppt sich als das Stereotyp des Feiglings. Er kennt die Wahrheit zwar, traut sich aber nicht, sie preiszugeben.

Fiktion²: Das (Schau)Spiel
In den Romanen von Juli Zeh ist das ‚(Schau)spiel‘ auf der thematischen, der motivischen und der metaphorischen Ebene ein zentrales Element. In Spieltrieb deutet bereits der Titel des Romans daraufhin. Um nachzuvollziehen, warum es zu dem sadomasochistischen ‚Spiel‘ zwischen Alev, Ada und Smutek kommt, muss man sich mit Alevs Welt- und Menschenbild auseinandersetzen, bei dem das ‚Spiel‘ und der ‚Spieltrieb‘ entscheidende Funktionen einnehmen. Für Alev ist die menschliche Entscheidung „nichts weiter als ein vortrefflich einstudiertes Spiel“ (S. 179), ihm zufolge gibt es „kein Für und Wider, keine Gründe für rechts und links“ (ebd.). Alev macht das ‚Spiel‘ zu seiner Ideologie, weil es für ihn zum einen „der Inbegriff demokratischer Lebensart“ (S. 260) und zum anderen die letzte „verbliebende Seinsform“ (ebd.) für den Menschen sei:
„Nur im Spiel sei dem Menschen echte Freiheit möglich. Das Spielen verpflichte zur Gleichheit, da allen Spielern dieselben Voraussetzungen eingeräumt würden, und verwirkliche außerdem den Gedanken der Rechtssicherheit, weil ein Spiel nur innerhalb der eigenen Regeln stattfinden könne“ (S. 260).
Laut Alev hält uns der Spieltrieb seit ‚Gottes Tod‘ mental am Leben, er ersetze die Religiosität, beherrsche die Börse, die Politik, die Gerichtssäle und die Pressewelt. Um in einer Welt zu überleben, die vom Spieltrieb beherrscht wird, versucht Alev ein immer besserer Spieler zu werden: „Auf verschiedenen Schulen hatte er gelernt, innerhalb kürzester Zeit die Zentren der Macht zu identifizieren und dort einzudringen, Kontakte zu knüpfen, Intrigen zu schmieden, Interessen auszukundschaften und zu instrumentalisieren, Seilschaften zu sprengen und neu zusammenzufügen.“ (S. 168) Auf dem Ernst-Bloch-Gymnasium findet Alev mit Ada die perfekte Spielgefährtin, weil auch sie an nichts glaubt, „amoralisch, anormal und asozial“ (S. 421) ist und dem ‚Spiel‘ deswegen offen gegenübersteht. Als Aufwärmübung machen Alev und Ada die Klasse zum Spielfeld (vgl. S. 247): Gemeinsam beherrschen sie den Unterrichtsdiskurs. Dann sucht sich Alev ein größeres Ziel: Smutek. Alev zufolge will er Smutek nichts Böses – ganz im Gegenteil – durch das ‚Spiel‘ erlange Smutek seine persönliche Freiheit:
„Nun lehrt uns die Spieltheorie, dass erst bei iterativen Wiederholungsfolgen die Angst vor dem Gegner zum Tragen kommt und die Gelegenheit zur Kooperation entsteht. Ansonsten existiert nur Verrat. Daraus folgt, dass nur durch eine drohende Sanktion echte Entscheidungsmöglichkeiten eröffnet werden.“ (S. 343)
In Alevs Sinne glückt sein Vorhaben, Smutek durch das ‚Spiel‘ zu ‚befreien‘ – im Laufe des ‚Spiels‘ entbindet sich Smutek allmählich von seinen ursprünglichen Wertvorstellungen und moralischen Grundsätzen:
„Was Smutek bei einem solchen Gespräch am wenigstens behinderte, war sein Gewissen. Die Überzeugung, dass die Turnübungen auf hellblauem Untergrund unter anderem dazu dienten, ihm aus seiner alten Haut herauszuhelfen und ihm die Möglichkeit zu eröffnen, das wiedererwachte Schneewittchen zum zweiten Mal kennen zu lernen, war so klar und strahlend, dass sich die nebligen moralischen Landschaften dahinter blass ausnahmen wie die umliegende Wüste hinter den Leuchtreklamen von Las Vegas. Nie hatte der katholische Gott sich schwächer gezeigt.“ (S. 386)
Am Ende des ‚Spiels‘ stellt sich heraus, dass die Beziehung von Smutek und seiner Frau auf Lügen beruhte. Smutek kann mit Ada ein neues Leben anfangen. Alev selbst geht als ‚Verlierer‘ aus dem ‚Spiel‘ heraus: Er wird von Smutek verprügelt und dabei so übel zugerichtet, dass er seine ursprüngliche Anziehungskraft verliert, welche ihm das ‚Spiel‘ so leicht gemacht hat. „I lost to watch you win. Das weißt du doch“, (S. 561) sagt er beim Abschied zu Ada und wirft somit die Frage auf, ob er sich selbst hat instrumentalisieren lassen.
Ergänzend zu dem ‚Spiel‘ als Thema, werden in dem Roman Metaphern eingesetzt, die dem Bildbereich des Spiels entstammen. Zum Beispiel dient das strategische Spiel Schach als Quelle für Metaphern: „Es war das Interesse eines ehrgeizigen Schachspielers an einem gut positionierten Springer. Nicht sein Herzblut hatte sie gekostet, sondern den Geschmack von Kampf und Sieg.“ (S. 165) Darüber hinaus werden sowohl Smutek als auch Ada als „Spielzeug“ (S. 187, S. 235, S. 381) beschrieben, um hervorzuheben, dass sie von Alev instrumentalisiert werden. Alev selbst ist der Spielleiter: Er hat die „Hände, in der alle Fäden zusammenliefen“ (S. 400) – an dieser Stelle tritt die Spielmetaphorik mit der Schauspielmetaphorik in Symbiose.
Der Scheidungsprozess zwischen Adas Mutter und ihrem Stiefvater wird als „Gerichtssaaltheater“ (S. 370) bezeichnet – in Spieltrieb wird eine Rechtskritik angedeutet, die fünf Jahre später in Corpus Delicti noch sichtbarer wird. „Es dauerte eine Weile, bis sie fertig war und sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischte, schwarz und schweigend umringt von den Gesichtern der übrigen Anwesenden, die ein treues Zirkuspony inmitten ihrer Manege verrückt werden sahen.“ (S. 369) Dieses metaphorische Bild, in dem die Tiermetaphorik mit der Schauspielmetaphorik gekoppelt wird, weist nicht nur auf die Scheinhaftigkeit des Gerichtsprozesses hin, sondern deutet auch an, dass der Mensch unter dem (deutschen) Rechtssystem domestiziert und instrumentalisiert werde.

Verschiedene Konzepte von Sexualität und Liebe
Sexualität und Liebe sind wichtige Themen in Juli Zehs Werk, die auf unterschiedlicher Weise verhandelt werden. Zum einen sticht heraus, dass die Beziehungen der ProtagonistInnen in den Romanen oft hierarchische und sadomasochistische Tendenzen aufweisen. Den Sadomasochismus kann man sowohl mit Zehs Grenzmotivik im Zusammenhang sehen, da im Sadomasochismus die Grenze zwischen Gewalt und Zärtlichkeit eine zentrale Rolle spielt, als auch mit der Thematik des Spiels. Zum anderen stehen in Spieltrieb, Corpus Delicti und Nullzeit überwiegend Dreiecksbeziehungen (bzw. Vielecksbeziehungen) im Fokus. In summa werden in den drei Romanen viele verschiedene Konzepte und Reglementierungen von Liebe und Sexualität dargestellt. Was kann, was darf und was soll sein? Fragen, die in unserer gegenwärtigen Gesellschaft von großer Bedeutung sind.
Als erstes erschließt sich in Spieltrieb die Dreiecksbeziehung zwischen Ada, Alev und Smutek. Nicht nur zwischen Ada und Alev sowie zwischen Ada und Smutek besteht eine Beziehung, sondern auch zwischen Smutek und Alev, die eine Art unerotische Hass-Liebe füreinander empfinden. Man kann allerdings auch die Figuren Olaf, Odetta und Frau Smutek in das Beziehungsgeflecht miteinbeziehen: „Während Smutek weitere einleitende Sätze zum Schuljahresbeginn sprach, bemerkte Ada, dass Olaf beobachtete, wie sie Alev beobachtete. Es entstand ein Delta aus Blickachsen zwischen drei Ecken des Raums“ (S. 123) Odetta ist nicht nur die Komplizin von Alev, sie tritt auch sexuell mit ihm in Kontakt. Im Gegensatz dazu führen Olaf und Ada zu Beginn des Romans eine asexuelle (Liebes-)beziehung. Die Beziehungen von Olaf und Ada sowie von Odetta und Alev sind eher einseitig: Ada und Alev erwidern die Gefühle von Olav und Odetta nicht oder nicht genauso stark. Am Ende des Romans finden sowohl Smutek und Ada als auch Olaf und Odetta zusammen; Alev endet allein.
Interessant ist in Spieltrieb nicht nur das Beziehungsgeflecht an sich, sondern auch die Art der Verhältnisse. Die Beziehung zwischen Ada und Smutek kennzeichnet eine ungewöhnliche Hierarchie, denn das fünfzehnjährige Schulmädchen hat die Macht über ihren vierundzwanzig Jahre älteren Lehrer. Smutek ist nicht nur über zwei Jahrzehnte älter, er ist als Lehrer auch Autoritätsperson. Dennoch hat Ada ihn in der Hand. Adas und Alevs Beziehung zu Smutek könnte man als sadistisch bezeichnen, da die beiden Smutek zwar schaden, ihm durch die Erpressung jedoch eine Freude bereiten wollen. Adas und Smuteks Verhalten könnte man hingegen als masochistisch charakterisieren, da Ada sich durch die Beweisfotos freiwillig mit zur „Gefangenen“ macht und Smutek die Erpressung mitunter auch genießt. Außergewöhnlich ist in der Beziehung zwischen Ada und Alev außerdem das Fehlen einer sexuellen Komponente, da Alev impotent ist. Darüber hinaus ist das Verhältnis der beiden geprägt von einer Art Besessenheit, die Ada „krank“ (S. 134) macht: „Fest stand allein, dass sie etwas wollte, das Alev sein Eigen nannte. Das war nicht Liebe, sondern Annexionsbestreben auf den ersten Blick.“ (S. 137)

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Formale Aspekte zu Spieltrieb [ ↑ ]

Die Erzählinstanz oder: Eine Grenze zwischen Nähe und Distanz
Bei der narrativen Analyse von Zehs Romanen steht vor allem die Frage nach der (Un-)Zuverlässigkeit des/der ErzählerIn im Vordergrund. Des Weiteren lässt sich feststellen, dass Juli Zeh die auktoriale Erzählsituation sowie JuristInnen als ErzählerInnen bevorzugt. Durch die Unzuverlässigkeit des/der ErzählerIn, den Gebrauch von bestimmten rhetorischen Mitteln und durch Illusionsbrüche erschafft Zeh oft eine Distanz zwischen LeserIn und Werk.
In Spieltrieb gibt die Erzählerin ihre Identität zunächst nicht preis: „Ich lasse offen, wer ich bin. Ich bitte um Verständnis und entschuldige mich für entstandene Unannehmlichkeiten.“ (S. 8) Sie nimmt die Perspektive einer auktorialen Erzählerin ein: Sie gewährt Einblicke in die Gedanken der ProtagonIstinnen, gibt Erinnerungen der Figuren wieder und macht proleptische Andeutungen: „Alle Beteiligten spürten, wie ihnen das neue Jahr über die Schulter sah. Nicht alle würden es überleben. Niemanden würde es so hinterlassen, wie es zuvor gewesen war.“ (S. 248) Lediglich Alevs innere Gedanken vermag die Erzählerin nicht wiederzugeben. Da die Figur Alev durch ihre Mystifizierung lebt, bleibt sie für den/die RezipientIn, ebenso wie für Ada, undurchschaubar: „Solange er nicht sprach, hatte sie keine Ahnung, was in ihm vorging.“ (S. 394) Ein weiteres narratives Mittel, das den Eindruck verstärkt, es handle sich um eine/n auktoriale/n ErzählerIn, ist das Pluralis Modestiae: „Im nächsten Moment aber war sie fort, ausgeschaltet wie eine Nachttischlampe, unerreichbar für sich selbst, unerreichbar für uns.“ (S. 287)
Gegen Ende des Romans, auf Seite 517, wird unvermittelt ein Kapitel eingeschoben, welches aus der Ich-Perspektive der Richterin Sophie erzählt wird. Dieser Einschub lässt darauf schließen, dass es sich bei dem/der allwissenden ErzählerIn die ganze Zeit um eine homodiegetische Erzählerin handelte, nämlich um die „kalte Sophie“. Der kurze Wechsel der Perspektive ist somit ein Illusionsbruch: Der/die ErzählerIn wirkt mit einem mal nicht mehr zuverlässig, da die kalte Sophie über das Innenleben der Figuren nicht Bescheid wissen kann. Neben diesem Illusionsbruch tragen die reflexiven Kapitelüberschriften wie zum Beispiel „Smutek bleibt bei klarem Verstand. Sein Schneewittchen erwacht und begrüßt ihn als genesenen Kranken. Nie hat der katholische Gott sich schwächer gezeigt“ (S. 379) dazu bei, dass die Distanz zwischen dem/der LeserIn und dem Erzählten größer wird. Laut Gérard Genette sind Paratexte wie zum Beispiel Kapitelüberschriften einer unbestimmten Zone zuzuordnen, einer Zone „zwischen innen und außen, die selbst wieder keine feste Grenze nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text aufweist)“ (Genette 1992, S.10). Daraus lässt sich folgern, dass Juli Zeh nicht nur auf der motivischen sondern auch auf der narrativen Ebene mit ‚Grenzen‘ arbeitet; der Paratext ist in diesem Fall ein „Vestibül, das jedem die Möglichkeit zum Eintreten oder Umkehren bietet“ (ebd.).

Die Anpassung des Sprachstils an das Erzählte
Juli Zehs Sprachstil zeichnet sich vor allem durch seine Variabilität aus: Der Sprachstil wird dem Erzählten angepasst. Den Sprachstil in Spieltrieb kennzeichnen zum Beispiel hypotaktische Satzkonstruktionen, ein gehobener Jargon, eine dichte Bildhaftigkeit und der häufige Gebrauch rhetorischer Mittel, wie zum Beispiel Personifikationen und Anaphern: „Trauerweiden beugten ihre sauber gestutzten Beatles-Frisuren über massives Mauerwerk“ (S. 99). In Juli Zehs Werk wird der Sprachstil funktionalisiert. In Spieltrieb wird ein Sprachstil gewählt, welcher der intelligenten Richterin Sophie gemäß ist. Dergestalt wird die komplexe Materie, welche die vielschichtigen Diskurse miteinschließt, angemessen wiedergegeben.

Intertextualität und Authentizität
In Juli Zehs Werken werden zwei unterschiedliche Formen von Intertextualität verwendet: Einerseits befinden sich in den Romanen Verweise zu Prätexten, zu anderen Genres sowie zu Musikstücken, andererseits beinhalten die Romane Querverweise zueinander.
Die meisten intertextuellen Bezüge in Spieltrieb beziehen sich auf Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, da sich Alevs und Adas Menschen- und Weltbild vor allem aus den, auf Nietzsche fundierten, philosophischen Betrachtungen dieses Romans entwickelt. Ada denkt häufig an den Mann ohne Eigenschaften, „dem sie sich verwandt fühlte, als wäre sie eine Reinkarnation der wiedergefundenen Agathe“ (S. 374) und Smutek nimmt Alevs Vorschlag erfreut an, den Roman im Deutschunterricht zu behandeln (vgl. S. 124). Auf die Intertextualität in Spieltrieb wird in der Forschungsliteratur mehrfach hingewiesen. Stephan Brockmann beispielsweise erkennt die thematische Ähnlichkeit zwischen Spieltrieb und Jugend ohne Gott von Ödön von Horváth: „Spieltrieb also resembles another twentieth-century Austrian school novel, Ödön von Horváth’s Nazi-era Jugend ohne Gott (Youth without god, 1937), which deals with the conflict between an idealistic teacher and his nihilist students.” (Brockmann 2011, S. 70) Der Name der Hauptfigur Ada als Anspielung auf Ada oder Das Verlangen (vgl. Pause 2012, S. 235), die Lolita-Motive (vgl. Biebuyck 2013, S. 253 u. Alt 2009, S. 378) sowie „citations of Nabokov’s idiosyncratic style“ (Biebuyck 2013, S. 253) belegen zudem Parallelen zu Vladimir Nabokovs Werk. Darüber hinaus diente wohlmöglich auch Dostojewskis Die Dämonen als Vorlage: Ebenso wie Kirillow ist auch Alev davon überzeugt, dass er nach dem ‚Tod Gottes‘ selbst Gott sei (vgl. Alt 2009, S. 386).
Auf eine namentliche und thematische Analogie zwischen Zehs Spieltrieb und Dostojewskis Der Spieler wird in der Forschung bis jetzt nicht aufmerksam gemacht, dabei wäre es ergiebig, die beiden Arten von Spiel – Alevs Machtspiel und das Glücksspiel (Roulette) –, die beiden Spieler – Alev und Aleksej – sowie die Spieltriebe und -süchte miteinander zu vergleichen. Auch das gemeinsame „Ale“ am Namensanfang deutet auf eine Verbindung der Charaktere hin.
Weiterhin nehmen Texte über Spieltheorie intertextuelle Bezugspunkte in Spieltrieb ein. Robert Axelrods Evolution of Cooperation beispielsweise soll Ada auf Alevs Befehl hin durcharbeiten, um zu einer besseren Spielerin zu werden. Man kann einige Werke, auf die in Spieltrieb hingewiesen wird, als Schlüssellektüre heranziehen, um die philosophischen Problematiken, die in dem Roman angerissen werden, weitgehender zu erfassen.
Ada liest – anders als die meisten ihrer SchulkollegInnen – fast ausschließlich Werke aus dem 19. Jahrhundert, unter anderem Die Menschliche Komödie von Honoré de Balzac. In Alevs Pensionszimmer entdeckt Ada „ein paar alte Bekannte“ (S. 170): „Machiavelli, Nietzsche und Derrida.“ (S. 170) Verweise auf die Lektüren der ProtagonistInnen dienen dazu, ihren Charakter und Intellekt plastischer werden zu lassen. Eine weitere intertextuelle Methode, die Adas Innenwelt fassbarer macht, ist das Einfügen von melancholischen und (auto-)aggressiven Evanescence-Songzitaten: „50 thousand tears I cried.“ (S. 82)
Ferner wird in Spieltrieb auf die Gattung des Märchens angespielt. „Prinzessinnen“ (S. 12) werden zum Beispiel die hübschen Mädchen am Ernst-Bloch-Gymnasium genannt. Jene Märchenmetaphorik steht im Kontrast zu der sonst realistischen Machart des Romans. Insbesondere mit der Figur Frau Smutek tritt das Märchenmotiv in Verbindung. Frau Smuteks Selbstmordversuch in einem vereisten See bekommt durch die vielen Märchen-Anspielungen einen mystischen Anklang:
„Der Schauplatz war wie gemacht für Szenen aus einem Märchenfilm, ein Treffpunkt für Wolf und Hase zur Beratung über das Wesen der Dinge, ein Festanger für Elfenkinder außerhalb elterlicher Reichweite, Kulisse für den Auftritt sprechender Quellen und denkender Pilze mit großen, braunen Hüten.“ (S. 222)
Frau Smutek wird in dieser Szenerie als „Sylphe“ (S. 223) mit „dämonisch lächelndem Gesicht“ (S. 223) sowie als „Eisfee beim Nachtbad“ (S. 223) beschrieben. Der Selbstmord misslingt, da Ada Frau Smutek aus dem vereisten See rettet. Frau Smutek erholt sich lange Zeit nicht von dem Vorfall – sie verfällt in eine Depression, welche durch die Metapher des langen Schneewittchen-Schlafs verbildlicht wird: „Ohne ein Wort des Abschieds hatte sie sich niedergelegt und befand sich seitdem in einem gläsernen Sarg. Schneewittchen schlief.“ (S. 299)

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Pressespiegel zu Spieltrieb [ ↑ ]
Der Roman Spieltrieb wird von der Literaturkritik ganz unterschiedlich bewertet – in den Feuilletons finden sich Lobgesänge (Zeit) ebenso wie kontroverse Besprechungen (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt, Welt am Sonntag) und Verrisse (Süddeutsche Zeitung). Vor allem beim Sprachstil, der entweder hoch gelobt oder kritisch auseinander genommen wird, scheiden sich die Geister.
Richard Kämmerlings (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.12.2004) ist zwar der Meinung, dass Zeh „abermals den Puls der Zeit“ treffe, allerdings empfindet er die Handlungsfülle des Romans zu ausufernd, kritisiert eine „chronische Verwendung gesuchter und oft schiefer Metaphern“ und ist genervt von der „prätentiöse[n] Geschwätzigkeit, mit der Lesefrüchte altkluger Teenager ohne jede ironische Brechung ausgebreitet werden“. Außerdem lege sich Juli Zeh mit den „dauernden literarischen Verweisen“ auf Musil, Nabokov und Co. die Latte unerreichbar hoch. Uwe Wittstock
(Die Welt, 02.10.04) überzeugt die Idee des Romans, jedoch hält auch er, ebenso wie Richard Kämmerlings, die Handlung für zu ausufernd: „So ist der Roman sowohl als Satire auf das kulturkritische Geschwätz der Gegenwart, wie auch als Geschichte über die Wirrnisse der Pubertät letztlich viel zu weitschweifig. Schade“. Von Robin Detje
(Süddeutsche Zeitung, 12.11.2004) wird der Roman verrissen, denn er stuft ihn als "Schulmädchenreport" ein, der sich auf dem "Schrottplatz der sprachlichen Überanstrengung" tummle.
Susanne Kunckel (Welt am Sonntag, 05.12.04) wiederum überzeugt der Sprachstil, der von Kämmerlings und Detje kritisiert wird. Sie charakterisiert ihn als „erschreckend präzise“. Für Kunckel scheint zudem, im Gegensatz zu Kämmerlings und Wittstock, die Handlung nicht zu weitschweifig zu sein, denn sie beschreibt die Lektüre als „570 Seiten Hochspannung“. Ulrich Greiner (Zeit, 21.10.2014) wird von der „drastischen und plastischen Sprache“, dem „scharfe[n] Tempo“ und dem „hoch gebildeten Scharfsinn“ des Romans sogar so überzeugt, dass er dafür plädiert, dass „alle Schüler und Lehrer“ Spieltrieb lesen sollten, denn der Roman zeichne „mit Witz und Verstand ein helles Bild unseres dunklen Zeitalters“.

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Forschungsspiegel zu Spieltrieb [ ↑ ]

Philosophische Einflüsse: Nihilismus als Kinderspiel?
Henk Harbers stellt in seiner Abhandlung zur nihilistischen Thematik in den Werken von Andreas Maier, Markus Werner und Juli Zeh die These auf, dass der Nihilismus, nach dem sich Ada und Alev richten, lediglich „ein Spiel von Kindern“ sei (Harbers 2013, S. 199), „die nicht durchschauen, dass es vor allem ihr eigenes verletztes Liebesbedürfnis ist, das an der Basis ihres sogenannten ‚Spieltriebs‘ liegt“ (ebd.). Ada lasse sich auf Alevs Spiel nur deshalb ein, „weil und solange sie in ihn verliebt ist“ (ebd. S. 200). Dass auch Alevs nihilistisches Weltbild aus seinem Bedürfnis nach Liebe resultiere, wird Harbers zufolge dadurch belegt, dass er „deutlich eifersuchtsverdächtig“ (ebd.) reagiere, als Ada ihm auf einer Party von der Liebesbeziehung und -geschichte zwischen Smutek und seiner Frau erzählt. Allerdings lenkt Henk Harbers ein:
„Aber so ganz einfach macht es sich der Roman doch nicht. Die Liebe ist zwar eine Art Antwort auf Skeptizismus und Nihilismus, aber keine Widerlegung: Sie macht die nihilistische Entwurzeltheit nur ertragbar – für die Dauer der Liebe. Nachdem die Frau des Geschichtslehrers Höfling gestorben ist, sieht dieser keinen anderen Ausweg als den Selbstmord.“ (Ebd.)

Das Sammelbecken des Spielbegriffs
Sonja Arnold nach bildet der Roman Spieltrieb ein Spielfeld, auf dem die „verschiedenen Lesarten des Spielbegriffs zur Anwendung gelangen“ (Arnold 2011, S. 220). Sie beschreibt die Funktion des Romans als einen Interdiskurs nach Jürgen Link, indem „Elemente aus verschiedenen Diskursen in der Literatur“ (ebd. S. 211) zusammengeführt und „in einem Spiel durch ein Probehandeln“ (ebd. S. 212) durchexerziert würden. Auf diese Weise entstehe keine bloße Abbildung des Gesamtdiskurses: „[E]s werden durch die Aufnahme von einzelnen Diskursfragmenten auch neue Kontexte konfiguriert“ (ebd.). Sonja Arnold stellt in ihrem Aufsatz die These auf, dass die verschiedenen Lesarten, welche in dem Roman aufgegriffen werden – das „Spiel als Probehandlung, das Spiel der Literatur, Szenarien aus der Spieltheorie sowie die postmodernen Konnotationen des Spielbegriffs“ (ebd. S. 211) – ein Sammelbecken verschiedener Bedeutungen des Spielbegriffs bilden würden, in dem aktuelle Diskurse literarisch verarbeitet, aber auch transformiert würden. (vgl. ebd. S. 212).
Anschließend erläutert Arnold die verschiedenen Bedeutungen des Spielbegriffs, wobei sie auf das Verständnis von Literaturtheorie als Spieltheorie nach Stefan Matuschek und Thomas Anz eingeht (vgl. ebd. S. 210): In deren Literaturtheorien werden die Handlungen der Romanfiguren als „Spielzüge“ (ebd.) verstanden und anstelle „einer individuellen Handlungsmotivation stehen abstrakte Strategien“ (ebd.). Eine weitere zentrale Literaturtheorie, die mit der Narrativik von Spieltrieb im Zusammenhang stehe, sei die von Tilmann Köppe, welcher die Interaktion von Text und Rezipient als Spiel charakterisiert, weil sie „wie das Spiel, von bestimmten Fiktionalitätsintentionen und -konventionen geleitet ist“ (ebd.).
Des Weiteren analysiert Sonja Arnold in ihrem Aufsatz das Gefangenendilemma nach Axelrod, welches Alev in seinem Spiel mit Ada und Smutek versucht herzustellen. Kooperieren Ada und Smutek, „so besteht ihre Belohnung darin, dass beide auf dem Gymnasium bleiben dürfen. Verrät Ada Smutek, so müsste dieser die Schule verlassen. Sie könnte damit rechnen, das Spiel beenden zu können […]. Gleichzeitig muss sie aber auch damit rechnen, dass auch sie von Smutek verraten wird und somit ihr explizit geäußerter Wunsch, Ernst-Bloch nicht verlassen zu müssen, zunichte gemacht würde […]“ (ebd. S. 217).
Sonja Arnold sieht im Handlungsverlauf des Romans eine „alternative, nicht im Schema verzeichnete Lösung“ (ebd. S. 219) für das Gefangenendilemma, indem „sich die Spieler gegen den Spielleiter verbünden“ (ebd.). Durch eine Kommunikation der beiden Gefangenen Ada und Smutek, die im Gefangendilemma untersagt ist, deute sich eine Kooperation an, welche die Beendung des Spiels vom Spielleiter Alev nach sich trage: „Mit der Kommunikation haben die Beteiligten gegen eine grundsätzliche Regel des Spiels verstoßen und damit das Spiel außer Kraft gesetzt“ (ebd.). In summa würden die Grundzüge der Spieltheorie „den wichtigsten Theoretikern folgend eingehalten, am Ende aber durch die Verbündung der Spieler gegen den Spielleiter wesentlich modifiziert“ (ebd. S. 220).

Das Recht als Spiel
Jan Wittmann stellt in seinem Aufsatz „Mit Recht spielt man nicht!”, Rechtsdiskurse bei Juli Zeh fest, dass in Juli Zehs Romanen das „selbstberuhigende Wissen vom Recht als einzigem Ordnungssystem, das die Menschen vor barbarischem und unmoralischem Handeln genauso schützt wie die menschliche Seele vor dem Auseinanderdriften und Zerfasern“ (Wittmann 2011, S. 161) sukzessive dekonstruiert werde. Diese Dekonstruktion erfolge dadurch, dass dem Spielfeld ‚Recht‘ konsequent Antisysteme entgegengesetzt werden würden. In Spieltrieb geschehe diese Kontrastierung zum Beispiel durch die Figuren Ada und Alev, die dem Rechtssystem „die Grundlage für Rechtsprechung und Rechtsetzung entziehen” (ebd. S. 166). Wittmann zufolge rücken die Texte auf diese Weise „das Bild vom Recht als eine vollkommen autarke Metainstanz“ (ebd. S. 175) gerade, „indem es ebenso wie andere Kulturphänomene als Spiel begriffen wird“ (ebd.).
Das Verständnis vom Recht als ‚Spiel‘ geht auf die Rechtsausübung in der Antike zurück. Der Aufbau des Romans, die Rahmung durch ‚Exordium‘ und ‚Kolophon‘, verweise auf jene antike Rechtsausübung, da vor Gericht „nicht ein Gerechtigkeitsideal als Maßstab, sondern vielmehr die rhetorische Performanz” (ebd. S. 162) im Fokus gestanden habe. Ein Prozess in der Antike sei durch die hohe Bedeutung der Rhetorik ein „Spiel mit rhetorischen Mitteln”(ebd.) gewesen. Die Frage, ob man das Recht als ‚Spiel‘ auffassen könne, wird in der Forschung vieldiskutiert. Mit Rückblick auf das dritte Reich konstatiert der Kulturhistoriker Johan Huizinga:
„Daß eine Verwandtschaft zwischen Recht und Spiel bestehen kann, wird uns deutlich, sobald wir bemerken, daß der tatsächlichen Ausübung des Rechts, mit anderen Worten dem Rechtshandel, was auch immer die ideellen Grundlagen des Rechts sein mögen, der Charakter eines Wettstreits im hohen Maße eigen ist.” (Huizinga 1956, S. 79)
Jan Wittmann kommt in seinem Aufsatz zu dem Fazit, dass das Recht bei Zeh „ein System unter vielen“ (Wittmann 2011, S. 175) sei, „das ebenso um seine Berechtigung, Legitimation und Anerkennung kämpfen muss wie andere Systemkonstrukte, die Zeh in ihren Texten antithetisch gegenüber stellt“ (ebd.).

Außenseitertum
Carrie Smith-Prei und Lars Richter analysieren in ihrem Aufsatz Politicising Desire in Juli Zeh’s Spieltrieb ein verbindendes Charakteristikum der ProtagonistInnen in Spieltrieb: ihr Außenseitertum. Jenes Außenseitertum zeige sich einerseits durch eine körperliche, anderseits durch eine national-linguistische ‚Andersartigkeit‘ und kreiere eine Intimität „that is at once both sexual and violent“ (Smith-Prei und Richter 2013, S. 193).
Von Beginn an wird Adas Aussehen als ‚anders‘ beschrieben: Sie wirkt nicht so feminin wie die restlichen Mädchen in ihrer Stufe und wird ganz explizit als „nicht schön“ (Spieltrieb, S. 11) bezeichnet. Auch Alev unterscheidet sich durch sein ‚exotisches‘ Aussehen von seinen Mitschülern, allerdings werde die „feminine awkwardness“ (Smith-Prei und Richter 2013, S. 194), welche Ada verkörpere, als „unappealing“ (ebd.) verstanden, „whereas its male counterpart is beguiling” (ebd.). Im Gegensatz zu Ada werde Alevs ‚andersartiges‘ Aussehen und Auftreten von seinen MitschülerInnen mit Macht und Stärke assoziiert (vgl., ebd.).
Alev ist von geringer Körpergröße, Smutek dagegen über ein Meter neunzig groß (vgl. Spieltrieb, S. 11) – zwar handelt es sich hier um zwei gegensätzliche Merkmale, allerdings haben die Merkmale auch etwas gemeinsam: Sie kennzeichnen sowohl Alev als auch Smutek als ‚anders‘. Smith-Prei und Richter konkludieren: „The above characterisation of the physical difference and corporeal otherness of each of the main figures in the novel is key to the social non-normativity that brings them together, initially in sets of pairs.” (Smith-Prei und Richter 2013, S. 195)
Die national-linguistische ‚Andersartigkeit‘ steht Smith-Prei und Richter zufolge im Zusammenhang mit der „politicisation of non-normative relations” (ebd.). Was Alev und Smutek miteinander verbinde, seien ihre nicht-deutschen Wurzeln (vgl. ebd.) – Alev ist Halb-Ägypter und Viertel-Franzose, Smutek gebürtiger Pole. Während Smuteks Unterrichtsstunde spricht Alev absichtlich polnisch. Zum einen weise er durch den Gebrauch der polnischen Sprache darauf hin, dass es sich bei Smutek um einen „non-native speaker of German“ (ebd. S. 196) handelt und stelle auf diese Weise sein Recht, Deutsch zu Unterrichten vor den anderen MitschülerInnen infrage. Zum anderen benutze Alev die polnische Sprache „to create a linguistic minority group consisting of only himself and Smutek, the two people within the majority group of German speakers in the classroom who are able to speak Polish language” (ebd. S. 196). Smutek reagiert auf Alev mit der arabischen Redewendung „Inschallah“ (Spieltrieb, S. 122), was übersetzt „so Gott will“ bedeutet. Smith-Prei und Richter interpretieren seinen ‚Zug‘ wie folgt: „Smutek’s Arabic avocation of God’s will – countering Alev’s will to power – suggests that contemporary moral issues of faith and violence in an age of terrorism are an integral part of Alev’s otherness” (Smith-Prei und Richter 2013, S. 196).
Schließlich beziehen Smith-Prei und Richter Adas Kommentar zum Irakkrieg, der impliziert, dass die Vereinigten Staaten nicht den „individual fighter against the evil empire, but the evil empire itself” (ebd. S. 199) repräsentieren würden, in ihre Analye mit ein und stellen ihn in den Zusammenhang mit ihren bisherigen Analyseergebnissen: „Identify-political difference in a confined local space (here, the German classroom) references likewise the global arena in which Western nations (represented by the United States) exercise the violence of hegemonic politics on weaker nations” (ebd.).

Literarische Parallelen: Musil
Der Einfluss von Robert Musils Werk auf Juli Zehs Literatur ist ein beliebter Untersuchungsgegenstand in der Forschung zu Juli Zeh. Insbesondere für Spieltrieb gilt Musil als „most prominent intertextual sparring partner“ (Martens 2013, S. 253). Constanze Alt arbeitet in ihrer literatursoziologischen Arbeit Zeitdiagnosen im Roman der Gegenwart einige Parallelen zwischen den Figuren in Der Mann ohne Eigenschaften und Spieltrieb heraus: Zum Beispiel erkennt sie in Frau Smutek die Figur Clarisse (vgl. Alt 2009, S. 382-383), in Zehs Gymnasialdirektor Teuter Musils Christian Moosbrugger und in Zehs Ada Musils Protagonisten Ulrich (vgl. ebd. S. 369). Adas Sehnsucht gleiche der Ulrichs – wie „bei Ulrich liegt das Wesen jener Sehnsucht darin, die ‚Stelle‘ des Anderen ‚ganz‘ einzunehmen; es liegt in einem Ich-möchte-du-Sein“ (ebd. S. 389) – und wie Ulrich liest Ada die „Bücher Honoré de Balzacs (1799-1850)“ (ebd. S. 385). Weitere Anlehnungen an Musils Der Mann ohne Eigenschaften sind zum Beispiel die zahlreichen Wetterbeschreibungen (vgl. Arnold 2011, S. 214) und der „komplizierte Magnetismus zwischen Mia und Moritz“ (Schmidt 2008, S. 268), welcher Christopher Schmidt nach ein „Echo der Geschwisterliebe in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften” (ebd.) ist. In Spieltrieb bestehen zudem Bezüge zu Musils Die Amsel (vgl. Alt 2009, S. 376) und zu dem Roman Die Verwirrungen des Zöglings Törless, in dem wie in Spieltrieb Schüler ihre Macht dazu benutzen, andere zu kontrollieren und zu erpressen. (vgl. Brockmann 2011, S. 69).
Die Betrachtung von Musils Erzählliteratur als Prätexte für den Roman Spieltrieb ist aber nicht nur hinsichtlich ähnlicher Charaktere und Themen relevant, sondern auch, weil Zehs und Musils Romane auf den gleichen philosophischen Theorien aufbauen. Constanze Alt konstatiert, dass „der unheimliche Eindruck des Ausgeliefertseins an etwas Namen- und Gesichtsloses der dem Roman zugrundeliegenden Realitätskonzeption geschuldet“ (Alt 2009, S. 371) sei. Jene Realitätskonzeption stehe „in Verwandtschaft zu Musilschen Idee der (falschen) Wirklichkeit als Mechanismus und Versuchsordnung“ (ebd.). Hinzuzufügen ist, dass auch die Erzählsituation und der gewählte Sprachstil – „an explicit nod to modernists like the aforementioned Thomas Mann and Musil“ (Martens 2013, S. 253) – Parallelen zu Musils Werk aufweisen (vgl. Breger 2008, S. 109).

Literarische Differenzen: Die Neue Deutsche Popliteratur
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre erregen AutorInnen wie Christian Kracht und Ben-jamin v. Stuckrad-Barre mit ihrer ‚Neuen Deutschen Popliteratur‘ das Aufsehen der deutschen Medienlandschaft. Spieltrieb erscheint 2004, kurz nachdem die Popliteratur von der Literaturkritik nach dem 11. September 2001 für ‚tot‘ erklärt wird: „Kaum ein Verlag, der von der Popliteratur noch was wissen will, geschweige denn ein Buch als Popbuch bewirbt, kaum ein bürgerliches Feuilleton, das die Popliteratur nicht mindestens einmal zu Grabe getragen hat.“ (Die Tageszeitung, 16.03.2003) Vereinzelt werden in der Forschung dennoch Parallelen zwischen Juli Zehs Roman und der Neuen Deutschen Popliteratur gezogen; so zum Beispiel von Stephan Brockmann: „Zeh shares a concern with the perceived meaninglessness of contemporary life with other German authors, for instance, with Sibylle Berg, who, as Emily Jeremiah notes in chapter 9 of this book, writes about characters with ‚lives that seem arbitrary and pointless‘.“ (Brockmann 2011, S. 63) Allerdings arbeiten die meisten LiteraturwissenschaftlerInnen eher die Differenzen zwischen Juli Zehs zweitem Roman und der Neuen Deutschen Popliteratur heraus. So stellen Thomas Weitin und Constanze Alt zwar fest, dass die ‚Gegenwärtigkeit‘ sowohl in der Neuen Deutschen Popliteratur als auch in Spieltrieb einen wichtigen Stellenwert einnehme, allerdings auf unterschiedlicher Weise. Thomas Weitin betont, dass es in Spieltrieb auch „um die Reflexion von Verfahren und Schreibweise“ (Weitin 2012, S. 73) gehe, „die Emphase für Gegenwärtigkeit ist dabei jedoch das Thema, nicht das Ziel ihrer eigenen Poetik“ (ebd.). Außerdem habe Juli Zeh, im Gegensatz beispielsweise zu Benjamin von Stuckrad-Barre, nicht die Absicht „literarische Texte für eine oder gar ihre Generation zu schreiben“ (ebd. S. 74). Constanze Alt geht noch einen Schritt weiter: Sie sieht nicht bloß die ‚Gegenwärtigkeit‘ als Gemeinsamkeit, sondern auch den kritischen Blick „auf die eigene Generation als Produkt ihrer lebensweltlichen Gegebenheiten“ (Alt 2009, S. 203). Jedoch gestalte sich diese Kritik bei Zeh und den PopliteratInnen sehr unterschiedlich. Als Beispiel stellt Alt Spieltrieb neben Christian Krachts Faserland: „Hier wie dort findet sich zwar eine Ablehnung der gegebenen Welt. Doch ist diese bei Kracht rein ästhetisch motiviert, bei Zeh aber vor allem philosophisch. Bei ihr werden sie nicht zum Thema, jene Marken, auf die in Erstlingen Krachts wie Buschheuers insistiert wird.“ (Ebd.)

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Corpus Delicti

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Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Corpus Delicti [ ↑ ]
Der Roman Corpus Delicti ist dem Genre der Dystopie zuzuordnen: Die Handlung spielt in einem Deutschland in der Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts, dessen Regierungssystem ein totalitäres ist. Oberflächlich betrachtet meint man, dass die BürgerInnen dieses Staates in einer Utopie leben, da ihre Gesundheit durch verpflichtende, prophylaktische Maßnahmen, wie zum Beispiel regelmäßige Urin- und Blutkontrollen, bestmöglich bewahrt wird. Der Staat betrachtet das Körperliche als das wichtigste Kapital des Menschen – das Prinzip mens sana in corpore sano wird zu einer gesellschaftlichen Ordnung ausgeweitet. Allerdings ist der/die BürgerIn dieses Staates der ständigen Überwachung und Kontrolle ausgesetzt. Die Menschen werden Opfer einer Gesundheitsdiktatur: Sie müssen sich tagtäglich Tests unterziehen, Ernährungsberichte anfertigen und ausreichend sportliche Leistungen erbringen. Sowohl das Trinken von Alkohol als auch das Rauchen von Zigaretten gelten als Missbräuche toxischer Substanzen und werden bestraft. Um überwachen zu können, ob jede/r die gesundheitlichen Vorgaben einhält, werden den BürgerInnen Chips in der Mitte des Bizepses implantiert. In der, ausschließlich von der Vernunft geleiteten, Gesellschaft wird davon ausgegangen, dass eine enge Verbindung zwischen dem persönlichen und dem allgemeinen Wohl bestehe, welche keinen Raum für Privatangelegenheiten lasse. Das System des Staates, das den Namen ‚Methode‘ trägt, baut allein auf der Ratio auf und versucht sich insofern über wesentliche Merkmale des Menschen hinwegzusetzen. Die BürgerInnen zahlen einen hohen Preis für ihre Gesundheit: ihre Freiheit.
Der Roman erzählt die Geschichte von Moritz Holl, der von der Methode wegen Mordes verurteilt wird, weil man seine DNA bei einer Leiche findet. Moritz Holl beteuert seine Unschuld, die Methode vertraut jedoch auf das vermeintliche Corpus Delicti – auf den DNA-Befund. Nach dem Selbstmord ihres Bruders Moritz gerät die Biologin Mia Holl aus der Bahn, da sie trotz ihres rationalen Gemüts weiter an Moritz‘ Unschuld glaubt. Aufgrund ihrer Trauer wird Mia immer fahrlässiger bei den Gesundheitskontrollen, gerät in den Fokus der Methode und wird schließlich vor Gericht geladen. Vertreten wird Mia Holl hier von Lutz Rosentreter. Rosentreter bringt die Unschuld von Moritz Holl im Laufe des Prozesses ans Licht: Die DNA, die man bei der Leiche fand, ist nicht Moritz‘, sondern die seines Knochenmarkspenders – Moritz hatte in seiner Kindheit Leukämie. Mia entzieht der Methode ab diesem Zeitpunkt ihr Vertrauen. Ihr Antagonist ist der einflussreiche und populäre Journalist Heinrich Kramer, ein Anhänger der Methode, welcher der festen Überzeugung ist, dass für Gefühle und persönliches Interesse im Leben kein Platz sei. Durch Betrug schafft er es, dass die Gesellschaft Mia als Lügnerin und Terroristin wahrnimmt. Sie verliert den Prozess und gleichzeitig den Kampf um Gerechtigkeit (für ihren Bruder). Zunächst soll sie auf unbestimmte Zeit eingefroren werden, was allerdings von Heinrich Kramer verhindert wird, weil er Mia nicht zur Märtyrerin machen will. Stattdessen wird sie weiter unter Beobachtung gestellt.

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Thematische Aspekte zu Corpus Delicti [ ↑ ]

Philosophische und politische Diskurse
In Corpus Delicti zieht sich die philosophische Problematik ‚Gefühl versus Verstand‘ und die damit verknüpfte Gegenüberstellung von persönlichem und allgemeinem Wohl als Leitmotiv durch den Roman. Nach der Methode besteht eine enge Verbindung zwischen dem persönlichen und dem allgemeinen Wohl, welche keinen Raum für Privatangelegenheiten lässt. Folglich darf der Mensch ausschließlich ‚vernünftige‘ Entscheidungen, die das allgemeine Wohl im Sinne haben, fällen. Auch in Corpus Delicti wird auf Nietzsche Bezug genommen: „Gott ist tot“ (S. 238), heißt es an einer Stelle, denn auch der Glaube ist in dem totalitären Staat zwangsläufig bedeutungslos geworden.
Seit dem Prozess ihres Bruders schwankt die Protagonistin Mia Holl zwischen den beiden menschlichen Instanzen ‚Gefühl‘ und ‚Verstand‘ und gerät somit mit dem System in Konflikt: „Entweder ich verfluche ein System, zu dessen METHODE es keine vernünftige Alternative gibt. Oder ich verrate die Liebe zu meinem Bruder, an dessen Unschuld ich ebenso fest glaube wie an meine Existenz“ (S. 39), klagt sie zu Beginn ihres Prozesses. Interessant ist, dass Mias Vertraute, Kramer und Rosentreter, jeweils eine der sich gegenüberstehenden Positionen verkörpern. Kramer steht für den ‚Verstand‘, Rosentreter vertritt das ‚Gefühl‘. Da die beiden Kontrahenten sind, ereignet sich der Konflikt zwischen ‚Gefühl‘ und ‚Verstand‘ also nicht nur innerlich – in Mias Kopf – sondern auch äußerlich – zwischen Kramer und Rosentreter. Im Laufe des Romans entwickelt sich der Charakter der Protagonistin weiter: Mia wird ihrem verstorbenen Bruder immer ähnlicher – Letzterer war der Meinung, dass man eine Balance zwischen ‚Gefühl‘ und ‚Verstand‘ finden müsse: „Man muss flackern. Subjektiv, objektiv. Subjektiv, objektiv. Anpassung, Widerstand. An, aus. Der freie Mensch gleicht einer defekten Lampe.“ (S. 149)

Die Grenzen des Rechts
Ein weiterer zentraler Themenkreis in Zehs Werken ist das Recht beziehungsweise die Rechtswissenschaft. In Spieltrieb, Corpus Delicti und Nullzeit werden außergewöhnliche Rechtsfälle behandelt, in denen man den ProtagonistInnen Unschuld und Schuld nicht eindeutig zuordnen kann. In den Textwelten verschwimmt die Grenze zwischen Recht und Unrecht.
Der Fall Moritz Holl in Corpus Delicti ist insofern ein Ausnahmefall, dass solch ein Rechtsfall unter der Ideologie der ‚Methode‘ noch nicht vorgekommen ist: Moritz Holl beharrt weiter auf seiner Unschuld, obwohl der DNA-Test seine Schuld beweist. Durch sein ‚egoistisches‘ Verhalten wendet er sich gegen die Maxime des Staates und gegen das ‚allgemeine Wohl‘. Bei der Charakterisierung der Protagonistin Mia Holl wird abermals das Motiv der Grenze aufgegriffen. Mias Rationalität macht sie zu einem ‚Grenzfall‘. Sie ist bis zu dem Wendepunkt, an dem sie sich dazu entscheidet, sich gegen den Staat und gegen die ‚Methode‘ zu wenden, eine Außenseiterin. Bildlich gesprochen macht sie das zu einer „Zaunreiterin“ (S. 141), also zu einer Hexe:
„Die Hexe ist ein Heckengeist. Ein Wesen, das auf Zäunen lebt. Der Besen war ursprünglich eine gegabelte Zaunstange. […] Zäune und Hecken sind Grenzen, Mia. Die Zaunreiterin befindet sich auf der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis. Zwischen Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, Körper und Geist. Zwischen Ja und Nein, Glaube und Atheismus. Sie weiß nicht, zu welcher Seite sie gehört. Ihr Reich ist das Dazwischen.“ (S. 144)
Mia ist dermaßen rational, dass sie „jeden Gedanken, jede Idee rechtfertigen oder angreifen; für oder gegen jede Seite streiten“ (S. 127) kann, deswegen hat Kramer für sie zunächst „genauso sehr recht oder unrecht“ (S. 68) wie seine Gegner.

Das Corpus Delicti
In Corpus Delicti verliert das vermeintliche Beweisstück, die DNA von Moritz Holl, seine Beweiskraft dadurch, dass es sich in Wirklichkeit um die DNA seines Knochenmarkspenders handelt – die DNA verwandelt sich zum Corpus Delicti von Moritz‘ Unschuld. Ergo ist auch in diesem Roman das Corpus Delicti Handlungsträger, weil die ungerechte Verurteilung von Moritz Holl Mias Geschichte erst ins Rollen bringt. Mia und Rosentreter prangern an, dass die DNA allein nicht als Corpus Delicti reiche. Die DNA wird ferner zu dem Corpus Delicti, das beweist, dass die Methode nicht unfehlbar ist und angezweifelt werden kann. In ihrem Prozess ruft Mia infolge Würmers Verrats: „Ich stehe für das, was alle denken! Ich bin das Corpus Delicti, Würmer. Wiederholen sie Ihre Lügen und sehen Sie mir dabei ins Gesicht!“ (S. 218) Einerseits spielt ihre Aussage darauf an, dass sie von allen Parteien instrumentalisiert wird: Sowohl von der Terroristengruppe „Recht auf Krankheit“ als auch von den Methodenanhängern. Durch ihre Instrumentalisierung wird Mia zum Gegenstand des Verbrechens. Anderseits impliziert ihre Aussage, dass sie der lebende Beweis dafür ist, dass die Methode als Ideologie des Staates nicht legitim ist, weil man ihr und ihrem Bruder Unrecht getan hat.
Zudem ist Mia der Beweis dafür, dass Menschen nicht nur rational handeln sollten, wie es die Methode vorschreibt, sondern auch nach ihrem ‚Gefühl‘, denn der Mensch ist sowohl ein Verstands- als auch ein Gefühlswesen.

Staats- und Menschenkritik
Juli Zeh versieht ihre Sprache mit Metaphern und Vergleichen aus dem Bildbereich des Kriegs, des Kampfes und der Jagd. „Sie können mein Leben zu Ihrem Schlachtfeld machen […]. Sie können mich an der Leine Ihrer Prozessstrategie wie ein wildes Tier in den Kampf führen. Aber ich habe ein Recht zu erfahren, warum!“ (S. 111), konstatiert die Protagonistin Mia Holl in Corpus Delicti.
In Corpus Delicti wird nicht nur eine Tier- sondern auch eine Maschinenmetaphorik eingesetzt:
„Der Körper ist eine Maschine, ein Fortbewegungs-, Nahrungsaufnahme- und Kommunikationsapparat, dessen Aufgabe vor allem im reibungslosen Funktionieren besteht. Mia selbst befindet sich oben in der Kommandozentrale, schaut durch Augenfenster hinaus und belauscht durch Ohrenlöcher ihre Umgebung.“ (S. 79) Der Konflikt zwischen ‚Verstand‘ und ‚Gefühl‘, der im Mittelpunkt des Romans steht, wird auch auf der metaphorischen Ebene umgesetzt. Die Tiermetaphorik betont das ‚Instinktive‘ und ‚Ungezähmte‘ im Menschen, die Maschinenmetaphorik erweckt hingegen die Assoziation eines ‚gefühlsarmen‘ und ‚domestizierten‘ Menschen. Allerdings kann man beiden Bildbereichen auch eine Gemeinsamkeit abgewinnen: Sowohl die Tiermetaphorik als auch die Maschinenmetaphorik stellen das ‚Pragmatische‘ im Menschen heraus.
In der Gattung der Dystopie werden ‚negative‘ Tendenzen eines gegenwärtigen Staates aufgegriffen, in die Zukunft verlegt und überspitzt sowie verzerrt dargestellt. Bereits in den ersten paar Zeilen des Romans Corpus Delicti erfährt der Leser/die Leserin, dass die Handlung in einem zukünftigen Deutschland stattfindet: „Mia Holl, deutsche Staatsangehörige, Biologin“ (S. 9). In Corpus Delicti werden die Überwachungsmaßnahmen der deutschen Staatsgewalt angeprangert. Überwachungsmaßnahmen, die dem öffentlichen Wohl zwar dienen, indem sie die Kriminalität verringern, die das persönliche Wohl der BürgerInnen allerdings einschränken. Im Deutschland der Gegenwart besteht die Überwachung des/der BürgerIn unter anderem aus dem Sammeln von persönlichen Daten – in der Dystopie Corpus Deliciti trägt mittlerweile jede/r BürgerIn einen Chip im Bizeps, welcher der staatlichen Kontrolle dient. Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Juli Zeh auch außerhalb ihres fiktionalen Schaffens versucht, gegen die Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte vorzugehen: 2009 veröffentlichte sie gemeinsam mit Ilija Trojanow die ‚Kampfschrift‘ Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte und als vier Jahre nach jener Veröffentlichung der NSA-Skandal ans Licht kam, verfasste sie einen offenen Brief an Angela Merkel, in welchem sie letztere aufforderte, den Abhörskandal nicht einfach hinzunehmen. In Corpus Delicti wird die Staatskritik zudem durch den Bezug zum Mittelalter verdeutlicht. Ursprünglich schrieb Juli Zeh Corpus Delicti als Theaterstück für die Ruhrtriennale, bei der das Motto „Mittelalter“ vorgegeben war. Mia Holl ist angelehnt an die Hexe Maria Holl, Heinrich Kramer an den gleichnamigen Hexenjäger. Darüber hinaus wird das Mittelalter zum Vergleich herangezogen, um die Missstände des Methoden-Systems herauszustellen. Wie falsch und ‚mittelalterlich‘ die Methoden der ‚Methode‘ sind, zeigt sich insbesondere am Ende des Romans, als Mia gefoltert wird. Der Blick auf den Menschen ist ein pessimistischer. Ebenso wie die Kriegsmetaphorik vermittelt der Bezug zum Mittelalter, dass der Mensch eine ‚kriegerische‘, wenn nicht gar ‚barbarische‘ Natur besäße, die sich nicht weiterentwickelt habe: „Es hat sich nichts geändert. Es ändert sich niemals etwas. Ein System ist so gut wie das andere. Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur.“ (S. 235)

Medienkritik
Darüber hinaus werden in Corpus Delicti nicht nur die Medien sondern auch die Medienrezeption kritisch beleuchtet. Der Großteil der BürgerInnen hält das, was man ihnen via Zeitung und Fernsehen vermittelt, für wahr: Zum Beispiel Rosentreters Freundin, die „an nichts – außer an das, was in den Zeitungen steht“ (S. 227) glaubt. Als Mia von der Presse fälschlicherweise als Terroristin entlarvt wird, ebben die Proteste gegen die ungerechte Vorgehensweise im Fall Moritz Holl augenblicklich ab.
Die Figur Würmer tritt später noch einmal in einem anderen Werk Zehs auf: in ihrer Poetik Treideln. Hier ist Würmer ein Journalist der „R-Post“ und steht pars-pro-toto für diejenigen JournalistInnen, die (aus Zeitdruck) keine gute Arbeit leisten. In einem Mail-Interview stellt Würmer die von Juli Zeh „am meisten gehassten Fragen“ (S. 130), welche nicht sonderlich intelligent sowie sexistisch sind. Juli Zeh antwortet ausführlich und sarkastisch:

„,Frau Zeh, würden Sie sich als starke Frau bezeichnen?‘

Herr Würmer, fragen Sie männliche Interviewpartner auch, ob die sich für starke Männer halten? Oder ist das nur bei Frauen relevant, weil die normalerweise so schwach sind, dass ‚starke Frau‘ als Ausnahmeerscheinung ein diskussionswürdiges Phänomen abgibt?“ (S. 130)

Fiktion²: Das (Schau)Spiel
Noch ausgeprägter als in Spieltrieb wird das Gericht mit dem Schauspiel in dem Roman Corpus Delicti verknüpft. Da Corpus Delicti ursprünglich als Theaterstück verfasst wurde und deswegen auch die Romanform dramatische Elemente aufweist, ist die Schauspielmetaphorik hier ein besonders charakteristisches Merkmal. Anwälte, Richter und Geschworene werden als „schwarz gekleidete[] Puppen“ (S. 53) bezeichnet und Mia wird an einer Stelle mit einer Marionette verglichen (vgl. S. 100). Ähnlich wie Alev in Spieltrieb nimmt Heinrich Kramer die Rolle des Strippenziehers ein, der Würmer, Rosentreter und Mia gegeneinander ausspielt. Nicht nur auf der Handlungs- sondern auch auf der Bildebene ereignet sich der Höhepunkt beim finalen Prozess: Alle ProtagonistInnen erhalten die Gelegenheit zu einem letzten Auftritt „wie Schauspieler, die während des Schlussapplauses einzeln vor den Vorhang treten. Mia findet das angemessen. Eine schöne Idee“ (S. 252). Mia applaudiert dieser Inszenierung, verleiht den einzelnen schauspielerischen Darbietungen Punkte oder buht die AkteurInnen aus. Der Bezug zum Schauspiel verdeutlicht die Verblendung des Publikums, welches glaubt, dass es sich bei Mia um eine Terroristin handelt. Jenes Publikum steht pars-pro-toto für die Bevölkerung.

Verschiedene Konzepte von Sexualität und Liebe
Sexualität und Liebe sind wichtige Themen in Juli Zehs Werk, die auf unterschiedlicher Weise verhandelt werden. Zum einen sticht heraus, dass die Beziehungen der ProtagonistInnen in den Romanen oft hierarchische und sadomasochistische Tendenzen aufweisen. Den Sadomasochismus kann man sowohl mit Zehs Grenzmotivik im Zusammenhang sehen, da im Sadomasochismus die Grenze zwischen Gewalt und Zärtlichkeit eine zentrale Rolle spielt, als auch mit der Thematik des Spiels. Zum anderen stehen in Spieltrieb, Corpus Delicti und Nullzeit überwiegend Dreiecksbeziehungen (bzw. Vielecksbeziehungen) im Fokus. In summa werden in den drei Romanen viele verschiedene Konzepte und Reglementierungen von Liebe und Sexualität dargestellt. Was kann, was darf und was soll sein? Fragen, die in unserer gegenwärtigen Gesellschaft von großer Bedeutung sind.
In Corpus Delicti ist das Beziehungsgeflecht nicht ganz so verästelt wie in Spieltrieb. Die Protagonistin Mia führt zwei ambivalente, ‚romantische‘ Beziehungen: Auf der einen Seite mit ihrem Antagonisten Heinrich Kramer, auf der anderen Seite mit der imaginären, idealen Geliebten. Da die ideale Geliebte ein Geschenk von Mias Bruder Moritz ist, könnte man ihn ebenfalls in das Beziehungsgeflecht miteinbeziehen.
Trotz anfänglicher Meinungsverschiedenheiten tauschen Mia und die ideale Geliebte körperliche Zärtlichkeiten untereinander aus. Daneben empfinden auch Mia und Kramer eine Art Hass-Liebe füreinander. Bevor Mia Kramer in persona trifft, hat sie ihn „im Geiste schon so viele Male und auf so unterschiedliche Arten zu Tode gequält“ (S. 29). Als sie sich kennenlernen, fühlt sich Mia abwechselnd angezogen und abgestoßen von Kramer (vgl. S. 127). Ähnlich wie in Spieltrieb und Nullzeit entwickelt sich zwischen den ProtagonistInnen ein sadomasochistisches Spiel, in dem Mia gegen die Methode und für das ‚Gefühl‘ und Kramer für die Methode und für den ‚Verstand‘ kämpft. Einerseits hegen die beiden positive Gefühle füreinander, andererseits zerstört Kramer Mias Leben und veranlasst, dass sie gefoltert wird. Trotzdem lässt Mia Kramer immer wieder in ihr Leben: „Ihre seltsame Bereitschaft, einem Raubtier wie Kramer Tür und Tor zu öffnen! In Rosentreters Augen ist das Obsession, Masochismus, um nicht zu sagen: Geistesgestörtheit.“ (S. 221)
Ein weiterer thematischer Aspekt in Corpus Delicti ist die Reglementierung von Liebe und Sexualität. Unter der Gesundheitsdiktatur entscheiden nicht die BürgerInnen über ihr Liebesleben, sondern eine zentrale Partnerschaftsvermittlung. Lediglich Menschen mit kompatiblen Immunsystemen dürfen sexuelle Beziehungen miteinander eingehen – wer dieses Gesetz missachtet, begeht ein Kapitalverbrechen wie Rosentreter, Mias Vertreter privaten Interesses, der heimlich eine Frau mit inkompatiblen Immunsystem liebt: „Jeder weiß, dass ‚Liebe‘ nur ein Synonym für die Verträglichkeit bestimmter Immunsysteme darstellt. Jede andere Verbindung ist krank. Rosentreters Liebe ist ein Virus, das die Gesellschaft gefährdet.“ (S. 117) Im Kontrast zu dem vom Staat vertretenden Konzept steht Moritz‘ Verständnis von Liebe: „Der Mensch muss sein Dasein erfahren. Im Schmerz. Im Rausch. Im Scheitern. Im Höhenflug. Im Gefühl der vollständigen Machtfülle über die eigene Existenz. Über das eigene Leben und den eigenen Tod. Das, meine arme, vertrocknete Mia Holl, ist Liebe.“ (S. 92)

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Formale Aspekte zu Corpus Delicti [ ↑ ]

Die Erzählinstanz oder: Eine Grenze zwischen Nähe und Distanz
Bei der narrativen Analyse von Zehs Romanen steht vor allem die Frage nach der (Un-)Zuverlässigkeit des/der ErzählerIn im Vordergrund. Des Weiteren lässt sich feststellen, dass Juli Zeh die auktoriale Erzählsituation sowie JuristInnen als ErzählerInnen bevorzugt. Durch die Unzuverlässigkeit des/der ErzählerIn, den Gebrauch von bestimmten rhetorischen Mitteln und durch Illusionsbrüche erschafft Zeh oft eine Distanz zwischen LeserIn und Werk.
In dem Roman Corpus Delicti wählt Zeh tatsächlich eine/n auktorialen ErzählerIn. Wie in Spieltrieb wird hier die Auktorialität des/der ErzählerIn durch Anachronien – in diesem Fall Analepsen –, die von Mias gemeinsamer Zeit mit Moritz erzählen, und durch die gelegentliche Verwendung des Pluralis Modestiae (vgl. S. 55) verstärkt. Jedoch büßt der/die auktoriale ErzählerIn seine/ihre Vertrauenswürdigkeit durch eingeschobene Kommentare ein: „Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass sie an Moritz denkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir richtig liegen, ist sehr hoch.“ (S. 79) Wie in Spieltrieb die Kapitelüberschriften, lassen in Corpus Delicti Meta-Kommentare, welche die Erzählweise beschreiben, eine Distanz zwischen dem/der LeserIn und dem Erzählten entstehen: „Wählen wir für ein paar Minuten die Vergangenheitsform. Anders als Mia, bereitet es uns keine Schmerzen, im Präteritum an ihren Bruder zu denken.“ (S. 60)

Die Anpassung des Sprachstils an das Erzählte
Juli Zehs Sprachstil zeichnet sich vor allem durch seine Variabilität aus: In Corpus Delicti überwiegt ein dramatischer Modus, der viel direkte Rede, Parallelismen und den Gebrauch des Präsens inkludiert. Auch die Figur der idealen Geliebten verstärkt den dramatischen Modus, denn durch ihre Rolle wird die Erzählung bühnenfreundlicher: Mias innerer Konflikt wird nicht durch innere Monologe, sondern durch die Gespräche mit der idealen Geliebten dargestellt. In Juli Zehs Werk wird der Sprachstil funktionalisiert. In Corpus Delicti wird hingegen ein Sprachstil gewählt, der an die ursprüngliche Form des Romans anknüpft – an das Drama. Was Juli Zehs Romane verbindet, ist nicht der Sprachstil, sondern die Themen- und Motivwahl sowie die intertextuellen Bezüge zueinander.

Intertextualität und Authentizität
Das Genre ‚Dystopie‘ zeichnet sich durch einen Rückgriff auf vorangegangene utopische und anti-utopische Literatur aus. Deshalb kann man auch in Corpus Delicti Bezüge zu anderen dystopischen Werken wie zum Beispiel zu George Orwells 1984 oder zu Aldous Huxleys Brave New World herstellen. Zwischen Corpus Delicti und 1984 bestehen zum Beispiel sowohl grobe als auch feine inhaltliche Gemeinsamkeiten: Eine grobe Gemeinsamkeit ist beispielsweise die Thematik der Überwachung, eine feine Gemeinsamkeit die Folter der ProtagonistInnen gegen Ende des Romans. In Mias Bücherregal stehen Werke von Orwell; aber auch von Rousseau, von Dostojewski und Musil. Die Erwähnung der Autoren dient ebenso wie in Spieltrieb sowohl dem Hinweis auf das philosophische Fundament des Romans als auch der Konstruktion von Mias Charakter.
Neben dem Motiv des Corpus Delicti gibt es noch weitere Elemente, welche die Romane von Juli Zeh miteinander verbinden. Zum Beispiel tritt das Kunstwerk „Fliegende Bauten“ (S. 425, S. 25) in Spieltrieb und in Corpus Delicti auf. In beiden Romanen ist es ein Kunstwerk im Kunstwerk, allerdings hat es in Spieltrieb die Gestalt eines zeitgenössischen Romans, in Corpus Delicti die Gestalt einer modernen Skulptur. Eine weitere Form der Verknüpfung vollzieht sich durch die Figur Sophie. Sowohl in Spieltrieb als auch in Corpus Delicti trägt die Richterin den Namen Sophie, jedoch scheinen beide Figuren keine Ähnlichkeit miteinander zu haben: In Spieltrieb ist von der „kalten Sophie“ die Rede (vgl. S. 517), in Corpus Delicti verkörpert die Richterin Sophie hingegen eine warmherzige, nachsichtige Richterin, die „allen, die sie kennen, als gut“ (S. 163) gilt. Ähnlich wie Zehs narrative Techniken schaffen die intertextuellen Querverweise zwischen den Romanen Nähe und Distanz.
Ein weiterer Aspekt, der die Romane miteinander verbindet, ist die Konstruktion von Authentizität. In den drei Romanen werden wirkliche Orte, Ereignisse und Personen in die literarische Welt eingebettet. Spieltrieb spielt an einem Gymnasium, das in Bonn tatsächlich existiert, unter anderem werden die Band Evanescence und die Krimiserie TATORT erwähnt (S. 289) und die Handlung wird in das aktuelle Zeitgeschehen eingeordnet: „Eine Woche später fielen die ersten Bomben auf den Irak.“ (S. 106) Der Name Mia Holl wurde der Kronenwirtin Maria Holl entlehnt, die am Ende des 16. Jahrhunderts wegen Hexerei angeklagt und nach überstandener Folter freigesprochen wurde. Der Figur Heinrich Kramer diente der gleichnamige, elsässische Hexenverfolger sowie Verfasser des Werks Hexenhammer als Vorlage. Hinzuzufügen ist, dass Yvonne Catterfeld, die 2011 in der deutschen Fernsehproduktion DAS MÄDCHEN AUF DEM MEERESGRUND die Rolle der Lotte Hass übernahm, eine Vorlage für die Figur Yvette Stadler in Nullzeit gewesen sein könnte.

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Pressespiegel zu Corpus Delicti [ ↑ ]
Die Dystopie Corpus Delicti stößt im Feuilleton im Großen und Ganzen auf positive Resonanz; insbesondere der Aktualitätsbezug und die analytische Darstellung werden als Qualitätsmerkmale anerkannt. So ist beispielsweise Christian Meyer (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.03.2009) der Auffassung, dass Juli Zeh mit ihrem Roman „an den Nerv unserer zutiefst verängstigten Gesellschaft“ rühre und lobt das Ineinandergreifen von „Erzählen und Argumentieren“. Evelyn Finger (Zeit, 26.02.2009) bezeichnet den Roman sogar als das „Buch der Stunde“:
„Gegenwart aber ist vor allem die Debatte über den Staat. Während seine Verächter nun nach ihm rufen, während die Entstaatlicher hysterisch Verstaatlichung fordern, wirft Juli Zeh stillschweigend die Frage auf, wie ein gelingender Staat aussehen könnte. Dass sie es im Bewusstsein etatistischer Entgleisungen tut, darin besteht ihre Kunst. Dass sie dem Triumphgeschrei vom ‚Ende der Geschichte‘ ins Wort fällt, darin besteht ihr Mut.“
Aus dem positiven Chor fällt die Rezension von Christopher Schmidt (Süddeutsche Zeitung, 14.03.2009), dessen Einschätzung etwas zwiegespaltener ist. Er schätzt an dem Roman zwar das Facettenreichtum und die feine Verflechtung der Motive, allerdings missfällt ihm, dass der Roman durch die analytische Darstellung ‚Lebendigkeit‘ einbüße: „Juli Zeh weiß schon, dass sie erzählen muss, nicht plädieren. Gleichwohl ‚flackert‘ das Leben im Roman so methodisch, dass man ständig zu sehen meint, wie die Autorin den Lichtschalter betätigt. Und die Figuren bleiben steril, als hätten sie mit Desinfektionsmittel gegurgelt“.

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Forschungsspiegel zu Corpus Delicti [ ↑ ]

Philosophische Einflüsse: Staatsphilosophie nach Rousseau, Hobbes und Agamben
In mehreren wissenschaftlichen Aufsätzen zu Juli Zehs Romanen wird das philosophische Fundament, auf dem ihre fiktionalen Welten beruhen, näher betrachtet. Im Mittelpunkt dieser Betrachtungen stehen der Nihilismus nach Nietzsche und die Staatsphilosophien von Thomas Hobbes, Jean-Jacques Rousseau und Giorgio Agamben.
Die Staatsphilosophie nach Thomas Hobbes steht sowohl im Zusammenhang mit der von Alev angewandten Spieltheorie als auch mit der Konstruktion der ‚Methode‘ in Corpus Delicti. Constanze Alt bestimmt die „Abwesenheit von Rücksicht, Loyalität und Mitleid“ (Alt 2009, S. 387) als die „gemeinsame Schnittmenge zwischen einem Naturrecht im Sinne eines Hobbschen Kampfes aller gegen alle und der auf maximale Effizienz zielenden Spieltheorie“ (ebd.). Sowohl in der Spieltheorie als auch beim Kampf aller gegen alle bedürfe es strategischen Handelns, um bestmögliche Ziele zu erreichen (vgl. ebd.).
Ebenso wie Constanze Alt geht auch Carla Gottwein auf die Einflüsse von Hobbes‘ Leviathan ein. Ihr zufolge liegt Thomas Hobbes‘ Gesellschaftstheorie der Konstruktion der ‚Methode‘ in Corpus Delicti zugrunde (vgl. Gottwein 2012, S. 235). Vor dem Transparent des Leviathan stelle die ‚Methode‘ den „gesunden Kulturzustand dar, in den die Gesellschaft aus dem Naturzustand, der geprägt war von Krankheit, Chaos, Terrorismus und Egoismus, überführt worden ist“ (ebd. S. 236). Darüber hinaus verweist Carla Gottwein auf Berührungspunkte zwischen Corpus Delicti und der Staatsphilosophie von Jean-Jacques Rousseau und Giorgio Agamben. Wenn Heinrich Kramer versuche, die ‚Methode‘ zu legitimieren, beziehe er sich auf Rousseau: Wie Kramer habe Rousseau das Vertrauen in die Unzerstörbarkeit des Gemeinwillens damit begründet, „dass man nur den ‚gesunden Menschenverstand‘ benötige, um den Gemeinwillen zu offenbaren“ (ebd. S. 235). Der Name der Zeitschrift, für die Heinrich Kramer als Redakteur arbeitet – der Gesunde Menschenverstand –, sei eine Anspielung auf Rousseaus Staatsphilosophie (vgl. ebd. S. 235). Hobbes‘ und Rousseaus Theorien würden besagen, „dass der einzelne Bürger zum Ziele des Selbsterhalts alle eigenen, subjektive Rechte einem Souverän übergeben muss, der selber nicht unter die von ihm erlassenen Gesetze gestellt ist“ (ebd. S. 237). Dementsprechend wird unter der ‚Methode‘ von den BürgerInnen verlangt, dass sie ihr persönliches Wohl dem öffentlichen unterordnen, damit der Selbsterhalt des Menschen so optimal wie möglich verlaufe. Gottwein stellt heraus, dass Rousseaus Staatsphilosophie grundsätzlich auf einem positiveren Menschenbild als bei Hobbes beruhe, allerdings bleibe „bei der Konstruktion des Gemeinwillens die schon erläuterte Gefahr der Verabsolutierung eines fiktiven Gemeinwohls“ (ebd. S. 237).
Ein weiteres staatsphilosophisches Werk, auf das sich Juli Zeh in Corpus Delicti beziehe, sei Homo Sacer von Giorgio Agamben. In dessen Werk werde der Körper – auf Latein ‚corpus‘ – „zur zentralen Metapher der politischen Gemeinschaft“ (ebd. S. 238). Als Mia durch Folter zu einem Geständnis gezwungen werden soll, befinde sie sich in einem Ausnahmezustand, der den ‚homo sacer‘ definiere: Sie sei der „Rest, der niemanden mehr gehört. Und damit allen. Vollkommen ausgeliefert, also vollkommen frei. Ein heiliger Zustand“ (Corpus Deliciti, S. 248). Carla Gottwein erkennt eine Anlehnung an Agambens Homo sacer: „Explizit identifiziert sich Mia Holl hier mit dem homo sacer. Sowohl der Begriff des heiligen Zustandes als auch die Tatsache des Nicht-Opfer-Sein-Könnens verweisen zusätzlich zum juristischen Kontext auch auf den ursprünglich religiösen Kontext dieser historischen Rechtsfigur.“ (Gottwein 2012, S. 242) Am Ende ihrer Analyse gelangt Gottwein zu dem Fazit, dass es Juli Zeh auf der Grundlage der Theorien von Hobbes, Rousseau und Agamben gelinge, „ein in sich konsistentes politisches System zu konstruieren, welches die Position des Bürgers in Reduktion auf seinen Körper definiert und ihn gleichzeitig auf eine Kollektividentität festlegt, zu der er aufgrund der Idee des Gemeinwohls scheinbar sich selbst verpflichtet hat“ (ebd. S. 238-239).

Religion und Wissenschaft
Virginia McCalmont und Waltraud Maierhofer betonen in ihrem Aufsatz, Juli Zeh’s Corpus Delicti (2009): Health Care, Terrorists, and the Return of the Political Message, dass Wissenschaft und Religion in Corpus Delicti zwei Seiten einer Medaille seien (vgl. McCalmont und Maierhofer 2009, S. 389). Der „[r]eligious symbolism“ (ebd.), der in Corpus Delicti mehrfach eingesetzt werde, zeige wie eng die Methode mit Religion (und Fanatismus) verwandt sei. Im Gefängnis beispielsweise werde Mia, als sie in ihrer weißen Gefängnisrobe die Arme ausbreite, mit einem gekreuzigten Engel verglichen (vgl. Corpus Delicti, S. 200) und in einem späteren Gespräch zwischen Mia und Kramer werde auf eine Ähnlichkeit zwischen Kramers Haltung und die eines betenden Christen hingewiesen (vgl. ebd. S. 243). McCalmont und Maierhofer zufolge wird durch die Andeutungen und Vergleiche eine Verknüpfung von Wissenschaft und Religion unter der Methode sichtbar: „Zeh emphasizes her warning about the dangers of an unyielding commitment to science by subtly comparing science to religion.“ (Ebd.)

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Nullzeit

» Werkverzeichnis

Inhaltsangaben und Interpretationsansätze zu Nullzeit [ ↑ ]
Der Roman Nullzeit handelt von einer Ménage-à-trois, die beinahe tödliche Folgen nach sich zieht. Sven und seine Partnerin Antje kehren Deutschland den Rücken, um eine Tauchschule auf Lanzarote zu eröffnen. Die Rollen der beiden sind klar verteilt: Antje kümmert sich um das Organisatorische, Sven übernimmt die Tauchkurse. Zwischen Sven und Antje scheint alles glatt zu laufen, auch wenn die beiden mehr eine freundschaftliche als eine romantische Beziehung führen. Doch dann kommen die 30-jährige Jola, eine bekannte deutsche Telenovela-Schauspielerin, und ihr zwölf Jahre älterer Lebenspartner Theo, ein eher unbekannter deutscher Schriftsteller, auf die Insel und bringen Svens und Antjes bisheriges (Vernunfts-)Konzept durcheinander. Jola möchte ihre Tauchkenntnisse vertiefen, um sich auf diese Weise auf die Rolle der Tauchpionierin Lotte Hass vorzubereiten, für die sie vorsprechen will. Die Schauspielerin und der Schriftsteller führen eine komplizierte Beziehung mit sadomasochistischen Spielchen, die für Außenstehende kaum verständlich ist. Auf den Tauchgängen kommt es immer wieder zu heiklen Situationen: Mal versucht Theo Jola (tödlich) zu verletzten, mal Jola Theo. Eines Tages fängt Jola an, den ehemaligen Juristen Sven in das Spiel zwischen ihr und Theo miteinzubeziehen. Alsbald lässt Sven sich von der femme fatale um den Finger wickeln. Da die Dreiecks- bzw. Vierecksgeschichte abwechselnd aus zwei verschiedenen Perspektiven erzählt wird – einerseits erzählt Sven die Ereignisse rückblickend, andererseits schildert Jola die Geschehnisse in ihrem Tagebuch –, kann sich der Leser nie ganz sicher sein, wie und warum sich die Lage zwischen Theo, Jola und Sven immer weiter zuspitzt. Sven und Jola erzählen nicht von den gleichen Begebenheiten, in zentralen Punkten widersprechen sich die Beschreibungen der Ereignisse sogar. Am Ende kommt Theo bei einem gefährlichen Tauchgang zu einem Wrack fast ums Leben. Wenn man Svens Version glaubt, hat Jola versucht ihn umzubringen und er selbst hat Theo noch in letzter Sekunde das Leben gerettet. Die Tagebucheinträge deuten allerdings an, dass Sven aus Eifersucht versucht haben könnte, Theo loszuwerden. Nach dem „Tauchunfall“ reisen Jola und Theo abrupt ab.

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Thematische Aspekte zu Nullzeit [ ↑ ]

Die Grenzen des Rechts
Ein weiterer zentraler Themenkreis in Zehs Werken ist das Recht beziehungsweise die Rechtswissenschaft. In Spieltrieb, Corpus Delicti und Nullzeit werden außergewöhnliche Rechtsfälle behandelt, in denen man den ProtagonistInnen Unschuld und Schuld nicht eindeutig zuordnen kann. In den Textwelten verschwimmt die Grenze zwischen Recht und Unrecht.
In Nullzeit besteht der ‚Grenzfall‘ zum einen darin, dass der/die LeserIn durch die gewählte Erzählstrategie nicht genau ausmachen kann, wer in diesem Fall Täter und wer Opfer ist (s. Die Erzählinstanz: Eine Grenze zwischen Nähe und Distanz). Darüber hinaus könnte es sich hier um eine Art ‚Bratpfannenfall‘ handeln. Im ‚Bratpfannenfall‘ geht es um eine Frau, die jahrelang von ihrem Mann misshandelt wird, bis sie ihn letztlich mit der Bratpfanne erschlägt. Jola wird von Theo über Jahre hinweg misshandelt und gedemütigt, wenn Jola also die Mörderin von Theo ist (und nicht Sven der Mörder), könnte man hier von einer Art ‚Bratpfannenfall‘ ausgehen. Auch in Bezug auf Spieltrieb könnte man von einem ‚Bratpfannenfall‘ sprechen: Nach der monatelangen Marter von Ada und Alev, schlägt Smutek Alev zusammen. In dem Roman Nullzeit stellt die Wasseroberfläche eine bedeutende Grenze für die ProtagonistInnen dar. Unter Wasser werden zwischen Jola, Theo und Sven andere Regeln eingehalten; wiederholt verschwimmt unter Wasser die Grenze zwischen ‚recht‘ und ‚unrecht‘. Zum Beispiel kommen sich Sven und Jola unter Wasser näher als an Land. Außerdem finden die meisten Attentate von Jola auf Theo oder von Theo auf Jola unter Wasser statt. An einer Stelle heißt es in Svens Worten: „Unter mir die Dunkelheit, über mir das Licht. Die Grenze zwischen allen denkbaren Gegensätzen lief direkt durch mich hindurch. Ich befand mich zwischen hell und dunkel, oben und unten, gestern und morgen. Leben und Tod.“ (S. 232)

Das Corpus Delicti
In Nullzeit ist das Corpus Delicti das Tagebuch von Jola, das entweder Beweisstück oder Gegenstand des Verbrechens ist. In ihrem Tagebuch erzählt Jola die Geschichte von ihr, Theo, Sven und Antje, die sich auf Lanzarote zuträgt. Jolas Tagebuch könnte ein Beweis für Jolas Unschuld sein, denn in ihrer Version der Geschichte wirkt es wahrscheinlicher, dass nicht sie, sondern Sven versucht hat, Theo umzubringen. Wenn Jola in ihren Einträgen allerdings die Wahrheit verdreht, weil sie plant, Theo umzubringen, so wie der Erzähler Sven es behauptet, ist das Tagebuch intendiert der Gegenstand, der die Handlung vorantreibt: Erst nachdem Theo das Tagebuch liest, denkt er, dass Jola und Sven ein Verhältnis haben. Infolgedessen spitzt sich die Situation zu. In diesem Fall wäre das Tagebuch Gegenstand des Verbrechens, da Sven durch das unwahrhaftige Corpus Delicti fälschlicherweise wegen versuchten Mordes verurteilt werden könnte.
Wenn man als Otto Normalverbraucher die Fotos von Smutek und Ada beim Geschlechtsakt sähe, würde man wohlmöglich zunächst falsche Schlüsse ziehen. Dass man auf einen DNA-Test nicht ausschließlich vertrauen kann, wird In Corpus Delicti gezeigt. In Nullzeit steht Aussage gegen Aussage. In summa wird in allen drei Romanen gezeigt, dass Corpora Delicti unzuverlässig sein können.

Staats- und Menschenkritik
Juli Zeh versieht ihre Sprache mit Metaphern und Vergleichen aus dem Bildbereich des Kriegs, des Kampfes und der Jagd. In Nullzeit verwandeln Jola und Theo Lanzarote nach und nach in ein „Schlachtfeld“ (S. 230) und selbst in ihrer Poetik Treideln greift Juli Zeh die Kriegsmetaphorik auf: Sie und ihr Mann hätten sich „[i]n den Schützengräben der Auktorialität“ (S. 56) ineinander verliebt und wenn sie Schreibprobleme habe, lasse sich Zeh von „Schreibsoldaten“ (S. 39) helfen. Interessant ist, dass die Figur Sven in Nullzeit Deutschland explizit als „Kriegsgebiet“ (S. 40) charakterisiert: „Ich hörte gern zu, wenn meine Kunden auf Deutschland schimpften. In meinen Ohren klangen sie wie Soldaten auf Fronturlaub, die aus dem Kriegsgebiet berichteten.“ (S. 56) Weil er in diesem ‚Kriegszustand‘ nicht leben wollte, flüchtete er nach Lanzarote. Im Laufe seiner Erzählung kommt er immer wieder auf die Kriegs-Metapher zurück, bis er am Ende feststellt, dass Krieg „kein geographisches Phänomen“ (S. 256) sei, denn Jola und Theo hätten den ‚Krieg‘ mit auf die Insel gebracht. Die Kriegsmetaphorik verbildlicht den ‚Kampfwille‘ im Wesen des (deutschen) Menschen und das ‚kriegerische‘, also kombattante und strategische Verhalten der (deutschen) Menschen untereinander.

Fiktion²: Das (Schau)Spiel

Ein essentielles Thema und Motiv in Nullzeit ist die ‚Fiktion‘. Jola ist Schauspielerin, Theo Autor – beide Berufe beschäftigen sich mit ‚fiktiven Welten‘. Das Interessante ist, dass Jola nicht nur vor der Kamera eine Schauspielerin zu sein scheint. Mehrfach weist Sven auf ihre gekünstelte Art hin: Ihr Augenaufschlag verrate Übung (vgl. S. 30) und beim sexuellen Kontakt mit Sven sehe sie aus wie eine Schauspielerin (vgl. S. 97). Ferner versucht Jola im realen Leben ihren Rollen ähnlich zu werden. Zum Beispiel verhält sie sich ebenso rachsüchtig wie die Figur Bella, die sie in einer deutschen Seifenoper spielt. An einer Stelle wird erwähnt, dass Lotte Hass ihren Expeditionsleiter heiratete (vgl. S. 101) – versucht Jola bloß deshalb Sven zu verführen? Dass hier mit dem Thema Fiktion gespielt wird, belegt nicht zuletzt der Fakt, dass Bella, die Figur die Jola in der Seifenoper darstellt, von Beruf Schauspielerin ist. Das Spiel im Spiel bewirkt ebenso wie die Erzählstrategie (s. Die Erzählinstanz: Eine Grenze zwischen Nähe und Distanz) des Romans einen Illusionsbruch.
Eine weitere ‚fiktive Welt‘ in Nullzeit ist die unter Wasser – hier scheinen andere Gesetze zu gelten als an Land. Vor allem Sven und Jola scheinen unter Wasser die Realität auszublenden. Unter Wasser ist Jola Sven zum Beispiel hoffnungslos verfallen, außerhalb des Meeres sieht das anders aus: „An Land fällt es mir schwer, Sven ernst zu nehmen. Dicke Arme und dieser treuherzige Blick. Gescheiterter Jurist, geflohen in den ewigen Kindergarten, garantiert mit hundert Prozent Sonne und Null Prozent echtem Leben.“ (S. 100) Auch der Wendepunkt des Romans ist mit der Diskrepanz zwischen Realität und Illusion verknüpft. Wenn Jola tatsächlich die Realität der Illusion versucht anzupassen, so wie es Sven behauptet, tut er es ihr schließlich gleich:
„Wenn Theo, Antje, Antjes Freundinnen, Bernie – wenn die ganze Insel fest davon ausging, dass ich eine Affäre hatte, war es nur logisch, eine solche auch zu führen. Der Gedanke gefiel mir. Wer den Verstand nicht verlieren wollte, musste darauf achten, dass Idee und Wirklichkeit deckungsgleich blieben. Normalerweise passte man Ideen der Realität an. Manchmal war der umgekehrte Weg einfach der einfachere.“ (S. 192)
Nachdem Sven seine Realität der Illusion angleicht, spitzt sich die Situation zwischen den dreien zu – es kommt zur Katastrophe.

Verschiedene Konzepte von Sexualität und Liebe

Sexualität und Liebe sind wichtige Themen in Juli Zehs Werk, die auf unterschiedlicher Weise verhandelt werden. Zum einen sticht heraus, dass die Beziehungen der ProtagonistInnen in den Romanen oft hierarchische und sadomasochistische Tendenzen aufweisen. Den Sadomasochismus kann man sowohl mit Zehs Grenzmotivik im Zusammenhang sehen, da im Sadomasochismus die Grenze zwischen Gewalt und Zärtlichkeit eine zentrale Rolle spielt, als auch mit der Thematik des Spiels. Zum anderen stehen in Spieltrieb, Corpus Delicti und Nullzeit überwiegend Dreiecksbeziehungen (bzw. Vielecksbeziehungen) im Fokus. In summa werden in den drei Romanen viele verschiedene Konzepte und Reglementierungen von Liebe und Sexualität dargestellt. Was kann, was darf und was soll sein? Fragen, die in unserer gegenwärtigen Gesellschaft von großer Bedeutung sind.
Zwischen den ProtagonistInnen Jola, Theo und Sven in Nullzeit vollzieht sich eine klassische Ménage-à-trois:
„Plötzlich streckte Jola die Hand nach mir aus und zog mich zu sich heran. Wir gingen zu dritt, eng umschlungen. Jola hatte es warm und sicher in der Mitte, sie blickte abwechselnd zu uns auf. Ich spürte ihre Finger auf meiner Hüfte und konnte nicht vermeiden, dass mein Arm den von Theo berührte. Es war absurd und wunderschön.“ (S. 59)
Antje ist zwar die Partnerin von Sven, an dem Beziehungsgeflecht zwischen Jola, Theo und Sven nimmt sie allerdings nicht teil.
Die Begegnung zwischen Sven und Jola wird seitens Sven als eine Art Wahlverwandtschaft wie bei Goethes Figuren Eduard und Ottilie aufgefasst – „[a]b jetzt gehörten wir zusammen wie siamesische Zwillinge, mit zwei Schläuchen an dieselbe Luftzufuhr angeschlossen“ (S. 71). Sven und Antje hingegen führen eine Beziehung aus Vernunft, die Parallelen zu der Beziehung zwischen Eduard und Charlotte aus Goethes Klassiker aufweist. Die Beziehung zwischen den beiden entstand nicht aus Liebe sondern „versehentlich“ (S. 81), Sven mag es nicht, wenn Antje ihn „in Gegenwart anderer Menschen“ (S. 19) berührt, und weil er keine echte Leidenschaft für Antje aufbringen kann, hält sich Sven – bis zu der Begegnung mit Jola – für „einen Menschen von geringer Liebeskraft“ (S. 95). Für Antje ist Sven lediglich ein „sporadische[r] Liebhaber“ (S. 181), für Sven ist Antje ein „praktische[r] Schrank“ (S. 96). Wie Eduard und Charlotte halten die beiden nur aufgrund (finanzieller) Abhängigkeit an der Beziehung fest: „Nach unserer Ankunft auf der Insel hatte sie keine zwei Jahre gebraucht, um sich unentbehrlich zu machen.“ (S. 19)
Jola und Theo spielen ein sadomasochistisches Liebesspiel miteinander, in das sie Sven als eine Art ‚Spielzeug‘ miteinbeziehen. Sie provozieren und verletzen sich gegenseitig, drohen einander, machen einander eifersüchtig und gehen fremd. Ihre Beziehung ist ambivalent: Erst ringen sie an einem Abgrund, wenige Momente später küssen sie sich „wie Verhungerte“ (S. 61). Jola ist zehn Jahre jünger als Theo und nennt ihn in ihren Tagebucheinträgen stets „alte[r] Mann“ (S. 23). Theo ist der Überzeugung, dass er eine Vaterfigur für Jola verkörpere (vgl. S. 76). Doch der Altersunterschied bestimmt die Hierarchie zwischen den beiden nur bedingt: Mal ist Jola die Sadistin, mal die Masochistin, mal ist Theo der Sadist, mal der Masochist. Theo wird beispielsweise sexuell erregt, wenn er spielt, dass er Jola vergewaltigt, und Jola bezirzt Sven, um Theo zu verletzen, denn sie liebt es, „in Theos Augen zu schauen und zu sehen, wie dort etwas zerbricht“ (S. 144-145).

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Formale Aspekte zu Nullzeit [ ↑ ]

Die Erzählinstanz oder: Eine Grenze zwischen Nähe und Distanz
Bei der narrativen Analyse von Zehs Romanen steht vor allem die Frage nach der (Un-)Zuverlässigkeit des/der ErzählerIn im Vordergrund. Des Weiteren lässt sich feststellen, dass Juli Zeh die auktoriale Erzählsituation sowie JuristInnen als ErzählerInnen bevorzugt. Durch die Unzuverlässigkeit des/der ErzählerIn, den Gebrauch von bestimmten rhetorischen Mitteln und durch Illusionsbrüche erschafft Zeh oft eine Distanz zwischen LeserIn und Werk.
In Nullzeit liegt, anders als in den anderen beiden Romanen, kein/e auktoriale/r ErzählerIn vor; hier wird der Wechsel von Zuverlässigkeit und Unzuverlässigkeit beziehungsweise Nähe und Distanz auf eine andere Weise vollzogen. In Nullzeit haben wir es mit zwei homodiegetischen ErzählerInnen zu tun, denn die Geschichte, die rückblickend von dem Juristen (!) Sven erzählt wird, wird zwischendurch von Jolas Tagebucheinträgen unterbrochen. Eigentlich müssten die beiden ProtagonstInnen uns die gleiche Geschichte erzählen, es liegen uns aber ausgesprochen unterschiedliche Versionen der Ereignisse vor. In Jolas Version schlafen sie und Sven miteinander, in Svens tun sie das nicht. Jola zufolge, hat Sven sie gefragt, ob sie sich vorstellen könne, auf die Insel zu ziehen (vgl. S. 117). Laut Sven, hat Jola ihm angeboten, auf der Insel zu bleiben (vgl. S. 107). Jola schreibt in ihr Tagebuch, dass Sven sie darum gebeten habe, mit ihm auf die gefährliche Expedition zu dem Schiffswrack zu kommen. Sven berichtet hingegen, dass Jola ihn gefragt habe, ob sie ihn bei der Expedition begleiten könne. Es gibt sowohl Indizien dafür, dass es sich bei Jola um eine unzuverlässige Erzählerin handelt, als auch dafür, dass man Svens Version der Geschichte nicht trauen kann. An einer Stelle schreibt Jola, dass sie vielleicht verrückt werde (S. 171). Zudem scheint Sven ihr surreal: „Eine Figur, flach wie Pappe. Als hätte ich ihn erfunden.“ (Ebd.) Jene Aussagen erwecken den Anschein, dass sich Jola selbst in ihren Lügen und in ihrem Wahn verliert. Für Svens Unzuverlässigkeit spricht, dass er manchmal nicht mehr weiß, was er gesagt hat (vgl. S. 178 u. S. 191) Außerdem kann er sich an den Tag der Tat nur vage erinnern (vgl. S. 220). Am Ende seiner Berichterstattung schreibt er:
„Abschnitt für Abschnitt sollte ich meine Version Jolas Tagebucheinträgen entgegensetzen. Andernfalls würde das Gedächtnis bald anfangen, seine eigene Geschichte zu schreiben. Nichts sei korrupter als die menschliche Erinnerung. Erst würden die Details der Ereignisse verschwimmen, dann die Ereignisse selbst.“ (S. 254)
Sind Svens Erinnerungen bereits verschwommen? Dafür spricht, dass Antje behauptet, dass Sven den Sinn für Realität verloren habe (vgl. S. 180). Es lässt sich nicht eindeutig ausmachen, wer von den beiden ein unzuverlässige/r ErzählerIn beziehungsweise wer von den beiden verrückt oder „genial“ (S. 253) ist. In Juli Zehs Poetik Treideln heißt es: „Das Gedächtnis ist nichts anderes als ein unzuverlässiger Erzähler. Literatur und Erinnerung teilen sich ein flexibles Verhältnis zu Realität.“ (S. 187) In Nullzeit gelingt es Zeh, die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses thematisch und formal umzusetzen.

Die Anpassung des Sprachstils an das Erzählte
Juli Zehs Sprachstil zeichnet sich vor allem durch seine Variabilität aus: Der Sprachstil in Nullzeit setzt sich vergleichsweise aus weitestgehend parataktischen Satzkonstruktionen, einem umgangssprachlichen Jargon („Ich find’s genial hier“, S. 21) und einer schlichten Metaphorik zusammen („Der Wind rüttelte am Auto, als wollte er rein“, S. 14).

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Pressespiegel zu Nullzeit [ ↑ ]
Der Roman Nullzeit wird von der Literaturkritik fast ausschließlich kritisiert (Zeit, Süddeutsche Zeitung, Deutschland Radio Kultur, Badische Zeitung), wenn nicht gar verrissen (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Tageszeitung). In den meisten Rezensionen bezieht sich die Kritik auf den Klappentext des Romans, in dem behauptet wird, dass Juli Zehs Roman „ein meisterhaft konstruierter Psychothriller in der Tradition von Patricia Highsmith“ sei. Andreas Platthaus (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.08.2012) stellt heraus, dass zu einem Psychothriller „definitionsgemäß eine gewisse psychologische Tiefe“ gehöre, welche die Figuren in dem Roman nicht aufweisen würden. Ähnlich formuliert es auch Jörg Magenau (Die Tageszeitung, 12.08.2012): „in einer Psyche, in der es kaum einen interessanten Winkel gibt und keinen Widerhall, weil alles so blank poliert und zurechtgemacht ist, kann kein Psychothriller entstehen“. Darüber hinaus empfindet Magenau den Plot des Romans als „derart hanebüchen, dass dem Buch vom Ende her jegliche Glaubwürdigkeit entzogen wird und es in sich zusammensackt wie eine Luftmatratze, aus der man den Stöpsel zieht“. Auch Vladimir Balzer (Deutschlandradio Kultur, 13.08.2012) ist der Meinung, dass „von einem Psychothriller, wie ihn der Verlag ankündigt, jedenfalls kaum eine Spur“ sei. Das liege einerseits an der „allzu geplant[en]“ Dramaturgie, andererseits fehle den Figuren „das Abgründige, das böse Geheimnis, die Vielschichtigkeit“.
Burkhard Müller (Süddeutsche Zeitung, 11.08.2012) greift den Bezug auf Partrica Highsmith explizit auf, um seine Kritik an Juli Zehs Erzählweise – dem Wechsel von Svens und Jolas Erzählperspektive – zu verdeutlichen: Zeh
„hätte sich – so hätte es Patricia Highsmith gemacht, mit der Juli Zeh verglichen worden ist – dafür entscheiden müssen, alles vom Gesichtspunkt Jolas aus zu erzählen, und es dem Leser anheimzustellen, in deren Beredtheit und quecksilbrigem Charme dem Wahnsinn allmählich selber auf die Spur zu kommen. Es hätte den Leser geschaudert. Doch um diesen Schauder hat Zeh ihr Buch verkürzt.“
Ebenso sieht es auch Philipp Kurbel (Badische Zeitung, 01.09.2012):
„Jola ist nicht Tom Ripley. Zwar hat Zeh eine faszinierende Psychopathin geschaffen, die unter Realitätsverlust leidet. Für einen Ripley hätte sie Jolas Bösartigkeit aber subtiler aus ihrem Charakter herausschälen, auf Svens konterkarierende Erzählung verzichten müssen“.
Er stellt fest, dass Juli Zeh kein Gefallen damit getan werde, „sie mit der Großmeisterin des Psychothrillers Patricia Highsmith zu vergleichen“.
Hubert Winkels (Zeit, 02.08.2012) kann zumindest dem Sprachstil in Nullzeit noch etwas Positives abgewinnen: Die Vermischung von „Neopren-Diktion“ und „Naturbeschreibungen der lakonisch genauen Art“ trage eine Weile. Und auch Philipp Kurbel (Badische Zeitung, 01.09.2012) lobt die „knappe, präzise Sprache“: Formulierungen wie „Krieg ist kein geographisches Phänomen“ würden mit „erschütternder Schlichtheit“ Erstaunliches erreichen.
Eine Nadel im Heuhaufen unter den Kritiken der renommierten Feuilletons ist die Rezension von Nora Gantenbrink (Spiegel online, 08.08.2012), da sie fast durchweg positiv ist: „Zeh, man kann gegen sie sagen was man will, ist ein gutes Buch gelungen. Ein Buch wie ein Wellengang. Ihre Sprache treibt die Geschichte voran“.

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