Dissertationsprojekt André Kolbe

Entwicklung und empirische Prüfung der Lernwirksamkeit digitaler Module zur guten wissenschaftlichen Praxis im Fach Chemie

Ausgangslage und theoretischer Hintergrund

Gute wissenschaftliche Praxis (GWP) ist essenziell für die Sicherstellung der wissenschaftlichen Integrität und bildet die Grundlage für qualitativ hochwertige und vertrauenswürdige Forschungsergebnisse. In Europa dienen die von den All European Academies (ALLEA) entwickelten und kontinuierlich aktualisierten Leitlinien als Maßstab für die Einhaltung dieser Prinzipien. Der 2017 veröffentlichte European Code of Conduct for Research Integrity stellt einen zentralen Referenzrahmen für GWP in Europa dar und dient als Grundlage für nationale Regelungen (All European Academies, 2017). In Deutschland hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) seit 1998 eigene Leitlinien zur Sicherung der GWP formuliert, die darauf abzielen, eine verbindliche Kultur der wissenschaftlichen Integrität an Forschungsinstitutionen zu etablieren (Deutsche Forschungsgemeinschaft, 2022). Angesichts der zentralen Bedeutung der GWP ist es unerlässlich, diese Prinzipien bereits während des Studiums zu vermitteln, um eine ehrliche und transparente Wissenschaftskultur zu fördern. Studien, wie die von Fuerholzer et al. (2020), haben gezeigt, dass GWP-Kurse signifikante Veränderungen im Wissen und in den Einstellungen der Studierenden bewirken können. Dennoch gibt es einen Mangel an flächendeckenden GWP-Modulen für naturwissenschaftliche Fächer sowie an Erkenntnissen über die lernwirksamen Merkmale solcher Module. Im Selbststudium spielen multimediale Lernmaterialien eine zunehmend wichtige Rolle, da sie nicht nur motivationale und selbstregulative Anreize bieten, sondern auch einen Mehrwert hinsichtlich der Lernwirksamkeit im Vergleich zu traditionellen Lernmaterialien darstellen (Damnik et al., 2018). Insbesondere interaktive Lernmaterialien können das Lernen effektiver und effizienter gestalten und zu einem tieferen konzeptuellen Verständnis führen (Baumgartner & Herber, 2013). Generative Aktivitäten, die eine aktive Auseinandersetzung mit Lerninhalten fördern, sind dabei besonders lernwirksam (Fiorella, 2021). Bei der Vermittlung von GWP kommt neben der Kenntnis allgemeiner Regeln vor allem deren Anwendung in spezifischen, oft komplexen Situationen zum Tragen. Fallbeispiele bieten hier besonders gute Lerngelegenheiten (Zumbach et al., 2008). Gleichzeitig kann die Motivation der Studierenden durch textlastige Lerninhalte beeinträchtigt werden, was das Lernen erschwert (Sogunro, 2014). Graphic Novels können hier Abhilfe schaffen, indem sie textliche Inhalte entlasten und gleichzeitig die Lernmotivation steigern (Fitri Dwi Arini et al., 2016; Sipayung et al., 2020).

Bislang wurde nicht untersucht, ob digitale Selbstlernmaterialien, die mit komplexen Fallbeispielen in Form von Graphic Novels angereichert wurden, den Erwerb von anwendungsbezogenem Wissen steigern können. Diese Studie zielt darauf ab, diese Forschungslücke zu schließen und GWP als exemplarisches Anwendungsgebiet für die Evaluierung solcher Lernmaterialien zu nutzen.

Fragestellung

Die vorliegende Studie untersucht daher digitale Lernmodule, die um Graphic Novels erweitert wurden. Verglichen werden drei Bedingungen: eine Kontrollgruppe ohne Graphic Novels, eine Instruktionsgruppe (IG1) mit Graphic Novels in der Einführungsphase und eine Gruppe mit Graphic Novels in der Erarbeitungsphase (IG2). Folgende Forschungsfragen werden untersucht:

FF1: Inwiefern unterscheiden sich die digitalen GWP-Module mit Graphic Novels von Lernmodulen ohne Graphic Novels (KG) hinsichtlich Lernwirksamkeit, kognitiver Belastung, Usability und der motivationalen Wirkung?

FF2: Inwiefern unterscheiden sich die digitalen GWP-Module mit Graphic Novels in der Instruktionsphase (IG1) von Lernmodulen mit Graphic Novels in Lernaufgaben (IG2) hinsichtlich Lernwirksamkeit, kognitiver Belastung, Usability und der motivationalen Wirkung?

Methode

Im Rahmen eines Kooperationsprojekts an drei nordrhein-westfälischen Universitäten wurden GWP-Module für Bachelor- und Masterstudierende der Naturwissenschaften als Selbstlernmaterialien entwickelt und empirisch geprüft. Die Forschungsfragen wurden mittels eines Pre-Post-Kontrollgruppen-Designs an einer Stichprobe von 128 Studierenden untersucht.

Im Sommersemester 2024 und Wintersemester 2024/2025 wurden drei digitale GWP-Lerneinheiten hinsichtlich (a) Lernwirksamkeit, (b) kognitiver Belastung, (c) Usability und (d) Motivation evaluiert. Die Lernwirksamkeit wurde durch einen selbstentwickelten GWP-Fachwissenstest erhoben. Die kognitive Belastung wurde mit Items von Krieglstein et al. (2023) und die Usability mit Items nach Schrepp (2023) gemessen. Die Motivation wurde mit Items nach Engeln (2004), Haugwitz (2009) und Flake et al. (2015) erhoben.

Zur Beantwortung der Fragestellungen kamen inferenzstatistische Verfahren zum Einsatz. Die Reliabilität der eingesetzten Skalen wurde mittels Cronbachs Alpha überprüft. Gruppenvergleiche erfolgten über einfaktorielle Varianzanalysen (ANOVA) mit Messwiederholung. Bei signifikanten Haupteffekten wurden Post-hoc-Tests mit Bonferroni-Korrektur durchgeführt. Zusätzlich wurden Trendanalysen berechnet.

Ergebnisse

Die eingesetzten Skalen weisen überwiegend gute Reliabilitäten auf (α ≈ .73–.94); lediglich die User-Experience-Questionnaire-Subskala Steuerbarkeit zeigt eine niedrige interne Konsistenz (α ≈ .56) und wird entsprechend vorsichtig interpretiert. Eine explorative Faktorenanalyse bestätigt die Dreiteilung der kognitiven Belastung in intrinsic cognitive load (ICL), extraneous cognitive load (ECL) und germane cognitive load (GCL), sodass eine Zusammenlegung von ICL und ECL nicht vorgenommen wurde. Die Voraussetzungen für Varianzanalysen (Normalverteilung, Varianzhomogenität) sind hinreichend erfüllt.

Die Auswertungen zeigen zunächst im Bereich des Fachwissens einen deutlichen und hochsignifikanten Anstieg über die Zeit (F(1,125) = 40.84, p < .001, η² = .25). Alle drei Gruppen verbessern sich vom Prä- zum Posttest signifikant (alle p < .01, d ≈ 0.5–0.6), wobei sich weder ein Gruppeneffekt noch eine Interaktion zwischen Zeit und Gruppe nachweisen lässt (p > .58). Damit steigt das Fachwissen in allen Bedingungen gleichermaßen an, unabhängig davon, ob Graphic Novels eingesetzt wurden oder nicht.

Auch bei der kognitiven Belastung treten keine systematischen Unterschiede zwischen den Gruppen auf. Der ICL bleibt über die Zeit hinweg stabil und unterscheidet sich nicht zwischen den Bedingungen (F(2,250) = 1.60, p = .203). Ein ähnliches Bild zeigt sich für den ECL, der keinen Haupteffekt aufweist (F(2,250) = 3.01, p = .051), allerdings einen signifikanten quadratischen Verlauf (F(1,125) = 5.93, p = .016, η² = .045). Auch dieser Effekt ist unabhängig von der Gruppenzugehörigkeit. Beim GCL zeigte sich ein signifikanter Rückgang über die Zeit (F(2,250) = 4.34, p = .014, η² = .034), der linear verlief (p = .022). Innerhalb der Gruppen war dieser Rückgang allerdings nur in der Instruktionsbedingung (IG1) signifikant nachweisbar (t(46) = 2.07, p = .045). Insgesamt deuten diese Ergebnisse darauf hin, dass die kognitive Belastung über die Zeit eher stabil bleibt und nicht systematisch von der Einbindung der Graphic Novels beeinflusst wird.

Ein ähnliches Muster zeigt sich bei der motivationalen Wirkung der Lernmodule auf die Studierenden. Das situationale Interesse nimmt über die drei Messzeitpunkte signifikant ab (F(2,250) = 19.30, p < .001, η² = .13), mit einem klaren linearen Verlauf (F(1,125) = 29.98, p < .001), jedoch ohne Unterschiede zwischen den Gruppen (p = .829). Für die Kosten ergibt sich ein gemischtes Muster. Während die Task Effort Cost weitgehend stabil bleiben, zeigen die Outside Effort Cost einen signifikanten Anstieg im Zeitverlauf (F(2,250) = 6.63, p = .002, η² = .05), der sowohl linear (p = .007) als auch quadratisch (p = .019) verläuft. Dieser Verlauf zeigt sich insbesondere in der Kontrollgruppe (signifikante Anstiege von MZP1 zu MZP2 sowie von MZP1 zu MZP3) und in IG1 (Anstieg von MZP1 zu MZP2), während in IG2 keine signifikanten Veränderungen auftreten. Auch bei den Loss of Valued Alternatives zeigt sich ein leichter linearer Anstieg (F(1,125) = 4.58, p = .034), während die Emotional Costs über alle Gruppen und Messzeitpunkte hinweg stabil bleiben (F(2,250) = 0.37, p = .693). Gruppenunterschiede lassen sich bei keiner der motivationalen Subskalen nachweisen.

Auch die Bewertung der Usability verlief überwiegend konstant. Die Lernmodule wurden in allen Gruppen durchgängig positiv eingeschätzt, wobei signifikante Veränderungen nur bei zwei Subskalen auftraten. Sowohl die Effizienz (F(2,250) = 3.36, p = .036, η² = .026) als auch die Durchschaubarkeit (F(2,250) = 3.73, p = .025, η² = .029) zeigten quadratische Verläufe (p = .012 bzw. p = .006). Auch hier blieben Gruppen- und Interaktionseffekte nicht signifikant (alle p > .16). Alle weiteren Skalen, wie Attraktivität, Steuerbarkeit, Stimulation und Originalität, veränderten sich nicht bedeutsam und zeigten keine Unterschiede zwischen den Gruppen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die digitalen Lernmodule in allen Bedingungen einen deutlichen Wissenszuwachs ermöglichen. Einzelne signifikante Unterschiede zeigen sich zwar in den Bereichen kognitive Belastung, Motivation und Usability, diese treten jedoch unregelmäßig und ohne klaren Bezug zur jeweiligen Bedingung auf. Weder der Vergleich zwischen Graphic-Novels- und Kontrollgruppen noch der Vergleich zwischen Graphic Novels in Instruktions- und Erarbeitungsphasen ergibt systematische Unterschiede. Damit lässt sich für keine der untersuchten Variablen ein klarer Nutzen für den Einsatz von Graphic Novels nachweisen.

Diskussion

Die Studie zeigte in allen Gruppen einen signifikanten Wissenszuwachs. Graphic Novels können daher grundsätzlich als geeignetes Medium zur Vermittlung guter wissenschaftlicher Praxis angesehen werden. Ein zusätzlicher Vorteil gegenüber der Kontrollgruppe ließ sich jedoch nicht nachweisen, was vermutlich auf die insgesamt hohe Qualität aller Lernmodule zurückzuführen ist. Unterschiede in der kognitiven Belastung, Motivation und Usability blieben weitgehend aus. Lediglich für den ECL zeigte sich an einem Messzeitpunkt ein signifikanter Anstieg in der Graphic-Novel-Bedingung. Auch der Vergleich zwischen Instruktions- und Anwendungsphase ergab keine Unterschiede. Graphic Novels erscheinen damit flexibel einsetzbar. Die fehlenden Effekte könnten auf die narrative Gestaltung auch in der Kontrollgruppe, auf zu geringe didaktische Unterschiede oder auf eine limitierte Stichprobengröße zurückzuführen sein. Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass Graphic Novels eine geeignete, aber nicht zwingende Ergänzung darstellen. Weiterführende Studien mit größeren Stichproben und einem erweiterten 2×2-Design sind notwendig, um mögliche additive Effekte zu prüfen, wenn Graphic Novels sowohl in der Instruktions- als auch in der Anwendungsphase miteinander kombiniert werden.

Literaturverzeichnis

All European Academies. (2023). The European Code of Conduct for Research Integrity (Revised Edition). ALLEA.

Baumgartner, P. & Herber, E. (2013). Höhere Lernqualität durch interaktive Medien? - Eine kritische Reflexion. Erziehung und Unterricht, 327–335.

Damnik, G., Gierl, M., Proske, A., Körndle, H. & Narciss, S. (2018). Automatische Erzeugung von Aufgaben als Mittel zur Erhöhung von Interaktivität und Adaptivität in digitalen Lernressourcen. E-Learning Symposium, 5–16.

Deutsche Forschungsgemeinschaft (2022). Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis. https://doi.org/10.5281/zenodo.6472827

Engeln, K. (2004). Schülerlabors: authentische, aktivierende Lernumgebungen als Möglichkeit, Interesse an Naturwissenschaften und Technik zu wecken. Dissertation. Studien zum Physiklernen: Band 36 [176 Seiten].

Fiorella, L. (2021). Multimedia Learning with Instructional Video. In R. E. Mayer & L. Fiorella (Hrsg.), The Cambridge Handbook of Multimedia Learning (Bd. 18, S. 487–497). Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/9781108894333.050

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Flake, J. K., Barron, K. E., Hulleman, C., McCoach, B. D. & Welsh, M. E. (2015). Measuring cost: The forgotten component of expectancy-value theory. Contemporary Educational Psychology, 41(2), 232–244. https://doi.org/10.1016/j.cedpsych.2015.03.002

Fuerholzer, K., Schochow, M. & Steger, F. (2020). Good Scientific Practice: Developing a Curriculum for Medical Students in Germany. Science and Engineering Ethics(26), 127–139. https://doi.org/10.1007/s11948-018-0076-7

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Krieglstein, F., Beege, M., Rey, G. D., Sanchez-Stockhammer, C. & Schneider, S. (2023). Development and Validation of a Theory-Based Questionnaire to Measure Different Types of Cognitive Load. Educational Psychology Review, 35(1), 13. https://doi.org/10.1007/s10648-023-09738-0

Schrepp, M. (2023). User Experience Questionnaire Handbook: All you need to know to apply the UEQ successfully in your projects. UEQ - User Experience Questionnaire.

Sipayung, T. N., Simanjuntak, S. D., Wijaya, A. & Sugiman, S. (2020). The effect of comic-based realistic mathematics approach on students’ learning motivation and conceptual understanding. Journal of Physics: Conference Series, 1538(1), 12111. https://doi.org/10.1088/1742-6596/1538/1/012111

Sogunro, O. A. (2014). Motivating Factors for Adult Learners in Higher Education. International Journal of Higher Education, 4(1). https://doi.org/10.5430/ijhe.v4n1p22

Zumbach, J., Haider, K. & Mandl, H. (2008). Fallbasiertes Lernen: Theoretischer Hintergrund und praktische Anwendung. Pädagogische Psychologie in Theorie und Praxis, 1–11.