Antrittsvorlesungen im Rahmen des Kolloquiums Linguistik und Sprachdidaktik (7.6.2023)

"Melitta Gillmann, Judith Purkarthofer und Eva Gredel vor der Bühne des Glaspavillons, mit Blumensträußen in den Händen

Wir bedanken uns bei unseren Teams, unseren Kolleg*innen sowie unseren Familien und Freund*innen für diesen feinen Abend und laden zur kurzen Nachschau ein.

Auf den Spuren des deutschen Sonderwegs

Vortrag von Prof. Dr. Melitta Gillmann

Während sich das honorische Anredepronomen in verschiedenen Sprachen aus dem Plural der 2. Person entwickelt hat (z.B. frz. vous, griech. Σας), in anderen aus der 3. Person Sg. (z.B. ital. Lei), kombiniert das Deutsche beide Quellen und schlägt damit einen typologischen Sonderweg ein (Sie3Pl > SieHon). Aus kognitiv-linguistischer Perspektive greift bei der Herausbildung des honorischen Sie somit einerseits die Metapher „Plural ist Macht“, anderseits kann die indirekte Anrede als gesichtsschonendes Verfahren betrachtet werden.

Der deutsche Sonderweg spiegelt sich auch im vergleichsweise komplizierten Entwicklungspfad des honorischen Anredesystems, das Simon aufgrund der zahlreichen Zwischenschritte als „Zick-Zack-Kurs“ (Simon 2003: 130) bezeichnet. Für alle historischen Sprachstufen gilt zudem, dass der Gebrauch honorischer Pronomen in spezifischen Sprecherkonstellationen instabiler war als heute: Einzelne Sprecher:innen konnten in derselben Gesprächssituation aus pragmatischen Gründen zwischen verschiedenen Anredeformen wechseln, was besonders häufig in affektgeladenen Situationen wie bei Streit geschah (Ehrismann 1902: 147 spricht von einem „Mischstil“; s. auch Simon 2016, Gillmann/Imo 2021).
Der Vortrag wirft ausgehend von heute zugänglichen großen Korpora (Deutsches Textarchiv, Referenzkorpora historischer Sprachstufen) neues Licht auf die historische Entwicklung des deutschen Anredesystems. Bei der Untersuchung stehen v.a. Kollokationen und Lexem-Kookurrenzen im Vordergrund, die Hinweise auf ein honorisches Register bieten können (Agha 1998).

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„*glupsch* Du siezt mich?“ – Sozialdeixis in translokalen und (teil-)anonymen Kontexten digitaler Kommunikation

Vortrag von JProf. Dr. Eva Gredel

Der adäquate Einsatz sozialdeiktischer Zeichen ist hochgradig situations- und kontextabhängig und steht somit seit jeher im Fokus der linguistischen Pragmatik. Bisher wurden Prinzipien pronominaler Anrede jedoch vor allem mit Blick auf mündlich-kopräsente Interaktion modelliert. Die Nutzung pronominaler Anredeformen im Bereich digitaler Kommunikation in translokalen und (teil-)anonymen Kontexten, stellt Schreibende vor besondere Herausforderungen und wurde bisher nur in Ansätzen untersucht. Der Beitrag geht auf der Grundlage von Korpora internetbasierter Kommunikation im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) sowie im Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) der Frage nach, ob Schreibende das Duzen und Siezen auf digitalen Plattformen metasprachlich thematisieren.

Es wird zudem analysiert, welche Aspekte des Einsatzes pronominaler Anredeformen dabei zur Sprache kommen. Mit der so skizzierten Hinwendung zu digitalen Gegenständen (digitalen Plattformen im Internet) und zu digitalen Methoden (Korpusverfahren) leistet diese Korpusstudie einen Beitrag zur Revision eines traditionell pragmatischen Bereichs unter den Vorzeichen der Digitalität. Abschließend geht der Vortrag darauf ein, inwiefern die Aushandlung sozialdeiktischer Zeichen auf digitalen Plattformen als Aspekt von Netiquetten Lehr-Lern-Gegenstand in Vermittlungskontexten (z.B. im schulischen Deutschunterricht oder im DaF-/DaZ-Bereich) sein kann.

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„Mein Name wurde ja auch noch nie richtig ausgesprochen.“ Adressierung als Voraussetzung und Herausforderung für Subjektpositionen und biographisches Erleben

Vortrag von JProf. Dr. Judith Purkarthofer

Sprecher*innen werden erst durch ihre Adressierung zu Mitgliedern von Sprachgemeinschaften: zur Sprache kommen wir durch andere und in deren Sprachen lernen wir uns zu bewegen (Butler 2005, Purkarthofer 2022). Adressierung ist damit Voraussetzung für die (mehrsprachige) Subjektwerdung, aber sprachliche Zeichen dienen nicht nur dem Navigieren mehrsprachiger Kontexte sondern werden auch evaluiert (Bourdieu 1999). Namen als Individualzeichen (Bühler 1999 [1934]) sind dafür besonders prädestiniert. Am Beispiel von biographischem Erleben von mehrsprachigen Studierenden soll gezeigt werden, wie  Sozialdeixis im weiteren Sinne eine Rolle beim Finden der eigenen Subjektposition spielt, aber auch als Instrument des Othering erlebt wird.
Literatur
Bourdieu, Pierre. 2001. Langage et pouvoir symbolique. Paris, Seuil.
Bühler, Karl (1999 [1934]) Sprachtheorie. 3. Aufl. UTB.
Butler, J. (2005) Giving an Account of Oneself. New York: Fordham University Press.
Purkarthofer, Judith: And the Subject Speaks to You: Biographical Narratives as Memories and Stories of the Narratable Self. In J. Purkarthofer & M. Flubacher. Speaking Subjects in Multilingualism Research. Bristol: Multilingual Matters. 21-38.

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